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Kaum daß die Bürgerin Lerebourg nach Hause gekommen war, warf sie sich aufs Bett und hatte einen solchen Nervenanfall, daß ihr Mann ebenfalls beinah krank vor Schrecken wurde. Das arme Weib gebärdete sich einfach wie eine Wahnsinnige und verfiel in solch entsetzliches Fieber, daß sie vierzehn Tage lang zwischen Leben und Tod schwebte. So erfuhr sie natürlich auch nichts von allem, was während der Zeit vorging: daß Saint-Régeant in den Anklagezustand versetzt und Carbon und die Klosterfrauen und der Rote Löwenwirt und Virginie Grandeau und selbst deren alte Magd – alle miteinander verhaftet worden waren. Und Lerebourg selber war durch die Krankheit seiner Frau ebenfalls derart in Anspruch genommen, daß er von dem jeweiligen Stand des Prozesses nicht viel mehr wußte als was die Kunden gerade klatschten oder was etwa in den Gazetten stand. Und in den letzteren stand eigentlich herzlich wenig und wurde von Anfang an so ziemlich das meiste auf höheren Befehl unterdrückt. Denn so sehr der Erste Konsul gewillt war, der öffentlichen Meinung durch ein möglichst abschreckendes Beispiel an den Attentätern zu imponieren, wollte er andererseits so wenig wie möglich in den Zeitungen laut werden lassen, wie leicht es ein paar entschlossenen Männern eigentlich gewesen war, hier in Paris unter den Augen aller Polizei und inmitten der ganzen großen Armee einen Gewaltakt gegen den von der göttlichen Vorsehung bestimmten Mann zu inszenieren. Übrigens erbrachten all die noch so eifrig geführten Gerichtsverhandlungen lange nicht die belastenden und niederschmetternden Resultate, die man doch so brennend gern gewünscht hätte. Die Schuld der Angeklagten freilich war unableugbar. Aber sonst kam nicht viel mehr dabei heraus – und es war eigentlich immer wieder dasselbe: erst verteidigt sich Carbon und tut, als wollte er sich hinter Saint-Régeant verschanzen – darauf führt Saint-Régeant mit einer wunderbaren Festigkeit das Manöver weiter durch und entlastet seinen Mitschuldigen so glänzend als er nur immer kann.
Dabei förderte man natürlich über die Zusammensetzung des royalistischen Zentralkomitees in Paris wie über all dessen Verzweigungen bis in die fernsten Provinzen und bis ins Ausland so gut wie gar nichts zutage. Auch die Lyoner Reise Victor Leclercs und sein geheimes Zusammentreffen mit den Royalistenanführern des Südens ergab trotz Braconneau, der nach langem und schwerem Leiden langsam wieder genas und oftmals vernommen wurde, nichts, das Réal, der den Prozeß mit einer wahren Inbrunst leitete, in den Stand gesetzt hätte, das Verbrechen recht bis auf seinen Ursprung zurück aufzudecken. Ein einziger Brief Cadoudals an Saint-Régeant war unter dem Gepäck des Hauptangeklagten gefunden worden. Des weiteren hatte man einen Brief Limoëlans mit näheren Einzelheiten des Verbrechens aufgefangen. Es stand fest, daß Saint-Régeant vor der Tat mit der Uhr in der Hand die Entfernung von den Tuilerien bis zur Rue Saint-Nicaise genau abgemessen hatte, um die Zeit zu berechnen, die Bonaparte vom Palais bis zum Ort des geplanten Attentats brauchte. Indes – aus Saint-Régeant war auch nicht das mindeste herauszukriegen, seine eiskalte und kühne Haltung versetzte die hohen Herren im geraden Gegenteil oft in eine gelinde Raserei.
