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Vater: Ihr besinnt euch, daß Robinson in seiner Kiste mehrere Glaslinsen gefunden hat. Eine von ihnen, die erhaben geschliffen war, benutzte er öfter als Vergrößerungsglas. Wenn er bei den Termiten vorbeikam, fing er sich einige von den Tierchen und betrachtete ihren höchst interessanten Körperbau durch dieses bescheidene Mikroskop.
Dietrich: Wievielmal vergrößert sah er denn dadurch die Termiten?
Vater: Oh, das dürfte nicht sehr bedeutend gewesen sein. Mehr als das Zwei- bis Dreifache der natürlichen Größe konnte er kaum erzielen. Er sah durch die Linse wohl den Bau der Köpfe und Beißwerkzeuge deutlicher, aber die große Zahl hochinteressanter Einzelteile, die an solch einem Insektenkörper zu finden sind, entging ihm dennoch. Dazu reichte die Vergrößerung nicht aus, weil er eben kein richtiges Mikroskop zur Verfügung hatte.
Johannes: Wievielmal vergrößert denn das?
Vater: Ich will dir als Antwort darauf statt der trockenen Zahl lieber etwas Gegenständliches nennen. Als Beispiel nehmen wir einen Felsen.
Peter: Einen Felsen? Ich denke, unter das Mikroskop kann man nur kleine Dinge legen!
Vater: Ja, es soll auch nicht der ganze Felsen unter die Linsen kommen, sondern nur ein ganz, ganz kleines Bröckchen davon. Wenn wir es aus einem geeigneten Gebirge gebrochen haben, dann sehen wir unter dem Mikroskop zu unserem nicht geringen Erstaunen, daß der ganze riesige Fels nicht, wie es den äußeren Anschein hat, aus einheitlicher Masse besteht, 231 sondern aus lauter winzigsten, aber fest zusammenhängenden Stückchen aufgebaut ist, von denen man mehrere Millionen zusammenhäufen kann, bis sie die Dicke eines Stecknadelkopfs erreichen. Diese Teilchen sind nichts anderes als die kieseligen Skelette von Tierchen, die einst vor Jahrmillionen oder Jahrmilliarden in unendlicher Anzahl im Meer gelebt haben, dann abgestorben sind und ihre unvergänglichen Überreste in unendlicher Zahl aufeinander getürmt haben. Da die Erde viele Umwandlungen durchgemacht hat, so ist das, was einst Meeresboden gewesen, heute hoch in die Luft ragender Fels. Bei weitem nicht alle Gebirge sind auf diese Weise entstanden, aber doch viele von ihnen.
Johannes: Ach, Vater, es ist mir ganz unmöglich, zu begreifen, wie so schrecklich kleine Tiere ganze große Gebirge zusammensetzen können.
Vater: Diese Vorstellung ist auch ganz gewiß nicht leicht. Man muß da mit etwas rechnen, was in den menschlichen Verstand eigentlich gar nicht hineingeht, nämlich mit dem Unendlichen oder wenigstens mit einer so ungeheuren Größe, daß sie uns schon unendlich erscheint. Das Allerkleinste kann größte Wirkungen haben, wenn es nur lauge genug oder häufig genug zu wirken vermag. Jene Tierchen mit den Kieselskeletten hatten für die Bildung der Gebirge Zeiträume zur Verfügung, denen gegenüber die ganze Dauer der menschlichen Geschichte noch längst nicht so viel bedeutet wie ein einzelner Mensch im Gewimmel aller Erdbewohner. Während des Ablaufs so zahlreicher Jahrmillionen läßt sich schon etwas schaffen.
Johannes: Diese Tierchen sind dann wohl das Kleinste, das es überhaupt gibt?
Vater: Da täuschst du dich arg über die Kleinkunst der Natur. Jedes dieser so feinen Skelettlein besteht wieder aus Einzelteilen, deren Zahl in jedem einzelnen dieser Körperchen nicht geringer ist als die Anzahl der Skelette in einem großen Fels. Die allerkleinsten Bausteine, aus denen die Natur das unendliche Gewimmel aller Körper auf der Erde und im Weltraum zusammengesetzt hat, die Atome, sie erst bilden eine Grenze nach unten. Auf der anderen Seite steht die ungeheure Größe mancher Fixsterne, die selbst die Masse unserer Sonne erheblich übertreffen.
232 Johannes: Kann man denn nun die Atome durch das Mikroskop sehen?
Vater: Nein, das ist nicht möglich und wird, soweit wir die Dinge heute überschauen können, wahrscheinlich auch niemals möglich sein. Eine bestimmte Eigenart des menschlichen Auges verbietet das. Das Allerkleinste, was wir heute mit Hilfe eines äußerst fein ersonnenen Apparats, des Ultramikroskops, noch zu erkennen vermögen, muß wenigstens so groß sein wie der zehntausendste Teil eines Millimeters. Ein Atom aber ist, wie man aus scharfsinnigen Überlegungen geschlossen hat, höchstens ein hundertmillionstel Millimeter groß. Da ist also noch eine weite, unüberbrückte und vielleicht für immer unüberbrückbare Kluft.
Unser Robinson benutzte seine Linsen aber nicht nur zur Untersuchung des Kleinen, er wollte damit auch das Große genauer betrachten. Er dachte, es müsse sich mit Hilfe der geschliffenen Glasstücke auch ein Fernrohr herstellen lassen. Nur wußte er nicht recht wie. Eines Tags hielt er beim Herumexperimentieren eine hohl oder konkav geschliffene Linse hinter eine erhaben oder konvex geschliffene und sah durch beide zugleich hindurch. Da erging es ihm so ähnlich wie jenem holländischen Knaben, dem Sohn eines Brillenschleifers, der gleichfalls zwei derartige Linsen in gemessener Entfernung vors Auge hielt. Erstaunt rief er aus: »Sieh nur, Vater, der Hahn kommt herunter!« Er meinte den Wetterhahn auf dem Kirchturm, den er durch die zwei Linsen vergrößert, also genähert sah. Denn wenn man eine konkave Linse ans Auge bringt und in gewisser Entfernung davon eine Konvexlinse hält, so erzeugt die Strahlenbrechung in beiden Linsen die Wirkung des Fernrohrs.
