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Vater: Robinson hatte sich auf seiner Insel nun bereits recht bequem eingerichtet. Die Tage vergingen in ziemlich gleichmäßigem Lauf, fanden unsern Freund aber immer bei lebhafter Tätigkeit vor. Hatte er doch bald Futter für seine Haustiere zu schaffen, bald die Hürde auszubessern, gegen welche die munteren Tierchen oft mit ihren Hörnern stießen, die Muttertiere zu melken, dann die Milch sorgfältig unterzubringen, damit sie nicht allzu geschwind verdarb. Zu diesem Zweck hatte er sich einen richtigen Keller gebaut. Es war ihm gelungen, aus der Seitenwand der Höhle einen lose eingefügten Stein auszubrechen, dessen Fugen er entdeckt hatte, und im darunterliegenden losen Sand ein recht tiefes Loch auszuwühlen. Hier stellte er die Kokosschalen auf, in denen er den Teil der Milch sauer werden ließ, den er nicht gleich trank. Ferner flocht er Körbe, mit denen er dann zum Nordstrand auszog, um Apfelsinen und Zitronen nach Haus zu bringen und im Keller auf Vorrat einzulegen. Auch vom Salz häufte er einen kleinen Berg darin auf. Die Strickleiter war oft zu erneuern, da die Lianenstengel brüchig wurden, sobald sie alterten. Unser Freund baute auch aus eingerammten Bäumen mit einem darüber gelegten dichten Laubdach einen Heuschober, um den aufgesammelten Vorrat nicht mehr in der Höhle beherbergen zu brauchen, wo er zu viel Raum fortnahm.
Eines Tages hörte er, als er gerade erwacht war, lautes, unruhiges Meckern aus dem Pferch. Er eilte hinzu und sah mit Freude, daß sich sein Viehbestand durch zwei schöne, stattliche Böcke vermehrt hatte. Diese waren offenbar beim Futtersuchen in die Gegend geraten, wo die Wohnung unseres Freundes 145 lag, hatten sich durch ihre Stammesgenossen anlocken lassen und waren mit ihren kräftigen Beinen über die Hürde gesprungen.
Peter: Da konnten sie ja nun auch wieder leicht ausreißen!
Vater: Das fürchtete Robinson gleichfalls, der die Böcke gern für immer behalten wollte. Er ging daher in die Umzäunung hinein, fing nach einigem Hin und Her die Böcklein und band sie vorläufig mit langen festen Pflanzenstengeln an einem eingeschlagenen Pflock fest. Dann ging er rasch daran, die Umzäunung zu erhöhen, so daß ein Ausreißen nicht mehr möglich wäre. Das war nun wieder eine Arbeit, die wochenlang dauerte, und sie hätte schließlich doch nicht zum richtigen Ergebnis geführt, wenn die Böcke nicht offensichtlich entschlossen gewesen wären, freiwillig bei den anderen Tieren zu verbleiben. Sie hatten sich nämlich während der Bauzeit mehr als einmal von dem Pflock losgerissen, ohne jedoch zu entspringen. Trotzdem machte Robinson die Erhöhung der Hürde fertig, da die Tiere ja doch immerhin einmal eine Laune zur Rückkehr in den Wald empfinden konnten. Nachdem so zwei Gemsbüffelfamilien beisammen waren, sah Robinson auch weitere Junge heranwachsen und freute sich an ihrem Gedeihen. Allmählich kam er so in den Besitz einer recht stattlichen Herde, so daß er an Milch nie Mangel hatte.
Ein Erlebnis besonderer Art brachte ihm dann eine Abwechslung, über die er lange nachzudenken hatte. Es war an einem Sonntag, der seinem Namen besondere Ehre machte: es standen nämlich zwei Sonnen am Himmel.
Peter: Aber Vater, es gibt doch bloß eine!
