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Moosbrugger im Irrenhaus. Eine Kartenpartie
Es war ungefähr eine Woche seit dem Besuch vergangen, den Clarisse dem Irrenhaus abgestattet hatte. Der Tag, wo sie Moosbrugger sehen sollte, stand nahe bevor und sie machte den Eindruck, daß sie dem eine Wichtigkeit beimaß wie der Begegnung zweier Herrscher.
»Bring ihm statt deines Gefühls lieber eine Wurst entgegen und Zigaretten« scherzte Siegmund in seiner Art.
Walter ärgerte sich über seinen Schwager und verteidigte plötzlich Clarisse. »Wenn sie am Klavier bis zur Leidenschaft gespielt hat, aufgeregt ist und Tränen in den Augen hat: ist sie nicht vollkommen im Recht, wenn sie sich weigert, in die Tram zu steigen, auf die Klinik zu fahren und sich dort so zu benehmen, als ob das ›nur Musik‹ und wirkliche Tränen gewesen waren!?« Er weigert sich aber, mitzukommen.
Siegmund scheute Walters Überlegenheit und begnügte sich mit einem gutmütigen Brummen.
Clarisse sagte: »Er hat überhaupt noch nie eine Frau gesehn, immer nur Ersatzweiber.«
Als sie zur elektrischen Bahn gingen, sagte Siegmund: »Vergiß nicht, daß er nur ein Narr ist!« Clarisse drückte ihm als Antwort die Fingernägel in die Hand und blickte strahlend geradeaus.
In der Klinik führte sie Dr. Friedenthal diesmal nicht aus dem Haupt- und Verwaltungsgebäude hinaus; sie durchschritten bloß Gänge, weiß begrüßt von Wärtern und Gehilfen, und zwei von keinen Kranken belegte, aber dafür eingerichtete Zimmer. Dann traten sie in einen dritten großen Raum, in dessen Mitte vier Menschen um einen Tisch saßen; Dr. Friedenthal trat in einer leise auffallenden Weise aus dem Weg, und als Clarisse aufsah, füllte langsam ihren Blick die breite, ruhige Gestalt Moosbruggers aus.
Was sie erblickte, war allerdings seltsam genug: eine Kartenpartie. Moosbrugger saß, in dunkler, alltäglicher Kleidung mit drei Männern am Tisch, von denen einer den weißen Kittel des Arztes, der zweite einen Straßenanzug und der dritte die etwas abgenutzte Soutane eines Priesters trug; und außer diesen vier Figuren um den Tisch und ihren Holzstühlen war das Zimmer leer bis an die drei hohen Fenster, die auf den Garten sahen. Die vier Männer blickten auf, als sich Clarisse näherte, und Friedenthal stellte vor; Clarisse lernte einen jungen Assistenten der Klinik kennen, deren Seelsorger und einen zu Besuch gekommenen Arzt, von dem sie erfuhr, daß er einer der Sachverständigen sei, die bei der Verhandlung vor dem Schwurgericht Moosbrugger für gesund erklärt hatten; die vier Männer spielten Karten zu dritt, so daß immer einer aussetzte und den anderen zusah. Dieser Anblick eines gemütlichen bürgerlichen Kartenspiels schlug für den Augenblick alle Gedanken in Clarisse zu Boden. Sie war auf etwas Erschreckendes vorbereitet gewesen, sei es selbst nur, daß man sie ohne Ende weiter durch solche halbleere Zimmer geführt hätte, um ihr schließlich geheimnisvoll zu erklären, daß Moosbrugger doch wieder nicht zu sehen sei; und nach allem, was sie in den vergangenen Wochen und besonders an diesem letzten Tag erlebt hatte, fühlte sie nun nichts als eine merkwürdige Beklemmung. Sie begriff nicht, daß dieses Kartenspiel von Dr. Friedenthal mit den anderen verabredet war, um Moosbrugger unbefangen beobachten zu können, es kam ihr wie ein würdeloses Spiel von Teufeln mit einer Seele vor, und sie glaubte in eisigleeren Gefilden der Hölle zu sein. Zu ihrem Entsetzen stand Moosbrugger stramm und galant auf und kam auf sie zu; Friedenthal stellte auch ihn vor, und Moosbrugger nahm mit seiner Tatze ihre unsichere Hand und machte eine stumme, schnelle Verbeugung wie ein großer Junge.