Da verbreitete sich das Gerücht, Saint-Régeant wär' gar der Folter unterworfen worden. Aber durch solche Verleumdung wollten sich natürlich nur die Widersacher Bonapartes rächen, die in ihm bereits den Tyrannen sahen; verging doch ohnehin kein Tag mehr, an dem nicht irgendwie immer wieder von einer andern Seite neu behauptet wurde, daß der Erste Konsul ein starkes Auge auf etwas wie ein Kaiserreich habe. So war kürzlich ein Pamphlet erschienen, das man Fontanes zuschrieb, und in welchem Bonaparte mit Cäsar verglichen wurde, erst groß auf den Thron gesetzt und sodann den Mörderhänden in empfehlende Erinnerung gebracht . . . Derweil war Braconneau allmählich wieder auf die Beine gekommen und sollte – als einziger und Hauptbelastungszeuge – Saint-Régeant gegenübergestellt werden; und diese Konfrontation gestaltete sich denn auch wirklich riesig interessant. Der Polizist, der sich immer noch leicht stützen mußte, von Soufflard und Vincent hereingeführt . . . und von Saint-Régeant sogleich mit einem gar freundlichen Lächeln und einem Kopfnicken recht wie ein guter alter Bekannter begrüßt . . . Und hierauf und auf die Frage des Vorsitzenden, ob der Polizist den Angeklagten bestimmt wiedererkenne:
»O, wie sollte ich nicht? Den Herrn vergesse ich schon nicht so leicht. Wie lang' ist's denn eigentlich her, daß er mir zum Angedenken auf dem Weg nach Baugirard hinaus eine Kugel in den Bauch gejagt hat?«
Und nun der Royalist mit ausgesuchter Höflichkeit:
»Ich schätze mich in der Tat glücklich, mein lieber Herr Neufmoulin, daß Sie nun wieder völlig hergestellt sind oder jedenfalls auf dem sicheren Wege dazu . . . Sie wissen, daß ich Sie eigentlich nur aus Notwehr sozusagen niederschoß und auf keinen Fall anders denn in einem absolut ehrlichen Zweikampf.«
»Das muß wahr sein! Wie manch anderer hätte mir an Ihrer Stelle, Herr de Saint-Régeant, eine zweite Kugel hinters Ohr gegeben . . .«
»Wenn ich dermaßen vorsichtig gewesen wäre, dann stünde ich wohl jetzt nicht hier . . .«
Da aber fuhr Réal wütend dazwischen:
»Hier gibt's keine langen Komplimente – verstanden? – hier gibt's einzig nur die Wahrheit!«
Saint-Régeant maß das ehemalige Konventsmitglied geringschätzig und verächtlich vom Kopf bis zu den Füßen:
»Man kann doch nicht die ganze Zeit unausgesetzt der Wüterich und der Verstockte sein. Die paar Worte mit diesem Herrn haben mich direkt aufgeheitert.«
»Sollte mich freuen, wenn Ihre Laune so gut wäre, daß Sie endlich mal anfingen, ein wenig aus sich herauszugehen!«
Aber Saint-Régeant verriet sich mit keiner Silbe. Weder vor dem Untersuchungsrichter, noch in der öffentlichen Verhandlung. Es war einfach unmöglich, ihm auch nur das leiseste zu entlocken. Dabei hätte Bonaparte wer weiß was drum gegeben! Er hatte zwar dieses Attentat bereits zum Vorwand genommen, um eine ganz erkleckliche Anzahl von Terroristen zu deportieren, die entweder halbwegs verdächtig waren, bei einem früheren Komplott beteiligt gewesen zu sein, oder auch nur einigermaßen imstande schienen, einen weiteren Anschlag vorzubereiten . . . aber das war nicht eigentlich, was er wollte. Ihm lag hauptsächlich daran, bei dem Verbrechen Saint-Régeants eine Mittäterschaft der Prinzen oder vielleicht auch ein geheimes Einverständnis von seiten des englischen Ministeriums nachzuweisen. So vertraute er sich denn Fouché an, der in der Kunst der Bestechlichkeit ja eine anerkannte Meisterschaft hatte:
»Meinen Sie nicht, daß man mit einiger Geschicklichkeit etwa Carbon zum Reden bringen könnte? . . . In dem Fall soll mir nichts zu teuer sein – Sie verstehen?«
»Carbon hat nicht die geringste Ahnung von allem, was er gemacht hat. Der war in den ganzen Plan überhaupt mit keinem Worte eingeweiht . . . Limoëlan – ja, wenn der uns nicht ausgekommen wäre – der hätte schon eher was gewußt . . . Und was Saint-Régeant anbetrifft? sowas von Seelengröße und adligstem Stolz – einfach unfähig zu irgendeinem Verrat.«
»Selbst wenn man ihm das Leben schenkte? Ja sogar – die Freiheit?«
»Würden Sie soweit dabei gehen?«
»Ja. Falls die Aufschlüsse total und aufrichtig wären – dann ja.«
Fouché überlegte einen Augenblick; und murmelte:
»Er ist jung . . . und er wird geliebt. Wer weiß? Aber dazu muß er zuerst einmal zum Tode verurteilt sein . . . eh' das Urteil nicht ergangen ist, und er nicht Aug' in Aug' gegenüber dem Unabweisbaren steht . . .«