Vater: In Wirklichkeit gibt es natürlich nur eine; aber sie findet bisweilen Gelegenheit, sich zu spiegeln, und zwar in sehr fein verteilten Eiskristallen, die in großer Höhe schweben. In kälteren Erdzonen ist diese Erscheinung gar keine Seltenheit, aber auch in wärmeren kann sie sich ereignen, da in großer Höhe manchmal kalte Luftströme auftauchen, die man unten auf der erwärmten Erde nicht einmal ahnt. Diese Abkühlung in Wolkenhöhe verwandelt dann die Feuchtigkeit der Luft in zarte Kristalle, die wie winzige Diamantsplitter schweben und sich nur dadurch verraten, daß sie das Bild der Sonne 146 widerspiegeln. Tritt dieser Fall ein, so spricht man von Nebensonnen oder von einer Gegensonne.
Robinson weilte am Gestade und bewunderte dies seltsame Naturschauspiel, das indes nach wenigen Minuten wieder verflog. Nur eine weißliche Wolke blieb zurück, die an ihrem Rand, von den Leuchtstrahlen der Sonne entzündet, in hellem Brand aufglühte. Aber auch diese Wolke verflatterte, und nun erst fiel es Robinson ein, was er über der Betrachtung des Himmelswunders fast vergessen hatte: daß er nämlich den glänzenden Sonnentag zu einer größeren Schwimmtour benutzen wollte.
Er entkleidete sich also, schwamm erst ein kleines Stück geradeaus und bog dann seitwärts, um eine tüchtige Strecke an der Küste hinzustreichen. Wir wissen ja bereits, daß er in Leibesübungen nicht ungewandt war, und dürfen ihm daher auch bei diesem Meerausflug einige Ausdauer zutrauen. Da er sich nahe am Land hielt, so hatte er einen ernstlichen Unfall wohl kaum zu befürchten, er konnte sogar im seichten Wasser mehrfach haltmachen, um neue Kräfte zu sammeln, und so gelangte er mit kurzen Unterbrechungen weiter als sonst am Saum seiner Insel.
Peter: Wie lange hintereinander konnte Robinson wohl schwimmen, ohne sich auszuruhen?
Vater: Er war, wie gesagt, recht ausdauernd darin und hatte sich selbst schon vorgenommen, einmal diese Zeitdauer nach der Uhr festzustellen.
Peter: Nach der Uhr? Hatte er denn eine?
Vater: So eine Wand- oder Taschenuhr, wie wir sie besitzen, freilich nicht. Aber er war seit einigen Tagen dabei, sich eine Ersatzuhr zu fertigen. Er hatte nämlich eine außergewöhnlich große Muschel gefunden, die in der Mitte ein ganz kleines Loch aufwies. Schüttete er hier feinsten Sand auf, so rieselte dieser hindurch und ergab in gleichen Zeitabschnitten gleiche Sandmengen unter der Muschel. Das war also der Anfang einer Sanduhr. Freilich fehlte es ihm noch an einer richtigen Stundeneinteilung, und um diese allmählich zu gewinnen, schüttete er zuerst so viel Sand auf, wie die Muschel überhaupt zu fassen vermochte. Nach Ablauf eines vollen 147 Tages, also von Sonnenmittag bis Sonnenmittag, wollte er dann die Menge des abgelaufenen Sandes messen und in vierundzwanzig möglichst gleiche Häufchen sondern, von denen jedes das Maß einer Stunde ergeben würde. So durfte er hoffen, durch allmähliche weitere Verbesserung dieses Hilfsmittels in einigen Wochen eine für gewisse Messungen leidlich brauchbare Uhr herzustellen. Zufällig hatte sein Sandzeitmesser gerade begonnen, zu rieseln, als er an diesem Tag hinausschwamm.
Dietrich: Das konnte ihm aber für die Zeitmessung seines Schwimmens vorläufig doch nichts nützen.
Vater: Für heute natürlich noch nicht. Wohl aber für künftig, wenn er erst das Sandmaß einer Stunde und damit auch das Maß mehrerer Stunden genauer bestimmt hatte. Er zog also nun mit kräftigen Stößen durch das Meer und hatte längst den flachen Strand hinter sich gelassen. Jetzt befand er sich seit einiger Zeit gegenüber einem felsigen Ufer, das sich landeinwärts in eine niedrige Berggestaltung fortsetzte und nach dem Wasser zu in schroffem Gestein abfiel.
