Georges Ohnet
Nieder mit Bonaparte
Georges Ohnet

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1. Kapitel

Brüllend rang das Meer gegen die Klippen, die in einem Bogen dem Dörfchen Berville vorgelagert sind, und von denen aus die Fischer bei freundlicher See gern ihre Beute ans Land booten. Kohlschwarz war der Himmel und gespenstisch von zahllosen Wolkenschiffen, die der Westwind steuerte. In immer kürzeren Pausen flatterten fahle Blitze her – die riesigen Segel eines Sturms, der von Englands Küste über den Kanal fegte. Nun schauerte auch schon ein Regen hernieder, ein schwerer, eisiger, und war mit solchen Graupeln untermischt, daß er wie ein metallischer Hagel peitschte. – Ganz schattenhaft nur war auf einem Geißpfad der steil abfallenden Küste eine menschliche Gestalt zu unterscheiden; jetzt blieb sie stehen, und jetzt – stand sie geblendet von dem grellen Zickzacklicht, das all die Dunkelheiten erleuchtete. Für einen Augenblick war alles rings weißlich erhellt: das Meer, der Strand, die Klippen und die Felsen. Und eine gute halbe Meile dort draußen – kreuzte dort nicht ein kleines Fahrzeug im Untersegel?

Für die Dauer dieses Blitzes war auch jener Mann deutlich zu erkennen gewesen. In seiner bäuerischen Kleidung: eine wollene Mütze auf, die er bis über die Ohren herabgezogen hatte, und in einem ziegenhärenen Schäfermantel. Er trug einen kurzen Reiterkarabiner umgehängt . . . aber dann herrschte auch schon wieder tiefstes Dunkel. – In dieser Finsternis nahm der Mann friedlich seinen Weg wieder auf, immer abwärtskletternd, bis auf einen Felsenvorsprung hinaus. Dort angekommen und mit dem Rücken an die Steinwand gelehnt, setzte er den Feuerstahl in Bewegung. Der schnell entflammte Zunder färbte seine Finger rotdurchscheinend, der Mann bückte sich, und alsbald knisterte es in dürrem Laub und Gras; ein eigens trocken verwahrtes Reisigbündel fing leicht Feuer, und dieses rötliche Signal redete hinaus in die Nacht. Das war zweifelsohne das bereits erwartete Zeichen, denn über die tintenschwarzen Wogen her antwortete sogleich ein lebhafter Schein, dem ein gedämpfter, matter Knall folgte.

Da aber ließ der Mann das kaum angezündete Feuer ruhig Feuer sein, hing seinen Karabiner sicherer um, schlang den Schäfermantel noch enger um seinen Leib – und machte sich über einen halsbrecherischen Fußpfad hinab zum Meer. Von keinem anderen Wegweiser dabei geleitet als von der immer mächtiger heraufschallenden Brandung von tief da unten – aber der Gangsteig, der oft gerade eines Fußes Breite zählte, mußte ihm auch sehr vertraut sein, sonst wär's doch kaum ohne verschiedentliches Zaudern abgegangen. – Gleichwohl mochten das Sekunden äußerster Gefahr gewesen sein, bis er die Uferkiesel endlich unter seinen Schuhen spürte, das Strandgeröll, auf das die Wellen Gischt und Geifer ausspien, denn die See ging ungeheuer hoch.

Auf einen großen viereckigen Stein, der an der Küstenwand fast wie ein Tisch dastand, setzte sich sodann der Mann. In aller Seelenruhe. Ohne einen einzigen Blick hinter sich oder um sich zu werfen. Und saß da – den Karabiner zwischen den Knien, mit dem Rücken breit gegen die Felsen gelehnt und das schäumende Meer zu seinen Füßen – und wartete.

Eine reichliche Stunde verging so. Dann trug der Wind ein unbestimmtes Geräusch her bis zu dem Manne, der da ausspähte. Angestrengt bog er sich sogleich nach vorn, als wollte er das undurchdringliche Dunkel über den Wassern dennoch durchdringen. Aber Finsternis ringsum. Da endlich gewahrte man deutlicher und nun vermochte man zur Not auch etwas wie Ruderschläge zu vernehmen. Auf etwa zwanzig Schritt schob sich und schaukelte eine Silhouette heran; ein Knarren und Knirschen von Holz über Steingeröll – eine Schaluppe war gelandet. – Im Sitzen noch spannte der Mann den Hahn seines Karabiners, ein leises Knacken verriet, daß er auf alle Fälle klar zum Schuß sein wollte – aber da ertönte ein Pfiff von einer absonderlichen Melodie, ein unverfälscht seemännischer, und nun erst gab es für ihn keinen Zweifel mehr, er stand auf und schritt auf das Ruderboot zu.