Als das geschehen war, bat Friedenthal, daß man sich nicht stören lassen möge, und erläuterte, daß die gnädige Frau aus Chikago gekommen sei, um die Einrichtungen der Klinik zu studieren, und sich überzeugen werde, daß deren Gäste so gut aufgehoben seien wie nirgends auf der Welt.
»Pik war gespielt, nicht Karo, Herr Moosbrugger!« sagte der Anstaltsarzt, der seinen Schützling nachdenklich beobachtet hatte. In Wahrheit, Moosbrugger war es angenehm gewesen, daß Friedenthal in Gegenwart der Fremden von ihm als einem Gast der Klinik und nicht als einem Kranken gesprochen hatte; er würdigte das, irrte sich deshalb in den Karten, steckte aber den Tadel wegen des Ausspielens mit einem großmütigen Lächeln ein. Gewöhnlich spielte er achtsamer als ein Falke. Er hielt mit Ehrgeiz darauf, seinen gelehrten Gegnern nur durch das Glück der Karten und niemals durch schlechteres Spiel zu unterliegen. Diesmal gestattete er sich nach einer Weile aber auch noch, seine Stiche englisch zu zählen, denn dazu war er bis dreißig imstande, und er hatte verstanden, daß Clarisse aus Amerika gekommen sei. Ja, etwas später legte er sogar seine Karten ganz hin, stemmte die Fäuste gegen den Tisch und lehnte seinen mächtigen Rücken so breit zurück, daß es ringsum im Holz knackte, und begann eine umständliche Erzählung aus seiner Gefängniszeit. »Sie können es mir glauben, meine Herrn –« fing er sie an, denn er hatte Erfahrung: will man auf Frauen Eindruck machen, so muß man so tun, als ob man sie gar nicht wahrnähme, zumindest im Anfang; das hatte ihm noch jedesmal bei ihnen Erfolg eingetragen.
Der junge Anstaltsarzt begleitete Moosbruggers breitspurige Erzählung mit Lächeln, in dem Gesicht des Pfarrers kämpfte Bedauern mit Heiterkeit, und der mitspielende fremde Arzt, der Moosbrugger beinahe schon an den Galgen gebracht hatte, munterte ihn von Zeit zu Zeit durch beizende Zwischenrufe auf. Der Riese war ihnen allen durch seine protzige und doch gewöhnlich grundanständige Art sich zu geben angenehm geworden; was er sagte, hatte Hand und Fuß, wenn auch nicht gerade immer an den rechten Stellen, und namentlich der geistliche Herr hatte ihn sündhaft liebgewonnen. Wenn er sich an die tierischen Verbrechen erinnerte, deren dieser lammfromme Mann fähig war, so schlug er erschrocken in Gedanken ein Kreuz, als ob er sich auf einer verwerflichen Lässigkeit ertappte, demütigte sich vor der Unerforschlichkeit Gottes und sagte sich, daß man eine so verwickelte Angelegenheit dem Willen des Herrn überlassen müsse. Daß sich dieser Wille als Werkzeug wie zweier gegeneinander wirkender Hebel, von denen sich vorläufig nicht wissen ließ, welcher stärker sein werde, der beiden mitspielenden Ärzte bediente, war dem geistlichen Herrn bekannt.