Aber in diesem Gestein bemerkte Robinson plötzlich eine Lücke, einen ganz niedrigen, halbkreisförmigen Eingang, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, da hineinzuschwimmen, um zu erkunden, was denn eigentlich da drinnen vorhanden wäre. Aber das war leichter gedacht als getan. Denn obschon die Wogen nur sehr mäßig gingen, so genügte schon eine Welle von halber Menschenhöhe, um den niedrigen Felseingang zu verdecken und unpassierbar zu machen. Seine ersten Versuche mißglückten auch vollständig; ja er war eine Minute lang gar nicht imstande, die eben noch bemerkte Felslücke mit den Augen wiederzufinden. Und Robinson war gerade dabei, sein Vorhaben aufzugeben, als eine zarte Windströmung das Wellengekräusel glättete und seinem Gesicht den offenen Halbkreis wieder freigab. Jetzt noch einige kräftige Schwimmstöße, und er befand sich drinnen! Gerade ganz knapp war er hindurchgekommen, ohne noch mit dem Schädel an der oberen Steinkante unsanft anzustoßen.
Tiefe Nacht umfing den kühnen Schwimmer. Wohl spürte er, daß er noch immer Wasser unterm Leib habe, aber 148 wie die Dinge sich sonst um ihn gestalteten, das entzog sich völlig seiner Wahrnehmung. Aufs Geratewohl machte er noch einige Stöße nach vorwärts, da merkte er, daß sich der Grund unter ihm hob und seinen Füßen Halt gewährte. Langsam tastete Robinson sich weiter, und so gelangte er allmählich aufs Trockene, ohne im geringsten zu wissen, was dieses Trockene eigentlich bedeute. Nur das eine wurde ihm klar, daß er sich jetzt auf einer felsigen Umrandung befand, die ihm die Möglichkeit des Aufrechtstehens und des Sitzens gewährte.
Mit den Augen suchte er den Eingang, durch den er hineingeschwommen war; und siehe da, ein zuerst ganz blasser, schnell heller werdender Lichtschein erreichte ihn und zeigte ihm den kleinen Öffnungsbogen. Bald füllte eine seltsame, schier märchenhafte Dämmerung den Raum, und jetzt – jetzt – ein nie erlebtes, nie geahntes Wunder breitete sich vor seinen Augen.
Ursula: Ach, nur schnell, Vater! Gewiß waren Feen und Kobolde da drinnen!
Vater: Feenhaft genug sah es um ihn aus. Er befand sich in einer Felsgrotte, deren Wasserboden in einem selbstleuchtenden, zauberhaften Blau erstrahlte, in einem Blau, das seinen Grundton vom Himmel, sein Flammenspiel von der Hölle entlehnt zu haben schien und den wundersamsten Widerschein seiner Pracht an den Wänden der Höhle bis hinauf zum hohen Steingewölbe erglänzen ließ.
Johannes: Gibt es denn wirklich solche Höhlen, und kommen solche auch anderswo vor?
Dietrich: Ach, ich glaube in der Kunsthalle war einmal eine abgebildet, die muß wohl in Italien sein.
Vater: Ja, dieses blaue Wunder kennen auch diejenigen, die einmal auf der Insel Capri bei Neapel gewesen sind. Und es verlohnt sich wohl, daran zu erinnern, daß es ein deutscher Dichter war, der Breslauer August Kopisch, der genau wie Robinson auf einer kühnen Schwimmtour im Jahre 1826 die Blaue Grotte auf Capri entdeckte. Die Erscheinung findet natürlich ihre Erklärung in der Besonderheit des Lichteintritts und in der Beschaffenheit des Wassers, das gewisse Bestandteile des Sonnenlichts verschluckt, während es andere, zumal den blauen Bestand, zurückwirft. So seltsam es auch klingt, 149 so steht es doch fest, daß gerade diese Bläue, wie auch das Blau des Himmels, von Trübungen herrührt, denn bei einer vollkommen reinen, ungetrübten Luft würden wir nicht einen blauen, sondern einen schwarzen Himmel über uns haben. Ähnliches geht auch im Wasser vor, das gewisser Beimischungen bedarf, um das zauberhafte Blau hervorzurufen. Merkwürdig genug bleibt diese Erscheinung auch noch für den, der ihre genaue wissenschaftliche (optische) Begründung kennt. Und Robinson vollends kam fast von Sinnen, als er bald darauf noch eine weitere Glanzerscheinung erlebte. Als er nämlich jetzt abermals bis zur Hüfte in das Wasser hineinstieg, glaubte er einen Spuk zu sehen, desgleichen höchstens in einem Weihnachtsmärchen vorkommen dürfte. Hier aber war es Wirklichkeit: seine ganze Körperhälfte, von den Füßen bis zum Leib, erschien ihm wie in pures Silber getaucht: oberhalb bläulich behaucht, unterhalb blitzblau versilbert!