In Robinsons Gesichtskreis befand sich nun freilich kein Kirchturm und kein Wetterhahn, wohl aber eine fliegende Möwe, und diese sah er nun beim Durchblick durch die beiden Linsen weit näher und deutlicher als vorher mit unbewaffnetem Auge. Und obwohl er schon als Knabe mehrfach durchs Fernrohr geschaut hatte, so war es ihm früher doch niemals eingefallen, sich um die Zusammensetzung dieses Instruments zu bekümmern, während ihm jetzt plötzlich der ganze, im Grunde so einfache Bau klar wurde. Er hatte nur noch nötig, ein Gestell 233 zu fertigen mit einer Rinne, worin sich die Augenlinse, das sogenannte Okular, verschieben ließ, und der Apparat war gebrauchsfertig.
Robinson benutzte den nächsten, ganz klaren Tag, um von dem Felsrücken über seiner Höhle mit dem Fernrohr Ausguck zu halten. Er wollte einmal sehen, ob er nicht an dem fernen Küstensaum, welchen er für das Festland hielt, Spuren von Leben erkennen könnte. Er nahm das Fernrohr ans Auge, verschob das Okular so lange, bis das Instrument die beste Wirkung für sein Auge ergab, und sah angestrengt hindurch. Zunächst nahm er nichts weiter wahr als eben den Küstenstrich, den er schon kannte; nur etwas deutlicher konnte er ihn sehen. Es war offenbar ein niedriger, mit Wald bestandener Strand.
Doch etwas weiter hinten, was war das? Robinson schoß eine Feuerwelle ins Gesicht. Mit aller Kraft nahm er sich zusammen, um in Ruhe zu schauen. Da sah er deutlich eine ganze Stadt mit weißen Häusern, geraden Straßen, seltsam gebauten Kirchen, Wagen, die in den Straßen fuhren, Menschen, die sich darin bewegten. Sie trugen teils weiße, teils farbige Gewänder. Auf den Plätzen war ein Gewimmel und . . . Robinson mußte das Fernrohr absetzen, denn Tränen, die beim solange entbehrten Anblick von Menschen seinen Augen entströmt waren, hatten das Okular benetzt und undurchsichtig gemacht. Rasch wischte er es ab und nahm das Fernrohr wieder auf. Doch so weit er jetzt auch spähte und schaute, wohin am Horizont er auch das Fernrohr richtete, keine Stadt war mehr zu sehen, nur der bewaldete Küstenstrich schloß den leeren Sehraum ab.
Ursula: War das vielleicht die versunkene Stadt, die aus dem Meer aufgetaucht war?
Peter: Du meinst wohl Vineta, Schwesterchen? Aber die liegt doch, wie in unserem Sagenbuch steht, in der Ostsee und nicht im Großen Ozean.
Johannes: Robinson wird ja wohl auch nicht eine sagenhafte Stadt, die es also gar nicht gibt, gesehen haben können! Vater erzählt uns doch nur Wirkliches!
Peter: Aber wie kann das wirklich gewesen sein? Eine ganze Stadt, die man eben sieht, und die dann wieder fort ist!
234 Vater: Das Begebnis war wunderbar und doch ohne Wirkung von Zauberkräften möglich. Schon mancher Reisende auf dem Meer und manche Karawane in der Wüste haben eine Stadt vor ihren Augen auftauchen gesehen, die alsbald wieder verschwand. Als man die Erklärung für diese Erscheinung noch nicht kannte, betrachtete man sie als das Werk einer Fee namens Morgana; man nennt den Vorgang noch heute Fata Morgana unter Anwendung des italienischen Worts für Fee.
Johannes: Aber wie um des Himmels willen können ganze Städte sich so verschieben? Das kann man doch überhaupt gar nicht glauben!
Vater: Die Städte verschieben sich auch nicht; das wäre natürlich gar nicht möglich. Robinson sah während einiger Minuten, und gerade als er das Fernrohr vors Auge hielt, eine Stadt auf der Insel Sumatra, die in Wirklichkeit weit unter seinem Horizont lag. Sie erschien ihm durch Luftspiegelung näher gerückt. Die Erklärung ist folgende.
Wenn ein Lichtstrahl aus einem Stoff in einen anderen übergeht, zum Beispiel aus Luft in Wasser, so wird er gebrochen. Steckt einmal einen Stock zur Hälfte in das Wasser einer Badewanne, und ihr werdet sehen, daß er geknickt aussieht. Ihr seht dann die Spitze des Stocks an einer Stelle, wo sie sich in Wirklichkeit gar nicht befindet. Das Licht der Sonne durchläuft nun in der Erdatmosphäre Luftschichten von ganz verschiedener Dichtigkeit. Die Strahlen werden hierbei vielfach gebrochen, und es ist wissenschaftlich erwiesen, daß die Sonne in Wirklichkeit niemals genau an der Stelle steht, wo wir sie sehen. Wenn wir die Scheibe der untergehenden Abendsonne noch erblicken, ist sie in Wirklichkeit schon unter dem Horizont. Die Strahlenbrechung hebt sie scheinbar empor. Und durch solche Ablenkung von Lichtstrahlen kann es unter besonders günstigen Umständen auch hier und da geschehen, daß ein Stück Land, auf dem Bäume, Felsen, vielleicht auch eine Stadt stehen, sich über den Horizont erhebt. Dann ist die Luftspiegelung da, die für wenige Augenblicke täuschend uns als Wirklichkeit vor Augen stellt, was nur ein optisches Phänomen ist. Robinson unterlag der Täuschung um so mehr, als er während der Fata Morgana, kurz vor dem Vergehen des Scheinbilds, 235 gerade durchs Fernrohr blickte und darauf vorbereitet war, etwas Besonderes wahrzunehmen.
Peter: Wußte er denn nun, daß er nur eine Luftspiegelung gesehen hatte?