»Parquin, seid Ihr's?« schrie eine Stimme vom Wasser her.

»Wohl, wohl!« antwortete der Mann. »Bringt Ihr die Passagiere?«

»Ich bringe sie!«

»Dann mögen sie aussteigen. Der Weg ist augenblicklich frei. Nur – fix! – wir dürfen nicht lang vertrödeln. Im nächsten Moment schon können wir die Gendarmen auf dem Buckel haben!«

Da war einer der Passagiere – mit einem Satz – auch schon auf den Sand herausgesprungen. Ein zweiter stieg schon etwas vorsichtiger aus. Ein dritter aber, der ließ sich gar von zwei Matrosen an Land transportieren.

»Zum Herrgott – Donnerwetter – wird's bald?« polterte der erste, der ganz einfach herausgesprungen war.

»Immer langsam – langsam, Georges,« versetzte der, der sich auf Matrosenarmen herüberheben ließ. »Wir spazieren womöglich mit beiden Füßen ins Verderben . . . wenn Sie's also rein nicht mehr erwarten können – bitte sehr . . .

»Dem hohen Herrn ist's wohl leid um sein bißchen Puder?« knurrte Georges.

»Ach was! Wenn's drauf und dran geht, werdet ihr mich schon nicht feiern lassen. Vorläufig möcht' ich nur nicht gleich nasse Füße kriegen!«

Der Schiffspatron reichte mehrere kleine Gepäckstücke der Reisenden heraus, die Parquin geschwind zusammenband und sich über die Schulter warf. – Der aber, den Georges mit »hoher Herr« angeschnauzt hatte, drehte sich nun nach dem Barkenführer um und sprach auf Englisch:

»Meinen besten Dank, Master – Sie haben uns wirklich famos gefahren. Nehmen Sie, bitte, die Kleinigkeit von mir für Ihre Leute und Sie –«

Und er drückte dem Manne seine Börse in die Hand. Und ohne einen Dank weiter abzuwarten, strebte er seinen Gefährten nach, die unter der Führung Parquins die beschwerliche Klettertour hinauf zur Küste soeben antraten. – Eine Viertelstunde langsamen und fitzligen Wegs, und die vier Männer standen oben auf dem dürftigen Rasen.

»Vielleicht verschnaufen wir uns erst ein wenig, meine Herren!« brachte Parquin in Vorschlag und blieb stehen.

»Haben wir's denn noch weit bis zu unserer ersten Rast und – Unterstand?«

»Wenn's nicht so rabenfinster wär', dann wär' die Pächterei Biville von hier aus schon zu sehen. Nein also – nicht ganz 'ne Viertelstunde mehr – quer über die Wiesen.«

»Alsdann – los!« kommandierte Georges. »Das ist ja eine Hundekälte und – bei Gott! – ich komm' schier um vor Hunger!«

»Saint-Régeant! sagen Sie, sind Sie ausgeruht – oder –« meinte der, der gern seine Bequemlichkeit hatte, zu demjenigen von den Vieren, der bislang nur ganz stumm hinterhergeschritten war.

»Keine Namen nennen, möcht' ich mir ausgebeten haben!« fuhr Georges grob dazwischen.

»Wie Sie befehlen,« sprach Saint-Régeant sehr sänftiglich.

