Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Nachmittag

Johannes: Ich glaube, Vater, Dietrich und ich haben herausbekommen, weshalb der Neptun auf dem Schiff erschien, und Robinson so eigentümlich behandelt wurde. In den Versen, die der Meergott sprach, kamen ja die Worte Gleicher und Gürtel der Erde vor. Das ist alles dasselbe wie der Äquator, und wer zum erstenmal über diesen fährt, der wird in komischer Weise getauft.

Vater: Diese Taufe ist eine alte Sitte, die wohl bei allen seefahrenden Völkern üblich ist. Der über die Erde gezogene Kreis, den wir mit den Männern der Wissenschaft gewöhnlich Äquator nennen, der aber mit einem deutschen, dasselbe bedeutenden Wort auch Gleicher heißt, weil er die Erde in zwei gleiche Halbkugeln, die nördliche und die südliche, teilt, dieser Äquator hat eine ganz besondere Bedeutung für die Erde, und darum muß jeder eine eigentümliche Behandlung erdulden, wenn sein Weg zum erstenmal diese Linie kreuzt.

Neptun nannte den Äquator richtig den Gürtel der Erde. Er ist durch alle jene Punkte unseres Heimatsterns hindurchgelegt, die gleiche Entfernungen vom Nordpol und Südpol haben.

Ursula: Woraus ist denn dieser Gürtel gemacht, Vater? Und zerreißen ihn die Schiffe nicht, wenn sie über ihn hinwegfahren?

Dietrich: So mußt du dir das nicht vorstellen, Ursula. Der Äquator ist ja nur eine gedachte Linie, die natürlich auf der Erde selbst gar nicht zu sehen ist, aber in alle Karten eingezeichnet wird, welche von ihm durchschnittene Gegenden darstellen.

Vater: Solcher gedachten Linien gibt es noch mehr. Eine bestimmte Anzahl von ihnen, die man auch in jeder Karte 59 eingezeichnet findet, läuft parallel mit dem Äquator um die Erdkugel. Man nennt sie Breitengrade. Alle bilden sie kleinere Kreise als der Äquator, weil jeder von ihnen dem Nord- oder Südpol näher liegt als der Gleicher. Dieser umfaßt die Kugel also an ihrer breitesten Stelle, nach Norden und Süden zu müssen die Kreise immer kürzer werden, an den Polen selbst sind sie nur noch Punkte. Es sind neunzig Breitengrade, die man zwischen dem Äquator und jedem Pol zählt. Jeder Breitengrad ist von seinen Nachbarn hundertelf Kilometer entfernt. Der Äquator hat die Breite von null Grad, der Nordpol liegt auf neunzig Grad nördlicher, der Südpol auf neunzig Grad südlicher Breite. Von Pol zu Pol, quer durch die Erde hindurch läuft die gleichfalls nur gedachte Erdachse, um welche die Erde sich innerhalb vierundzwanzig Stunden einmal herumdreht.

Johannes: Dann gibt es doch auch noch Meridiane?

Vater: Dies sind Kreise, die man sich alle so um die Erdkugel gezogen denkt, daß sie durch beide Pole hindurchgehen. Jeder Meridian steht senkrecht auf dem Äquator und allen Breitengraden. Die hundertachtzig Breitengrade und die hundertachtzig Meridiankreise zusammen bilden das Gradnetz der Erde. Sie ermöglichen es, die Lage jedes Punkts auf der Erde genau anzugeben, indem man den Breitengrad und den Meridian nennt, die einander gerade an der Stelle schneiden, wo der betreffende Punkt liegt.

Jetzt müssen wir uns aber wieder nach Robinson umschauen, der inzwischen seine gute Laune wiedergewonnen hatte, nachdem ihm die Ursache der eigentümlichen Behandlung, die er erlitten hatte, klar geworden war. Munter nahm er darauf an den Spielen teil, welche die Matrosen an diesem Nachmittag veranstalteten, und emsig lauschte er darauf, was ihm der Ingenieur später über die Drehung der Erde um sich selbst, ihre Wanderung um die Sonne und viele andere überaus schöne Dinge aus dem Himmelsraum erzählte.

