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Naive Beschreibung, wie sich ein Gefühl bildet

 

Von den folgenden Blättern hatte Agathe noch einen großen Teil gelesen.

Sie enthielten zunächst noch nicht die versprochene Darlegung der Entwicklung, die der Begriff des Gefühls gegenwärtig mitmacht; denn ehe sich Ulrich von diesen Auffassungen Rechenschaft gab, aus denen er den meisten Gewinn zu ziehen hoffte, hatte er sich, nach seinen eigenen Worten, »das Entstehen und Wachstum eines Gefühls so naiv und mit grobem Finger buchstabierend vorzustellen« getrachtet, »wie es einem geistig nicht ungeübten Laien erscheinen mag.«

Und diese Aufzeichnung fuhr folgendermaßen fort: »Man pflegt das Gefühl als etwas anzusehen, das Ursachen und Folgen hat, und ich will mich darauf beschränken, daß die Ursache ein äußerer Reiz sei. Natürlich gehören aber zu diesem Reiz auch geeignete Umstände, das heißt sowohl passende äußere Umstände als auch innere, eine innere Bereitschaft, und erst diese Dreiheit entscheidet darüber, ob und wie er beantwortet wird. Denn ob sich ein Gefühl überraschend oder verzögert einstellt, wie es sich ausbreitet und abläuft, welche Ideen es mit sich bringt, und überhaupt welches Gefühl es ist, hängt gewöhnlich nicht minder von dem Vorzustand des Fühlenden und der Umwelt als vom Reiz ab. Von dem persönlichen Zustand des Fühlenden, also von Temperament, Charakter, Alter, Erziehung, von den Anlagen, Grundsätzen, vorangegangenen Erlebnissen und vorhandenen Spannungen, gilt das wohl als selbstverständlich, obwohl diese Bedingungen keine genaue Grenze haben und sich in das Wesen der Person und ihres Schicksals verlieren. Aber auch die äußere Umgebung, ja schon ein Wissen von ihr oder bloß ihre stillschweigende Voraussetzung können ein Gefühl unterdrücken oder begünstigen, und das gesellige Leben bietet unzählige Beispiele dafür dar, denn in jeder Lage gibt es Gefühle, die sich schicken oder nicht schicken, auch wechselt es mit den Landstrichen und der Zeit, welche Gefühlsgruppen im öffentlichen und im Eigenleben vorherrschen, oder doch begünstigt werden, und welche unterdrückt werden, ja sogar schlechthin gefühlvolle und gefühlarme Zeiten haben einander schon abgelöst.

Zu alledem kommt dann noch hinzu, daß äußere und innere Umstände, ja auch diese und der Reiz, wie sich leicht ermessen läßt, nicht unabhängig von einander sind. Denn der innere Zustand ist dem äußeren und seinen Gefühlsreizen angepaßt gewesen, war also auch von ihnen abhängig, und der äußere muß auf irgendeine Weise aufgenommen worden sein, so daß seine Erscheinung von dem inneren Zustand abhing, ehe eine Störung dieses Gleichgewichts ein neues Gefühl hervorruft und dieses einen neuen Ausgleich entweder anbahnt oder selbst schon darstellt. Ebenso wirkt aber auch der ›Reiz‹ gewöhnlich nicht unmittelbar, sondern erst kraft seiner Aufnahme, und das Innere wieder vollzieht diese Aufnahme erst auf Grund von Wahrnehmungen, mit denen Anfänge der Erregung doch wohl schon verbunden sein müssen.

Davon abgesehen, hängt der Reiz, der ein Gefühl zu erregen vermag, mit diesem aber auch schon insofern zusammen, als das, was beispielsweise einen Hungernden erregt, einem Beleidigten gleichgültig ist, und umgekehrt.«

 


 

»Ähnliche Verwicklungen ergeben sich, wenn das Weitere ›der Reihe nach‹ beschrieben werden soll. So ist schon die Frage, wann ein Gefühl ›da‹ sei, nicht zu beantworten, obwohl nach der zugrundeliegenden Auffassung, wonach es bewirkt werden und dann selbst wirken solle, doch angenommen werden müßte, daß es einen solchen Zeitpunkt gebe. In Wahrheit schlägt aber der erregende Reiz nicht in einen bestehenden Zustand ein wie die Kugel in die mechanische Scheibe, die nun ein Spielwerk von Folgen in Gang setzt, sondern dauert weiter und ruft einen Nachschub an inneren Kräften hervor, die sowohl in seinem Sinn wirken als auch seine Wirkung abändern. Und ebenso wenig gibt sich das Gefühl, einmal vorhanden, sofort an seine Wirkungen aus, noch bleibt es sich auch nur einen Augenblick selbst gleich und ruht gleichsam in der Mitte zwischen den Vorgängen, die es aufnimmt und entsendet, sondern ist mit einer dauernden Veränderung von allem verbunden, wozu es außen und innen Beziehung hat, und empfängt auch von beiden Seiten eine Rückwirkung.