Das Urteil ließ nicht lange mehr auf sich warten – das unvermeidliche: Saint-Régeant und Carbon – beide zum Tode verurteilt. – Madame Lerebourg war eben von ihrer Krankheit genesen und kam schier das erstemal wieder in den Laden herunter, um nach dem Geschäft zu sehen, als sie vom Urteil und der Verurteilung erfuhr. Lerebourg hatte sich zwar die erdenklichste Mühe gegeben, daß seiner jungen Frau überhaupt nichts von Victor Leclerc, wie er ihn beharrlich immer noch nannte, zu Ohren kommen sollte . . . denn wenn sie hörte, daß sein Leben nur noch nach Tagen zählte und er möglicherweise morgen schon seinen Kopf unters Fallbeil stecken mußte . . . gräßlich! . . . einfach nicht auszudenken! . . . So hatte er seiner Frau jede Zeitung aus dem Wege geräumt – trotzdem sie gar nicht zu lesen verlangte; wachte stets um sie, daß sie nicht zufällig einen Brocken aus einem fremden Gespräch aufschnappte . . . indes, das ging doch auch wieder nicht zu machen, daß er gerade ewig und immer um sie war . . . und seiner Kundschaft etwa schlankweg den Mund zu verbieten . . .? . . . Wie's also das Unglück schon haben wollte, war nachmittags die schöne Madame Regnault de Saint-Jean d'Angely in den Laden gekommen, hatte sich Schleierescharps vorlegen lassen und bemerkte im Laufe der Unterhaltung zu Fräulein Hermance, während sie zerstreut über das feine Gewebe hinfuhr:
»Nämlich ich brauch' so ein Escharp, um mich bis zur Unkenntlichkeit verschleiern zu können. Es haben unser mehrere Damen ausgemacht: wir wollen unbedingt der Hinrichtung von diesen beiden entsetzlichen Saint-Régeant und Carbon beiwohnen . . .«
Bei diesen Worten aber schrie Fräulein Hermance laut auf, denn zwei Schritt weit weg war ihre Prinzipalin plötzlich totenblaß geworden, wankte, hielt sich vergebens am Tisch fest und fiel glatt um. Ohnmächtig. Man lief hin, hob sie auf, trug sie auf ihr Zimmer, legte sie aufs Bett und tat selbstverständlich alles mögliche, um sie wieder zur Besinnung zu kriegen. Da kam dann schließlich Lerebourg herein, blieb mit seiner Frau allein und erkundigte sich voller Besorgnis, was denn nun wieder geschehen wäre. – Emilie, noch sehr blaß, fragte mit ganz schwacher Stimme:
»Warum hast du mir nicht gesagt . . . daß der arme Kerl . . . zum Tode verurteilt ist?«
»Mein Gott – ich dachte, es würde dich doch nur neuerlich aufregen. Aber wie hast du's denn nun erfahren?«
»Madame Regnault sprach eben darüber . . . mit unserer Hermance . . .«
»Der Teufel hole die Stadtklatsche!« knurrte Lerebourg. »Aber da du's nun schon einmal weißt . . . ja, mein liebes Kind . . . der arme Kerl . . . nicht? – Du lieber Gott, eigentlich dürften wir ihn doch gar nicht armen Kerl nennen, nach solch einem schauerlichen Verbrechen, wie der auf der Seele hat! – Aber für uns war er eben Victor Leclerc, und so'n angenehmer, sympathischer, wirklich prächtiger Bursche!«
Er stieß einen großen Seufzer aus:
»Und nun . . . Todesstrafe . . . und übermorgen soll er bereits hingerichtet werden . . .«
»Übermorgen!« wiederholte Emilie bebend. »Also . . . in zwei Tagen schon . . .«
». . . wird er nicht mehr sein, ja! – Ich begreife deine Aufregung. Mir tut's ja selber so unendlich leid . . . aber wir müssen nichtsdestoweniger vernünftig sein. Wann haben wir ihn kennen gelernt? Vor einem halben Jahr. Da traf ich ihn zufällig auf der Reise. Er hat mir eine große Gefälligkeit erwiesen, aber er ist doch weder verwandt mit uns, noch ist er ein langjähriger Freund. Freilich . . . nun muß er schon sterben . . . und noch so jung . . . entsetzlich! Aber wir müssen doch ebenso bedenken, daß er ein ungeheuerer Verbrecher ist. Und jedenfalls mach' dich seinetwegen doch nicht krank, Emilie . . .«
So beruhigte sie ihr Mann mit Gründen, auf die sie aber überhaupt gar nicht hörte, denn sie hatte ja nur noch den einen Gedanken: übermorgen . . . tot. Der sie nicht mehr verließ und sie fortgesetzt marterte. Immer wie ein Kreis in ihrem schmerzenden Hirn: übermorgen . . . tot . . . übermorgen. Und sie versuchte die Augen zu schließen, während ihr Mann weiter abgedroschenes Zeug daherredete, und das war alles doch nur wie eine düstere Begleitung zu der einen gellenden Melodie: übermorgen . . . tot.