Zwischen den beiden Medizinern bestand eine fröhliche Gegnerschaft. Als Moosbrugger einen Augenblick den Faden seiner Erzählung verlor, unterbrach ihn Dr. Pfeiffer, der zu Besuch gekommene ältere von ihnen, denn auch mit den Worten: »Genug geredet, Moosbrugger, und an die Karten, sonst hat der Herr Assistent zu früh seine Diagnose fertig!« Moosbrugger wurde sofort diensteifrig: »Wenn der Herr Doktor spielen wollen, können wir ja wieder spielen!« Clarisse hörte es mit Staunen. Der jüngere der beiden Ärzte lächelte aber ungerührt dazu. Es war ein offenes Geheimnis, daß er sich bemühte, ein unantastbares Bild von Moosbruggers Unzurechnungsfähigkeit zu gewinnen. Er sah blond, gewöhnlich und unsentimental aus, und sein Gesicht war durch die Spuren einiger Studentenmensuren nicht gerade geistvoller geworden; aber das Selbstbewußtsein der Jugend hieß ihn, in der Frage von Moosbruggers Schuld und Straffähigkeit die ärztliche Auffassung mit einem Eifer vertreten, der die übliche Halbheit verabscheute. Er hätte nicht genau sagen können, worin die ärztliche Auffassung bestehe. Sie ist eben anders. Eine gewöhnliche Trunkenheit ist zum Beispiel für sie eine echte Geisteskrankheit, die von selbst ausheilt, und daß Moosbrugger teils ein Ehrenmann, teils ein Lustmörder war, bedeutete nach ihren Begriffen einen Triebwettstreit, bei dem es sich von selbst verstand, daß er sich jeweils im Sinne des stärkeren oder nachhaltigeren Triebs entscheiden mußte. Wenn andere das nun einen freien Willen und eine gute oder böse sittliche Entscheidung nennen mögen, so ist es ihre Sache. »Wer gibt?« fragte er.
Es zeigte sich, daß er selbst die Karten zu mischen und auszuteilen hatte. Während er es tat, wandte sich Dr. Pfeiffer mit der Frage an Clarisse, welches Interesse die »Frau Kollegin« herführe. Dr. Friedenthal hob vorbeugend die Hand und riet: »Sagen Sie, um Gotteswillen, nichts von Heilkunde, die deutsche Sprache hat kein zweites Wort, das dieser Arzt so wenig hören möchte!« Es war die Wahrheit und bot den Vorteil, daß es die unberechtigte Besucherin vor den anderen als Ärztin erscheinen ließ, ohne daß Friedenthal das ausdrücklich behaupten mußte. Er lächelte zufrieden. Dr. Pfeiffer quittierte die Neckerei mit einem geschmeichelten Grinsen. Er war ein schon älterer kleiner Mann, an dessen oben abgeplattetem, nach hinten in die Tiefe gewölbtem Schädel ungepflegte Bart- und Haarstummel hingen; die Nägel an seinen Fingern waren ölig von Zigaretten und Zigarren und hielten am Rand einen schmalen Schmutzstreifen fest, obwohl sie in ärztlicher Weise ganz kurz geschnitten erschienen. Man sah es jetzt deutlich, weil die Spieler inzwischen ihre Karten aufgenommen hatten und sie sorgsam ordneten. »Ich passe« erklärte Moosbrugger. »Ich spiele« Dr. Pfeiffer, »Gut« der junge Arzt; der Geistliche sah dieses Mal zu. Das Spiel war matt und nahm ohne Aufregungen seinen Lauf.
Clarisse, die neben Friedenthal abseits stand, versteckte sich ein wenig hinter ihm, hob ihren Mund an sein Ohr und flüsterte, mit dem Blick auf Moosbrugger weisend: »Er hat immer nur Ersatz-Weiber gehabt!«
»Pst! Um Himmelswillen . . .!« flüsterte Friedenthal flehend zurück und fragte, nahe an den Tisch tretend, laut: »Wer gewinnt?«, um die Unvorsichtigkeit zu vertuschen. »Ich verliere« erklärte Pfeiffer. »Moosbrugger hat hinterlistig gepaßt! Unser junger Kollege will von mir keinen Rat annehmen; es ist mir unmöglich, ihn zu überzeugen, daß es ein verhängnisvoller Irrtum ist, wenn Ärzte glauben, daß kranke Verbrecher in ihre Krankenanstalten gehören«. Moosbrugger grinste. Pfeiffer scherzte und setzte das zuvor begonnene Geplänkel mit Friedenthal fort; das Spiel war ohnehin nicht zu retten. »Sie selbst müßten einem solchen jungen Medikus bei Gelegenheit sagen,« bat er ironisch »daß es eine Utopie ist, böse Menschen medizinisch heilen zu wollen, und überdies ein Nonsens, denn das Böse ist nicht nur in der Welt vorhanden, sondern auch unentbehrlich für ihren Fortbestand. Wir brauchen böse Menschen, wir dürfen sie nicht alle für krank erklären –«
»Sie haben keinen Stich mehr« sagte der ruhige junge Arzt und legte die Karten hin. Diesmal lächelte der Geistliche, der zugesehn hatte. Clarisse hatte etwas zu verstehen geglaubt. Es wurde ihr warm. Aber Pfeiffer sah abscheulich aus. »Es ist eine nonsensistische Utopie« witzelte er. Sie kannte sich nicht aus. Es war vermutlich doch nur das würdelose Spiel von Teufeln um eine Seele. Pfeiffer hatte sich eine neue Zigarre angezündet, und Moosbrugger teilte die Karten aus. Er sah zum erstenmal für einen Augenblick zu Clarisse hinüber, und dann wurde er gefragt, was er auf die Spielansagen der andern zu erwidern habe.