Es ist den Gefühlen die lebhafte, oft leidenschaftliche Bestrebung zu eigen, die Reize abzuändern, denen sie ihre Entstehung verdanken, und sie zu beseitigen oder zu begünstigen; und die Hauptlebensrichtungen sind die nach außen und von außen. Darum trägt der Zorn schon den Gegenangriff in sich, das Verlangen die Annäherung, und die Furcht den Übergang in Flucht, in Erstarren oder zwischen beiden in den Schrei. Aber auch durch die Rückwirkung dieses tätigen Verhaltens empfängt ein Gefühl nicht wenig von seiner Eigentümlichkeit und von seinem Inhalt; und der bekannte Ausspruch eines amerikanischen Psychologen: ›Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern sind traurig, weil wir weinen‹ mag übertrieben sein, doch ist es sicher, daß man nicht bloß so handelt, wie man fühlt, sondern bald auch so fühlen lernt, wie man, aus welchen Gründen immer, handelt. Ein bekanntes Beispiel dieses Hin- und Rückweges ist das Spiel von Hunden, die im Scherz zu balgen beginnen und in einem blutigen Zweikampf enden; aber auch an Kindern und einfachen Menschen läßt sich ähnliches beobachten. Und ist schließlich nicht die ganze schöne Theatralik des Lebens ein großes solches Beispiel, mit ihren halb gewichtigen, halb gewichtslosen Gebärden der Ehre und Ehrung, der Drohung, Artigkeit, Gemessenheit und alles anderen, Gebärden des Etwas-darstellen-Wollens und der Darstellung, die das Urteil beiseitesetzen und unmittelbar das Gefühl beeinflussen. Sogar der ›Drill‹ gehört dazu und beruht auf der Wirkung, daß ein lang aufgezwungenes Verhalten am Ende die Gefühle erzeugt, von denen es ausgehen sollte.«

 


 

»Wichtiger als die Rückwirkung des Tuns ist es freilich in diesen und anderen Beispielen, daß ein Erlebnis die Bedeutung wechselt, wenn sein Verlauf aus dem Bereich der ihm zu Anfang eigentümlichen lenkenden Kräfte in den Bereich anderer seelischer Anschlüsse gerät. Denn Ähnliches wie auf der Außenseite vollzieht sich auf der inneren. Das Gefühl drängt nach innen; es ›erfaßt den ganzen Menschen‹ , wie die Umgangssprache nicht unzutreffend sagt, es verdrängt, was sich nicht zu ihm schickt, und begünstigt, wovon es sich nähren kann. In einem Lehrbuch der Psychiatrie habe ich dafür die sonderbaren Namen ›Schaltkraft‹ und ›Schaltarbeit‹ gelesen. Dabei wird durch das Gefühl aber auch das Innere angeregt, daß es sich ihm zuwende. Die innere Bereitschaft, die nicht schon mit dem ersten Augenblick verausgabt ist, drängt ihm nach und nach zu; und vollends wird das Gefühl, sobald es größere in Gedanken, Erinnerungen, Grundsätzen oder anderem aufgespeicherte Kräfte ergreift, auch von ihnen ergriffen, und sie verändern es so, daß sich nun wieder schwer entscheiden läßt, ob man von einem Ergreifen oder einem Ergriffenwerden reden sollte.

Hat ein Gefühl durch solche Vorgänge aber seinen Höhepunkt erreicht, so muß es durch die gleichen wohl auch wieder geschwächt und verdünnt werden. Denn Gefühle und Erlebnisse werden dann seinen Bereich durchkreuzen, die sich ihm nicht mehr völlig unterwerfen und es am Ende sogar verdrängen. Ja eigentlich beginnt dieses gegenläufige Geschehen der Befriedigung und Abnützung schon mit der Entstehung des Gefühls; denn daß es um sich greift bedeutet nicht nur eine Vergrößerung seiner Macht, sondern zugleich auch eine Entspannung der Bedürfnisse, denen es entspringt oder deren es sich bedient.

