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Große Veränderungen
Ulrich hatte dem General das Geleite selbst gegeben, in der Absicht, auch das zu erfahren, was dieser vielleicht nur unter vier Augen sagen möchte. Die Treppe mit ihm hinabsteigend, trachtete er ihm zunächst eine harmlose Erklärung für sein Abrücken von Diotima und den anderen zu geben, damit die Wahrheit beiseite bleibe. Aber Stumm fragte unbefriedigt: »Bist du beleidigt worden?«
»Nicht im mindesten.«
»Dann hast du das Recht nicht dazu!« entgegnete der andere fest.
Doch die Veränderungen in der Parallelaktion, von denen er in seiner Weltabgeschiedenheit nichts geahnt hatte, wirkten nun belebend auf Ulrich ein, als wäre in einem heißen Saal plötzlich ein Fenster aufgestoßen worden, und er fuhr fort: »Trotzdem möchte ich erfahren, was wirklich vor sich geht. Nachdem du es für gut befunden hast, mir die Augen halb zu öffnen, wirst du es gütigst auch noch zur Gänze tun!«
Stumm blieb stehen, stützte den Säbel gegen den Stein der Treppe und schlug den Blick zu dem Gesicht seines Freundes auf; eine große Gebärde, die umso länger dauerte, als dieser eine Stufe höher stand: »Nichts lieber als das« sagte er. »Zu diesem Zweck bin ich ja gekommen!«
»Wer arbeitet gegen Leinsdorf?« begann Ulrich ihn ruhig zu verhören. »Tuzzi mit Diotima? Oder das Kriegsministerium mit dir und Arnheim –?«
»Lieber Freund, du irrst durch Abgründe!« unterbrach ihn Stumm. »Und an der einfachen Wahrheit gehst du blind vorbei, wie es anscheinend alle geistigen Menschen tun! Vor allem bitte ich dich also überzeugt zu sein, daß ich dir den Wunsch des Leinsdorf, daß du wieder zu ihm und Diotima kommen sollst, nur aus selbstlosester Gefälligkeit ausgerichtet habe –«
»Offiziersehrenwort?«
Der General wurde guter Laune. »Wenn du mich an die spartanische Ehre meines Berufs erinnerst, beschwörst du die Gefahr, daß ich dich erst recht anlüge; denn es könnte mich ja ein höherer Auftrag dazu verpflichten. Ich gebe dir also lieber mein Privatehrenwort« sagte er würdig und fuhr erläuternd fort: »Ich beabsichtige dir sogar anzuvertraun, daß ich mich in letzter Zeit zuweilen gezwungen sehe, über solche Schwierigkeiten nachzudenken; ich lüge jetzt nämlich oft mit einem Behagen, wie sich ein Schwein im Unrat wälzt.« Er wandte sich plötzlich seinem höher stehenden Freund voll zu und schloß die Frage an: »Woher kommt es, daß das Lügen so angenehm ist, vorausgesetzt, daß man eine Entschuldigung dafür hat? Bloß die Wahrheit zu sagen, erscheint einem geradezu unfruchtbar und gedankenlos daneben! Wenn ich das von dir erfahren könnte, wäre es direkt einer der Gründe, warum ich dich aufgesucht habe.«
»Dann teile mir ehrlich mit, was vor sich geht« verlangte Ulrich unnachgiebig.
»Ganz ehrlich, und auch überaus einfach: ich weiß es nicht!« beteuerte Stumm.
»Aber du hast doch einen Auftrag!« forschte Ulrich.