Vater: Zunächst konnte er über die Erscheinung gar nicht ins reine kommen. Dann aber entsann er sich, in seinen Büchern von solchen schwankenden Städten gelesen zu haben, und so beruhigte er sich schließlich. Der kurze Anblick des Treibens in einer Stadt hatte ihn, den Einsamen, freilich stark erschüttert. Er empfand sein Schicksal eine Zeitlang wieder doppelt schwer, bis die Erregung seiner Seele allmählich ebenso abblaßte, wie es bei einer Fata Morgana zu geschehen pflegt. –
Wir überspringen nun einige Jahre, in denen Robinson ein ruhiges, gelassenes Dasein auf seiner Insel führte. Er war so sehr daran gewöhnt, nur mit dem Meer, den Pflanzen, seinen Gemsbüffelchen und den Büchern umzugehen, daß er ohne Beschwerden Gedanken zu Ende denken konnte, sein Leben hier in der Einsamkeit zu vollenden. Die Welt da draußen sah er nur noch durch einen dichten Nebelschleier. Er vermochte sich kaum noch vorzustellen, wie man gesellschaftlich miteinander lebt, und wie einem zumute ist, wenn man alle Errungenschaften der Kultur zur Verfügung hat. Sehr viel half ihm zur Erringung dieser getrosten Gemütsart die naturwissenschaftliche Bildung, die er sich angeeignet hatte. Da gab es so viele Dinge, über die man nachsinnen konnte, so vieles, dessen gedankliche Durchforschung Freude und Glück gewährte, daß er sein Leben nicht als leer empfand.
Doch auch die handwerkliche Tätigkeit vernachlässigte unser Freund nicht. Er machte seine Wohnung immer behaglicher, schuf sich durch die Werkzeuge und Materialien, die er in der Ingenieurkiste gefunden hatte, so manchen brauchbaren Gegenstand. Als Jäger hatte er allmählich eine große Sicherheit erreicht, und das war auch notwendig, da die wilden Gemsbüffel immer scheuer und flüchtiger geworden waren. Stets noch benutzte er, um sich einen Braten zu schaffen, den Bogen in der Ahnung, daß die wenigen Gewehrpatronen für ganz besondere Dienste aufbewahrt werden müßten. Leider war er auf diese Weise nicht imstande, sich unmittelbar im Gebrauch einer Schießwaffe zu üben. Aber das Zielen, das ja 236 die Hauptsache ist, lernte er gründlich. Er brachte sogar öfter an einem Pfeil eine Art Visier und ein Korn an, über die hinüberblickend er mit großer Sicherheit selbst dünne Zweige traf.
Peter: Was ist das: Visier und Korn?
Vater: Du findest sie an jedem Gewehr auf dem Lauf angebracht; an dessen Ende in der Nähe des Kolbens das Visier, in der Nähe der Mündung das Korn. Dieses ist eine scharfe Spitze, das Visier eine Erhebung mit dreieckförmigem Ausschnitt, bei der die Spitze des Dreiecks nach unten gerichtet ist. Die Flugbahn der abgeschossenen Kugel ist gleichgerichtet mit der Linie, die von der Dreiecksspitze des Visiers zum Korn hinübergeht. Wenn man also den Lauf so hält, daß die Verbindungslinie von Visier, Korn und Ziel eine Gerade ist, so ist man sicher, das Ziel zu treffen.
In der Zeit, als Robinson eben in den Jahresbaum seines Kalenders die achte Kerbe geschnitten hatte, war er wieder einmal auf der Jagd. Er hatte einen feisten Büffel erspäht, den er gern erlegen wollte. Das Tier war aber trotz seiner Leibesfülle sehr schnellfüßig und trieb Robinson tüchtig auf der Insel herum. Sehr klug war der Bock jedoch nicht, denn schließlich rannte er am Nordstrand, also jenem, der von Robinsons Wohnung durch eine wenn auch nicht sehr weite Waldstrecke getrennt war, auf eine schmale Landzunge hinauf, die sich ziemlich weit ins Meer erstreckte, aber schließlich doch zu einer Falle für ihn werden mußte. Robinson lief mit gespanntem Bogen hinter dem Tier her und freute sich schon auf den sicheren Abschuß. Ein überraschendes Ereignis aber sollte dem Bock trotz seiner Dummheit doch das Leben bewahren. Während Robinson über den Sand der Zunge lief, sah er plötzlich unmittelbar vor sich etwas, das hier zu schauen er niemals erwartet hatte. Weder das Erdbeben noch die vermeintliche Bestie im Waldesdickicht hatten ihm einen so furchtbaren Schrecken eingejagt.
Johannes: Was kann das denn bloß gewesen sein? Vielleicht ein Haifisch?
Peter: Ach, ich weiß! Eine Riesenschlange!
Dietrich: Ich glaube nicht, daß unser tapferer Robinson sich vor Tieren so sehr entsetzt hätte. Er muß wohl etwas ganz anderes erblickt haben.
237 Vater: Das war in der Tat der Fall. Nichts Lebendiges erschaute er, nur die Spur eines Wesens, das er mehr fürchtete als Löwen, Haifische und Riesenschlangen zusammen. Er sah im Sand neben anderen halbverwehten Spuren deutlich und scharf ausgeprägt den Abdruck eines nackten Menschenfußes.
Johannes: Ach!
Vater: Der Jäger hielt an und ließ den Bogen sinken. Er starrte auf die Spur, die wie hingezaubert auf einmal vor seinen Augen lag. Ein kalter Schauer durchlief ihn. Dann machte er kehrt und rannte quer durch den Wald ohne Aufenthalt, obgleich er sich fortwährend an den Baumstämmen stieß und Zweige ihm fast das Gesicht zerfetzten, immer weiter, bis er sich hinter der Hecke seiner Wohnung befand.
Hier setzte er sich nieder und versank in gramvolles Nachsinnen. Die Spur eines Menschen! Wo kam die her? Er lebte doch nun schon acht Jahre auf der Insel, ohne jemals einen Menschen darauf entdeckt zu haben. Freilich war es klar, daß sich vieles auf dem Eiland abspielen konnte, das ihm entging. Denn den allergrößten Teil der Zeit brachte er ja in dem schmalen Umkreis seiner Wohnung zu. Jedenfalls aber war es nun mit seiner Gemütsruhe, dem inneren Frieden, für immer vorbei. Wenn Menschen hier gewesen waren, so konnten sie auch jeden Tag wiederkommen! Und welcher Art diese Menschen sein mußten, das wagte er vorläufig noch nicht auszudenken.