Der Kapitän wollte an diesem Tag gern eine besonders genaue Messung über den Standort des Schiffs ausführen, weil es ihm Spaß machte, genau die Sekunde festzustellen, in der sie über den Äquator fahren würden. Derartige Aufnahmen werden auf jedem Schiff, das sich außer Sicht des 60 Landes befindet, täglich mindestens einmal gemacht, um festzustellen, ob der Kurs auch richtig eingehalten worden ist. Robinson stand bei diesen Messungen jedesmal auf der Kommandobrücke neben dem Kapitän und sah ihm bei dem Umgehen mit den blanken Apparaten zu. Heute wurden nun für die ganz feine Messung Instrumente besonderer Art benutzt, die der Ingenieur zu diesem Zweck herlieh. Er hatte sie jener bereits erwähnten Kiste entnommen, die am Hinterteil des Schiffs aufgestellt war. Robinson wunderte sich, daß der umfangreiche Behälter einen Boden hatte, der ganz wie ein Boot gebaut war. Auf seine Frage erzählte der Ingenieur unserem Freund, diese eigenartige Anordnung sei getroffen worden, damit die Kiste beim Landen auf der Südsee-Insel selbst auf dem Wasser schwimmen könne, da es zu umständlich sein würde, einen so schweren Gegenstand in eines der kleinen Boote hineinzunehmen, die dort für die Fahrt durch das seichte Küstenwasser ausschließlich zu gebrauchen sind.

Heute arbeitete nun der Besitzer der Kiste in Gemeinschaft mit dem Kapitän lange auf der Kommandobrücke. »Jetzt!« riefen sie aus, und in diesem Augenblick ging der Kiel des Schiffs über den Äquator, ohne daß der Gürtel der Erde zerriß, wie unsere Ursula es gefürchtet hatte. Das Hochgefühl, diese berühmte Linie passiert zu haben, entschädigte Robinson reichlich für die bei der Taufe erlittene Unbill.

An diesem Tag brach die Nacht noch rascher herein, als Robinson es bereits in der letzten Zeit zu seinem Erstaunen beobachtet hatte. Die Dämmerung währte nur ein paar Minuten. Dann hatte die Dunkelheit das Tageslicht völlig verjagt. Robinson fragte seinen gescheiten Fahrtgenossen, woher es denn nur käme, daß bei uns der Abend so langsam heraufkommt, hier aber mit so erstaunlicher Geschwindigkeit fast plötzlich da sei.

Johannes: Das hätte er sich doch eigentlich selbst denken können. Alles, was auf dem Äquator liegt, dreht sich doch rascher, als was einem der Pole näher ist. Da geht die Sonne also auch geschwinder unter.

Dietrich: Das ist an sich schon richtig, Johannes, paßt aber nicht zur Beantwortung von Robinsons Frage. Tag und Nacht entstehen natürlich durch die Drehung der Erde 61 um ihre eigene Achse. Jeder Punkt auf der Erde ist daher während eines Teils der vierundzwanzigstündigen Umlaufszeit zur Sonne gekehrt, so daß er von deren Strahlen getroffen werden kann. Während des anderen Teils der Erdumdrehung können sie ihn nicht erreichen, da sie ja durch die Masse der Erde selbst nicht hindurchzuscheinen vermögen. Einmal am Tag muß aber nun wirklich die Zeit kommen, wo ein jeder Punkt sich von der Sonne abzukehren beginnt, und das ist gegen Abend. Aber wenn die Gegenden in der Nähe des Äquators auch rascher durch den Weltenraum fahren, so mußt du doch nicht vergessen, daß sie auch einen weiteren Weg zurückzulegen haben, da sie ja auf einer größeren Kreislinie liegen. Damit kann man also die rasche Tropendämmerung doch wohl nicht erklären. Wie hängt's denn zusammen, Vater?

Vater: Mit dem Luftmantel, der die Erde umgibt. In der Nähe des Äquators strahlt die Sonne fast immer senkrecht ein, in unserer Gegend sehr viel mehr schiefwinklig. Daher durchfallen die Sonnenstrahlen am Äquator eine weit dünnere Luftschicht. Die Dämmerung ist nun nichts anderes als aus der Luft zum Boden niedergebrochene Sonnenbestrahlung, wenn diese selbst den Boden nicht mehr erreicht. Eine dünnere Luftschicht kann natürlich die Sonnenstrahlen nicht so lange Zeit fangen wie eine dickere, und aus diesem Grund ist die Dämmerung in den Tropen kurz. Wenn ihr auf dem Mond stehen könntet, der überhaupt keinen Luftmantel hat, so würdet ihr bemerken, daß diesem die Dämmerungen vollständig fehlen. Vom hellststrahlenden Sonnenschein stürzt dort jeder Punkt sogleich in tiefste, schwärzeste Finsternis, wenn er sich von der Sonne abkehrt.