Bei diesem Spiel setzte der Assistent aus. Er schien darauf gewartet zu haben und seine Gedanken ganz langsam zu Worten zusammenzuziehen. »Für einen Naturwissenschaftler« sagte er »gibt es nichts, was seinen Grund nicht in einem Gesetz der Natur hätte. Wenn ein Mensch also ohne vernünftigen äußeren Grund ein Verbrechen begeht, so muß er einen inneren dafür haben. Und den muß ich suchen. Für Dr. Pfeiffer ist das aber nicht fein genug.« Mehr sagte er nicht, er war rot geworden und sah freundlich verdrossen drein. Der Geistliche und Dr. Friedenthal lachten, Moosbrugger lachte ähnlich wie sie und sah blitzschnell Clarisse an. Clarisse sagte plötzlich: »Es kann einer ja auch ungewöhnliche vernünftige Gründe haben!« Der Assistent sah sie an. Pfeiffer bekräftigte: »Die Frau Kollegin hat vollkommen recht. Und eigentlich verraten Sie schon eine Verbrechernatur, wenn Sie nur voraussetzen, daß es auch vernünftige Gründe für ein Verbrechen gibt!« – »Ach, Unsinn!« erwiderte der Jüngere. »Sie wissen genau, wie ich es meine.« Und wieder zu Clarisse: »Ich rede als Arzt. Wortspaltereien, die vielleicht in der Philosophie oder sonstwo am Platz sein mögen, sind mir widerwärtig!«
Es war bekannt, daß er sich jedesmal, wenn er mit der Vorbereitung eines Fakultätsgutachtens betraut war, wütend über die Zugeständnisse ärgerte, die er einer unmedizinischen Denkart machen, und die unnatürlichen Fragen, die er ihr beantworten sollte. Die Gerechtigkeit ist kein naturwissenschaftlicher Begriff, so wenig wie die aus ihr folgenden Begriffe, und mit Straffähigkeit, freiem Willen, Vernunftsgebrauch, Sinnesverrückung und allem ähnlichen, was über das Schicksal unzähliger Menschen entscheidet, verbindet der Arzt ganz andere Vorstellungen als der Jurist. Da der Jurist ihn weder entbehren will, aus irgendwelchen Gründen, noch vor ihm abdanken will, was begreiflich ist, nehmen sich dann die ärztlichen Sachverständigen vor Gericht nicht selten wie kleine Geschwister aus, denen eine ältere Schwester nicht erlaubt, so zu reden, wie es ihnen natürlich ist, obwohl sie doch befiehlt und darauf wartet, daß aus dem Kindermunde die Wahrheit komme. Also nicht aus Gefühlsweichheit, sondern aus blankem Ehrgeiz und schneidigem Eifer für seine Wissenschaft neigte der junge Forscher mit den Narben dazu, die Personen seiner Gutachten dem Gehirn der Gerichte möglichst zu entziehn, und da es nur dann Aussicht auf Erfolg darbot, wenn sie sich sehr deutlich und bestimmt einem bekannten Krankheitsbild einordnen ließen, sammelte er auch bei Moosbrugger alles, was für ein solches sprach. Genau das Gegenteil davon tat aber Dr. Pfeiffer, obwohl er nur gelegentlich auf die Klinik kam, um sich nach Moosbrugger zu erkundigen, so wie ein Sportsmann, der sein eigenes Match schon gekämpft hat, auf der Tribüne sitzt und den anderen zusieht. Er galt als besonderer Kenner der Natur geisteskranker Verbrecher, wenn auch als ein etwas wunderlicher. Als Arzt übte er höchstens eine Gefälligkeitspraxis aus, und die nur unter