Der General gab zur Antwort: »Ich bin trotz deines wirklich unfreundschaftlichen Verschwindens über die Leiche meiner Selbstachtung weggestiegen, um ihn dir anzuvertraun. Aber es ist ein Teilauftrag. Ein Auftragerl! Ich bin jetzt ein Rädchen. Ein Fädchen. Eine Amorette, in deren Köcher man nur noch einen einzigen Pfeil gelassen hat...!«
Ulrich betrachtete die rundliche Figur mit den goldenen Knöpfen. Stumm war entschieden selbständiger geworden; er wartete auch die Entgegnung Ulrichs nicht ab, sondern setzte sich, dem Ausgang zu, in Bewegung, wobei sein Säbel auf jeder Stufe klirrte. Und als sich unten die Halle um die beiden wölbte, deren adelige Anlage ihm sonst jedesmal Ehrerbietung vor dem Hausherrn eingeflößt hatte, sprach er über die Schulter zurück zu diesem: »Du hast offenbar immer noch nicht ganz erfaßt, daß die Parallelaktion jetzt nicht mehr ein Privat- und Familienunternehmen ist, sondern ein Staatsvorgang von internationaler Größenordnung!«
»Also leitet sie jetzt der Außenminister?« gab Ulrich zurück.
»Wahrscheinlich.«
»Und somit Tuzzi?«
»Vermutlich; ich weiß es aber nicht« fügte Stumm rasch hinzu. »Und er tut natürlich auch so, als ob er von nichts wüßte! Du kennst ihn doch: diese Diplomaten stellen sich ja selbst dann unwissend, wenn sie es wirklich sind!« –
Sie durchschritten den Eingang, und der Wagen fuhr vor. – Plötzlich wandte sich Stumm, vertraulich, und komisch flehend, an Ulrich: »Gerade darum sollst du doch wieder ins Haus gehn, damit man quasi eine Vertrauensperson dort hat!«
Ulrich lächelte zu dieser Anzettelung und legte ihm den Arm um die Schulter; er fühlte sich an Diotima erinnert. »Was macht sie?« fragte er. »Erkennt sie jetzt in Tuzzi den Mann?«
»Was sie macht?« entgegnete der General verdrossen. »Einen gereizten Eindruck macht sie!« Und er fügte gutmütig hinzu: »Für den Blick des Kenners vielleicht sogar eher einen rührenden. Das Unterrichtsministerium läßt ihr doch kaum noch andere Aufgaben über, als zu entscheiden, ob in dem Festzug die vaterländische Gruppe ›Wiener Schnitzel‹ mitmarschieren soll oder auch eine Gruppe ›Rostbratl mit Nockerln‹ –«
Ulrich unterbrach ihn mißtrauisch. »Nun sagst du Unterrichtsministerium? Und gerade hast du erzählt, daß auf die Aktion das Außenministerium Beschlag gelegt hat!«
»Aber schau, vielleicht sind die Schnitzel sogar Sache des Ministeriums des Innern. Oder des Handelsministeriums. Wer weiß denn das im voraus!« belehrte ihn Stumm. »Der Weltfriedenskongreß als Ganzes gehört aber jedenfalls zum Ministerium des Äußern, soweit er nicht minder zu den zwei Ministerrats-Präsidien gehört.«
Wieder unterbrach ihn Ulrich. »Und das Kriegsministerium kommt in deinen Gedanken überhaupt nicht vor?«
»Aber sei doch nicht so argwöhnisch!« bat Stumm gelassen. »Natürlich nimmt an einem Weltfriedenskongreß auch das Kriegsministerium auf das lebhafteste Anteil; ich möchte sagen, nicht weniger als die Polizeidirektion von einem internationalen Anarchistenkongreß angezogen würde. Aber du weißt doch, wie diese Zivilministerien sind: nicht das kleinste Platzerl möchten sie unsereinem gönnen!«
»Und –?« fragte Ulrich; denn er verdächtigte noch immer Stumms Unschuld.