Über Felder ging der Marsch – schräg ins Dunkel hinein, bis man an etwas wie einen Graben oder einen Erdwall kam, und es durch eine Art Umzäunung hineinging. Man sollte übrigens meinen, daß da hundertjährige Buchen standen. Dann flimmerte aus der Mitte ein schwaches Licht her, ein Hund schlug an und meldete; eine Tür öffnete sich, und ein heller, gelber Schein fiel auf den grasigen Boden heraus. Zwei Männer und eine Frau eilten da drinnen geschäftig hin und her, und die Ankömmlinge traten in die Küche der Pächterei. – Dicht am Kamin auf einem Hocker saß ein Mann und wärmte sich und kehrte den Eintretenden ungeniert seinen breiten Rücken zu. Erst als die Tür sich wieder geschlossen hatte, drehte er sich auf einem Bein seines Schusterstuhls herum und wärmte sich zum Unterschied, schien's, nun ein wenig seine Hinterseite. Ein glattrasiertes Gesicht, graue Augen, ein Mund, um den es wie Vorsicht und Bedachtsamkeit lag. Sein schwarzes Haar hing ihm bis auf den Kragen seines ganz kurzschößigen Tuchrocks herab, und einen großen schwarzen Hut hatte er auf. Seine Beine steckten in pludrigen Bretagner Bauernhosen, und seine Ledergamaschen reichten ihm bis auf seine derben Schuh.

»Immer näher heran, meine Herren,« sagte er mit einemmal äußerst artig. »Ja, ja, das ist eine Kälte da draußen – so'n bißchen Glut dürfte Ihnen gut tun.«

Und er stand auf vom Kamin und machte Platz. – Mit welcher vollendeten Geste er jedoch den Schusterstuhl anbot, das paßte gar nicht zu seinem so gewöhnlichen Habit.

»Ja, zum Teufel, ist das nicht Herr de Frotté?« schrie Georges da und ging mit ausgestreckter Hand auf den Bauersmann zu. »Was? Sie in eigener Person? Aber Ihr Vertrauensmann Parquin war uns doch schon vollauf genug!«

»Ich denk' ja auch gar nicht daran,« erwiderte dieser Führer der Chouans. »Aber Sie kommen doch von London und haben die Fürstlichkeiten gesehen – und da wollt' ich denn doch nicht verfehlen und die Instruktionen, die man Ihnen zweifellos an mich mitgegeben hat, lieber direkt aus Ihrem Munde hören. Übrigens, möchten Sie mich nicht vor allem mal mit den Herren hier bekannt machen?«

Und Georges verneigte sich gar ehrerbietig und stellte vor:

»Herr Hyde de Neuville, Seiner Majestät Sekretär . . . Herr Chevalier de Saint-Régeant, beide mit wichtigen Missionen an unsere Pariser Freunde beauftragt . . .«

Verbeugungen der beiden Herren. Dann zeigte Georges auf den Mann im bäuerlichen Habit:

»Der Herr Marquis de Frotté, Generalleutnant, Oberbefehlshaber der Nieder-Normannischen Armee . . .«

Frotté brauchte nur einen Blick mit Parquin und den guten Biviller Pächtersleuten zu wechseln, da machten die sich leise hinaus. Und als die vier Royalisten allein waren, begann der eine Führer der Chouans:

»Also was haben Sie für Befehle?«

»Seine Majestät befehlen,« sprach Georges, »Einstellung jeglicher Feindseligkeiten, bis wir unsere Mission bei der Regierung ausgerichtet haben!«

»Daß euch mitsamt euern Waffenstillständen der Teufel frikassiere! Was erhofft ihr euch denn eigentlich von diesen Jakobinern? Ihr wißt doch mindestens so gut wie ich, daß die sich die Zügel schon nicht aus der Hand nehmen lassen werden! Diese – Profitchenmacher! – Da ist es doch viel gescheiter, wir terrorisieren alle Umgebung von der Hauptstadt genau so weiter, wie wir's nun einmal angefangen haben! Hab' ich nicht recht? Vier zusammengebrannte und ausgeraubte Gutshöfe, das ist – als moralischer Effekt – besser als eine gewonnene Schlacht! Und außerdem kostet uns das nichts. Im Gegenteil: so ein Paar gefangene Kuriere mit Staatsgeldern bringen noch was ein. . . . Auch beschäftigt sowas höchlichst die Gemüter! Bonaparte, der platzt schon beinahe vor Wut! Und das sollen wir nun bis auf weiteres einstellen?«

»Der König will einen letzten Vergleichsversuch machen.«

»Na, und Sie, Cadoudal – Sie hat er mit diesem Auftrag beehrt? Ich meinte immer, Sie taugten weiß Gott mehr zu Reiterstückchen als dergleichen Verhandlungen!«