Kaum vermochte er sich von diesen nie erträumten Herrlichkeiten zu trennen. Immerhin, er konnte sich ja diesen Zaubergenuß später wieder verschaffen, wann er nur mochte; jetzt aber war es Zeit, heimzukehren, und Robinson schickte sich an, die Höhle schwimmend zu verlassen.
Da wurde es plötzlich wieder dunkel um ihn; nicht gerade nachtschwarz, denn von der Eingangspforte her drang immer noch eine Lichtspur durch das Geklüft, allein deutlich war festzustellen, daß das Wasser gestiegen war und die Lücke völlig versperrte. Schneller als zu erwarten war die Flut hereingebrochen, und die blaue Zaubergrotte hatte sich für Robinson in ein Gefängnis verwandelt.
Das war bedenklich, wenn auch nicht geradezu lebensgefährlich. Länger als sechs Stunden konnte die Haft ja nicht währen, denn dann mußte doch wiederum Ebbe eintreten. Fatal genug blieb es trotzdem, vor allen Dingen, weil nach Ablauf von sechs Stunden voraussichtlich das Tageslicht erloschen und das Hinausschwimmen bei Nacht sicherlich mit Fährlichkeiten verbunden war. Zudem war Robinson im Adamskostüm, und die Verdunstung auf der Haut in der ohnehin kühlen Grotte verursachte ihm peinliche Fröstelgefühle. Schließlich meldete auch der Magen seine Rechte an, und es bestand 150 selbstverständlich nicht die leiseste Möglichkeit, hier auch nur einen Bissen Nahrung zu beschaffen; und von blauen Wasserfarbspielen allein kann der Mensch nicht satt werden.
Doch was half's? Die sechs Stunden mußten überstanden werden; und sie wurden überstanden, leider ohne merkliche Aussicht auf Erlösung. Denn inzwischen hatte sich draußen im Freien ein kräftiger Wind aufgemacht, der tüchtige Wogen gegen den Felsrand warf und den Eingang mit gurgelnden, schäumenden Massen füllte. Manchmal, auf eine halbe Sekunde, wurde die Lücke frei, um sich sofort mit dröhnendem Rauschen wieder zu schließen. Kein Zweifel, der Wind nahm zu, wurde Sturm, und es war gar nicht abzusehen, wann jemals das niedrige Felstor sich wieder zum Durchschlüpfen öffnen würde.
Peter: O, ich an Robinsons Stelle hätte es trotzdem versucht. Ich wäre dann eben eine Strecke weit unter Wasser geschwommen, bis ich glücklich durch das enge Loch gekommen wäre.
Vater: Das schoß ihm wohl auch blitzartig durch den Sinn, allein er verwarf diese Absicht sogleich. Denn er sagte sich sehr verständig, daß er in dem entfesselten Aufruhr der Elemente zwar allenfalls bis durch den Eingang gelangen könnte, daß er aber dann sofort durch den anstürmenden Wogenprall an den Riffen zerschellen müßte. Das war der sichere und schnelle Untergang.
Johannes: Ja, und in der Grotte konnte er langsam verhungern.
Vater: Er konnte – so sagen wir; er mußte, so dachte er, und das Vorgefühl des Verhungerns begann bereits sich lebhaft seiner Sinne zu bemächtigen.