Schließlich meinte ihr Gatte, sie wäre wohl eingeschlafen, so ruhig lag sie da; und er ging leise, auf Zehenspitzen hinaus. Er war aber kaum draußen, so sprang Emilie auch schon vom Bett auf und zog sich an. In ihr war nur noch der eine mächtige, fieberische Wunsch: Saint-Régeant vor seinem Tode noch einmal zu sehen. Die Kleider flogen ihr nur so an den Leib . . . in ihrem Kopfe ward's wieder ganz klar und licht . . . und sie meinte gerade, sie hörte wieder die Worte Fouchés: »Madame, und vergessen Sie nicht, daß ich Ihr Schuldner bin und Ihnen jederzeit, falls ich Ihnen irgendwie nützlich sein kann, gerne zur Verfügung stehe . . .« Sie lachte bitter auf: ›Ihr Schuldner!‹ nun ja doch, er verdankte ihr doch die Gefangennahme Saint-Régeants . . . den Kopf des armen Kerls verdankte er ihr und nur ihr . . . und so müßte er ja schlimmer als ein Tiger sein, wenn er ihr diese wahrhaft letzte Bitte, den Geliebten noch ein einziges Mal zu sehen, abschlagen könnte!
Der ganze Plan stand in Emilie bereits fest: ins Polizeiministerium, Villiers sprechen, und der Sekretär bringt sie dann bis zum Chef. Und dann nur noch soviel Kraft aufbringen, daß sie nicht schon auf dem Weg nach dem Gefängnis und nach der Zelle vor grenzenlosem Jammer verging. Ihn bloß noch einmal sehen, eh' der Schmerz sie wahnsinnig machte oder tötete. Unter den Augen dann dessen, den sie so unbeschreiblich liebte, mochte sie ruhig sterben.
Wie? wie denn?
Sterben?
War das nicht ihre immerwährende Todesangst gewesen, von der ersten Stunde an, seit sie Saint-Régeant liebte, daß Lerebourg es erfahren könnte? Ihr Gatte, der ihr wie ein Vater war! Und was gab's denn besseres, seinen Schmerz und seinen Zorn nicht mehr zu erleben, als eben den Tod und vorher zu sterben? – Sie hatte sich doch vor einiger Zeit schon – halb unbewußt und halb aus Absicht – damals, als sie über so schreckliches Herzklopfen klagte – eine ziemliche Dosis Digitalin verschafft . . . o, wo war denn nur das Fläschchen? . . . eine Dosis, so reichlich, daß sich gleich ein paar Menschen damit vergiften konnten . . .
Und dann: welche Seligkeit und welcher Sieg zugleich, wenn Saint-Régeant durch das Gift dem Schafott entging und sie gemeinsam, Arm in Arm und Mund auf Mund aus dem Leben schieden! Sie riß eine Schublade ihres Toilettentisches auf: da war das Fläschchen. Eine farblose, geruchlose Flüssigkeit, in einem Kristallfläschchen, mit einem eingeriebenen Glasstöpsel darauf. Eine einzige Bewegung . . . in einer einzigen Sekunde . . . und das Gift war verschluckt! Sie versteckte das Fläschchen in ihrem Busen, einen Schal um, einen Hut auf, die Treppe nach dem Hof hinunter, und zwei Minuten später saß sie in einem Fiaker – auf dem Wege nach dem Polizeiministerium.
Fouché war recht grämlich an dem Tag. So hutzelig wie er war, kauerte er in einem großen Lehnstuhl und studierte die Zeitungen, das heißt nur das, was ihm seine Sekretäre als auf ihn bezüglich angestrichen hatten. Der »Publicateur« insonderheit erging sich in den heftigsten Ausfällen gegen ihn, warf ihm ein ganzes Sündenregister vor, welch gemeine Rolle er im Thermidor gespielt, welche Machenschaften er zugunsten Barras' getrieben und welche Kabale er gegen Babeuf angezettelt. Und schließlich rieb ihm der Redakteur auch noch dieses unter die Nase: er – Fouché – sei überhaupt in einem Backtrog als der Sohn eines Bäckers auf die Welt gekommen. Ach, und das fuchste den Polizeiminister am allermeisten. Wütend warf er das Blatt hin und zerknitterte es:
»Sohn eines Bäckers? So 'ne Gemeinheit! – Sohn eines weitgereisten Kapitäns doch! Ehemaliger Wortführer – ja! Ehemaliges Konventsmitglied – ja!! Königsmörder – ja!!! Aber Mehlhengst – nein! nein!! nein!!! nein –«
Da wurde er in seinem wütenden Protest unterbrochen; Villiers kam herein.