»Gar kein ›und‹!« versicherte dieser. »Du überstürzt das! Wenn eine gefährliche Sache mehrere Ministerien betrifft, so will sie entweder eins dem andern zuschieben, oder es will sie eins dem andern wegnehmen: in beiden Fällen ist das Ergebnis dieser Bemühungen, daß eine Interministerielle Kommission eingesetzt wird. Du brauchst dich doch bloß zu erinnern, wieviele Ausschüsse und Unterausschüsse die Parallelaktion anfangs hat gründen müssen, als Diotima noch im vollen Besitz ihrer Energie gewesen ist; und ich kann dir dann versichern, daß unser seliges Konzil ein Stilleben gewesen ist im Vergleich mit dem, was heute gearbeitet wird!« – Der Wagen wartete, der Kutscher saß in Strammstellung auf dem Bock, aber Stumm blickte durch das offene Gefährt unentschlossen in den hellgrün aufgeschlagenen Garten. »Kannst du mir vielleicht ein wenig bekanntes Wort mit ›Inter‹ sagen?« bat er und zählte mit nachhelfendem Kopfnicken auf: »Interessant, interministeriell, international, interkurrent, intermediär, Interpellation, interdiziert, intern und einiges andere kenne ich; das kannst du nämlich bei uns am Büffet des Generalstabstrakts jetzt häufiger hören als das Wort Würstel. Aber wenn ich mit einem ganz neuen Wort ankäme, könnte ich darum Aufsehen machen!«
Ulrich lenkte des Generals Gedanken wieder auf Diotima zurück. Es leuchtete ihm ein, daß die oberste Führung beim Ministerium des Äußern sei, woraus mit Wahrscheinlichkeit folgte, daß sich die Zügel in Tuzzis Hand befanden: wie konnte dann aber ein anderes Ministerium der Frau des Mächtigen Kränkungen bereiten? Stumm zuckte bei dieser Frage trüb die Achseln. »Du hast dir halt immer noch nicht genug eingeprägt, daß die Parallelaktion ein Staatsvorgang ist!« gab er zur Antwort. Und fügte aus freien Stücken hinzu: »Der Tuzzi ist schlauer, als wir gedacht haben. Er selbst hätte ihr so etwas niemals zumuten können; aber die interministerielle Technik hat ihm gestattet, seine Frau einem anderen Ministerium auszuliefern!«
Ulrich lachte leise auf. Er konnte sich bei dieser in etwas sonderbare Worte gekleideten Nachricht lebhaft die beiden Menschen vorstellen: Die großartige Diotima – die Lichtanlage, wie sie von Agathe genannt wurde – und den kleineren, mageren Sektionschef, für den er eine schier unerklärliche Sympathie besaß, obgleich er sich von ihm geringschätzt wußte. Es war die Angst vor den Mondnächten der Seele, die ihn zu dem vernünftigen Gefühl dieses Mannes hinzog, das so männlich trocken wie eine leere Zigarrenschachtel war. Und doch hatten diesen Diplomaten die Leiden der Seele, als sie über ihn hereinbrachen, dahin gebracht, daß er in allem und jedem nur noch pazifistische Machenschaften sah; denn Pazifismus, das war für Tuzzi die faßlichste Vorstellung von Seelenhaftigkeit! Ulrich entsann sich, daß er schließlich Arnheims offenbar gewordene Bemühungen um die Ölfelder, ja sogar die um seine eigene schöne Gattin, bloß für ein Degagement gehalten hatte, dazu bestimmt, die Aufmerksamkeit von einem geheimen Vorhaben pazifistischer Natur abzulenken: so sehr hatten Tuzzi die Geschehnisse in seinem Hause verwirrt! Er mußte unerhört gelitten haben, und es war zu verstehen: die geistige Leidenschaft, der er sich unerwartet gegenüber sah, verletzte ja nicht bloß seinen Ehrbegriff, wie es ein körperlicher Ehebruch getan hätte, sondern traf unmittelbar das Begriffsbildungsvermögen selbst mit Geringschätzung, das bei älteren Männern der wahre Ruhesitz der Manneswürde ist.