Auch im Verhältnis zur Handlung ist das zu beachten; denn das Gefühl steigert sich nicht nur im Tun, sondern entspannt sich auch darin; und seine Sättigung geht, wenn es nicht durch ein anderes Gefühl gestört wird, bis zum Überdruß fort, das heißt so lange, bis eben doch ein neues Gefühl da ist.«

 


 

»Etwas ist besonders zu erwähnen. Solange sich ein Gefühl das Innere unterwirft, kommt es auch in Berührung mit Tätigkeiten, die am Erleben und Verstehen der äußeren Welt mitwirken; und so wird es auch die Welt, wie wir sie verstehen, teilweise nach seinem eigenen Muster und Sinn zu schablonisieren vermögen, um durch den rückwirkenden Anblick in sich selbst bestärkt zu werden. Die Beispiele dafür sind bekannt: Ein heftiges Fühlen macht blind gegen das, was Unbefangene wahrnehmen, und macht gewahren, was andere nicht sehn. Der Traurige sieht Schwarz und straft mit Nichtachtung, was es aufhellen könnte; dem Heiteren leuchtet die Welt, und er ist nicht imstande, etwas wahrzunehmen, wovon das gestört werden könnte; dem Liebenden begegnen die bösesten Wesen mit Vertrauen; und der Argwöhnische findet nicht nur sein Mißtrauen allerorten bestätigt, sondern die Bestätigungen suchen ihn geradezu heim. Auf diese Art schafft sich jedes Gefühl, wenn es eine gewisse Stärke und Dauer erlangt, eine ausgewählte und anzügliche, seine eigene Welt, was keine kleine Rolle in den menschlichen Verhältnissen spielt! Dahin gehört auch unser berüchtigter Wankelmut und unser wechselndes Gutdünken.«

 


 

Hier hatte Ulrich einen Strich gezogen und war auf kurze Zeit zu der Frage zurückgekehrt, ob ein Gefühl ein Zustand oder ein Vorgang sei, deren Eigentümlichkeit als Scheinfrage jetzt deutlich hervortrat. Zusammenfassend und weiterführend knüpfte sich an die gegebene Beschreibung Folgendes an:

»Von der gewohnten Vorstellung ausgehend, das Gefühl sei ein Zustand, der von einer Ursache kommt und Folgen bewirkt, bin ich in der Ausführung zu einer Beschreibung geführt worden, die zweifellos einen Vorgang darstellt, wenn das Ergebnis über längere Strecken betrachtet wird. Gehe ich aber dann von dem Gesamteindruck eines Vorgangs aus und will diese Vorstellung festhalten, so sehe ich ebenso deutlich, daß zwischen benachbarten Stücken allenthalten das Nacheinander fehlt, das Eins-hinter-dem-anderen, das doch zu einem Vorgang gehört, ja sogar jede Andeutung eines Ablaufs in bestimmter Richtung. Im Gegenteil, es deutet sich zwischen den einzelnen Schritten eine wechselseitige Abhängigkeit und Voraussetzung an, ja sogar das Bild von Wirkungen, die ihren Ursachen voranzugehen scheinen. Auch Zeitverhältnisse kommen nirgends in der Beschreibung vor, und alles das weist aus verschiedenen Gründen nun wieder auf einen Zustand hin.

Ich kann also streng genommen vom Gefühl bloß sagen, daß es sowohl ein Zustand als auch ein Vorgang zu sein scheint, ebenso wie es weder ein Zustand noch ein Vorgang zu sein scheint; und eines von beiden will so berechtigt erscheinen wie das andere. Selbst das hängt aber, wie sich leicht zeigen läßt, mindestens ebenso sehr von der Art der Beschreibung ab als von dem, was beschrieben wird. Denn es ist keine besondere Eigentümlichkeit des Seelischen, geschweige denn eine des Gefühls, sondern kommt auch auf anderen Gebieten der Naturbeschreibung vor, beispielsweise allenthalben, wo von einem System und seinen Gliedern oder von einem Ganzen und seinen Teilen die Rede ist, daß in Ansehung des einen als Zustand erscheinen kann, was in Ansehung des anderen als Vorgang gilt. Ja schon die Andauer eines Vorgangs ist für uns mit dem Begriff eines Zustands verbunden. Ich könnte wohl nicht sagen, daß die Logik dieser doppelten Vorstellungsbildung klar sei, aber wahrscheinlich hängt sie damit zusammen, daß die Unterscheidung zwischen Zuständen und Vorgängen mehr der sprachlichen Denkweise angehört als dem wissenschaftlichen Tatsachenbild, das sie vielleicht neu ausbilden, vielleicht aber auch hinter anderem verschwinden lassen wird.«