Aber schon meldete sich wieder eine trostreiche Hoffnung. Wie, wenn er sich umsonst ängstigte, wenn er selbst vielleicht, ohne sich dessen noch zu erinnern, schon einmal auf dieser Landzunge gewesen und bei der Rückkehr diese Spur hinterlassen hatte! Er ging ja an heißen Tagen manchmal mit nackten Füßen ohne seine Fellschuhe. Ja, das war noch eine Möglichkeit der Rettung aus dieser furchtbaren Bedrängnis. Er mußte noch einmal nachsehen!
Von neuem durchquerte er den Wald, warf sich an dessen Rand nieder, um die freie Strecke der Landzunge lieber zu durchkriechen, denn er wagte nicht mehr, seine Gestalt im offenen Gelände zu zeigen. Da war der Fußabdruck wieder. Er betrachtete ihn genau. Nein, die Spur konnte nicht von ihm 238 selbst herrühren. Die regelmäßige Stellung der Zehen zeigte, daß der Fuß, der hier niedergesetzt worden, noch niemals einzwängendes europäisches Schuhwerk getragen hatte. Und als er die Länge seines Fußes genau maß, mußte er ferner feststellen, daß diese kleiner war als die entsprechende Ausdehnung der Spur. Der Abdruck rührte also zweifellos von einem Wilden her, der hier gegangen war und ein Erinnerungsmal seines Schreitens zurückgelassen hatte.
Robinson wußte nun zwar nicht genau, in welcher Gegend des großen Meers seine Insel lag, aber er konnte sich, da er während der ganzen Zeit seines Aufenthalts nie auch nur die Mastspitze eines Schiffs gesehen hatte, wohl denken, daß es ein gottverlassener, von der Kultur vielleicht noch nie berührter Winkel der Erde sein mußte. Die Eingeborenen, die hier wohnten, waren sicher noch gänzlich ungezähmte Naturkinder, und womöglich huldigten sie noch der entsetzlichen Sitte des Kannibalismus.
Johannes: Dieses Wort kenne ich nicht, Vater!
Vater: Die deutsche Übersetzung klingt schrecklich genug. Sie heißt nämlich: Menschenfresserei.
Dietrich: Ja, um des Himmels willen, Vater, gibt es denn heutzutage wirklich noch irgendwo auf der Erde Menschenfresser?
Vater: Die Frage muß leider bejaht werden! Das, was wir Gesittung nennen, erstreckt sich zwar heute bereits sehr weit über den Erdball. In allen fünf Erdteilen gibt es geordnete Staatswesen, und man dient überall der Göttin Kultur. Aber wie auch die brausenden Wellen einer Überschwemmung einzelne unüberspülte Inseln frei lassen, wie selbst die Wogen der Sintflut den Gipfel des Bergs Ararat nicht erreichten, so wohnen an einzelnen Stellen der Erde auch heute noch Völker, die sich den ursprünglichen Zustand der Wildheit bewahrt haben. Im Innern Afrikas gibt es wahrscheinlich noch Menschenfresser. Und sicher ist dies in dem Inselarchipel der Fall, der Sumatra im Süden vorgelagert ist. Man sollte dies nicht für möglich halten, da der Norden der Insel von den Holländern auf eine recht bedeutende Kulturhöhe gebracht worden ist. Aber Professor Volz hat vor nicht 239 langer Zeit den Südbezirk unter besonderen Vorsichtsmaßregeln bereist und mit Sicherheit Menschenfresser dort festgestellt. Zu Robinsons Zeiten wird es deren dort also noch recht viele gegeben haben.
Ursula: Pfui, was sind das bloß für garstige Leute, daß sie Menschenfleisch mögen!
Peter: Das ist doch aber wirklich das Scheußlichste, was man sich vorstellen kann. Einen Menschen schlachten und aufessen! Da wird einem ja gleich übel, wenn man daran denkt!
Vater: Die Natur denkt offenbar anders über diesen Gegenstand als wir. Jedem Menschen im Urzustand ist es selbstverständlich, daß er den gefallenen Feind auffrißt, da dessen Kräfte dann, wie er meint, auf ihn selbst übergehen. Er sieht eben nicht seinen Nächsten, seinen Bruder in dem Gegner, sondern ein anderes Geschöpf, das ihm völlig fremd und gleichgültig ist. Erst die Erkenntnis, daß die Menschen alle eine einzige Familie bilden, die Einsicht, daß jeder andere das Abbild des einen darstellt, der man selbst ist, hat uns gelehrt, auch den entseelten Körper des Menschen zu heiligen, den Kannibalismus als das Niedrigste und Ekelhafteste auf Erden zu betrachten.
Bei wilden Völkern ist eine solche Erkenntnis keineswegs vorauszusetzen, und so konnte es kommen, daß Robinson durch den Anblick einer Menschenspur mehr erschüttert wurde, als wenn er die Fährte eines wilden Tiers oder die Kriechspur einer großen Schlange gesehen hätte.
Von neuem floh er jetzt in seine Wohnung und blieb tagelang innerhalb des Schutzes der dichten Hecke. Der nächste Gedanke, der ihm kam, war der, alle Spuren seiner Anwesenheit, die sich außerhalb der Umzäunung befanden, auszutilgen. Er wollte die Hürde, welche er für seine Herde gebaut hatte, niederreißen, die Tiere in den Wald treiben, den Heuschober beseitigen, damit die Wilden, wenn sie wiederkämen, ja nicht auf seine Spur gebracht würden. Vor allem aber mußte die schwarze Fahne herunter, die auf dem Baum wehte. Geschwind kletterte er hinauf und holte sie ein. Bevor er jedoch seine anderen Werke zerstörte, bat er sich von sich selbst noch eine vierundzwanzigstündige Bedenkzeit aus. Und an deren Ende kam er doch zu dem Ergebnis, daß kein Grund zu der Ausrottung 240 aller der Schöpfungen außerhalb seiner Wohnung vorläge. Während acht langer Jahre war kein Wilder in diese Gegend gekommen. Warum sollte das nun wohl plötzlich der Fall sein? Vielleicht war überhaupt nur ein einzelner wider Willen in Nacht und Sturm auf das Eiland verschlagen worden, das er dann so schnell wie möglich wieder verließ.