unehrerbietigen Reden gegen den Wert seiner Wissenschaft; er lebte in der Hauptsache von den bescheidenen, aber regelmäßigen Einkünften aus seiner Gutachtertätigkeit, denn er war bei Gericht sehr beliebt wegen seines Verständnisses für die Aufgaben der Justiz. Er war so sehr Kenner, daß er vor lauter Wissenschaftlichkeit seine Wissenschaft leugnete, ja das menschliche Wissen überhaupt geringschätzte; im Grunde tat er es vielleicht nur, weil er sich auf diese Weise ungezügelt seinen persönlichen Neigungen überließ, die ihn dazu anstachelten, jeden Verbrecher, dessen geistige Gesundheit in Frage stand, mit großer Geschicklichkeit wie eine Kugel zu behandeln, die man durch die Löcher der Wissenschaft hindurch zum Ziel der Bestrafung treiben müsse. Man erzählt allerhand Geschichten von ihm, und Friedenthal, der wohl befürchtete, daß die übliche Unterhaltung zwischen den beiden Gegnern eine Auseinandersetzung zutage fördern könnte, die diesmal besser ungehört bliebe, nahm rasch das Wort, indem er sich gleich nach dem jungen Arzt an Clarisse wandte und ihr erläuterte, was dieser unter »Wortspalterei« verstehe. »Nach der Meinung unseres geschätzten Gastes Doktor Pfeiffer ist nämlich niemand fähig, über die Schuld eines Menschen zu entscheiden« sagte er mit besänftigendem Blick und Lächeln: »Wir Ärzte nicht, weil Schuld, Zurechnungsfähigkeit und all das durchaus keine medizinischen Begriffe sind, und die Richter nicht, weil man ohne Kenntnis der wichtigen Beziehungen zwischen Körper und Geist doch auch wieder nicht über solche Fragen urteilen kann. Bloß die Religion verlangt eindeutig die persönliche Verantwortung einer jeden Sünde vor Gott, und so laufen solche Fragen schließlich immer auf religiöse Überzeugungsfragen hinaus –« Er hatte mit seinen letzten Worten sein Lächeln dem Pfarrer zugewandt und hoffte, dem Gespräch durch diese Neckerei eine harmlose Wendung zu geben. Der Pfarrer wurde denn auch etwas rot und lächelte verlegen zurück, und Moosbrugger drückte seine volle Billigung der Theorie, daß er vor das Forum Gottes und nicht vor die Psychiatrie gehöre, durch einen unmißverständlichen Brummlaut aus. Aber plötzlich sagte Clarisse: »Vielleicht ist der Kranke hier, weil er einen andern vertritt.«
Sie sagte es so schnell und unerwartet, daß es verloren ging; einige erstaunte Blicke streiften sie, aus deren Gesicht die Farbe bis auf zwei rote Flecken gewichen war, und dann lief das Gespräch in seiner eigenen Richtung weiter.
»Doch nicht ganz!« gab Dr. Pfeiffer Friedenthal zur Antwort und legte die Karten nieder. »Wir können ja einmal deutlich darüber reden, was es bedeutet, dieses: ›Ich rede als Arzt‹, von dem unser Kollege so große Stücke hält: Man legt uns einen aus dem Leben entstandenen ›Fall‹ auf die Klinik; wir vergleichen ihn mit dem, was wir wissen, und den Rest, einfach das, was wir nicht wissen, einfach unsere Unwissenheit, muß der Delinquent verantworten. Ist es so oder nicht?«
Friedenthal zuckte staatsmännisch die Achseln und schwieg.