Und vergnügt setzte Ulrich seine Gedanken laut fort: »Offenbar hat Tuzzi in dem Augenblick, wo die Vaterländische Aktion seiner Frau zum Ziel einer öffentlichen Fopperei geworden ist, gleich den verlorenen vollen Besitz der behördlichen Geisteskräfte wieder erlangt, die einem hohen Beamten zukommen. Er muß spätestens da wieder erkannt haben, daß im Schoß der Weltgeschichte mehr geschieht, als im Schoß einer Frau Platz hätte, und euer wie ein geheimnisvolles Findelkind aufgetauchter Weltfriedenskongreß wird ihn mit einem Donnerschlag geweckt haben!« Mit rauhem Behagen malte sich Ulrich den geisternden Dämmerzustand aus, der vorangegangen sein mußte, und dann dieses Erwachen, das vielleicht gar nicht einmal mit einem Gefühl des Erwachens verbunden gewesen sein mußte; denn in dem Augenblick, wo die in Schleiern wandelnden Seelen Arnheims und Diotimas wirkliche Folgen hatten, befand sich auch Tuzzi, von jedem Spuk befreit, wieder in jenem Bereich der Notwendigkeiten, worin er sich zeit seines Lebens fast immer befunden hatte. »Er bringt die Weltrettungs- und Vaterlandshebungsgesellschaft seiner Frau jetzt um? Sie ist ihm immer ein Dorn im Fleische gewesen!« rief Ulrich lebhaft befriedigt aus und wandte sich fragend an den Gefährten.
Stumm stand noch immer rund und nachdenklich im Torbogen. »Soviel ich weiß, hat er seiner Frau erklärt, daß sie es sich und seiner Stellung schulde, erst recht unter den geänderten Verhältnissen die Parallelaktion zu einem ehrenvollen Ende zu führen. Sie wird eine Auszeichnung erhalten. Aber sie muß sich dem Schutz und den Einsichten des Ministeriums anvertraun, das er dafür bestimmt hat« berichtete er gewissenhaft.
»Und mit euch, ich meine mit dem Kriegsministerium und mit Arnheim, hat er Frieden geschlossen?«
»Es scheint so. Er soll bei der Regierung wegen des Friedenskongresses die rasche Modernisierung unserer Artillerie unterstützt und sich mit dem Kriegsminister über die politischen Folgen verständigt haben. Man sagt, daß er im Parlament die nötigen Gesetze mit Hilfe der deutschen Parteien durchdrücken will und darum innerpolitisch jetzt zum deutschen Kurs rät. Das hat mir Diotima selbst erzählt.«
»Warte einen Augenblick!« unterbrach ihn Ulrich. »Deutscher Kurs! Ich habe alles vergessen!«
»Ganz einfach! Er hat immer gesagt, daß alles Deutsche für uns ein Unglück sei; und jetzt sagt er das Gegenteil.«
Ulrich wandte ein, daß sich Sektionschef Tuzzi niemals so eindeutig ausdrücke.
»Aber gegen seine Frau tut er es« versetzte Stumm. »Und zwischen ihr und mir besteht eine Art Schicksalsverbundenheit.«
»Ja wie steht es denn zwischen ihr und Arnheim?« fragte Ulrich, der in diesem Augenblick mehr an Diotima teilnahm als an den Regierungssorgen. »Er braucht sie doch jetzt nicht mehr; und ich nehme an, daß seine Seele darunter leidet!«
Stumm schüttelte den Kopf. »Das ist scheinbar auch nicht so einfach!« erklärte er seufzend.