Seine Lage war offenbar verzweifelt. Inzwischen raffte er noch die Reste der Besinnung zusammen, um wenigstens den Versuch einer Rettung zu unternehmen. Wie sonst wohl ein Häftling an Gittern und Mauern rüttelt, um einen Ausgang zu erzwingen, so rannte Robinson jetzt an der Steinwand entlang und rüttelte. Vielleicht ging irgendwo ein Felsstück los und öffnete ihm den Weg ins Freie! Aber da gab nichts nach in dem eisenfesten Gefängnis, dessen Mauern tausendmal dicker sein mochten als die irgendwelchen Menschenkerkers. 151 Nur an einer Stelle kam es ihm vor, als ob sich die Wand nach hinten ausbuchtete, und im Weitertasten gewahrte er, daß diese Buchtung sich in eine Art Schacht fortsetzte, in einen engen Kamin, der ihm gerade noch die Möglichkeit gewährte, sich hinein- und hindurchzuzwängen.
Ein Weg war dies wohl. Aber ins Freie? Das erschien in hohem Grade unwahrscheinlich. Ganz im Gegenteil mußte er annehmen, daß er nun nur noch immer tiefer in den finstern Schlund des Bergs hineingeraten müßte. Doch wie der Wechsel den Glücklichen schreckt, so bleibt der Wechsel dem Verunglückten die einzige Aussicht auf Rettung. Nur eine andere Lage! Eine andere Stellung! Eine andere Umwelt! Er schob sich also vorwärts, immer vorwärts, ohne zu wissen, wohin, wie lange, zu welchem Ende; und der Schachtgang, der mäßig bergan führte, schien niemals aufhören zu wollen.
Da auf einmal erweiterte er sich, ein ganz schwacher Tagesschein drang herein, und nach wenigen Schritten hätte an ihm zur Wahrheit werden können: »Es freue sich, wer da atmet im rosigten Licht« – wenn seine Fähigkeit, Freude zu empfinden, überhaupt noch wach gewesen wäre. Wohl war er nun im Freien, allein die Erschöpfung hatte ihn übermannt. Nur noch eine kurze Strecke taumelte er mit geschlossenen Augen und weitausgebreiteten Armen, dann sank er mit einem durchdringenden Schrei zu Boden.
Als er sich nach dem Erwachen in seine Behausung geschleppt und den ersten wütenden Hunger gestillt hatte, dachte er mit Schrecken, daß er wohl an achtzehn Stunden in der Höhle geweilt haben müßte. Da fiel sein Blick auf jene große Muschel, aus der er sich eine Uhr zu gestalten gedacht hatte. Sie war vollkommen leer! Der ganze Sand, den er aufgeschüttet hatte, war auf die Unterlage hindurchgerieselt, bis auf wenige Körnchen, die eben noch ihren Weg durch die feine Öffnung suchten. Dieser Sand hatte also geduldig gezählt, wie lange Robinson abwesend war, und er brauchte nur den Versuch zu wiederholen, um sich selbst Gewißheit zu verschaffen, wie lange dies gewährt hatte. Er schaufelte also die ganze abgelaufene Sandmenge wieder in die Muschel und ließ sie aufs neue durch das seine Loch rieseln. Aber das schien endlos zu währen: dreimal 152 hob sich und senkte sich die Sonne, bevor jetzt das letzte Körnchen abgelaufen war, und so sagte ihm diese Muscheluhr: »Robinson, du täuschst dich, wenn du glaubst, daß du nur achtzehn Stunden entfernt warst! Nein! Drei volle Tage und Nächte hast du in dieser blauschimmernden Grotte geweilt, drei Tage hast du gehungert und dich in Entsetzen gequält. Und in der Verzweiflung hatten sich deine Sinne so getrübt, daß sie den Zeitablauf nicht mehr zu beurteilen vermochten.«
Einige Monate später wandelte Robinson aber doch wieder die Sehnsucht nach der blauen Höhle an. Er wollte wenigstens von außen wieder einen Blick hineinzutun versuchen. Allein solange er auch in den Klippen hin und her schwamm, der flache Bogeneingang war nicht mehr zu finden. Vielleicht hielt ihn ein abgestürzter Block verdeckt und versperrt. Und seither hat niemand mehr das blaue Wunder auf jenem Eiland zu Gesicht bekommen.
Ursula: Ach, der arme Robinson! Wie muß der sich in der Höhle geängstigt haben!
Johannes: Er hat aber dafür etwas sehr, sehr Schönes erlebt.