Ursula: Das kann ich noch nicht so recht verstehen, Vater. Ich höre am liebsten immer von Robinson.

Vater: Ich bin schon wieder bei ihm, mein Töchterchen. Bei herrlichem Wetter durchfurchte das Schiff weiter die Fluten des Atlantischen Ozeans. Alle Segel waren ausgespannt, um den geringen Wind aufzufangen, der hier gewöhnlich zu herrschen pflegt. Die Sonne brannte mit einer Gewalt nieder, wie der Nordländer es sich nicht vorzustellen vermag. Jeder Holzteil des Schiffs fühlte sich an, als wenn er brenne, Eisen durfte man gar nicht mit der Hand berühren. 62 In dem klaren Wasser sah man große und kleine Fische sich tummeln, und auch sonst war es nicht ganz einsam um das Schiff. Seit zwei Tagen bereits beobachtete Robinson, daß ein mächtiger Vogel unermüdlich hinter ihnen herflog. Mit Erstaunen nahm er wahr, daß das Tier nicht ein einziges Mal während dieser Zeit versucht hatte, sich auf einem der Mastbäume auszuruhen, auch nicht während der Nacht, wie die wachthabenden Matrosen berichteten. Als Robinson den Kapitän auf den Vogel aufmerksam machte, erzählte dieser, er habe schon erlebt, daß ein Albatros – denn zu dieser Art gehörte der ausdauernde Flieger – sechs Tage und sechs Nächte ununterbrochen sein Schiff begleitete, ohne sich jemals auf diesem niederzusetzen. Es ist das ganz erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Meilen das Schiff in einer solchen Zeit zurücklegt.

Dietrich: So ist es also wahr, was man in Büchern liest, daß die Vögel ganz ungeheure Muskelkräfte haben? Denn kein Landtier wäre doch imstande, so lange zu laufen.

Vater: Bücher, die solche Angaben enthalten, kennen noch nicht die neuesten Beobachtungen der Wissenschaft. Eigentlich ist es ja selbstverständlich, daß auch die Vögel keine Wundertiere sind, und nicht mehr Kräfte besitzen, als ihnen nach der Größe ihrer Leiber zukommt. Der Muskelapparat, mit dem sie ihre Flügel bewegen, ist allerdings besonders kräftig ausgebildet, aber Übernatürliches vermögen sie ebensowenig zu leisten wie irgendein anderes Tier. Der Albatros, der vorzüglichste Flieger, den es überhaupt gibt, bringt seine auf den ersten Blick ganz unfaßlich erscheinenden Flugleistungen dadurch zustande, daß er in kluger Weise eine Naturerscheinung ausnutzt, die wir nicht unmittelbar sehen können, und die uns daher bis in die letzte Zeit verborgen geblieben war.

Für gewöhnlich hält der Vogel sich ja dadurch in der Luft, daß er mit den Flügeln schlägt, wodurch ein Druck der niedergepreßten Luft gegen die Flügel entsteht. Es ist euch ja aber bekannt, daß man auch ohne Flügelbewegung zu fliegen vermag.

Peter: Ja, mit dem Flugzeug. Das sieht deshalb aber auch ganz wunderbar aus, wenn es durch die Luft saust.

Vater: Die gepreßte Luft, die der Vogel durch den Niederschlag der Flügel hervorruft, erzeugt das Flugzeug sich 63 dadurch, daß es von der ungeheuer rasch umlaufenden Schraube durch die Luft gezogen wird. Die weit ausgespannten Tragflächen werden hierbei von einem mächtigen Luftstrom getroffen, und da sie nicht wagerecht liegen, sondern etwas schräg stehen, staut sich die Luft unter ihnen so stark an, daß sie das ganze Flugzeug zu tragen vermag.

Johannes: Das kann ich verstehen, Vater! Aber der Albatros hat doch keine Luftschraube?

