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Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie

 

Währenddem war Agathe an eine neue Folge von Blättern geraten, worin die Aufzeichnungen ihres Bruders auf ganz andere Art weitergingen. Es schien, daß er es jetzt mit einemmal darauf abgesehen hätte, zu ermitteln, was ein Gefühl sei, und zwar dem Begriff nach und auf trockene Art. Er mußte sich auch allerhand ins Gedächtnis zurückgerufen oder es eigens zu seinem Zweck gelesen haben, denn die Papiere waren mit Vermerken bedeckt, die sich teils auf die Geschichte, teils auf die Zergliederung des Gefühlsbegriffes bezogen, und alles zusammen bildete eine Sammlung von Bruchstücken, deren innere Verbindung nicht gleich zu erkennen war.

Einen Hinweis auf das, was ihn dazu bewogen haben mochte, fand Agathe zuerst daran, daß vor Beginn an den Rand das Wort »Sache des Gefühls!« geschrieben stand; denn sie entsann sich nun des Gesprächs, das sie und ihr Bruder darüber in der Wohnung ihrer Kusine geführt hatten, mit seinen tiefen, den Grund der Seele entblößenden Schwankungen. Und wollte man erfahren, was Sache des Gefühls sei, so mußte man sich wohl oder übel auch fragen, was Gefühl sei, das sah sie ein.

Das diente ihr als Wegweiser, denn die Aufzeichnungen begannen damit, daß alles, was unter Menschen geschehe, seinen Ursprung entweder in Gefühlen oder in der Entbehrung von Gefühlen habe; unerachtet dessen wäre aber eine Antwort auf die Frage, was ein Gefühl sei, aus der ganzen unabsehbaren Literatur, die sich damit beschäftigt habe, nicht mit Sicherheit zu gewinnen, denn selbst die Leistungen aus letzter Zeit, die Ulrich wirklich für Fortschritte hielt, bedürften keines ganz geringen Maßes von freiwilligem Zutrauen. Soviel Agathe sehen konnte, hatte er die Psychoanalyse dabei außer Betracht gelassen, und sie wunderte sich anfangs darüber, denn wie alle literarisch angeregten Menschen hatte sie mehr von ihr sprechen hören als von der übrigen Psychologie; aber Ulrich sagte, er ließe sie nicht deshalb beiseite, weil er die Verdienste dieser bedeutenden Theorie nicht anerkenne, die voll neuer Begriffe wäre und als erste vieles zu erfassen gelehrt habe, was durch alle vorangegangene Zeit gesetzlose Privaterfahrung gewesen sei, sondern es hänge damit zusammen, daß gerade bei dem, was er vorhabe, ihre Eigenart nicht so zur Geltung komme, wie es ihres immerhin auch sehr anspruchsvollen Selbstbewußtseins würdig wäre. Als sein Vorhaben aber bezeichnete er es, zunächst die vorhandenen Hauptantworten auf die Frage, was Gefühl sei, miteinander zu vergleichen, und fuhr fort, daß sich im ganzen wohl nur drei unterscheiden ließen, von denen übrigens keine so klar ausgebildet worden sei, daß sie die anderen ganz unmöglich gemacht hätte.

 


 

Dann schlossen sich die folgenden Aufzeichnungen an, die das ausführen sollten: »Die älteste, aber noch heute recht regsame Vorstellungsbildung geht von der Überzeugung aus, daß zwischen dem Zustand des Fühlens, seinen Ursachen und seinen Wirkungen deutlich getrennt werden könne; denn sie versteht unter Gefühl eine Gattung innerer Erlebnisse, die sich von den anderen Gattungen – und zwar sind dies nach ihr das Empfinden, Denken und Wollen – bis in den Grund unterscheide. Diese Auffassung ist volkstümlich und seit alters überliefert, und es liegt ihr nahe, das Gefühl als einen Zustand anzusehen; zwar muß das nicht sein, aber es geschieht unter dem ungewissen Eindruck der Wahrnehmung, daß wir in jedem Augenblick des Gefühls, und inmitten seiner beweglichen Veränderung, nicht nur unterscheiden können, daß wir fühlen, sondern es auch als etwas scheinbar Ruhendes erleben, daß wir im Zustand eines Gefühls beharren.