Er hatte bisher gewissenhaft, jedoch teilnahmlos Antwort erteilt, und vielleicht gerade deshalb verhältnismäßig klug. Schon seit der Erwähnung Diotimas und Arnheims sah er aber aus, als wolle er etwas anderes zum besten geben, das ihn wichtiger dünke als Tuzzis Rückkehr zu sich selbst. »Man möchte ja schon lange glauben,« begann er nun »daß Arnheim genug von ihr hat. Aber das sind große Seelen! Du magst wohl auch etwas von solchen verstehn, aber die sind es! Da läßt sich nicht sagen: war etwas zwischen ihnen, oder war nichts zwischen ihnen. Sie sprechen noch heute so wie früher; bloß hat man das Gefühl: jetzt ist bestimmt nichts zwischen ihnen. Sie reden eben sozusagen immer letzte Worte!«
Ulrich erinnerte sich dessen, was ihm die Liebespraktikerin Bonadea von der Theoretikerin Diotima erzählt hatte, und hielt Stumm dessen eigenen, kühleren Ausspruch vor, daß Diotima ein Lehrbuch der Liebe sei. Der General lächelte gedankenvoll dazu. »Wir beurteilen das vielleicht nicht allseitig genug« holte er umsichtig aus. »Ich will vorausschicken, daß ich vor ihr noch nie eine Frau so habe reden hören; und es legt sich mir wie ein Eisbeutel überall hin, wenn sie damit anfangt. Sie tut es übrigens schon wieder seltener; aber wenn es ihr einfällt, spricht sie auch heute noch zum Beispiel von diesem Weltfriedenskongreß als von einem ›panerotischen Humanerlebnis‹, und dann fühle ich mich kurzerhand von ihrer Gescheitheit entmannt. Aber« – und er hob die Bedeutung seiner Worte jetzt durch eine kleine Pause – »es muß doch ein Bedürfnis, ein sogenannter Zug der Zeit darin liegen, denn selbst im Kriegsministerium fangen sie jetzt so zu reden an. Seit dieser Kongreß aufgetaucht ist, könntest du Generalstabs-Stabsoffiziere von Friedensliebe und Menschenliebe sprechen hören wie vom Maschinengewehr Muster 7 oder vom Sanitätspackwagen Muster 82! Es ist einfach ekelhaft!«
»Darum hast du dich also vorhin einen enttäuschten Fachmann der Liebe genannt?« warf Ulrich ein.
»Ja, lieber Freund. Du mußt schon entschuldigen: ich habe es nicht ausgehalten, als ich auch dich so einseitig habe reden hören! Aber dienstlich ziehe ich aus alledem ja großen Vorteil!«
»Und hast du gar keinen Eifer mehr für die Parallelaktion, für die Ehrung der großen Ideen und ähnliches?« forschte Ulrich neugierig.
»Selbst eine so erfahrene Frau wie deine Kusine hat schon genug von der Kultur« gab der General zur Antwort. »Ich meine die Kultur um ihrer selbst willen. Überdies schützt dich auch die größte Idee nicht vor einer Ohrfeige!«
»Aber sie kann bewirken, daß die nächste Ohrfeige der andere kriegt.«
»Das ist richtig« räumte Stumm ein. »Aber nur, wenn du dich des Geistes bedienst, nicht wenn du ihm selbstlos dienst!« Dann blickte er neugierig zu Ulrich auf, um die Wirkung seiner nächsten Worte mitzugenießen, und fügte, in sicherer Erwartung des Erfolgs die Stimme senkend, hinzu: »Aber auch wenn ich das möchte, kann ich doch nicht mehr: man hat mich ja kaltgestellt!«
»Alle Achtung!« rief Ulrich aus, in unwillkürlicher Anerkennung der militärbehördlichen Einsicht. Aber dann folgte er einem andern Einfall und sagte rasch: »Das hat dir der Tuzzi eingerührt!«
»Aber gar keine Spur!« versicherte Stumm selbstgewiß.
Dieses Gespräch hatte bis dahin immer noch in der Nähe des Tores stattgefunden, und außer den beiden Männern war noch ein dritter daran beteiligt, indem er auf das Ende wartete und so reglos vor sich blickte, daß die Welt für ihn zwischen zwei Paaren Pferdeohren aufhörte. Nur seine in weißen Zwirnhandschuhen steckenden Fäuste, durch die die Zügel liefen, bewegten sich verstohlen, in unregelmäßigen, besänftigenden Rhythmen, weil die Pferde, der soldatischen Disziplin nicht ganz so zugänglich wie der Mensch, des Wartens immer überdrüssiger wurden und ungeduldig am Geschirr ruckten. Diesem Mann befahl der General nun endlich, den Wagen an die Ausfahrt zu bringen und dort die Pferde zu bewegen, bis er einstiege; Ulrich aber lud er jetzt ein, den Weg durch den Garten zu Fuß zurückzulegen, damit er ihm die Geschehnisse der Reihe nach anvertrauen könne, ohne daß es jemand zu hören vermöchte.