»Ich habe nichts als zu gehorchen,« versetzte der Chef der Vendéer einfach. »Ich denke eben, ich gebe damit ein gutes Beispiel – wenn schon mir die ganze Kommission nicht paßt. Aber – Majestät hat mich nicht um meine Meinung gefragt, sondern – Majestät haben befohlen.«

»Ausgezeichnet!« sagte Frotté. »Und wann soll's denn nach Paris?«

»Morgen in aller Früh.«

»Dann will ich wenigstens für Euere Umspann sorgen. Das Gebiet bis Chartres halten wir ja Gott sei Dank. Ich hab' Detachements bis Chartres.«

»Na, und von da soll's meine Sorge sein. Ich hab' bereits die Mittel an der Hand, um mit diesen Herren bis nach Paris zu gelangen.«

»Ich habe nichts dagegen,« lachte Frotté ein wenig übermütig schier. »Ich wünsch' nur guten Appetit zum Abbé Bernier, Chatillon, D'Autichamp. . . . Im übrigen gratulier' ich, Georges, Euer Departement Morbihan hält sich immer noch glänzend. Der Herr General Hédouville dürfte mit Euern Burschen nicht so leicht fertig werden.«

»Nicht leichter als mit mir selber,« entgegnete Cadoudal. »An mir soll's schon nicht fehlen. Wenn wir andrerseits auch nicht leugnen können, daß das Konsularregime schon so manchen Widerstand gebrochen hat, indem es die Geister fein still beruhigte. Was hat sich die Bretagner Bevölkerung gegen die Zwangsanleihe gesträubt! Na, und nun dieser neueste Nachlaß? Da müssen doch die Fiskalbeamten dem Volk mit einemmal wie der wahre Balsam vorkommen! Bonaparte hat viel mehr zur Friedensstiftung getan, indem er einfach wieder Ordnung schuf, als wenn er unsere sämtlichen Armeen aufgerieben hätte! – Aus solchen Erwägungen heraus, mein bester Frotté, machen wir nun noch diesen Versuch beim Ersten Konsul!«

»Ach was!« sprach Frotté. »Wenn Herr Comte d'Artois sich aufgerafft hätte und wirklich nach der Bretagne gekommen wär', dann wären wir heute die Herren der Situation!«

»Reden wir nicht mehr davon,« unterbrach Cadoubal da sehr ernst. »Wir haben keine Kritik an unsern Gebietern zu üben. Und wenn unser allergnädigster Herr das nicht tat, wonach alle Royalistenführer so stürmisch verlangten, so mag er seine guten Gründe gehabt haben. Es ist ja wahr, wir kennen die Gründe nicht. . . . trotzdem werden sie die besten von der Welt gewesen sein. Der Bourbone ist tapfer – basta. – Übrigens wird unserer Prinzlichkeit im Ausland die Zeit lang. Und so ein bißchen Kriegführen hätte ihr Zerstreuung gebracht.«

»Aber dann hätte er doch Madame de Polastron lassen müssen,« warf Hyde da leicht ein. »Solche Agnes Sorels drängen solche Karls VII. nicht gar zu gerne in den Krieg, na und – leider, leider! – so etwas wie eine Jeanne d'Arc geht uns heute total ab!«

»Bei Gott – ja! Die modernen Johannas sind allzumal Leineweberinnen und laufen den Jakobinern nach!«

Alle lachten.

»Also. . . . morgen in aller Früh soll's auf den Weg gehen?« fing Frotté nun wieder an.

»Ja. Und damit keinerlei Verdacht rege wird, soll jeder unter einer andern Verkleidung reisen. Und zwar der gute Georges« – und damit meinte er sich selber – »in Mehl, der Herr de Saint-Régeant in Modeartikeln, und was unser lieber Sekretär ist: in gebranntem Wasser.«

»Recht so, recht so . . . und aber damit – angenehme Ruh', meine Herren! Ich lasse Sie unbesorgt in der Hut der Biviller Pächtersgatten und Parquins. Nämlich ich werde in Caen erwartet, und da ist es Zeit, daß ich mich auf die Sohlen mache. Ich reise mit meinen Leuten nicht gern am hellerlichten Tag.«

»Auf Wiedersehen, Marquis – in glücklicheren Zeiten hoffentlich!«

Man verabschiedete sich mit Händedrücken. Frotté rief Parquin und Wirt und Wirtin zur Tür herein, dann warf er einen schweren Mantel um die Schultern – und davon war er. – Die übrigen Herren standen noch ein paar Augenblicke schweigend in dieser Küche und um dies mächtige Kaminfeuer; da trat Parquin herzu:

»Ich glaub', die Herren werden nicht gerade beleidigt sein, wenn sie sich jetzt etwas hinlegen können . . . Meister Seneschall, geh – zeig ihnen ihre Zimmer . . .«

»Sie sind sämtlich zu ebener Erd', und Sie brauchen nur das Fenster aufmachen und sind auch schon im Hof. Wenn ich den Herren raten darf: ziehen Sie sich nicht lange aus zum Niederlegen . . . es sind ja alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, daß die Nacht eine friedliche sei . . . allein auf die Häscher des Herrn Fouché ist nun einmal kein rechter Verlaß.«

»Ist der Meister Seneschall richtig ein Landwirt?« fragte Saint-Régeant mit einem Lächeln.

»Er kultiviert – was auf ziemlich dasselbe hinauskommt!« antwortete Parquin. »Sie handeln doch ebenfalls mit Putzmacherei und Baumwollspitzen – oder? Vorläufig müssen wir einander als das nehmen, was wir scheinen . . . Vielleicht kommt einst der Tag –«

»Der Tag des Gerichts! der Abrechnungstag!« warf Georges ein wenig brutal dazwischen. »Und somit – Meister Seneschall und die übrigen Herrschaften – träumen Sie süß!«

»Ach ja, träumen wir alle miteinander, daß Bonaparte mit einer Kanonenkugel Bekanntschaft macht, und daß Lebrun oder Cambacérès über Frankreich regiert . . .«

Und die Herren sagten sich lächelnd gute Nacht und suchten unter der Führung des Pächters ihre Schlafzimmer auf. –

Seit die Revolution, Schlag auf Schlag, jedwede Autorität im Lande untergraben hatte, war kein solcher Frieden, kein solches Sicherheitsgefühl mehr gewesen, als da Bonaparte Konsul geworden war. Nach all der Schreckensherrschaft, nachdem einer immer noch ruchloser als der andere die Gewalt zu äußerster Willkür und rasendsten Freveltaten mißbraucht, nun konnte der rechtschaffene Mann wieder einigermaßen aufatmen. Die Finanzen freilich standen noch schlecht, und der Kredit war derart, daß die fünfprozentige Rente auf vierzehn Franks gefallen war, aber nach und nach rührte sich der Handel wieder, die Industrie lebte neu auf, und sogar ein bißchen Luxus wollte sich bereits wieder bemerkbar machen. In den Städten war man allgemein seines Lebens wieder sicher – nur in den westlichen Provinzen wütete die Chouanerie noch sehr. In der Bretagne und Normandie wimmelte es von Briganten: da wurde noch eine jede Diligence gestürmt, und unter der schönen Ausrede, daß man es einzig auf die Staatsgelder abgesehen habe, rupfte man auch die Reisenden – bis auf den letzten Knopf. Ja, die berüchtigten »Fußbrennerbanden« plünderten bis in die Umgebung von Paris und trotzten der öffentlichen Gewalt bis auf zwei Meilen von der Hauptstadt.

Vor allem der »schöne François« hielt das Chevreuser Tal, die Umgegend von Chartres und Versailles in einer ewigen Aufregung und Angst. Ein Verbrechen jagte das andere, und man schien durchaus machtlos gegen ihn zu sein. Die Gendarmerie war schier mit ihren Kräften zu Ende, und der über die Maßen aufgebrachte Erste Konsul mochte sich noch soviel an seinen Polizeiminister halten – unaufhörlich und von Fall zu Fall unverschämter in Szene gesetzt, häuften sich die Scheußlichkeiten. – Bonaparte und Fouché waren über die Urheber all der Verbrechen just nicht einer Meinung. Der Erste Konsul schrieb die Greuel mehr der Revolutionspartei zu, die durch solches Unruhestiften am Ende wieder zur Macht zu gelangen beabsichtigte. Fouché hingegen hatte wieder mehr die Royalisten in Verdacht: die hofften die Regierung dadurch in immer größere Verlegenheit zu setzen und so ganz Frankreich ein Regime zu verleiden, mit dem es bislang nur allzusehr einverstanden gewesen schien. Im übrigen waren beide – Bonaparte wie Fouché – im Recht mit ihren Ansichten. Diejenigen Jakobiner, die Bonaparte den 18. Brumaire nicht verzeihen konnten, konspirierten im stillen und gründeten, seit sie aus ihrem Klub auf die Straße gesetzt worden waren, Geheimbünde. Und was die Royalisten anbetraf, denen der offene Krieg doch nur Niederlagen eingebracht hatte, so spalteten die sich eigentlich in zwei Parteien: die eine suchte eine Restauration der Bourbonen dadurch herbeizuführen, daß sie an Bonaparte mit dem Vorschlag herantrat, er möchte ein zweiter George Monk in bezug auf den Grafen der Provence werden, während die andere Partei alles Heil in einem Morde sah, der denjenigen Mann erledigte, der das einzige Hindernis gegen die Wiedererrichtung der Monarchie zu bilden schien.