Die neuere Vorstellungsbildung geht dagegen von der Beobachtung aus, daß das Fühlen aufs innigste mit dem Handeln und dem Ausdruck verbunden ist; und es folgt daraus, daß sie sowohl dazu neigt, das Gefühl als einen Vorgang zu betrachten, als auch, daß sie ihren Blick nicht auf das Fühlen allein richtet, sondern es mitsamt seinen Äußerungen und seinen Ursprüngen als ein Ganzes ansieht. Sie ist zuerst in der Physiologie und Biologie entstanden, und ihr Bestreben ist ursprünglich auf eine körperliche Erklärung der seelischen Vorgänge gerichtet gewesen, oder schärfer betont, auf das körperliche Ganze, dem auch seelische Erscheinungen unterlaufen. Man kann, was sich daraus ergeben hat, als zweite Hauptantwort auf die Frage nach der Natur des Gefühls zusammenfassen.

Eine Richtung der Wißbegierde auf das Ganze statt auf das Element und auf die Wirklichkeit statt auf einen vorgefaßten Begriff unterscheidet aber auch die neueren psychologischen Untersuchungen, die sich mit dem Gefühl beschäftigen, von den älteren, nur sind ihre Absichten und leitenden Gedanken natürlich ihrer eigenen Wissenschaft entnommen. Dadurch ergeben sie eine dritte Antwort auf die Frage, was Gefühl sei, die sich sowohl auf den anderen aufbaut als auch selbständig ist. Diese dritte Antwort gehört aber allermaßen nicht mehr in einen Rückblick, weil mit ihr schon der Einblick in die Vorstellungsbildung beginnt, die gegenwärtig im Gange ist oder möglich erscheint.

Ich will hinzufügen, denn ich habe vorhin auch die Frage erwähnt, ob das Gefühl ein Zustand oder ein Vorgang sei, daß in Wahrheit diese Frage in der angedeuteten Entwicklung so gut wie keine Rolle spielt, es sei denn die einer allen Auffassungen gemeinsamen und vielleicht nicht ganz gegenstandslosen Schwäche. Stelle ich mir ein Gefühl, wie es nach älterer Art nahezuliegen scheint, als etwas Beständiges vor, das nach außen und innen wirkt, und auch von beiden Seiten Rückwirkung empfängt, so habe ich offenbar nicht bloß ein Gefühl vor mir, sondern eine unbestimmte Anzahl wechselnder Gefühle. Die Sprache stellt zwar für diese Unterarten eines Gefühl selten eine Mehrzahl zur Verfügung, sie kennt keine Neide, Zörner oder Trotze, für sie sind das die Abwandlungen eines Gefühls in verschiedenen Spielarten oder in verschiedenen Zuständen seiner Entwicklung; aber ohne Frage deutet auch eine Folge von Zuständen ebenso gut wie eine Folge von Gefühlen auf einen Vorgang hin. Glaubt man hingegen, wie es dem entspräche und auch der heutigen Auffassung näherzuliegen scheint, einen Vorgang vor sich zu haben, so ist wieder der Zweifel, was dann ›eigentlich‹ Gefühl sei und wo etwas aufhöre, zu ihm selbst, und anfange, zu seinen Ursachen, Folgen oder dem begleitenden Gefolge zu gehören, nicht auf geradem Wege zu lösen. Ich werde an einer späteren Stelle darauf zurückkommen, denn ein solcher Zwiespalt pflegt einen Fehler der Fragestellung anzuzeigen; und es wird sich, wie ich meine, herausstellen, daß die Frage, ob Zustand oder Vorgang, eigentlich eine Scheinfrage ist, hinter der sich eine andere verbirgt. Dieser Möglichkeit zuliebe, über die ich nicht entscheiden kann, mag sie hervorgehoben bleiben.«