Peter: Ja, etwas Herrliches! Aber woher kam es eigentlich, Vater, daß das Wasser an dem Höhleneingang so anstieg, und warum glaubte Robinson, daß es gerade nach sechs Stunden wieder fallen würde?
Johannes: Das könntest du doch schon wissen, Peter. Es war die Flut, mit der das Wasser sich hob, und nachher mußte doch wieder Ebbe kommen.
Peter: Ja, aber was ist denn das eigentlich, Flut und Ebbe? Kannst du mir das erklären?
Johannes: Ach ja, das hängt mit dem Mond zusammen! Der zieht das Wasser an.
Peter: Der Mond? Ach! Es war doch aber am Tag, und da ist der Mond doch gar nicht da!
Johannes: Ja freilich! Das ist richtig. Hast du dich da vielleicht geirrt, Vater?
Vater: Nein, mein Kind, was ich sagte, war ganz richtig, und auch du hast die Ursache für die Flut zutreffend angegeben. Es ist einer der seltsamsten Vorgänge in der gewaltigen Natur, 153 daß der Mond eine Erhebung des Wassers auf der Erde auch an solchen Stellen zu bewirken vermag, denen er geradenwegs abgekehrt ist. Hätte Robinson in dem Augenblick, als die Flut vor dem Höhleneingang anstieg, den Mond suchen wollen, so hätte er, falls er Zeit und Kraft genug dazu besessen, und das überhaupt möglich wäre, einen geraden Schacht durch die ganze Erdkugel über deren Mittelpunkt hinweg graben müssen. Dann würde er drunten auf der anderen Seite der Erde gerade den Mond angetroffen haben.
Peter: Nun weiß ich aber gar nicht mehr, was los ist, Vater! Du und Johannes, ihr sagtet eben, daß die Flut entsteht, weil der Mond das Wasser anzieht. Da hätte doch also jetzt gerade tiefste Ebbe bei Robinsons Insel sein müssen. Denn der Mond stand doch drunter.
Vater: Damit du verstehst, wie die beiden Tatsachen Mondanziehung und Flutberg auf der dem Mond abgekehrten Seite der Erde sich doch miteinander vertragen, wollen wir uns die ganze Erscheinung einmal systematisch ansehen. Zu diesem Zweck stellen wir uns vor, daß Mond und Erde stillstehen und die Erde ganz mit Wasser bedeckt ist. Alle Weltkörper ziehen einander an. Wir merken auf der Erde aber in der Hauptsache nur die Anziehungskraft des Mondes, weil dieses Gestirn uns ja so ganz besonders nahe steht. Denken wir uns eine Linie vom Mittelpunkt des stillstehenden Mondes zum Mittelpunkt der stillstehenden Erde gezogen, so äußert sich die Anziehungskraft des Gestirns dort am stärksten, wo diese Linie die Wasseroberfläche der Erde trifft. Wasser ist ja nun ein leicht beweglicher, nachgiebiger Körper. Was wird also die Folge sein?
Johannes: Das Wasser wird sich emporwölben.
Peter: Ja, dadurch entsteht die Flut, das verstehe ich. Aber was geschieht nun auf der anderen Seite?
Vater: Um das zu begreifen, müßt ihr einmal recht sorgfältig hinhorchen. Drüben herrscht auch Flut. Der Mond zieht nämlich nicht bloß das Wasser an, sondern am Ende doch auch den ganzen Erdball. Wenn der Mond nicht vorhanden wäre, würde die Bahn der Erde durch den Himmelsraum ein ganz klein wenig anders laufen, als dies tatsächlich der Fall ist. So 154 schwer uns die Vorstellung fällt, es ist doch so: der Mond rückt den ganzen gewaltigen Erdball etwas zu sich heran. Aber die Kraft, mit der er noch am Mittelpunkt der Erde angreift, wird immer geringer, je weiter man sich der Erdkruste auf der Seite nähert, die dem Mond abgekehrt ist. Da wirkt die Mondanziehung nicht mehr so stark. Das Wasser liegt aber lose um die Erde herum. Es macht auf der abgekehrten Seite das Heranrücken des zusammenhängenden, festen Erdkörpers an den Mond einfach nicht mit. Es bleibt gewissermaßen im Weltraum zurück, folglich muß sich gerade an jener Stelle, die dem Mondstand genau entgegengesetzt ist, ebenfalls ein Flutberg bilden. Es sieht so aus, als wenn der Mond dort geradezu eine abstoßende Wirkung übte. Auf diese Weise also entstand der Flutberg bei Robinsons Insel, über dessen Zustandekommen sich Peter mit Recht gewundert hat.
