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Dietrich: Vater, ich möchte gern etwas fragen. Du erzähltest doch neulich, Robinsons Spinnenpendel hätte unaufhörlich gezittert. Ich habe aber irgendwo gelesen, daß eine unaufhörliche Bewegung in der Welt gar nicht möglich ist. Da stimmt doch also etwas nicht.
Vater: Gut, daß du mich darauf bringst. Hier scheint tatsächlich ein Widerspruch vorhanden, und dem wollen wir auf den Grund gehen. Auch Robinson empfand diesen Widerspruch, und um ihn zu lösen, unternahm er zunächst einmal folgendes. Er fertigte ein zweites, viel längeres Fadenpendel mit Gewicht, hing dies am höchsten Punkt seiner Behausung auf und ließ es frei in großem Bogen schwingen. Das ging nun ziemlich langsam hin und her, wie eine lange Schaukel. Bogen folgte auf Bogen, und in der ersten Stunde schien sich nicht das geringste zu ändern. Robinson saß in einer Ecke, verfolgte das Schwingungsspiel des Pendels aufmerksam mit den Augen. Allein schon in der zweiten Stunde gewahrte er eine Erscheinung, die seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch nahm: er bemerkte nämlich, daß sich die Richtung der Schwingung merklich veränderte.
Wie in aller Welt mochte dies zugehen? Hier im geschlossenen Raum war doch nicht der geringste Luftzug vorhanden. Und dennoch! Das lange Pendel ging nicht nur hin und her, es drehte sich auch noch! Und siehe da, es drehte sich im Lauf der Zeit ganz im Kreisbogen um wie ein Uhrzeiger. Aber was konnte nur diesen einfachen Faden mit seinem Gewicht veranlassen, eine so auffallende Drehung im Kreis zu vollziehen?
212 Robinson wußte es nicht und kam trotz allen Kopfzerbrechens nicht dahinter. Erst einen Monat später sollte er es erfahren, als er in seinen Büchern der Naturkunde auf die Beschreibung eines Ereignisses stieß, das im Jahre 1852 in Paris stattgefunden hatte.
Dort steht nämlich ein von ungeheurem Kuppelbau überwölbtes Gebäude, das Pantheon, und von dieser Kuppel herab hatte der Naturforscher Foucault ein bis fast auf den Boden reichendes Fadenpendel schwingen lassen. Es war also im großen ganz dasselbe, was Robinson hier im kleinen vor sich hatte. Auch das Pendel im Pantheon hatte mit seinen Schwingungen die merkwürdige Drehung vollzogen, und Foucault hatte daraus gefolgert:
Wir deuten die Erscheinung falsch, wenn wir die Drehung dem Pendel zuschreiben. Nein, das Pendel behält unverdrossen seine Schwingung bei und ändert deren Richtung nicht im mindesten. Aber die Erde dreht sich unter ihm fort! Und da wir Beobachter uns mit der Erde mitdrehen, so schieben wir, in einer Täuschung befangen, die Veränderung gerade auf das, was sich nicht verändert; so wie das Flußufer sich zu verschieben scheint, wenn wir aus der Luke eines fahrenden Schiffs hinausblicken. Unsere Eigenbewegung verschwindet in unserem Bewußtsein, während das, was ruht, sich zu bewegen scheint. Mit anderen Worten: das Foucault-Pendel, oder wie wir hier ebensogut sagen können, das Robinson-Pendel ist der klarste Beweis für die Umdrehung des ganzen Erdplaneten!
Das war für Robinsons Seele natürlich eine großartige Erregung. Man denke nur: ein einfacher Faden mit einem Metallstückchen, also ein Ding, das kaum noch den Namen eines Werkzeugs verdient, war imstande, ihm einen Weltvorgang zu verdeutlichen! War imstande, ihm eine Einsicht zu vermitteln, zu der die Menschheit in Jahrtausenden seit Anbeginn bis zu Kopernikus nicht durchzudringen vermochte.
Aber das Fadenpendel zeigte ihm noch mehr: seine Schwingungen wurden im Lauf der Stunden kleiner und kleiner, und schließlich stand es still. Denn die kleinen Erzitterungen, die noch übrigblieben, rührten ja, wie wir wissen, von anderen Ursachen her und kamen gegen die großen Bogenschwingungen des langen 213 Pendels gar nicht in Betracht. Warum also stand es still? Warum schwingt ein in Bewegung gesetztes Pendel nicht ewig?
Dietrich: Das läßt sich wohl denken: es hat ja fortwährend den Luftwiderstand zu überwinden und zehrt so seine Kraft langsam auf.
Vater: Und meinst du nun, daß diese Kraft völlig aus der Welt verschwunden ist?