 


 

»Ich fahre nun fort, der ursprünglichen Gefühlslehre zu folgen, die vier Haupthandlungen oder Grundzustände der Seele unterscheidet. Sie reicht auf die Antike zurück und wird vermutlich ein in Würden verbliebenes Seitenstück zu deren Meinung sein, daß die Welt der Körper aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde bestehe: Trotzdem wird noch heute oft von vier besonderen, nicht aufeinander zurückführbaren Klassen von Bewußtseinselementen gesprochen, und in der Klasse Gefühl nehmen dann gewöhnlich die beiden Gefühle ›Lust‹ und ›Unlust‹ eine Vorzugsstellung ein; denn sie gelten entweder als die einzigen oder gelten wenigstens als die einzigen mit nichts andrem vermengten Gefühle. In Wahrheit sind sie vielleicht überhaupt keine Gefühle, sondern nur eine Färbung und Tönung an diesen, in der sich der ursprüngliche Unterschied zwischen Anziehung und Flucht und wohl auch der Gegensatz zwischen Gelingen und Versagen und andere Gegensätze der ursprünglich so symmetrischen Führung des Lebens erhalten haben. Das gelingende Leben ist lustvoll: lange vor Nietzsche und unserer Zeit hat es schon Aristoteles gesagt. Und noch Kant hat gesagt: ›Vergnügen ist das Gefühl der Beförderung, Schmerz das einer Hindernis des Lebens.‹ Und Spinoza hat Lust den ›Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit‹ genannt. Sie ist immer in diesem etwas übertriebenen Ruf einer letzten Erklärung gestanden, die Lust (und nicht zuletzt bei denen, die sie der Täuschung verdächtigten!).

Aber wahrlich zur Heiterkeit kann sich das bei nicht ganz großen, und doch verdächtig leidenschaftlichen Denkern steigern. Ich setze eine schöne Stelle aus einem zeitgenössischen Lehrbuch hierher, von der ich kein Wort vergessen möchte: ›Was erscheint verschiedenartiger als zum Beispiel die Freude über eine elegant gelöste mathematische Aufgabe und die über ein gutes Mittagessen! Und doch sind diese beiden Freuden als reines Gefühl ein und dasselbe, nämlich Lust!‹ Auch eine Stelle aus einer Gerichtsentscheidung, die wahrhaftig erst vor wenigen Tagen gefällt worden ist, setze ich dazu: ›Das Schmerzensgeld hat dem Zwecke zu dienen, dem Beschädigten die Möglichkeit zu geben, sich seinen gewohnten Verhältnissen entsprechende Lustgefühle zu verschaffen, die die durch die Verletzung und ihre Folgen ausgelösten Unlustgefühle aufwiegen. Auf den gegenständlichen Fall angewendet, ergibt sich also schon aus der beschränkten Auswahl der dem Lebensalter von zwei ein viertel Jahren entsprechenden Lustgefühle und der leichten Beschaffbarkeit der Mittel hiezu, daß das begehrte Schmerzensgeld zu hoch sei.‹ Die durchdringende Klarheit, die sich in diesen beiden Beispielen äußert, gestattet die ehrfürchtige Bemerkung, daß sich Lust und Unlust noch lange als das I und A der Gefühlslehre erhalten werden.«

 


 

»Blicke ich mich weiter um, so sehe ich, daß diese Lust und Unlust sorgfältig abwägende Lehre unter ›Mischgefühlen‹ die ›Verbindung des Elements der Lust und Unlust mit den anderen Elementen des Bewußtseins‹ versteht und damit Trauer, Gelassenheit, Ärger und anderes meint, worauf Laien solchen Wert legen, daß sie gern mehr davon erführen als bloß einen Namen. ›Allgemeine Gemütszustände‹ wie Lebhaftigkeit oder Niedergeschlagenheit, ›darin Mischgefühle von gleicher Art vorwiegen‹, heißt sie ›Einheit einer Gefühlslage‹. ›Affekt‹ nennt sie eine Gefühlslage, die sich ›heftig und plötzlich‹ einstellt, und eine überdies ›chronische‹ nennt sie ›Leidenschaft‹. Sollten Theorien eine Moral haben, so wäre also die Moral dieser Lehre ungefähr mit den Worten auszusprechen: Mache anfangs kleine Schritte, so kannst du später große Sprünge machen!«