 


 

»Die deutsche Sprache sagt: Zorn ist in mir, und sagt: Ich bin in Zorn. Sie sagt: ich bin zornig, ich fühle mich zornig, ich fühle Zorn. Sie sagt: Ich bin verliebt, und: Ich habe mich verliebt. Die Namen, die sie den Gefühlen gegeben hat, weisen sprachgeschichtlich wohl oft darauf zurück, daß sie vom Eindruck der Handlungen und durch das gefährliche oder in die Augen springende Verhalten zu ihnen bewogen worden ist; trotzdem spricht sie vom Gefühl bald als von einem Zustand, der verschiedene Vorgänge umschließt, bald als von einem Vorgang, der aus einer Reihe von Zuständen besteht; auch bezieht sie, wie die Beispiele zeigen, ohneweiters und bald so, bald anders die Vorstellungsbilder der Person und des Außen und Innen in ihre Ausdrucksweise ein; und im ganzen verfährt sie so launisch und unberechenbar, als hätte sie von Anfang an die deutsche Gefühlsverwirrung begründen wollen.

Diese Verschiedenartigkeit des sprachlichen Bildes unserer Gefühle, das aus eindringlichen, aber unvollkommenen Erfahrungen entstanden ist, spiegelt sich noch heute in der Ideenbildung der Wissenschaft wider; namentlich dann, wenn diese mehr der Breite als der Tiefe nach genommen wird. Es gibt Lehren der Psychologie, in denen das Ich als das Gewisseste und in jeder Seelenregung, vornehmlich aber im Gefühl Erfahrbare auftritt, wie es auch Lehren gibt, die es völlig weglassen und nur die Beziehungen zwischen den Äußerungen für erfahrbar ansehen und so beschreiben, als wären es Erscheinungen in einem Kraftfeld, dessen Ursprung außer Betracht bleibt. Es gibt also Ichpsychologien und Psychologien ohne Ich. Aber auch die anderen Unterschiede sind gelegentlich ausgestaltet worden, und so erscheint das Gefühl einmal als ein Vorgang, den die Beziehung eines Ich zur Außenwelt durchläuft, ein andermal als ein besonderer Fall und Zustand der Bezogenheit und so weiter, Unterscheidungen, die sich eben bei einer mehr begrifflichen Richtung der Wißbegierde, solange die Wahrheit nicht deutlich ist, leicht davorstellen.

Vieles bleibt hier noch der Meinung überlassen, auch wenn man sich sorgfältig bemüht, die Tatsachen von ihr zu unterscheiden. Es scheint uns klar zu sein, daß sich ein Gefühl nicht irgendwo in der Welt, sondern im Innern eines lebenden Wesens bildet, und daß ›Ich‹ es bin, der fühlt oder in der Erregung sich selbst fühlt. Es geht deutlich etwas in mir vor, wenn ich fühle, und ich verändere auch meinen Zustand; und obwohl das Gefühl eine lebhaftere Beziehung zur Außenwelt herstellt als eine Sinnesempfindung, scheint es mir ›innerlicher‹ zu sein als sie. Das ist die eine Gruppe der Eindrücke. Anderseits ist mit dem Gefühl aber auch eine Stellungnahme der ganzen Person verbunden, und das ist die andere Gruppe. Ich weiß vom Gefühl, im Unterschied von der Sinnesempfindung, daß es mehr als diese ›mich ganz‹ angeht. Auch geschieht es nur auf dem Weg über die Person, daß ein Gefühl außen etwas bewirkt, sei es dadurch, daß diese handelt, sei es dadurch, daß sie die Welt anders zu sehen beginnt. Ja es ließe sich nicht einmal behaupten, daß ein Gefühl eine Veränderung im Innern einer Person sei, ohne hinzuzufügen, daß deren Beziehung zur Außenwelt dabei Veränderungen erfährt.«

 


 

»Vollzieht sich also das Werden und Sein eines Gefühls in uns oder an uns und mit uns? So komme ich wieder auf meine eigene Beschreibung zurück. Und wenn ich ihrer Unbefangenheit Glauben schenken darf, so bekräftigen die von ihr vorsichtig durchleuchteten Verhältnisse noch einmal das gleiche: Mein Gefühl bildet sich in mir und außer mir; es verändert sich von innen und von außen; es verändert die Welt unmittelbar von innen und tut es mittelbar, das heißt durch mein Verhalten, von außen; und es ist also, mag das auch unserem Vorurteil widersprechen, innen und außen zugleich, oder zumindest mit beidem so verschlungen, daß die Frage, was an einem Gefühl innen und was außen sei und was davon Ich und was Welt sei, fast allen Sinn einbüßt.