Trotz seines Widerwillens mußte Robinson aber doch noch einmal auf die Landzunge hinaus, um auch die halb verwehten Spuren genau zu betrachten. Er wollte herausbekommen, ob nur einer oder ob mehrere Wilde dort gegangen waren. Bei dieser Besichtigung überkletterte er eine Reihe hoher Steine, vor der er früher haltgemacht hatte. Und da sah er, daß die Größe seiner Befürchtungen immer noch zu gering gewesen war. Hier lagen in einem Kreis um ein erloschenes Feuer herum Reste getöteter Menschen. Mehrere Schädel, Arm- und Beinknochen erkannte Robinson sehr deutlich. Die Wilden mußten also hier ein scheußliches Mahl abgehalten haben. Lange Zeit mußte darüber freilich vergangen sein, denn die Knochen waren bereits stark gebleicht. Der Anblick entsetzte Robinson so sehr, daß er ohnmächtig niederfiel.
Als er sich erholt hatte, beschloß er, geradenwegs in seine Wohnung zurückzukehren und diese fortab nur noch im äußersten Notfall zu verlassen. Geschwind sammelte er an Vorräten ein, was er finden konnte, und begab sich hinter die Hecke. Solange er sich irgend zu behelfen vermochte, sollte sein Weg nur noch die paar Schritte bis zu seiner Herde hinüberführen und wieder zurück in die Wohnung. Schrecklich war ihm der Gedanke, daß er nun auch seinen höchsten Schatz selbst werde vernichten müssen, nämlich das Feuer. Denn dieses ließ ja Qualm und Rauch hoch emporsteigen, die ihn am ehesten verraten konnten. Schon hielt er einen Topf mit Wasser in der Hand, um das Feuer auszugießen, da kam ihm doch noch ein rettender Gedanke. Unmöglich konnte er das Holz mehr unmittelbar verfeuern, da es zu viel Rauch gab. Aber durch einen Umweg ließ sich vielleicht ein Feuer mit nur geringer Rauchentwicklung erzeugen.
Und trotz allen Zitterns um sein Schicksal, trotz all der Angst, die er jetzt durchlebte, begann Robinson jetzt wieder ein neues Handwerk auszuüben. Er wurde zum Köhler. Rasch trug er 241 trockenes Holz zu einem Haufen zusammen und überdeckte es vollständig mit Erde. Nur ganz geringe Öffnungen ließ er frei. Nachdem das Holz angezündet war, brannte es nun viele Tage lang unter fast vollständigem Luftabschluß in sich und wurde hierdurch zur Holzkohle. Diese ist ein vorzüglicher Feuerungsstoff, der jedoch nur sehr wenig raucht, weil alle Gase und leicht verbrennlichen Stoffe, die ursprünglich in dem Holz enthalten waren, durch den Meilerbetrieb bereits verbrannt sind. Fleischmahlzeiten gab es jetzt freilich für unseren Freund trotzdem nur sehr wenige, da er sich nur in sehr großen Abständen zur Jagd hinausgetraute.
Ein Jahr verging, das für Robinson recht wenig freudevoll war. Die Ruhe seines Lebens, die Zufriedenheit mit dem einsamen Dasein auf der Insel waren vorbei. Furcht trübte alle seine Maßnahmen. Jedes Geräusch erschreckte ihn, fortwährend lag er auf der Lauer, ob nicht die Wilden kämen, um ihn aufzufressen. In den ersten Monaten hegte er einen entsetzlichen Zorn gegen diese bestialischen Geschöpfe. Er meinte, daß es seine Pflicht sei, ihrer so viele auszurotten wie irgend möglich. Jetzt konnten die Gewehre ihm gute Dienste leisten. Er baute sich am Rand des Waldes, dort, wo die Landzunge anfing, eine richtige Schutzwehr, steckte in diese drei Gewehre hinein, so gerichtet, daß mit ihren Schüssen die schmale Landzunge vollständig bestrichen werden konnte. Wenn sie wiederkämen, wollte er in die Scheusale hineinfeuern und ihrer so viele zur Strecke bringen, wie er vermochte, bis die anderen vor Entsetzen über den gewiß noch nie gehörten Knall einer Schießwaffe davonliefen. Den Rest der Gewehre aber baute er in seiner Wohnung auf. In ähnlicher Weise wie jene vor der Landzunge lagerte er sie schußbereit in der Hecke, schnitt kleine Schießscharten aus, um ordentlich richten zu können. Dann ließ er es sich angelegen sein, ein weites, freies Schußfeld vor seiner Wohnung zu schaffen. Er legte in diesem Bezirk alles nieder, was sich über dem Erdboden erhob und einem Feind Deckung gewähren konnte. So war er sicher, daß niemand ungesehen und ohne sich den Gewehrschüssen auszusetzen anschleichen konnte.
Diese letzte Verteidigungsmaßnahme war vernünftig und gut und wurde beibehalten. Aber wegen des beabsichtigten 242 Überfalls auf die Wilden kamen Robinson doch allmählich Bedenken. »Bin ich denn«, so dachte er, »zum Richter über sie bestimmt? Kommt es mir zu, Menschen zu töten, die mich selbst noch gar nicht angegriffen haben? Wohl ist es entsetzlich, was sie tun, aber sicherlich fehlt ihnen das Gefühl für die Scheußlichkeit ihrer Handlung. Sie sind vielleicht gar nicht böse, sondern nur gänzlich unerzogene Menschen. Wenn es ginge, müßte ich versuchen, ihnen Achtung vor unseren Anschauungen beizubringen, jedenfalls aber darf ich sie nicht mörderisch überfallen.« Und so entschloß er sich denn, seine Angriffsstellung an der Landzunge wieder abzubrechen und die drei dort aufgestellten Gewehre lieber zur Verstärkung der Verteidigungseinrichtungen in seiner Wohnung zu benutzen.