So schliefen in jener Nacht in jenem Pachthof Biville die geheimen Abgesandten der beiden bourbonischen Parteien, der Gewalts- und der Vergleichspartei, unter einem Dache. Hyde de Neuville, der vermittelst der Intrigen des Abbé Bernier und dank der Sympathien der Josephine den Ersten Konsul doch noch zu umgarnen hoffte; und Cadoudal und Saint-Régeant, die, falls sie die erträumte Kapitulation nicht von ihm erreichen konnten, fest entschlossen waren, ihn zu töten. Wenn sie auch das Resultat der politischen Verhandlungen abzuwarten erst noch gezwungen waren, so reisten diese beiden Männer der Tat gleichwohl mit dem unerschütterlichen Vorsatz nach Paris, die Stadt nicht eher wieder zu verlassen, bis – so oder so! – etwas ausgerichtet war.

Georges, der im ewigen Hinterhalt, aus dem er gegen die republikanischen Truppen unablässig tückisch focht, sozusagen groß geworden war, graute vor nichts als vor der Ruhe. Der junge Saint-Régeant, kaum eben zu der Partei gestoßen, brannte darauf, sich auszuzeichnen, und wollte seinem mörderischen Kameraden in nichts nachstehen. Er entstammte einer glänzenden Familie und trug sich mit einer so raffinierten Eleganz, als Georges ungehobelt und verwahrlost war. Er wollte es wohl mit Gott und der Welt aufnehmen – aber im Seidenfrack und mit Spitzenmanschetten. Georges hänselte ihn dieserhalb nicht wenig und trieb vor allen andern seine plumpen Späße mit ihm und nannte ihn höhnisch gern »das gnädige Fräulein Saint-Régeant«. Der junge Mann war aber auch bildhübsch von Gesicht, seine Stimme klang lieblich wie ein Saitenspiel, und die holde Weiblichkeit war ganz verrückt nach ihm. Cadoudal mit seinen Bärenkräften, einem wahren Stiernacken und seiner Bullenbeißervisage war der reine Bauer gegen ihn – der nämliche Bauer, der er gewesen war, ehe er einer der Führer der Chouans wurde, und seine Soldaten und seine Freunde nannten ihn nicht umsonst »Rundkopp«.

Als die Häupter der Royalisten just Cadoudal und Hyde de Neuville zum Ersten Konsul entsandten, geschah das in der geheimen Absicht, mit diesen zwei charakteristischsten Repräsentanten ihrer Partei keinen geringen Eindruck zu schaffen. Der Diplomat Hyde sollte Bonaparte mit den verführerischsten Versprechungen kommen und mit honigsüßem Lob und Ruhmredereien nicht sparen, um ihn gefügig und leicht geneigt zu machen. Der Chouan Cadoudal hingegen hatte die hohe Mission, dem Sieger von Arcole ein gehörig Schulternpaar von einem Aufständischen aus dem westlichen Frankreich zu zeigen, daß dem die Lust vergehen sollte, weiterhin mit solchen Kerlen anzubinden. Josephine, die immer noch die größten Sympathien für die royalistischen Familien hegte und nimmer müde wurde, ihnen die Rückkehr nach Frankreich und die Herausgabe ihrer Güter doch noch zu erwirken – Josephine konnte für die Sendung Cadoudals und Hydes nach Paris von nicht zu unterschätzendem Einfluß sein. Sie hatte es auf sich genommen, die Herren dem Ersten Konsul vorzustellen; und treuer wie sie nun einmal in der Politik sein konnte denn in der Liebe, geschah es sicherlich nicht ganz ohne Einwilligung selbst von seiten Bonapartes, daß sie das alles inszenierte. – Auf alle Fälle aber war das Ganze tiefstes Geheimnis. Selbst Fouché hatte durch seine abgefeimtesten Spione auch nicht ein Sterbenswörtchen von der Landung der royalistischen Herren in der Normandie in Erfahrung bringen können. Das Schiff, mit dem sie gekommen waren, war den Späherblicken der französischen Küstenwächter dennoch entgangen: die Zollwächter wie die Gendarmen nämlich hatten ausgerechnet in dieser Nacht den Klippen vor Viville nicht soviel Aufmerksamkeit schenken können, dieweil sie einige Banden Frottés in etlicher Entfernung davon tüchtig in Atem hielten. – Und so schliefen die Sendlinge des »comte de Provence« unter dem Schutz Parquins in völliger Sicherheit, bis das Morgengrauen die dunkeln Buchen lichten würde, die das Pachtgut umstanden.