Vater: Dafür fliegt er in Gegenden, wo fast ständig ein sehr kräftiger Luftstrom vorhanden ist, der von unten nach oben aufsteigt. Er wird dadurch hervorgerufen, daß die Luftmassen, welche unmittelbar auf der in den Tropen von der Sonne ja so stark erhitzten Erdoberfläche liegen, sich erwärmen, infolge der hierdurch entstehenden Ausdehnung leichter werden als die höheren Luftschichten und deshalb aufsteigen. Mit seinen großen Flügeln, deren Spitzen, wenn sie ausgespannt sind, vier Meter und mehr voneinander entfernt sind, fängt der Albatros die aufsteigenden Luftströmungen gewissermaßen auf, und auf diese Weise hat er gestaute, tragfähige Luft unter seinen Flügeln, gerade so wie die Taube, wenn sie flattert, oder das Flugzeug, indem die Schraube es vorwärts zieht. Er hat also nur selten nötig, einen Flügelschlag zu tun; für gewöhnlich gleitet er mit ruhig ausgebreiteten Schwingen im Segelflug dahin. Ihr könnt an diesem Beispiel sehen, daß die Wissenschaft uns in die Lage setzt, vieles als ganz natürlich zu erklären, was einst wunderbar und verwirrend erschien.

Johannes: Warum fliegt denn aber der Albatros so lange hinter einem Schiff her, wenn er sich doch nicht niedersetzt?

Vater: Die Ursache hatte Robinson bald erkannt. Wenn der Koch das Mittag- oder das Abendbrot fertiggestellt hatte, warf er die Überreste, die bei uns in den Mülleimer wandern, über Bord. Jedesmal schoß dann der mächtige Vogel sogleich hinunter und packte mit seinem Schnabel alles Eßbare, das auf dem Wasser schwamm. Den großen Vögeln fällt es nämlich, so vortreffliche Flieger sie sind, schwer, lebendige Fische mit den Schnäbeln zu erfassen. Darin sind sie viel ungeschickter als zum Beispiel unsere Möwen. Der Schiffsabfall aber liegt ruhig auf dem Wasser, versucht nicht auszureißen und ist für sie 64 deshalb willkommene Speise. Natürlich konnte es auch nicht ausbleiben, daß Robinson in jenen Gewässern Gelegenheit hatte, die allerseltsamsten fliegenden Tiere zu beobachten, die es gibt.

Ursula: Fledermäuse!

Peter: Fliegende Hunde!

Vater: Das sind gewiß auch große Seltsamkeiten, namentlich die von Peter eben genannten Fledermäuse mit einer Kopfform, die denen der Hunde ähnelt. Diese Tiere leben aber nur auf dem Festland, insbesondere auf den Inseln um Indien. Hier aber handelt es sich um fliegende Fische.

Dietrich: Da bin ich aber neugierig, wie es diesen glatten Tieren gelingt, genügend gestaute Luft unter ihrem Körper zu erzeugen.

Vater: Sie können das immerhin, denn ihre Brustflossen sind sehr groß, und sie vermögen sie flügelartig vom Körper wegzuspreizen. Aber ihr müßt euch nun nicht vorstellen, daß diese eigenartigen Tiere so zu fliegen vermögen wie der Albatros oder auch nur wie der Sperling. Richtige Flügel haben sie nicht, und ein ordentlicher Flug durch die Luft kommt auch gar nicht zustande, wie man nach dem Namen glauben könnte, der ihnen von flüchtig hinsehenden Leuten gegeben worden ist. Am ehesten ist das, was sie vollführen, dem Gleitflug zu vergleichen, in dem die Flugzeuge zur Erde niedergehen, wenn hoch droben in der Luft der Motor stehen bleibt.

Die Fischart, von der wir hier sprechen, hat viele Feinde im Wasser, von denen sie verfolgt wird. Wenn die Tiere fühlen, daß sie von einem schneller schwimmenden Räuber bald eingeholt und gefressen würden, dann schnellen sie sich durch einen Schlag ihres Schwanzes aus dem Wasser. Hierdurch erfolgt der kaum ein paar Meter hohe Aufstieg in die Luft. Mit den Flossenflügeln vermöchten sie nicht emporzusteigen. Wenn sie sich aber einmal in der Luft befinden, dann spreizen sie die Flossen und haben nun Tragflächen gleich dem Flugzeug. Eine Weile können sie ziemlich wagerecht, bald aber nur noch in schräg absteigender Linie durch die Luft gleiten. Wie beim Flugzeug, das mit abgestelltem Motor niedergeht, ist es auch bei ihnen die Schwerkraft allein, die ihnen genügende Geschwindigkeit gegen die Luft gibt, so daß die 65 notwendige Stauung unter den Tragflächen entsteht. Nach einem Weg von zwanzig bis fünfundzwanzig Metern durch die Luft fallen sie wieder ins Wasser; aber das genügt für sie, um sich dem gefährlichen Feind zu entziehen. Wenn wir von fliegenden Fischen sprechen, so ist das also eigentlich nicht ganz richtig. Man sollte lieber springende oder gleitende Fische sagen. Ein schöner Anblick aber ist es trotzdem, die silbern schimmernden Tiere im Sonnenglanz aus der Flut auftauchen zu sehen. Robinson ergötzte sich an den Schwärmen, die immer wieder hervorkamen, im Wasser verschwanden, um neu emporschießenden Silberfischen Platz zu machen. –