Gar nicht lange darauf stand Robinson auf dem Rücken seines Wohnhügels und sah mit dem Fernglas über das Meer, wie er öfter tat. Wollte er doch die Wilden, wenn sie wieder einmal kämen, möglichst rasch erspähen, um sich für alle Fälle bereit machen zu können. Häufig hatte er den Horizont schon abgesucht, ohne etwas zu entdecken, aber heute sah er wirklich Boote über die Wasserfläche heranrudern. Es waren ihrer drei, und Männer saßen darin, deren nackte Leiber in der Sonne glänzten. Robinson warf sich nieder und verbarg seine Gestalt hinter Gesträuch. Er hatte aber bereits vorgesorgt, daß er auch in dieser Stellung, ohne selbst gesehen zu werden, den gefürchteten Ort, auf den die Wilden auch jetzt wieder zusteuerten, mit dem Fernglas überblicken konnte.
Und nun beobachtete er aus der Entfernung in ohnmächtigem Zorn ein Schauspiel, so entsetzlich, daß ihm das Blut in den Adern erstarrte. Nachdem die drei Boote ans Land gestoßen waren, sprangen die Wilden heraus und schleppten zwei gefesselte Gestalten ans Ufer. Alle waren ganz nackt. Sie entzündeten ein mächtiges Feuer und begannen alsdann, im Kreis darum zu tanzen. Plötzlich brach ein großer, starker Kerl aus der Reihe, lief zu einem der Gefangenen und schlug diesem mit einem schweren, rundlichen Gegenstand den Schädel ein. Offenbar mit Jauchzen, das aber Robinson auf seinem Ausguckposten nicht zu hören vermochte, hoben jetzt alle die Arme zum Himmel, der Tanz ging in einen tollen Wirbel über, 243 und dann lagerten sie sich um das Feuer. Das Fleisch des Getöteten wurde mit vielen Zeremonien zugerichtet, über dem Feuer gebraten, und die schauervolle Mahlzeit begann.
Der Beobachter lag in Schweiß gebadet auf dem Hügeln Sein Leib zuckte krampfhaft, indes schwere Tränen der Wut seinen Augen entströmten. Jetzt bedauerte er doch aufs schmerzlichste, daß er seine Angriffswehr auf der Landzunge abgebrochen hatte. Welche Lust wäre es für ihn gewesen, in diese schmausenden Scheusale hineinzufeuern und ihrer so viele in die heidnische Unterwelt zu befördern, wie nur anging! Seinen ganzen Patronenvorrat würde er gern geopfert haben, wenn er, statt hier tatenlos mit den Zähnen zu knirschen, ein Rachewerk hätte vollführen können.
Der Hunger der Kannibalen war aber indessen noch nicht gestillt. Jetzt ging man daran, dem zweiten Gefangenen die Fesseln zu lösen. In wenigen Augenblicken, so dachte Robinson, würde es nun auch mit dessen Leben zu Ende sein.
Aber siehe da! Durch eine geschickte Bewegung, durch geschmeidiges Emporschnellen seines Körpers entzog sich der Gefangene, kaum daß er befreit war, den Händen der Wüteriche. Wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil flog er davon über den Sand der Landzunge, gerade auf die Stelle zu, wo ein Bach sich in ziemlich breiter Mündung in das Meer ergoß. Zwei Wilde nahmen sofort die Verfolgung auf. Doch der Flüchtling war rascher. Eine Strecke vor ihnen kam er an das Ufer des Bachs. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, warf er sich hinein und durchquerte das Wasser mit raschen, geschickten Schwimmstößen. Die Verfolger konnten bei weitem nicht so rasch nachkommen. Als der Entsprungene das Ufer gewonnen hatte, befanden sie sich noch in der Mitte des Wassers, und so lag nun bald, als jener mit unverminderter Schnelligkeit weiterlief, eine größere Strecke zwischen ihm und den beiden, die ihm nachfolgten. Robinson stand das Herz fast still, denn er sah, daß der Flüchtling durch den Wald gerade in der Richtung auf seine Wohnung zulief.
Jetzt duldete es ihn nicht mehr auf seinem Hügel. Mit größter Geschwindigkeit kletterte er hinunter, griff eins der geladenen Gewehre aus der Umzäunung heraus, kletterte über 244 die Hecke und lief dem Fliehenden entgegen. Er fühlte, daß er zu dessen Retter bestimmt sei. Wenige Minuten nur vergingen, da hörte er den keuchenden Atem des Flüchtlings ganz in seiner Nähe. Ein schlanker, glänzender Körper schoß an ihm vorbei. Aber nun konnte der tüchtige Läufer nicht weiter. Unmittelbar vor Robinsons Hecke brach er zusammen. Und schon nahten die Verfolger. Da trat Robinson ruhig hinter dem Baum, der ihn bis dahin verborgen hatte, hervor und zielte. Der Schuß knallte, der erste der herankommenden Wilden fiel wie vom Blitz getroffen nieder. Der zweite stutzte. Eine ungeheure Überraschung malte sich in seinen Zügen. Doch er hatte nicht Zeit, darüber nachzudenken, woher der Donner gekommen war, den er gehört hatte. Robinson legte zum zweitenmal an und sah auch ihn im Feuer des Gewehrs niederstürzen.
Nachdem er so der Verfolgung ein Ende gemacht hatte, warf Robinson die Büchse über die Schulter und lief zu dem Flüchtling. Dieser hatte sich indessen etwas erholt, sprang auf und wollte vor der fremdartigen und ihn sicherlich bedrohlich dünkenden Erscheinung, die sich ihm nahte, eiligst davonlaufen. Es hätte wohl auch jeder andere Mensch beim Anblick unseres Freunds in seiner schwarzen, flatternden Kleidung mit dem hohen, schwarzen Topfhut auf dem Haupt Reißaus genommen. Aber Robinson winkte dem Fliehenden zu und gab ihm durch alle möglichen Zeichen zu verstehen, daß er es gut mit ihm meinte. Am kräftigsten wirkte der Hinweis auf die Verfolger, die hingestreckt auf der Erde lagen. Der junge Wilde floh denn auch nicht weiter, sondern näherte sich, freilich immer noch in Angst und Zittern, seinem Retter, warf sich vor ihm nieder und setzte dessen Fuß auf seinen Nacken, um damit anzudeuten, daß er sein unterwürfiger Diener sei. Zugleich redete er mit erhobenen Händen zu Robinson. Offenbar war es ein Dank, den dieser jedoch nicht verstand. Dennoch saugten seine Ohren diese Worte mit Wonne ein: waren es doch die ersten Töne einer menschlichen Stimme, die er seit neun Jahren wieder vernahm.