»Was ist los?« Und das leichenblasse Gesicht war sogleich wieder wie Stein.
»Bürger-Minister, gerade eben kommt die Bürgerin Lerebourg zu mir und möchte Sie sprechen.«
Fouché verzog das Gesicht: das erinnerte ihn plötzlich wieder an die Unterhaltung, die er mit Bonaparte gehabt hatte, ob nämlich aus Saint-Régeant nicht doch noch alles herauszulocken wäre, und wenn man ihm gleich das Leben und die Freiheit dafür schenken mußte. Und Fouché nickte mit dem Kopf und grinste:
»Man muß die Dinge bloß richtig abzuwarten verstehen – merken Sie sich das, Villiers. Die Bürgerin Lerebourg kommt mir in diesem Augenblick wie gerufen . . . führen Sie sie herein . . .«
Fouché stand aus seinem Lehnstuhl auf. In seinem grauen Anzug und mit Stiefeln – wie ein richtiger Bourgeois. Lehnte sich an die Kaminecke, um seine Besucherin gleich beim Hereinkommen zu sehen, und heftete dann seinen glanzlosen bleiernen Blick auf das Gesicht Emiliens. Seine Stimme war eitel Sanftmut und Wohlwollen:
»Nun, Madame Lerebourg, was verschafft mir das Vergnügen, Sie hier bei mir zu sehen?«
Emilie, die Augen voller Tränen, stammelt ihm nur das eine Wort nach:
»Vergnügen!«
Fouché aber, der sonst überhaupt nicht weiß, was ein Gefühl ist, errötet geradezu bei diesem Vorwurf. Er geht auf Madame Lerebourg zu, bietet ihr einen Stuhl an und spricht nun schier voll wirklichen Mitleids:
»Nun also . . . reden Sie . . . Und sagen Sie, sollte ich Ihnen in der Tat irgendwie behilflich sein können?«
»Sie versprachen mir, Sie wären jederzeit bereit.«
»Und nun haben Sie wahrhaftig was auf dem Herzen, Kindchen? Was ist es denn?«
»Ich bitte Sie . . . erlauben Sie mir . . . daß ich Herrn de Saint-Régeant noch einmal sehe . . .«
»Sind Sie so ganz sicher, daß es nicht aufkommen könnte, wenn Sie ihn im Gefängnis besuchen? Haben Sie so gar keine Angst?«
»O Gott, o Gott! ich habe ja nur noch die eine Angst . . . ich fürchte mich vor nichts mehr als vor seinem Tod . . .«
Fouché blieb einen Augenblick stumm. Dann ging er ganz nah an sie heran, beugte sich über sie herab und fragte sie ganz leise:
»Möchten Sie, daß er am Leben bleibt?«
In ihren Augen blitzte etwas wie Hoffnung auf:
»Wär' denn das überhaupt möglich?«
»Das hängt von ihm ab.«
»Was kann ich dabei tun?«
»Der, den er töten wollte, begnadigt ihn – um den Preis, daß er gesteht!«
»O! das tut Saint-Régeant nie! nie!«
»Dann ist es Ihnen also recht, daß er einen Kopf kürzer wird?«
»Was soll ich denn dabei?«
»Ihm zureden, daß er endlich aussagt.«
»Ich werde ihn doch nicht selber zum Ehrlosen machen wollen!«
»Wenn Sie ihn damit retten können?«
»Er soll seine Freunde verraten?«
»Seine Freunde haben ihn verraten! Was haben sie denn für ihn getan? Haben sie auch nur den leisesten Versuch gemacht, ihn zu verteidigen? Oder nur einen Finger gerührt, um ihn zu befreien? Haben sie zu seinen Gunsten gesprochen, geschrieben oder gehandelt? Wo ist denn der famose Georges, der fürchterliche Chouan, dem nichts widersteht, und der durch seine Handstreiche berühmt ist – wo ist er denn? Der sitzt ruhig irgendwo in der Bretagne, während sein Waffenbruder hinter Kerkermauern schmachtet und seinen Kopf unters Fallbeil gibt! Er hat ihn erst zum Verbrechen angestiftet – und sich dann selber fein aus dem Staube gemacht. Und nie wieder etwas von sich hören lassen! Und die Prinzen vielleicht? Der Herr Comte de Provence, der im Exil große Reden führt und höchstens schlechte Verse und miserable Epigramme verbricht, während die Edelsten für ihn den Tod erleiden? Oder der Herr Comte d'Artois, der nicht einmal den Mut hatte, an der Spitze seiner Vendéer zu kämpfen, und lieber in England drüben auf die Jagd geht? Da sehen Sie, für was eigentlich der bedauernswerte Mensch sein Leben aufgeopfert hat! Und heute, wo ihn doch die undankbare Sippschaft völlig im Stich gelassen hat, soll er nicht einfach Gleiches mit Gleichem vergelten – um sein Leben, um seine Freiheit?! Na wär' er doch geradezu blödsinnig – da müßt' er ja 'n Trottel sein!«