 


 

»Aber in Unterscheidungen wie diesen: ob es bloß eine Lust und Unlust gebe oder vielleicht doch mehrere Lüste und Unlüste; ob es neben Lust und Unlust nicht auch noch andere Grundgegensätze gebe, und zum Beispiel Lösung und Spannung ein solcher sei (das hat den stattlichen Titel: singularistische und pluralistische Theorie); ob sich ein Gefühl verändern könne oder ob es, wenn es sich verändere, schon ein anderes Gefühl werde; ob ein Gefühl, soll es aus einer Folge von Gefühlen bestehn, sich zu diesen im Verhältnis des Art- zu seinen Gattungsbegriffen oder des Bewirkten zu seinen Ursachen befinde; ob die Zustände, die ein Gefühl durchläuft, angenommen, es selbst sei ein Zustand, Zustände eines Zustands seien oder verschiedene Zustände und damit also verschiedene Gefühle; ob ein Gefühl durch die von ihm hervorgerufenen Handlungen und Gedanken eine eigene Veränderung bewirken könne oder ob in dieser Rede vom ›Wirken‹ eines Gefühls etwas so Uneigentliches und wenig wirklich Gemeintes liege, als werde gesagt, das Auswalzen eines Bleches ›bewirke‹ dessen Verdünnung oder eine Ausbreitung der Wolken die Verschleierung des Himmels: in solchen Unterscheidungen hat die traditionelle Psychologie vieles geleistet, was nicht unterschätzt werden sollte. Freilich ließe sich dann auch fragen, ob die Liebe eine ›Substanz‹ oder eine ›Qualität‹ sei und was es in Ansehung ihrer mit der ›Haecceität‹ und ›Quiddität‹ auf sich habe; aber ist man je sicher, das nicht doch einmal noch fragen zu müssen?«

 


 

»Alle solchen Fragen enthalten einen höchst nützlichen Ordnungssinn, obwohl er in Ansehung der unbefangenen Natur des Gefühls ein wenig lächerlich wirkt, und uns in Ansehung dessen, wie die Gefühle unser Handeln bestimmen, wenig zu helfen vermag. Dieser logisch-grammatikalische, wie eine Apotheke mit hunderten Lädchen und Aufschriften ausgestattete Ordnungssinn ist ein Rest der mittelalterlichen, aristotelisch-scholastischen Naturbetrachtung, deren großartige Logik nicht sowohl an den Erfahrungen, die man mit ihr gemacht hat, zuschanden geworden ist als vielmehr an denen, die man ohne sie gemacht hat. Es ist vornehmlich die Entfaltung der Naturwissenschaften daran schuld gewesen und die ihres neuen Verstandes, der die Frage, was logisch sein müsse, hinter die Frage zurückgesetzt hat, was wirklich sei; doch nicht weniger auch das Unglück, daß die Natur anscheinend bloß auf einen solchen Mangel an Philosophie gewartet hatte, um sich entdecken zu lassen, und mit einer Bereitschaft geantwortet hat, die beiweitem noch nicht zu Ende ist. Trotzdem ist es, so lange diese Entwicklung das neue philosophische Weltenei noch nicht hervorgebracht hat, auch heute noch nützlich, ihr gelegentlich von den Schalen des alten zu fressen zu geben, wie man es Hennen tut, die legen werden. Und das gilt besonders von der Psychologie des Gefühls. Denn sie ist in ihrer geschlossenen logischen Einkleidung schließlich vollkommen unfruchtbar gewesen, aber von den Gefühlspsychologien, die darauf gefolgt sind, ist nur zu sehr das Gegenteil wahr; denn sie sind in Ansehung dieses Verhältnisses zwischen logischem Gewand und Fruchtbarkeit, zumindest in den schönen Jahren der Jugend, nahezu Sansculottinen gewesen!«