Johannes: Wie wunderbar ist es doch, daß die Menschen all das ergründet haben!
Vater: In den Erkenntnissen dieser Art steckt die Arbeit von Menschengeschlechtern, die Jahrtausende ausgefüllt haben. Uns, die wir heute leben, ist es nun ein leichtes, die Fluterscheinung für jeden Ort auf der Erde auszurechnen. Denn in Wirklichkeit stehen ja Erde und Mond nicht still, sondern kreisen umeinander. Und die beiden Flutberge wandern. Wenn ihr darauf achtet, werdet ihr sehen, daß hier vor uns auf der Elbe die ganz großen Schiffe nur zu bestimmten Stunden nach Hamburg hinauffahren, nämlich stets nur dann, wenn in dem Teil der Nordsee, der vor der Elbmündung liegt, Flut ist. Alsdann staut sich das Wasser auch im Fluß zurück, und seine Wassertiefe wird größer, so daß den gewaltigen Schiffen die Fahrt durch den immerhin recht flachen Fluß erleichtert wird. Zweimal innerhalb vierundzwanzig Stunden erscheint die Flut, täglich zu einer anderen Zeit, da die Mondbahn sich unausgesetzt verschiebt.
Johannes: Wie hoch steigt denn das Wasser jedesmal bei der Flut an?
Vater: Die Fluthöhe ist in doppelter Weise verschieden. Einmal hängt die Erhebung des Wassers von der Gestaltung der Küsten ab. Hier in unserer Nähe um Helgoland herum 155 steigt die Flutwelle gewöhnlich noch nicht einmal drei Meter hoch, aber in der Fundy-Bai an der nordamerikanischen Küste erreicht sie eine Höhe von mehr als fünfzehn Metern. Wenn dort ein Schiff an einem Bollwerk liegt, um seine Ladung zu löschen, und die Ladeluken bei voller Flut gerade in der Höhe des Bollwerkfußbodens sich befinden, dann liegt es später bei Ebbe so tief, daß jetzt erst die Mastspitzen diese Höhe erreichen.
Dietrich: Ich habe auch öfter schon von Springfluten gelesen. Was ist denn das?
Vater: Damit bringst du mich auf die zweite überaus interessante Erscheinung. Wenn man ganz genau beobachtet, findet man nämlich, daß nicht nur der Mond das Wasser emporhebt, sondern auch die Sonne. Deren Einwirkung ist freilich trotz ihrer ungeheuren Größe sehr viel geringer, da sie ja so unausdenkbar weit von der Erde absteht. Dennoch ist überall höchste Flut, Springflut genannt, wenn die Stellung der Gestirne am Himmel gerade so ist, daß Sonnenanziehung und Mondanziehung sich addieren. Die kleinste Wassererhebung, die Nippflut, tritt ein, wenn die Anziehungen einander entgegenarbeiten.
Und nun müßt ihr euch vorstellen, daß unter dem Zwang dieser Kräfte jahrtausendelang täglich zweimal die Erde ihre gewaltigen Atemzüge tut. Zwei ungeheure Wellen laufen ständig über den Erdball hin. Alles Wasser der Ozeane wird täglich zweimal in ungeheuerstem Maß aufgewühlt. Es steigt und fällt, es brandet gegen die Küsten und weicht wieder von ihnen zurück. Sonne und Mond sind nicht mehr ferne Körper, sie wirken in unserer unmittelbarsten Nähe. Seht jene Sanddank dort unten in der Elbe. Sie ist noch feucht. Als ich meine Erzählung heute nachmittag begann, war sie vollständig vom Wasser überspült. Jetzt liegt sie bloß. Der Mond hat ihr das Wasserkleid fortgezogen. 156