»Es ist so« wiederholte Pfeiffer. »Trotz allen Pomps der Gerechtigkeit wie der Wissenschaft, trotz allen Haarspaltens, trotz unserer Perücken von gespaltenen Haaren, läuft das Ganze zum Schluß doch nur darauf hinaus, daß der Richter sagt: ›Ich hätte das nicht getan‹, und daß wir Psychiater hinzufügen: › Unsere Geisteskranken hätten sich auch nicht so benommen!‹ Aber darunter, daß wir mit unseren Begriffen nicht besser in Ordnung sind, darf nicht die menschliche Gesellschaft zu Schaden kommen. Ob der Wille eines einzelnen Menschen frei oder unfrei ist, der Wille der Gesellschaft ist in dem, was sie als gut und bös behandelt, frei. Und ich für meine Person wünsche nicht im Sinn meiner Privatgefühle, sondern im Sinn der Gesellschaft gut zu sein!« Er zündete seine ausgegangene Zigarre von neuem an und strich sich die Barthaare vom feucht gewordenen Mund.
Auch Moosbrugger strich seinen Schnurrbart und klopfte mit dem Rand seines zusammengefalteten Kartenpakets rhythmisch auf die Tischplatte.
»Also, wollen wir weiterspielen oder nicht?« fragte der Assistent geduldig.
»Natürlich wollen wir weiterspielen« entgegnete Pfeiffer und nahm seine Karten auf. Sein Auge begegnete dem Moosbruggers. »Moosbrugger und ich sind übrigens der gleichen Meinung« fuhr er fort, mit sorgenvoller Miene sein Blatt betrachtend. »Wie war es, Moosbrugger? Der Herr Rat bei Gericht hat Sie doch verschiedentlich gefragt, warum Sie sich Sonntagskleider angezogen haben und ins Wirtshaus gegangen sind –«
»Und rasieren lassen« verbesserte Moosbrugger; Moosbrugger konnte jederzeit darüber sprechen wie über eine Staatshandlung.
»In Ruhe rasieren lassen« wiederholte Pfeiffer. »Er hätte das nicht getan! hat er Ihnen vorgeworfen. Na also.« Er wandte sich an alle. »Ganz das gleiche tun wir, wenn wir sagen: unsre Kranken hätten das nicht getan. Beweist man viel auf diese Art?« Seine Worte waren diesmal brummend und gemütlich und nur ein Echo seiner vorangegangenen leidenschaftlicheren Verwahrung, denn das Spiel hatte nun wieder angefangen, in der Runde zu kreisen.
Auf Moosbruggers Gesicht war noch lange ein gönnerhaftes Lächeln wahrzunehmen, das sich erst im Spieleifer auflöste, wie die Falten in einem steifen Stoff mit der Dauer des Gebrauchs weichen. So hatte Clarisse nicht ganz unrecht, wenn sie den Kampf mehrerer Teufel um eine Seele zu sehen glaubte, aber die dabei herrschende Gemütlichkeit täuschte sie, und besonders wurde sie doch durch die Art verwirrt, in der sich Moosbrugger benahm. Er mochte anscheinend den jüngeren Arzt, der ihm helfen wollte, nicht gut leiden, duldete nur ungern seine Bemühungen und wurde unruhig, wenn er sie spürte. Vielleicht handelte er dabei nicht anders als jeder einfache Mensch, der es als frech empfindet, wenn sich einer zu angelegentlich um ihn bekümmert, jedoch war er jedesmal entzückt, wenn Dr. Pfeiffer sprach. Vermutlich war auch Entzückung nicht ganz das, was er in diesem Fall äußerte, denn ein solcher Zustand kam an Moosbruggers auf Würde und Haltung abgetönter Gestalt nicht vor, und viel von dem, was die Ärzte untereinander redeten, blieb auch ihm unverständlich; aber wenn schon geredet werden mußte, dann so, wie es von Dr. Pfeiffer geschah: das war im ganzen unbezweifelbar als seine Meinung zu sehen. Der Zusammenstoß der beiden Ärzte hatte ihn aufgemuntert, er begann seine Stiche wieder laut und englisch zu zählen und streute in auffälliger Wiederholung von Zeit zu Zeit die Bemerkung: »Wenn es sein muß, muß es eben sein!« ins Gespräch oder ins Schweigen. Sogar der gute Pfarrer, der schon manches gesehen hatte, schüttelte zuweilen den Kopf. Aber der Spott auf die irdische Gerechtigkeit hatte ihm nicht übel gefallen, und er freute sich darüber, daß sich die Gelehrten der weltlichen Wissenschaft nicht einigen konnten. Er erinnerte sich nicht mehr, wie alle diese Fragen nach kanonischem Recht zu entscheiden gewesen wären, von denen die Rede war, aber er dachte sanft: »Laßt sie gewähren, das letzte Wort spricht Gott«, und da er sich dieser Überzeugung wegen wenig an dem Wortgefecht beteiligte, gewann er im Tarock.