 


 

»Was habe ich mir aus diesen Anfängen zu allgemeinerem Nutz und Frommen ins Gedächtnis zu rufen? Vor allem das: Diese neuere Psychologie hat mit dem hilfsbereiten Mitleid begonnen, das die medizinische Fakultät immer für die philosophische übrig hat, und sie hat mit der älteren Gefühlspsychologie aufgeräumt, indem sie überhaupt aufgehört hat, von Gefühlen, und angefangen hat, naturwissenschaftlich von ›Trieben‹, ›Triebhandlungen‹ und ›Affekten‹ zu sprechen. (Nicht als ob die Rede vom Menschen als einem von seinen Trieben und Affekten beherrschten Wesen neu gewesen wäre, aber neue Medizin ist sie dadurch geworden, daß er fortan nur als das betrachtet werden sollte.)

Der Vorzug bestand in der Aussicht, das höher beseelte menschliche Verhalten auf das allgemeine belebte zurückzuführen, das sich auf den naturgewaltigen Nötigungen des Hungers, des Geschlechts, der Verfolgtheit und anderer Grundzustände des Lebens aufbaut, denen die Seele angepaßt ist. Dadurch bestimmte Geschehensabläufe heißen ›Triebhandlungen‹, entstehen ohne Absicht und Überlegung, sobald sich ein Reiz der ihnen entsprechenden Reizgruppe geltend macht, und werden von allen Tieren der gleichen Art, oft auch von Tier und Mensch, ähnlich ausgeführt. Die persönlichen, aber nahezu unveränderlich erblichen Anlagen dazu heißen ›Triebe‹; und mit der Bezeichnung ›Affekt‹ wird in diesem Zusammenhang gewöhnlich eine etwas ungewisse Meinung verknüpft, nach der er das Erlebnis oder die erlebte Seite der Triebhandlung und der ins Handeln gesetzten Triebe sein soll.

Betont oder leise wird dabei meist auch vorausgesetzt, daß alle menschlichen Handlungen Triebhandlungen seien, oder Verbindungen zwischen solchen, und alle unsere Gefühle Affekte oder Teile oder Zusammensetzungen von Affekten. Ich habe heute mehrere Lehrbücher der medizinischen Psychologie durchblättert, um mein Gedächtnis aufzufrischen, aber in ihrer aller Sachverzeichnissen ist das Wort Gefühl auch nicht ein einzigesmal vorgekommen, und es ist wahrhaftig keine geringe Eigenheit einer Gefühlspsychologie, wenn in ihr keine Gefühle vorkommen!«

 


 

»So sehr überwiegt noch jetzt in manchen Kreisen eine mehr oder minder betonte Absicht, die zu nichts führende geistige Betrachtung der Seele durch naturwissenschaftliche Begriffe zu ersetzen, die aufs äußerste handgreiflich sein sollen. Und wie man es anfangs am liebsten gesehen hätte, daß die Gefühle nichts als Empfindungen in den Eingeweiden und Gelenken wären, und in der Folge Behauptungen entstanden sind wie die, daß die Furcht aus beschleunigter Herztätigkeit und flachem Atem bestünde, oder daß das Denken ein inneres Sprechen, also eigentlich eine Kehlkopfreizung wäre, steht heute die geläuterte Absicht in Ansehen und Ehren, das gesamte innere Leben auf Reflexbögen und ähnliches zurückzuführen, und gilt beispielsweise einer großen und erfolgreichen Schule als die einzige erlaubte Aufgabe der Seelenerklärung.