Das Kap der Guten Hoffnung war umschifft. Jetzt setzten sie den Kurs ostwärts gegen das australische Festland zu. Häufig waren ihnen auf dem bisherigen Weg über den Ozean andere Schiffe begegnet. Nun, nachdem sie ein gutes Stück weiter nach Osten gekommen und den mehr nordwärts gerichteten Weg verlassen hatten, den die nach Indien fahrenden Schiffe von der afrikanischen Südspitze aus einschlagen, da wurde es einsamer um sie her. Tagelang fuhren sie, ohne die Rauchwolke eines Dampfers oder die Mastspitzen eines Segelschiffs zu sehen. Denn der Schiffsverkehr zu dem kleinen jüngsten Erdteil ist bei weitem nicht so groß wie der nach Südafrika oder dem reichen, dicht bewohnten Indien. Auch alle Fahrzeuge, die nach Ostasien gehen, biegen nordwärts ab, um durch die Straße von Singapore China oder Japan zu erreichen.

Noch nicht einen einzigen Tag hatte Robinson bisher Reue darüber empfunden, daß er nicht mit den Matrosen des untergegangenen Schiffs nach England hinübergefahren, sondern an der weiten Reise nach Australien teilgenommen hatte. Viel Wunderbares hatte er schon gesehen, die Schönheiten der Erde lagen vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch. Hierdurch und durch den Umgang mit dem Ingenieur fühlte er, daß er ein ganz anderer Mensch geworden war, ernster, nachdenklich und mit ganz anderen Anschauungen über das Leben und die Pflichten, die es auferlegt. Mit tiefem Schmerz bemerkte er den großen Mangel an Bildung, der durch seine Trägheit zu Hause entstanden war. Er nahm sich vor, nach seiner Rückkehr alles möglichst rasch und gründlich nachzuholen. Durch 66 die Ausführung dieses festen Entschlusses dachte er, seinen Eltern ein Entgelt für den Gram zu bieten, den sein Verschwinden und seine lange Abwesenheit ihnen zugefügt haben mußte.

Das herrliche Wetter, das sie bisher auf ihrem Weg fast ständig begleitet hatte, war besonders geeignet, frohe und kühne Gedanken in Robinson reifen zu lassen. Im Anfang, in den nördlichen Meeren, hatte er, wie wir schon gehört haben, manchmal mit der Seekrankheit zu kämpfen gehabt, wenn dort das Wasser durch aufkommenden Wind ein wenig bewegter gewesen, aber das war nun längst überwunden. Er dachte, daß die glückhafte Fahrt so weitergehen würde, bis sie im Hafen von Sidney ruhig vor Anker lägen.

Eines Tages aber, als sie nur noch etwa eine Fahrtwoche von ihrem Bestimmungsort entfernt waren, rief der Kapitän Robinson zu sich auf die Kommandobrücke. »Bist du auch ordentlich seefest?« fragte er ihn. »Nun, ich denke doch, daß ich das inzwischen geworden bin,« entgegnete Robinson. »Das zu zeigen, kannst du bald Gelegenheit haben,« fuhr der Kapitän fort. »Siehst du die Wolke dort, die so geschwind nordwärts zieht?« Robinson blickte empor. »Diese dort? Das kann doch nichts Schlimmes sein! Ein kleines, weißes Wölkchen am blauen Himmel! Was kann das ausmachen?« »Mehr als du denkst,« sagte der Kapitän. »Sieh dir einmal die Segel an, wie straff sie angespannt sind. Vorläufig haben wir erst eine Mütze voll Wind, aber ich glaube, es wird bald ein ganzer Hutladen voll daraus werden. Ein alter Seemann, wie ich, merkt an kleinen Anzeichen vorher, wenn es bald etwas setzt; und ich kann dir versichern, daß der Sturm, der da aufkommt, uns tüchtig schütteln wird.«