Ein Hahn schrie in der ländlichen Stille, und wie wenn Parquin nur auf dieses erste Signal gewartet hätte, um die Biviller Gäste zu wecken, klopfte er an die Türen Cadoudals und Saint-Régeants. Der Bretagner war schon aufgestanden. Er hatte seinen Anzug von gestern abend gegen einen noch weit schäbigeren vertauscht: Ledergamaschen und dazu olivfarbene samtene Kniehosen, klobige Nagelschuhe, eine verschossene Bluse und einen wollenen Gürtel um den Leib, einen riesigen Hut – der Bauer war fertig. Ein roter Bart, der sein von der vielen freien Luft gerötetes Gesicht umrahmte, entstellte ihn bis zur Unkenntlichkeit. Auch trug er in der Rechten einen handfesten Stock mit einer schön geflochtenen Troddel daran – und so stapfte er wortlos hinter Parquin drein auf den Hof heraus. Da stand ein breitrückiger kurzbeiniger Schinder an einem eisernen Ring angebunden, den Cadoudal mit großer Kennermiene sogleich in Augenschein nahm. Dann lockerte er dem Tier ein wenig die Trense, sah nach, ob der Sattel auch gut angegurtet, drückte Parquin die Hand und stieg auf – nahm die Zügel zusammen und trabte leicht davon. – Für den Sybariten Hyde und für Saint-Régeant war ein Kabriolett ohne Verdeck – auf wahren Mühlrädern laufend – hergerichtet worden.

»Sie brauchen nur bis zum Gasthaus ›Zum schwarzen Roß‹ nach Yvetot hinabzufahren – da holt Ihnen dann der Wirt seinen besten Gaul aus dem Stall, wenn Sie nach Rouen weiter wollen. Außerdem wird er Ihnen schon genau sagen, wo Sie zukehren sollen. Und dort wieder werden Sie weiteres Dienliches erfahren. Hoffentlich kann einer von Ihnen kutschieren, meine Herren –«

»Beide, wir alle beide!« sprach Saint-Régeant. »Da können Sie ganz beruhigt sein.«

Hyde nahm die Pakete in Empfang, die Parquin gestern abend über der Schulter von der Landungsstelle herausgetragen hatte, und verstaute sie vorsichtig im Kabriolett. Dann gab er Parquin die Hand:

»Herzlichen Dank und herzliches Lebewohl, mein wackerer Kamerad –«

Saint-Régeant saß bereits im Wagen. Parquin reichte ihm die Zügel:

»Glückliche Reise! Die erste Straße links einbiegen . . . dann immer gradeaus . . .«

Da saß auch Hyde auf, und dann ging's erst über Grasboden und dann zu der Umfriedigung hinaus, dann nahm sie der Weg auf, wie Parquin es beschrieben hatte. – Der Morgen war frisch und klar. Der Seewind rauschte im dichten Buchenlaub. Und die lagernden Kühe auf der Weide hoben aus dem weißen Brodem, der von der Erde aufstieg, kaum ihre Mäuler, wo das Gefährt vorbeikam. Am Ende des Feldwegs bogen sie in die große Landstraße ein, und von da ab geriet der Gaul erst recht in Schwung und trabte seine drei und eine halbe Meile in der Stunde

 


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