So bestand zwischen diesen vier Männern ein recht herzliches Einvernehmen. Wohl war Moosbruggers Kopf dabei als Preis ausgesetzt, aber das stört nicht im geringsten, solange jeder vollauf mit dem beschäftigt ist, was er vorher zu tun hat; denken doch auch die Männer, die mit dem Schmieden, Schleifen und Verkaufen von Messern beschäftigt sind, nicht unausgesetzt an das, was daraus werden kann. Überdies fand Moosbrugger, als der einzige, der die Tötung eines anderen Menschen selbst und unmittelbar kennengelernt hatte und dem sie auch bevorstand, daß sie nicht das Schlimmste sei, was einem Ehrenmann widerfahren könne. Das Leben ist der Güter höchstes nicht, sagt Schiller: das hatte Moosbrugger von Dr. Pfeiffer gehört, und es hatte ihm recht gut gefallen; und so, wie er, je nachdem sein Wesen angerufen und gewendet wurde, rührend und eine Bestie sein konnte, waren eben auch die anderen als Freunde und Henker in zwei verschiedene Wirkungskreise gespannt, die miteinander kaum eine Berührung hatten. Aber Clarisse beunruhigte das sehr. Im ersten Augenblick hatte sie schon gesehen, daß hier unter dem Schutz der Fröhlichkeit etwas Verheimlichtes vor sich gehe; aber sie hatte das nur in unklarem Bild erfaßt und, verwirrt von dem Inhalt der Reden, begriff sie erst jetzt, aber begriff jetzt nicht nur, sondern sah es auch mit warnender Eindringlichkeit, ja in seiner vollen Unheimlichkeit beständig vor sich, daß diese Männer Moosbrugger verstohlen beobachteten. Moosbrugger, der Ahnungslose, aber beobachtete sie, Clarisse. Von Zeit zu Zeit kam er heimlich mit seinen Augen daher und trachtete ihren Blick zu überraschen und zu fangen. Der Besuch dieser schönen und weitgereisten Frau – ein wenig zu unbedeutend kamen ihm bloß die Magerkeit und Kleinheit Clarissens vor – schmeichelte ihm sehr trotz aller Ehrungen, die ihm ohnehin widerfuhren. Er bezweifelte, wenn er ihren merkwürdigen Blick auf sich gerichtet fand, nicht einen Augenblick, daß seine buschbärtige Männlichkeit sie verliebt gemacht habe, und zuweilen entstand ein Lächeln unter seinem Schnurrbart, das diesen Sieg bestätigen sollte und mit seiner an Dienstmädchen erprobten Überlegenheit auf Clarisse ganz eigentümlich wirkte. Eine unaussprechliche Ohnmacht preßte ihr Herz zusammen. Sie hatte den Eindruck, Moosbrugger befinde sich in einer Falle, und ihr Fleisch am Leibe kam ihr wie ein ihm vorgeworfener Köder vor, während umher die Jäger lauerten.
Kurz entschlossen legte sie die Hand auf Friedenthals Arm und erklärte ihm, daß sie genug gesehen habe und sich ermüdet fühle.