Mag also auch die breite, womöglich eisern-automatische, Verankerung im Naturreich das wissenschaftliche Ziel sein, so mischt sich doch ebenfalls ein eigentümlicher Überschwang hinein, der sich ungefähr durch den Satz ausdrücken ließe: was niedrig steht, steht fest. Das ist einmal, bei der Überwindung der theologischen Naturphilosophie, ein Überschwang der Vereinigung gewesen, eine ›Spekulation à la baisse in menschlichen Werten‹. Der Mensch hat sich lieber als einen Faden im Gewebe des Weltstoffes sehen wollen denn als einen auf diesem Teppich Stehenden; und es läßt sich gut verstehen, daß auch die Seelenlehre, als sie, nachzüglerisch lärmend, in ihre materialistischen Flegeljahre eintrat, ein luziferisches, herabsetzendes Verlangen nach Seelenlosigkeit abbekommen hat. Das ist ihr später von allen frommen Feinden naturwissenschaftlichen Denkens gotteshausmeisterlich übelgenommen worden, aber seinem heimlichsten Wesen nach ist es doch nichts gewesen als eine gutartig düstere Romantik, eine gekränkte Kinderliebe zu Gott, und darum auch zu seinem Ebenbild, die in dessen Mißhandlung unbewußt noch heute nachwirkt.«

 


 

»Doch es ist immer gefährlich, wenn eine Ideenquelle in Vergessenheit gerät, ohne daß es bemerkt wird, und so hat sich manches, was bloß davon seine unbefangene Gewißheit empfangen hatte, in der medizinischen Psychologie ebenso unbefangen auch weiter erhalten, woraus stellenweise ein vernachlässigter Zustand entstanden ist, an dem gerade die grundlegenden Begriffe, und dann nicht zuletzt die Begriffe Trieb, Affekt und Triebhandlung, teilhaben. Schon die Frage, was ein Trieb sei und welche oder wieviel Triebe es gebe, wird nicht nur ganz ungleich beantwortet, sondern es geschieht auch ohne alles Zagen. Ich habe eine Darstellung vor mir gehabt, worin die ›Triebgruppen‹ der Nahrungsaufnahme, der Sexualität und des Schutzes vor Gefahr unterschieden worden sind; eine andere, die ich mit ihr verglich, hat einen Lebenstrieb, einen Geltungstrieb und fünf andere angeführt; die Psychoanalyse, die nebenbei wohl auch als Triebpsychologie bezeichnet werden darf, schien lange Zeit nur einen einzigen Trieb zu kennen; und so geht es weiter. Auch das Verhältnis zwischen Triebhandlung und Affekt ist mit ebenso großen Verschiedenheiten bestimmt worden: Wohl heißt es gewöhnlich in Übereinstimmung, daß der Affekt das ›Erlebnis‹ der Triebhandlung sei; aber ob dabei die ganze Triebhandlung als Affekt erlebt werde, also auch das äußere Verhalten, oder ob nur das innere Geschehen, oder ob Teile von ihm, oder Teile des äußeren und inneren Vorgangs in einer besonderen Vereinigung, davon wird bald das eine, bald das andere behauptet und manchmal beides nebeneinander. Nicht einmal, was ich zuvor aus dem Gedächtnis ohne Einwand niedergeschrieben habe, daß eine Triebhandlung ›ohne Absicht und Überlegung‹ geschehe, stimmt in allen Stücken.«

 


 