Doch es war jetzt keine Zeit zu gerührten Betrachtungen. Denn der zweite der verfolgenden Wilden war nicht tot. Robinson hatte ihn offenbar nur angeschossen. Jetzt machte er einen 245 Versuch, sich wieder zu erheben. Mit Gebärden bat der Gerettete Robinson um das Steinbeil, das an dessen Hüfte hing. Er erhielt es, rannte auf den Verwundeten zu und spaltete ihm mit einem einzigen sicheren Hieb den Schädel. Das gleiche wollte er dann bei dem zweiten tun. Robinson deutete ihm aber an, daß dies nicht mehr nötig wäre, da der Mann tot sei. Da malte sich ein furchtbares Erstaunen in den Zügen des jungen Wilden. Er konnte sich durchaus nicht erklären, auf welche Weise jener ums Leben gekommen war. Die Kugel war ins Herz gedrungen, das kleine Loch in der Brust hatte sich fast ganz zusammengeschlossen, nur wenig Blut war nach außen getreten, das meiste hatte sich offenbar drinnen in den Brustkorb ergossen. Der junge Wilde wendete den Körper immer wieder hin und her, schüttelte den Kopf und stürzte endlich mit einer Gebärde auf Robinson zu, als wenn er ihn anbeten wolle. Offenbar maß er ihm göttliche Kräfte bei. Unser Freund wehrte dies ab und wollte den von ihm Beschützten gerade wieder seiner Freundschaft versichern, da wurden sie durch ein vielstimmiges Geschrei, das aus dem Wald zu ihnen drang, darauf aufmerksam gemacht, daß noch nicht alle Gefahr vorüber sei. Der ganze Haufe der Wilden, erstaunt über das lange Ausbleiben der beiden Verfolger, kam offenbar heran, um nach ihnen zu suchen. Jetzt begann also erst der eigentliche Kampf. Geschwind kletterte Robinson auf der Strickleiter über die Hecke und gab seinem Schützling ein Zeichen, daß er ihm folgen möge. Jetzt mußte die mit so vieler Mühe eingerichtete Festung die Stärke ihrer Verteidigungskraft offenbaren.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, da brach der Haufe der Wilden aus dem Wald hervor. Nunmehr gab es bei Robinson keinerlei Bedenken, mit der ganzen Überlegenheit seines Kulturbesitzes gegen sie vorzugehen, denn jetzt war sein Leben und das eines vielleicht für immer gewonnenen Gesellschafters bedroht. So rasch er konnte, feuerte er seine Gewehre hintereinander ab, lud rasch noch einmal und gab wieder Feuer. Ein entsetzliches Geheul erscholl draußen. Wenigstens acht der Menschenfresser wälzten sich in ihrem Blut. Die anderen blieben stehen, ballten sich zusammen, als wenn einer den anderen schützen könne, so daß Robinson noch einmal eine Salve in 246 sie hineinschießen konnte. Nicht ohne Schrecken sah er allerdings, daß nun sein Patronenvorrat, der ja nur gering war, bis auf ein einziges Geschoß zu Ende sei. Aber da jetzt wiederum vier ihrer Genossen durch unsichtbare Hände und auf eine für sie ganz unerklärliche Weise getötet worden waren, wandten sich die Wilden zur Flucht in den Wald hinein. Kein Lebender blieb zurück. Robinson stieg zu seinem Ausguckposten hinauf und sah, wie alle sich in die Boote warfen und davonfuhren. Die Ruderer arbeiteten fieberhaft, und bald waren die Fahrzeuge seinen Blicken entschwunden.
Als unser Freund wieder hinabkam, fand er seinen Schützling kniend vor einem der Gewehre. Mit vorsichtigen Fingern berührte er den Kolben, offenbar um zu erkennen, ob das nicht doch etwa ein lebendes Wesen sei. Robinson nahm das Gewehr heraus, legte die letzte Patrone hinein und schoß sie ab. Wieder stürzte der junge Wilde nieder und gab von neuem seiner völligen Unterwerfung unter diesen mächtigen Mann Ausdruck, indem er zum zweitenmal seinen Nacken unter dessen Fuß beugte. Robinson neigte sich, streichelte den Jüngling und bekundete ihm auf jede Weise seine Freundschaft. Die Freude jenes, dessen Leben auf so wunderbare Weise gerettet worden war, konnte nicht größer sein als der innere Jubel Robinsons darüber, daß er nun einen Menschen bei sich habe. Er fand jetzt Zeit, seinen jungen Genossen zu betrachten. Es war ein Malaie von stolzem, hohem, schlankem Wuchs, die Hautfarbe spielte ins Gelbliche, entfernte sich jedoch nur leicht von der europäischen. Das Haar hing ihm mit weichen Strähnen lang in den Nacken. Die Gesichtszüge waren angenehm und klug, nur die ein wenig schiefstehenden Augen verrieten sogleich den Angehörigen einer uns fremden Rasse. Von der ganzen Erscheinung ging eine Frische und Anmut aus, die Robinsons Herz freudig aufwallen ließ. Er durfte hoffen, hier einen Genossen von natürlicher Herzensreinheit und ohne Tücke gewonnen zu haben.