Dietrich: Das wohl nicht. Aber sie ist irgendwohin gegangen, wo wir sie nicht mehr bemerken, und im Pendel ist sie nun nicht mehr drin. Mir kommt das so vor, als wenn einer fragen wollte, wo die Kraft einer Taschenuhr hingekommen ist, wenn sie abläuft und stehenbleibt.
Vater: Siehst du, Dietrich, diese Frage ist wirklich durch Hunderte von Jahren gestellt worden. Und immer hat es unruhige Köpfe gegeben, die da vermeinten, eine Kraft könne sich nicht abnutzen, und es müsse schließlich möglich sein, eine ewige Uhr, eine ewige Maschine zu konstruieren, kurzum, ein »Perpetuum mobile« zu bauen. Und in diesem Traum steckt ein Stück Wahrheit. Denn eine Kraft verschwindet nie wirklich; sie nimmt nur andere Formen an, verwandelt sich durch Widerstände und Reibungen in Wärme, die sich für uns unmerklich im Weltall zerstreut.
Auch die Kraft der abgelaufenen Feder in der Taschenuhr hat sich in Wärme umgewandelt. Sie wird also nicht geringer, aber sie verliert nach und nach die Fähigkeit, gerade die bestimmte Leistung zu verrichten, die wir wünschen oder erwarten. Deshalb muß jede Uhr aufgezogen, jede Maschine neu geheizt oder sonstwie mit neuer Triebkraft versorgt werden. Und sonach bleibt ein Perpetuum mobile für alle Zeiten eine Unmöglichkeit.
Dietrich: Vater, die Sache stimmt immer noch nicht. Du sagst stets Uhr und Maschine, und das ist ja auch ganz leicht zu kapieren. Denn daß zum Beispiel eine Lokomotive aufhört zu laufen, wenn ihr die Kohlen oder das Wasser ausgehen, das versteht ja schließlich ein kleines Kind. Aber wie ist es denn bei einer Sache, die von der Natur selber eingerichtet wird? Unsere Elbe da drüben fließt doch schon seit ewig und wird ewig fließen, da hast du doch gleich ein Perpetuum mobile!
214 Vater: Ausgezeichnet! Du könntest sogar ergänzen: auch unsere Elbe ist eine Maschine, wie jeder Bach, jeder Fluß, wie das Weltmeer in seiner steten Bewegung Maschinen sind, Werkzeuge, die die Natur für ihre besonderen Zwecke gebaut hat und im Gang erhält. Ja, was ist schließlich die Erde anderes als eine ungeheure Rotationsmaschine und das ganze Sonnensystem anderes als eine Vereinigung solcher Maschinen?
Johannes: Na also, Vater! Jetzt hast du dich gefangen, und nun wird's bald herauskommen, daß wir bloß nicht geschickt genug sind, um so ein Perpetuum mobile zu bauen, während die Natur das machen kann, soviel sie Lust hat!
Vater: Da muß ich mich wohl ergeben. Allein bevor ich mich dazu entschließe, möchte ich mich doch noch nach unserem Robinson umsehen, der gerade, am Ufer des kleinen Bachs stehend, über dieselben Vorgänge nachsinnt. Dieser Bach, der, vom Hügelgelände anfangend, in kurzem Lauf den größten Teil der Insel durchquerte, war von den Regengüssen mehrerer Tage stark angeschwollen und zeigte durch Geröllwaschung und Schlamm eine graugelbliche Färbung. Und hier überlegte Robinson: dieser Bach ist also das Sinnbild einer ewigen Bewegung oder, wie die Gelehrten sagen, ein Perpetuum mobile. Was er da mit sich führt, um es ins Meer abzulagern, sind nicht nur Wassermengen, sondern auch erdige, steinige Teile, die er von den Hügeln abgewaschen hat und noch immer sehr stark abwäscht, wie der Augenschein lehrt. Wenn er diese Erd- und Steinteile ins Meer entführt, so fehlen sie dem Gebirge, dem sie zuvor angehörten; und da dieser Vorgang niemals aufhört, sich bei jedem Regenguß erneuert, so muß einmal der Zeitpunkt eintreten, wo von dem ganzen Gebirge nichts mehr übriggeblieben ist.
Peter: Aber das kann doch ein Bach allein nicht machen?
Vater: Gleichgültig ob allein oder in Zusammenarbeit mit Zuflüssen oder mit anderen Wasseradern. Das Ergebnis steht fest. Bergauf wird nichts geschwemmt, bergab allmählich alles. Solange noch die geringste Erderhebung vorhanden, werden sich talwärts fallende Gewässer bilden, da die feuchten Niederschläge in dem euch ja bekannten Kreislauf des Wassers niemals aufhören. Ist aber erst der letzte Rest des Gebirges 215 heruntergewaschen, dann kommt auch der Bach zum Stillstand, er verschwindet mit der Landerhebung. Und Robinson schloß seine Betrachtung mit den Worten: Du munterer Bach wirst gewiß noch lange fließen, vielleicht durch Jahrtausende, aber nicht ewig. Also ein Perpetuum mobile bist du nicht. Auch dir ist es bestimmt, einmal stillzustehen.