Aber Ulrich meinte das, worauf es ankäme, lebhaft vor sich zu sehen, und ließ ihn anfangs nicht zu Wort kommen. »Ob Tuzzi dich aus dem Spiel geschlagen hat oder nicht, ist auch gleichgültig,« führte er aus »denn du bist in diesem Fall, was du mir verzeihen wirst, nur eine Nebenfigur. Das Wesentliche ist, daß er fast mit dem Augenblick, wo er durch den Kongreß bedenklich geworden ist und mit einer schweren Belastungsprobe zu rechnen begonnen hat, sowohl den staatspolitischen Zustand als auch seinen persönlichen aufs schnellste vereinfacht hat. Er ist vorgegangen wie ein Kapitän bei Ankündigung eines schweren Sturms, der sich nicht von der noch träumenden See beeinflussen läßt. Was ihm bis dahin zuwider gewesen war, Arnheim, eure Militärpolitik, der deutsche Kurs, damit hat er sich jetzt verbündet; und er hätte sich auch mit den Bestrebungen seiner Frau verbündet, wenn es in Ansehung der Umstände nicht nützlicher gewesen wäre, diese zu zerstören. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Liegt es daran, daß das Leben leicht wird, wenn man sich nicht um Gefühle kümmert, sondern sich bloß an sein Ziel hält; oder ist es ein mörderischer Genuß, mit den Gefühlen zu rechnen, statt unter ihnen zu leiden? Mir ist dabei, als fühlte ich dem Teufel nach, wie er in die Himmelsspeise des Lebens eine Faust voll Salz getan hat!«
Der General war Feuer und Flamme. »Das habe ich dir doch schon im Anfang gesagt!« rief er aus. »Ich habe zwar nur von Lügen gesprochen, aber die echte hinterhältige Gesinnung ist in jeder ihrer Formen eine unheimlich anregende Sache! Sogar der Leinsdorf, zum Beispiel, hat jetzt wieder eine Vorliebe für die Realpolitik gefaßt und sagt: Realpolitik ist das Gegenteil von dem, was man tun möchte!«
Ulrich fuhr fort: »Das Entscheidende ist, daß es Tuzzi früher verwirrt hat, was zwischen Diotima und Arnheim geredet worden ist; jetzt aber kann es ihn nur freuen, weil die Redseligkeit von Menschen, die ihre Gefühle nicht zu verschließen vermögen, einem Dritten immer allerhand Anhaltspunkte gibt. Er braucht es jetzt nicht mehr mit dem inneren Ohr anzuhören, was ihm niemals gelingen wollte, sondern nur noch mit dem äußeren; und das macht doch ungefähr den Unterschied aus, ob man eine ekelerregende Schlange schluckt oder erschlägt!«
»Wie?« fragte Stumm.
»Schluckt oder erschlägt!«
»Nein! Das mit den Ohren!?«
»Ich habe sagen wollen: er hat sich zu seinem Glück von der Innenseite des Gefühls an die Außenseite zurückbegeben. Aber das wäre dir vielleicht unverständlich geblieben, es ist bloß so eine Idee von mir.«
»Nein, du hast es sehr gut gesagt!« versicherte Stumm. »Aber warum verwenden wir eigentlich andere als Beispiel? Diotima und Arnheim sind große Seelen, und das wird schon deshalb nie ordentlich klappen!« Sie schlenderten einen Gartenpfad entlang und waren noch nicht weit gekommen; der General blieb stehn: »Auch was mir passiert ist, ist nicht bloß eine Kommißgeschichte!« teilte er seinem bewunderten Freunde mit.
Ulrich sah ein, daß er ihn nicht zu Wort habe kommen lassen, und entschuldigte sich. »Du bist also nicht über Tuzzi zu Fall gekommen?« fragte er höflich.
»Ein General stolpert vielleicht über einen Zivil-Minister, aber nicht über einen Zivil-Sektionschef« berichtete Stumm stolz und sachlich. »Ich glaube, ich bin über eine Idee gestolpert!« Und so begann er seine Geschichte zu erzählen.