»Ist es dann verwunderlich, wenn hinter den physiologischen Erklärungen unseres Gehabens sehr oft zu guter Letzt doch wieder nichts anderes zum Vorschein kommt als die vertraute Vorstellung, daß wir es von Kettenreflexen und Sekreten und Geheimnissen des Körpers bloß darum steuern ließen, weil wir die Lust suchten und die Unlust mieden? Und nicht nur in der Seelenkunde, auch in der allgemeinen Lebenslehre, ja in der Volkswirtschaftslehre, kurz überall, wo man ein Verhalten begründen möchte, spielen Lust und Unlust noch immer diese Rolle, also zwei so dürftige Gefühle, daß sich etwas Einfacheres kaum noch denken läßt. Der weitaus vielfältigere Gedanke der Triebbefriedigung wäre wohl imstande, das Bild bunter zu gestalten, aber die alte Gewohnheit ist so stark, daß man mitunter sogar lesen kann, die Triebe strebten nach Befriedigung, weil diese Erfüllung eben Lust sei, was ungefähr ebensoviel ist, wie den Auspuff für den treibenden Teil an einem Motor zu halten!«

 


 

So war Ulrich am Ende denn auch auf die Frage der Einfachheit zu sprechen gekommen, obgleich es wohl eine Abschweifung war.

»Woran liegt der Reiz, die besondere Versuchung für den Geist, daß er glaubt, die Welt der Gefühle auf Lust und Unlust oder auf die einfachsten physiologischen Vorgänge zurückführen zu müssen? Warum billigt er einem psychologischen Etwas umso mehr Erklärungswert zu, je einfacher es ist? Warum einem physiologisch-chemischen noch mehr als einem psychologischen, und schließlich der Zurückführung auf die Bewegung physikalischer Atome den allermeisten? Es geschieht selten aus Vernunftgründen, eher halbbewußt, aber auf irgendeine Weise ist dieses Vorurteil gewöhnlich wirksam. Worauf beruht also dieser Glaube, daß das Geheimnis der Natur einfach sein müsse?

Zuerst ist da zweierlei zu unterscheiden. Die Zerlegung des Zusammengesetzten in das Einfache und Kleine ist im Alltag eine durch nützliche Erfahrung gerechtfertigte Gewohnheit; dieser lehrt uns tanzen, indem er uns die Schritte beibringt, und er lehrt uns, daß man ein Ding besser versteht, nachdem man es zerlegt und wieder zusammengeschraubt hat. Die Wissenschaft bedient sich dagegen der Vereinfachung eigentlich nur als einer Zwischenstufe; auch was als Ausnahme erscheint, ordnet sich dem unter. Denn am Ende führt sie nicht das Zusammengesetzte auf das Einfache zurück, sondern das Besondere des einzelnen Falls auf die allgemein gültigen Gesetze, die ihr Ziel sind, und die sind nicht sowohl einfach als vielmehr allgemein und zusammenfassend. Sie vereinfachen die Mannigfaltigkeit des Geschehens erst durch ihre Anwendung, also in zweiter Hand.

Und so heben sich überall im Leben zwei Einfachheiten von einander ab: was es zum voraus ist, und was es erst nachher wird, sind in verschiedener Bedeutung einfach. Was es zum voraus ist, mag es was immer sein, ist meistens einfach aus Mangel an Inhalt und Form, und darum gemeinhin auch einfältig, oder es ist noch nicht durchschaut. Was aber erst einfach wird, mag es ein Gedanke oder ein Handgriff oder gar der Wille sein, hat Teil und hat in sich von der Gewalt der Wahrheit und des Könnens, die das verwirrt Vielfältige bezwingt. Diese beiden Einfachheiten werden gewöhnlich miteinander verwechselt: es geschieht in der frommen Rede von der Einfalt und Unschuld der Natur; es geschieht in dem Glauben, daß eine einfache Sittlichkeit unter allen Umständen dem Ewigen näher stehe als eine verwickelte; es geschieht auch in der Verwechslung des rohen Willens mit dem starken.«

 


 

Als Agathe so weit gelesen hatte, glaubte sie, auf dem Kies des Gartens Ulrichs zurückkehrende Schritte zu hören, und schob alle Blätter eilig wieder in die Lade zurück. Als sie sich aber davon überzeugt hatte, daß ihr Gehör sie getäuscht habe, und gewiß geworden war, daß ihr Bruder noch im Garten verweile, zog sie die Blätter wieder hervor und las noch ein Stück des Folgenden weiter.


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