Und Robinson entsann sich seiner alten Heimat und der lieben Elbe, die sie durchströmt, vom winzigen Ursprung in der Elbquelle am Reifträger bis zu ihren majestätischen Ausweitungen über Hamburg bis Cuxhaven. Und wem verdankt sie ihre rastlos treibenden Fluten, ihre Macht und Schönheit? Den Nebenflüssen bis zuletzt zu den rieselnden Bächen, die aus den Berggeländen zu Tal streben. Verschwinden die Bäche, dann versiegen auch die Flußadern, dann ade, stolze Elbe! Und mit ihr werden so viele andere Ströme ihr Dasein verlieren, die Donau, die Oder, die Wolga, und der sagenumwobene Rhein wird selbst zu einer Sage werden: »Es war einmal.« Aber der Physiker wird in jener fernen Zeit sprechen: es war doch ganz selbstverständlich, daß die Ströme einmal aufhörten, denn ein Fluß ist doch kein Perpetuum mobile.
Möglich und denkbar bleibt allerdings, daß sich aus dem Schoß der Erde durch innere Kräfte neue Gebirgsmassen emportürmen, und daß aus diesen neuen Gebirgen neue Bäche zu rieseln anfangen, die neue Ströme erzeugen. Was hat dann die Natur getan? Sie hat das alte abgelaufene Uhrwerk neu aufgezogen, und dann mag es wieder eine geraume Zeit fortgehen.
Aber die ganze Weltmaschinerie? Nun, sie ist sehr dauerhaft angelegt und trägt in sich bewegende Kräfte, die für die Reise auf viele Millionen von Jahren ausreichen. Aber nicht für die Ewigkeit. Denn alle diese Kräfte sind darauf aus, einmal einen Zustand des Gleichgewichts zu erreichen, worin sie für weitere Leistungen der Bewegung und des Lebens untauglich werden. Dann wird die Welt eine gestaltlose Masse geworden sein, in der all die Riesenkräfte, die vordem an Sonne und Sternen tätig waren, in eine gleichmäßige Wärme sich verwandelt haben. Und wenn dann noch etwa der Geist eines Physikers im Raum schweben sollte, so wird er denken: ganz, wie ich voraussagte! Auch diese Weltmaschinerie mußte einmal 216 zum Stillstand kommen, denn wie im Kleinsten, so gibt es auch im Größten kein Perpetuum mobile.
Johannes: Ach, Vater, das ist doch aber eigentlich recht trostlos.
Vater: Ich kann das nicht finden. Für mich ist der Gedanke an ein Ende der Welt nicht gewaltsamer als der, daß ich selbst einmal sterben muß. Die Welt wird nach ihrer Auflösung nicht anders sein als in unendlicher Vorzeit, da sie noch gar nicht vorhanden war. Und ist jener vorzeitliche Zustand kein Unglück für sie gewesen, so wird auch das Ablaufen ihrer Maschinerie kein Unglück für sie bilden. Zudem spricht zwar die Physik für unseren Menschenverstand das letzte Wort, aber nicht für die Natur selbst. Wenn es uns auch nicht recht begreiflich wird, so ahnen wir doch eine Möglichkeit über die von uns erkannten Naturgesetze hinaus. Das will sagen, daß noch unerforschte Gewalten existieren können, die nach Ablauf dieser Erden-, Sonnen- und Sternenwelt etwas ganz anderes an deren Stelle setzen, etwas, das sich jeder Voraussage und Berechnung entzieht. Vielleicht ergibt das eine Welt mit anderen Naturgesetzen, und dann könnte sogar möglich werden, was bisher noch nie möglich, noch nie ausdenkbar gewesen ist: das Perpetuum mobile.
Daß Robinson am Ufer seines Bachs an so entlegene Dinge dachte, halte ich übrigens für unwahrscheinlich. Sein Blick blieb der Heimat zugewendet, und durch sein schwermütiges Sinnen huschte immer wieder die Hoffnung, deutsche Erde wiederzusehen und das Elternhaus. Um dorthin zu gelangen, so dachte er, brauchte ich kein Perpetuum mobile. Ein Schiff mit breiten Segeln oder guten Maschinen genügt. Und im selben Augenblick durchfurchte ein glänzendes Meteor den Abendhimmel im Nordwesten, als wollte das Schicksal ihm ein Signal geben, wohin dereinst seine Reise gehen sollte. 217