Diese Aussicht erheiterte Robinson. Während des letzten Teils der schönen Fahrt hatte er bereits öfter leise bedauert, daß es ihm bisher versagt gewesen, das Schauspiel eines kräftigen Sturms mitten auf dem Meer zu sehen. Das Schiff war groß und fest, dem konnte so leicht nichts geschehen, und die Seekrankheit fürchtete er nicht mehr. Nun sollte also auch dieser Wunsch ihm in Erfüllung gehen.

Schon kletterten indessen die Matrosen an den Strickleitern auf die Masten hinauf, hängten sich mit der Sicherheit, 67 die ihr Beruf darin gewährt, an die langausgestreckten Rahen, die wagerechten Segelstangen, zogen die Leinwand ein und knüpften sie fest. Nur noch ganz kleine Segelstücke blieben vor dem Wind. Und bald zeigte es sich, daß die Vorsicht des erfahrenen Kapitäns wohl am Platz gewesen war.

Die kleine, weiße Wolke, die vorher einsam durch die blaue Himmelskuppel gesegelt war, hatte Genossen erhalten. Überall erblickte man jetzt Gebilde dort droben, die wie dicke Wattestücke aussahen. Und gar geschwind wurden sie nach Norden abgetrieben. Ein starker Regen prasselte nieder, der Wind verwandelte sich fast plötzlich in Sturm. Das letzte Segel wurde eingezogen, und doch fühlte man, daß das Schiff vom Wind rasch getrieben wurde. Hui, wie das in den Stangen pfiff! Wie die Mastbäume unter den Windstößen knarrten und ihre Spitzen sich bogen! Das Steuerrad, an dem bisher immer nur ein Matrose gestanden hatte, wurde nun von zweien bedient, denn einer genügte nicht mehr, um das Schiff im Kurs zu erhalten. Sie wollten ostwärts, und der Wind kam von Süden. Immerfort schrie der Kapitän, der am Kompaß stand, den Steuerleuten zu, daß sie scharf ostwärts halten sollten. Die drehten das Steuerrad und stemmten sich gegen seine Speichen, aber es half ihnen nichts. Stärker und stärker drängte der nun in furchtbaren Stößen von Süden her heranrasende Sturm das Schiff ab. Statt nach Osten zu fahren, trieben sie schon jetzt deutlich nordwärts ab.

Der Kapitän griff selbst helfend am Steuer mit an. Auf einmal fielen alle drei, als sie gerade mit äußerster Kraft das Rad zu drehen versuchten, vornüber. Von selbst machte das Steuerrad einige Umdrehungen, es drehte sich spielend. Die Verbindung mit dem Steuer selbst war gebrochen, das Schiff steuerlos geworden. In dem scharf niederprasselnden Regen und in der Dunkelheit, welche durch die dichten Wolken mitten am Tag entstanden war, tappte der Erste Steuermann mit mehreren Helfern über das Deck, um die geborstene Stelle zu suchen. Denn wenn es nicht gelang, den Schaden rasch wieder gutzumachen, so war das Schiff ein Spiel des Windes. Der Kapitän stand mit finsterem Gesicht auf der Brücke. Nach langer Zeit kam der Steuermann zurück, gebückt und mutlos. 68 »Es ist die Steuerstange selbst, die geborsten ist,« sagte er. »Der Bruch befindet sich an der Stelle, die außerhalb der Schiffswand über dem freien Meer liegt. Bei dem hohen Seegang kann dort keiner hin.« Der Kapitän ließ die Arme sinken. »Dann mag Gott uns gnädig sein,« sagte er. »Niemand kann wissen, wohin die Fahrt nun gehen wird.«

Und der Sturm steigerte weiter seine Kraft, obgleich man das nicht mehr für möglich gehalten hatte. Wogen von ungeheurer Höhe wälzten sich eine nach der anderen heran. Das Deck wurde überspritzt, überflutet; wenn man sich nicht mit beiden Händen anklammerte, konnte man jeden Augenblick über Bord gespült werden. Doch das Schlimmste blieb die Untätigkeit, zu der die Schiffsmannschaft nun verurteilt war. Ein Schiff, das dem Steuer nicht mehr gehorcht, ist wie ein wildes Pferd, das ohne Zaum und Zügel über das Feld rennt, sinnlos hierhin und dorthin rasend und jeden Augenblick in Gefahr, hinzustürzen, um sich nicht mehr zu erheben.