Fouché streifte Madame Lerebourg mit einem Blick: sie war durch solche Vernunftgründe schon völlig umgewandelt, ja, sie erbebte schon sichtlich vor neuer Hoffnung. So verdoppelte er seine Beredsamkeit:
»Der Erste Konsul ist bereit, Herrn de Saint-Régeant nicht nur das Leben, sondern auch die Freiheit zu schenken. Er will ihn nach Amerika schicken – mit einem Reisegeld von hunderttausend Franken dazu! Und Sie, Madame . . . was soll Sie denn eigentlich hindern, einfach mit ihm zu gehen? Sie sind so jung alle beide, und in der Neuen Welt wartet Ihrer eine wunderbare Zukunft. Und was ist zu all dem Glück nötig? Ein Augenblick Besinnung; eine Minute lang Vernunft. So seien Sie doch gescheit . . .«
Emilie verkrümmte die Arme:
»Aber verraten! Er – ein Edelmann! Das wird er nie! nie!«
»Liebt er Sie?«
»O! ich bin sicher –«
»Und Sie, lieben Sie ihn wieder?«
»Ich möchte mein Leben für ihn hingeben!«
»Na also – so versuchen Sie doch wenigstens, ob Sie ihn nicht retten können! Billiers wird Sie nach dem Gefängnis begleiten. Er wird an der Zellentür auf Sie warten. Wenn Saint-Régeant einwilligt in das, was wir von ihm verlangen, kommt Villiers herein und gibt ihm Feder, Tinte und Papier. Und wenn er selber nicht schreiben will, so mag er's Villiers meinetwegen auch diktieren und braucht nur seinen Namen darunterzusetzen. Also gehen Sie, und – mögen Sie das zu schätzen wissen, was wir für Sie zu tun bereit sind! . . .«
Sie sah ihn an – voll von einem tiefen Abscheu:
»Für uns? Reden Sie mir doch nichts ein! Alles nur für Sie!«
»Wenn auch . . . Sie brauchen uns dafür auch nicht im mindesten dankbar zu sein . . . Nur sehen Sie zu, daß Sie den Kopf vorm Scharfrichter retten . . . Das ist die Hauptsache!«
Sie würdigte ihn keiner Antwort mehr. Fouché klingelte, und Villiers erschien in der Tür. Ja, sie würdigte den Versucher keines Blickes mehr und ging ohne ein Wort des Abschieds hinaus.
In seiner Zelle saß Saint-Régeant mit gefesselten Armen auf seinem Hocker und unterhielt sich mit dem Wächter, der ihn Tag und Nacht nicht verließ. Das war ein gedienter Soldat, der im italienischen Feldzug schwer verwundet worden war und nach seiner Pensionierung diese Gefängniswärterstelle erhalten hatte. Und der hatte einfach ein Faible für Saint-Régeant, wenngleich er dessen Tat auch noch so sehr verabscheute. Und wenn er ihm auch Vorwürfe machte – er meinte es doch von Herzen gut:
»Nein, wie Sie aber auch so etwas tun konnten! Sie – ein Soldat! denn Sie haben doch immerhin in der Vendée mitgefochten . . . und sich nu auf einen so hundsmiserabeln Verrätercoup eingelassen!«
»Sappiert und miniert man nicht auch bei Belagerungen? Ist dann das nicht auch Verrat? Na also! Wenn man eine Brücke mitsamt den darübermarschierenden Truppen in die Luft sprengen darf oder ein Schiff brandern, dann durfte ich eben auch, was ich getan habe – mit genau demselben Recht!«
»Nein! denn der Feind ist dabei im Verteidigungszustand – nicht? – und kann sich also vorsehen. Aber in tiefstem Frieden und aus der Mitte einer vertrauensvollen Bevölkerung heraus – wie Sie! . . . und Frauen und Kinder und Soldaten von der Eskorte töten, die alle miteinander total ahnungslos sind . . . nein also, da mögen Sie sagen, was Sie wollen: das ist einfach gemein!«
»Aber wir sind doch mitten im Krieg mit dem Ersten Konsul! Er verfolgt uns mit seinen Fliegenden Korps und umzingelt uns mit seiner Polizei . . . Da wehrt man sich denn und kämpft, so gut man kann. Wir sind eine Handvoll Männer gegen eine ganze Armee und eine ganze Regierung. Und wenn wir nicht mit allen Mitteln trachten, könnten wir uns ebensogut Bonaparte gleich freiwillig ausliefern!«