Das muß also doch wohl den Grundtatbestand abgeben und kann es auch ohneweiters tun, denn in maßvolleren Worten ausgedrückt, besagt es bloß, daß in jedem Fühlen etwas von einer doppelten Richtung erlebt wird, was ihm die Natur einer Durchgangserscheinung verleiht: nach innen, oder auf die Person zurück, und nach außen, oder zu dem Gegenstand hin, von dem es beschäftigt wird. Was hingegen Innen und Außen ist, und erst recht, was es bedeutet, zum Ich oder zur Welt zu gehören, das also, was am Ende dieser beiden Richtungen steht und darum ihre Erscheinung erst ganz verstehen ließe: das wird natürlich nicht schon im ersten Erleben klar erfaßt und ist von Ursprung nicht deutlicher als alles andere, was man erlebt, und weiß nicht wie, und ein wirklicher Begriff davon bildet sich erst durch fortdauernde Erfahrung und Erforschung aus.

Darum wird eine Psychologie, die Wert darauflegt, eine wirkliche Erfahrungswissenschaft zu sein, auch nicht anders, als sie mit den Begriffen des Zustands und Vorgangs verfährt, diese Begriffe behandeln, und die nah verwandten Gedanken der Person, der Seele und des Ichs, aber auch schon die vollen Vorstellungen des Innen und Außen werden ihr als etwas erscheinen, das zu erklären ist, und nicht als etwas, mit dessen Hilfe man ohne weiters anderes erklärt.«

 


 

»Merkwürdig gut stimmt damit auch eine Alltagswahrheit der Psychologie überein, denn wir setzen gewöhnlich, ohne viel zu überlegen, voraus, daß einer, der sich so zeigt, wie es einem bestimmten Gefühl entspricht, auch wirklich so fühle. Es geschieht also nicht selten, vielleicht sogar sehr oft, daß ein äußeres Verhalten mitsamt den Gefühlen, die es einschließt, unmittelbar und ungeteilt und mit großer Sicherheit erfaßt wird.

Wir erleben, ob die Gesinnung eines Wesens, das sich uns nähert, freundlich oder gefährlich sei, zuerst unmittelbar am Ganzen, und die Überlegung, ob es auch richtig sei, kommt bestenfalls nachher. Es nähert sich uns im ersten Eindruck auch nicht etwas, das sich vielleicht als fürchterlich erweisen könnte, sondern die Fürchterlichkeit selbst kommt uns nahe, möge es sich immerhin einen Augenblick später schon als Täuschung herausstellen. Und gelingt es uns, den unmittelbaren Eindruck wieder herzustellen, so läßt sich diese scheinbare Umkehrung einer vernünftigen Reihenfolge auch an Erlebnissen wahrnehmen wie dem, daß etwas schön und entzückend oder beschämend oder ekelerregend sei.

Das hat sich sogar in einem doppelten Sprachgebrauch erhalten, der gang und gäbe ist; denn wir sagen sowohl, daß wir etwas für schrecklich, lieblich und anderes hielten, und betonen damit, daß die Gefühle von der Person abhängen, als wir auch sagen, daß etwas schrecklich, lieblich und anderes sei, und von dem Schrecklichen und dem Lieblichen sprechen, womit wir betonen, daß der Ursprung unserer Gefühle wie eine Eigenschaft in den Dingen und Geschehnissen wurzle. Diese Zweiseitigkeit, ja amphibische Zweideutigkeit der Gefühle unterstützt den Gedanken, daß sie nicht nur im Innern, sondern auch in der äußeren Welt zu beobachten sind.«

 


 

Mit diesen letzten Bemerkungen war Ulrich aber schon bei der dritten Antwort auf die Frage, wie der Begriff des Gefühls zu bestimmen sei, angelangt, oder zurückhaltender gesagt, bei der heute vorherrschenden Auffassung dieser Frage.


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