Robinson war noch immer getrost. Er dachte, daß ein so fürchterliches Unwetter ja nicht allzu lange andauern könne. Aber da hatte er die Kraft der Naturgewalten auf dem offenen Weltmeer unterschätzt. Zwei Tage und zwei Nächte hindurch brüllte der Sturm, ohne nachzulassen, ja seine Gewalt wuchs immer weiter an. Der Kapitän wußte nicht mehr, wo man sich befand, denn Messungen waren auf dem wie eine Schachtel hin und her geworfenen Fahrzeug unmöglich, und noch dazu konnte man die Sonne nicht wahrnehmen.

Gegen Morgen des dritten Tages brach der vorderste Mast. Er fiel auf den mittleren und knickte diesen ein, so daß auch er gekappt und über Bord geworfen werden mußte, damit er beim Niederfallen nicht das Deck durchschlage. Jetzt fühlten alle, daß sie verloren sein würden, wenn das Unwetter nicht bald nachließe. Aber dazu war keine Aussicht. Der Himmel blieb schwarz, und der Wind blies, als wollte er die Erde aus ihrer Bahn jagen. Selbst der alte Steuermann, der schon so viele Fahrten gemacht hatte, wankte blassen Antlitzes umher. Die Matrosen hoben die Hände zum Himmel und flehten zu Gott. Doch nichts half. Der Orkan brüllte weiter und riß auch den letzten Mast aus seinen Grundfesten. Nun, da auch 69 bereits das Steuer geborsten, die Spitze von einer mächtigen Welle zerschlagen war, glich das Schiff mehr einem Wrack als einem seetüchtigen Fahrzeug. Die Menschen, welche auf so vielen hundert Fahrtkilometern die Natur gemeistert, das Meer nach ihrem Willen mit gehorsamem Kiel durchfurcht, die den Wind gezwungen hatten, ihnen zu dienen, sie mußten nun einsehen, daß die Erde doch nicht ihr Eigentum sei, daß die Naturkräfte vielmehr mit ihnen ganz nach Belieben schalten konnten, sobald es ihnen einmal einfiel, in voller Größe aufzutreten.

Während sie alle zitternd und im Geist bereits dem Tod ergeben auf dem Deck zusammenstanden, fühlten sie plötzlich, daß das Schiff stehenblieb. Sogleich hob sich eine Woge von ungeheurer Größe hinter ihnen auf und spülte über das Deck. Zehn Mann wurden sogleich fortgerissen. Der Kapitän faltete die Hände und sprach: »Jetzt ist es aus, wir sind auf einen Felsen aufgelaufen. Gott helfe uns!«

Keiner dachte auch nur daran, hinunterzugehen, um nachzusehen, ob ein Leck entstanden sei und um zu pumpen, denn dazu waren sie bereits viel zu schwach und durch die erlittene entsetzliche Not zu gleichgültig geworden. Da das Schiff aber in all dem Wind und Wogenprall unerschüttert festsaß, wie man an ein paar spitzen Klippen erkennen konnte, die von Zeit zu Zeit stets in gleicher Entfernung aus dem Wasser tauchten, so mußte es sich beim Auffahren wohl den ganzen Boden aufgerissen haben.

»Gott sei unseren Seelen gnädig!« das war das letzte, was Robinson hörte. Eine Welle so hoch wie ein Berg und wohl auch so breit wie ein solcher kam trotz des pfeilgeschwind dahinschießenden Orkans mit erschreckender Langsamkeit auf sie zu. Die Woge mochte wohl so viel Wasser fassen, daß man hundert Häuser damit hätte anfüllen können. Hoch emporgerichtet, wie auf ungeheuren Füßen schritt sie daher. Sie schien keine Verbindung mit dem Wasser unter sich zu haben. Alles neben und unter sich verdrängend kam sie auf das Schiff zu, und nun war alles in kreisenden Strudel, grausamen Anprall und schäumenden Gischt gehüllt. Robinson fühlte sich emporgehoben, weggeschleudert, ihm vergingen die Sinne. 70


 << zurück weiter >>