Das nächste, was die beiden nun zusammen zu verrichten hatten, war das Begraben der vor der Hecke liegenden Toten. Robinson gab durch Zeichen kund, daß sie eine große Grube im Wald machen wollten, um die Leichen hineinzulegen. Der Wilde war nicht ganz damit einverstanden. Offenbar wollte 247 er einige Körper als willkommene Speise zurückbehalten. Aber Robinson gab ihm so deutlich zu verstehen, daß dieses etwas Furchtbares und Entsetzliches sei, daß jener schließlich davon abstand. Das Massengrab wurde gemacht, was mit Hilfe zweier Spaten, die aus der großen Kiste stammten, nicht allzulange dauerte, und die Toten wurden mit Erde bedeckt. Dann begaben sich die beiden auf die Landzunge, wo Robinson von neuem mit einer Ohnmacht zu kämpfen hatte, als er die scheußlichen Reste der neuen kannibalischen Mahlzeit erblickte. Der junge Wilde mußte auch hier alles einscharren und zudecken. Dann gingen sie zur Wohnung zurück, und Robinson reichte seinem Genossen Speise und Trank.
Alles, was dieser sah und erhielt, kam ihm im höchsten Grad merkwürdig vor. Aber sein Vertrauen zu dem Retter war nun schon so groß, daß er ohne Besinnen jegliches von diesem entgegennahm und, seinem Beispiel folgend, Speisen von unbekannter Zubereitung schmauste. Als der Abend hereinbrach, zog Robinson sich in seine Höhle zurück, den Wilden ließ er draußen schlafen. Vorsichtshalber verrammelte er in dieser ersten Nacht den Eingang zur Höhle durch einige Bretter, sah aber bald ein, daß er seinem Genossen unbedingt vertrauen könnte, daß dieser niemals eine häßliche Handlung gegen ihn begehen würde.
Der Wilde war ganz im Bann Robinsons. Sicherlich hielt er ihn in der ersten Zeit für einen vom Himmel zu seiner Rettung herabgestiegenen Gott. Erst sehr viel später begriff er, daß dieses mit unerhörten Kräften ausgerüstete Geschöpf ein Mensch sei wie er. Mit innigster Freude begann Robinson seinen Genossen zu unterrichten. Durch Zeigen auf einzelne Gegenstände brachte er ihm die Anfänge der deutschen Sprache bei, lehrte ihn die Grundbegriffe der christlichen Religion, wobei er mit Freuden sah, daß jener lernbegierig und belehrungsfähig war. Aus dem Taft, der früher als Fahne gedient hatte, machte er ihm einen Schurz, damit jener nicht weiter ganz nackt umherginge. Er hatte ihm auch einen Namen gegeben. Nach dem Wochentag, an dem die Rettung von den Menschenfressern gelungen war, nannte er den Wilden Freitag.
248 Für einen gemütvollen Menschen, zu dem Robinson in der Einsamkeit herangereift war, gehört es zum Herrlichsten auf der Welt, wenn er von den Kenntnissen, die er besitzt, einem anderen mitteilen kann. Unser Freund hatte nun einen Schüler, der jedem Kleinsten, das sein Lehrer im Verstand oder an greifbaren Gütern besaß, mit kindlicher Begeisterung gegenüberstand. Er war ein gänzlich unverdorbener Mensch, ein echtes Naturkind, im heidnischen Aberglauben vollständig befangen, auf einem Kulturstandpunkt, der gegenüber dem unsrigen wohl mehr als ein Jahrtausend zurückstand. Wie ein Schwamm das Wasser, so saugte er auf, was Robinson ihm erzählte. Er lernte eifrig und schnell, und als einige Monate vergangen waren, konnte Robinson sich mit ihm geläufig unterhalten, ihn sogar hier und da schon bei den naturwissenschaftlichen Versuchen, die er nicht ruhen lassen wollte, als Helfer mitarbeiten lassen. Freilich wurde Freitag nicht immer ganz klar, was da eigentlich vorging, aber er ahnte, daß es sich um etwas Schönes und Großes handelte.
Inzwischen hatte er seinem bewunderten Lehrer auch erzählt, auf welche Weise er in die Hände jener menschenfresserischen Wilden geraten war. Sein Stamm hatte mit einem anderen gekämpft, war unterlegen, und er sowie ein Genosse wurden lebendig gefangengenommen. Nach alter Sitte fuhr man dann hinüber zu Robinsons Eiland, um hier die Gefangenen zu schlachten und zu verzehren. Die Rettung konnte nur durch ein Wunder erfolgen, wie es Freitag erlebte. Immer wieder erneuerte er denn auch den Ausdruck seiner Dankbarkeit.
Natürlich erkundigte sich Robinson eindringlich, ob Freitags Stamm und die anderen ihm bekannten auf Inseln oder auf dem Festland wohnten. Einen rechten Begriff von der geographischen Beschaffenheit seiner Heimat hatte der junge Malaie nicht. Aber so viel erfuhr Robinson doch, daß alle die Stämme ringsum auf kleinen Inseln hausten. Es gäbe in der Nähe auch eine ungeheuer große Insel, aber die sei überall, so weit die Wilden sie kannten, so sumpfig und mit so üppig wucherndem Urwald bedeckt, daß man nicht hineindringen könne. Damit sah Robinson eine Hoffnung, die das Auftauchen Freitags in ihm erweckt hatte, entschwinden, nämlich die, 249 auf irgendeine Weise das Festland und gesittete Menschen zu erreichen.
Doch es fiel ihm nun doppelt leicht, weiter auf der Insel zu bleiben. Die Angst vor einem Überfall, die seit der Auffindung jener Fußspur so schwer auf ihm gelastet, war verschwunden, denn Freitag versicherte ihm, daß die Wilden wohl niemals mehr nach der Insel zurückkehren würden, die sie nach allem, was dort geschehen, als Zaubereiland ansehen mußten. Sie würden sicher glauben, daß es von einem fürchterlichen und blutdürstigen Geist bewohnt sei, der aus der Ferne nach seinem Wunsch töten könne und über den Donner gebiete. Ferner hatte unser Freund ja nun eine Gesellschaft, einen lieben, treuen Kameraden, so daß die anderen Menschen ihm kaum noch fehlten. In gemeinsamem Schaffen lebten die beiden zusammen, Robinson lehrte, Freitag lernte, und es bildete sich allmählich ein Verhältnis zwischen ihnen aus, das man fast Freundschaft hätte nennen können. Robinson war allerdings klug genug, den Abstand zwischen sich und Freitag nicht gänzlich verschwinden zu lassen, was ihm gegenüber der treuen Seele aber auch leicht gelang. 250