»Das wär' g'scheiter gewesen! Wie konntet ihr nur gegen einen solchen Mann ankämpfen! Dem nichts auf der Welt widersteht! Sie hätten ihn bloß an der Brücke von Lodi sehen sollen . . . mitten im Kartätschenhagel . . . mitten unter den Grenadieren, die wie die Fliegen umfielen . . . Ach, war das ein Kampf, lieber Herr! Und er kommt Ihnen aus dem wahren Backofen raus – frisch wie der Fisch im Wasser, kann ich Ihnen sagen! Und bei Marengo . . . ich stand bei der Division Chambarlhac . . . wir seit dem frühen Morgen schon in gänzlicher Auflösung . . . da sitzt mein Erster Konsul auf einer Böschung am Weg nach Castel-Ceriolo, an einem Getreideacker . . . ein Kugel- und Granatenregen um ihn herum, daß seine Uniform über und über voll Erdspritzer ist . . . er aber klopft sich so – sehen Sie! – nur immer den Staub von der Hose . . . Na – und wie dann Désaix ankam! wie die beiden einander in die Arme fielen! und dann unterhalten sie sich so zehn Minuten miteinand, und dann sagt Désaix: Also versuchen wir's noch mal! Da hatte Bonaparte nämlich rasch beschlossen: wenn's erste Treffen futsch ist, dann liefern wir eben 'n zweites . . . Lieber Herr de Saint-Régeant, gegen 's leibhaftige Geschick ankämpfen, das geht nu mal nicht. Bonaparte, sehen Sie, der ist rein vom Schicksal selber. Der ist ein ganz anderer wie wir alle. In dem ist was anders drin als wie in uns. Man braucht ihn doch bloß mal zu sehen, und man vergißt nie, nie wieder: der ist etwas, das über uns ist, und also wird er eben ewig unser Herr sein!«
»Eine einzige anständige Kugel in den Schädel – und es ist aus mit 'm großen Herrn!«
»Ja – wenn ihn die Kugel trifft! Aber Sie haben uns ja selber gleichfalls nur den Beweis dafür geliefert . . . zwanzig andere, denen Sie nicht das mindeste wollten, haben Sie getroffen, und er allein blieb heil!«
Saint-Régeant nickte einige Male mit dem Kopf:
»Da ist die Heiligenlegende fertig! Man nennt sich unverwundbar und dann traut sich schon keiner mehr heran!«
»Was reden Sie denn da in Ihrer Ecke?«
»Mir ist soeben eingefallen, wie er mir – vor etlichen Monaten noch – die Oberstencharge angetragen hat, wenn ich in seine Dienste träte . . .«
»Und Sie haben nicht gleich mit beiden Händen zugegriffen? Und wollten ihm statt dessen lieber ans Leben? Nein also, das ist – wissen Sie – einfach haarsträubend! Und im nächsten Feldzug gegen die Engländer, mit denen er sich sicher eher heute als morgen verkabbelt, wären Sie General geworden. Und immer weiter hinauf und immer weiter – wo er Sie doch so gern hatte! – wären Sie bald eine Spitze auf dem Stab gewesen! Denn das müssen Sie wissen, für einen Waffenbruder tut der alles! Murat, Lannes, Bessières, Soult, Junot . . . Ach, mein lieber, lieber Herr de Saint-Régeant, es wär' für Sie doch wahrhaftig schöner gewesen, über dreitausend brave Jungens mit dem Schießprügel auf der Achsel zu kommandieren, als jetzt hier in der Zelle mit Eisen an den Händen zu sitzen und nur noch darauf zu warten, bis der Henker Sie zu Ihrem letzten Gang abholt!«
Da aber wurden diese philosophischen Betrachtungen durch das Eintreten des Oberaufsehers unterbrochen, der knurrte:
»Der Verurteilte erhält Besuch!«
Saint-Régeant erhob sich höchst erstaunt und versuchte die Gestalt zu erkennen, die hinter dem Oberaufseher in der halboffenen Zellentür stand und wartete; aber er vermochte in dem Dunkel nur eben zu unterscheiden, daß es eine menschenähnliche Gestalt war – da kam Villiers, denn der war es, völlig herein und machte den beiden andern ein Zeichen, sie möchten sich entfernen. Dann sprach Villiers:
»Herr de Saint-Régeant, eine besondere Vergünstigung gestattet Ihnen, einen Besuch ohne alle Zeugen zu empfangen. Die betreffende Person mußte sich zwar einer genauen Untersuchung unterziehen, daß sie keine Waffe mit hereinschmuggelt oder sonst einen Gegenstand, der den andern oder Ihnen selber gefährlich werden könnte . . . indes, Sie haben wohl außerdem noch die Liebenswürdigkeit, mir Ihr Wort dafür zu verpfänden, daß Sie nichts von ihr annehmen, das Ihnen etwa gestattete, sich uns irgendwie zu entziehen.«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, mein Herr, Sie können ganz beruhigt sein.«
»Gut.«
Villiers ging zur Tür und ließ Emilie eintreten. dann ging er selber hinaus und schloß von draußen ab. – Die Liebenden von Angesicht zu Angesicht einander gegenüber. In dieser Armesünderzelle und diesem wahrhaften Vorzimmer zum Schafott. Einen Augenblick standen sie ganz stumm, ganz beklommen, ja schier erschreckt. Dann erst eilten sie aufeinander zu und Emilie hielt Saint-Régeant in ihren Armen. Den armen Saint-Régeant, der die geliebte Frau nicht einmal mehr an sich ziehen konnte, so sehr waren seine Hände übereinander gefesselt. Emiliens Augen, von der Angst geweitet und rund vor Weh, füllten sich wieder mit Tränen an und weinten große glitzernde Tropfen auf die Schulter und über den Nacken des zum Tode Verurteilten.
»Warum denn weinen?« fragte Saint-Régeant und lächelte. »Wo uns die unverhoffte Freude zuteil ward, daß wir uns noch einmal wiedersehen. An dieses Glück glaubte ich einfach nicht mehr. Wer uns das aber verschafft hat, er sei gesegnet, und wenn's mein eigener Mörder sein sollte!«
»Der Polizeiminister – Fouché selbst hat mich mit seinem Sekretär hiehergeschickt! O, armer, armer Freund, wenn du wüßtest . . .!«
»Ich weiß, daß ich dich sehe, und das genügt mir! O, liebe, liebste Emilie! . . . Aber – wahrhaftig! – wie kommst du zu dieser Gnade, einen zum Tode Verurteilten besuchen zu dürfen, einen Mörder, eine Bestie von Menschen, einen, der Bonaparte töten wollte?«
»O! das ist noch lange nicht alle Gnade!« schrie Emilie heraus, die nicht länger mehr an sich halten konnte. »Wenn du willst, brauchst du nicht einmal zu sterben, kannst leben, bist frei, fährst heute abend noch in die Neue Welt, wenn du willst . . . Kannst wirklich tun und lassen, was dir beliebt!«
Saint-Régeant drängte das junge Weib sachte von sich und sah sie totenblaß und mit einem durchdringenden Blick an:
»Und welche Infamie verlangt man von mir für soviel Großmut?«
Was Fouché von Saint-Régeant eigentlich verlangte – war ihr nie so ungeheuerlich erschienen als eben in diesem Augenblick! Wie sollte sie das überhaupt nur in Worte kleiden? Wie es ihm im mindesten verständlich machen? Und dabei erwartete man von ihr, daß sie ihn auch noch dazu überreden sollte!
Und trotzdem brannte ihr ganzes Herz aus dem einzigen Wunsch, ihr Geliebter möchte auf alles das eingehen. Auf all die Gewissenlosigkeit, Feigheit und Schurkerei. Vor ihren Augen dehnte sich der Raum, durch und durch klar, von einer unendlichen Bläue, spannte sich ein wundervoller zauberischer Prospekt, und der hieß Freiheit . . .
»Sag', beste Emilie, sag', was haben sie dir versprochen, das mir ihr Anerbieten verlockend machen soll? Welche Ehrlosigkeit soll ich begehen, um den Preis des Glücks, das du mir bringen sollst?«
»Du sollst nur das tun, was du dich von jeher zu tun geweigert hast,« stammelte das junge Weib und all ihr Stammeln war Beschwören. »Und wenn du's schon nicht aus Angst vorm Tode tust, dann sollst du's wenigstens aus Liebe tun. Es sei doch so eine Kleinigkeit, und du erhältst dafür volle Begnadigung und verschwindest irgendwohin, und ich will dich begleiten, wohin du immer willst . . .«
Saint-Régeant schrie wie ein Wahnsinniger auf vor Zorn und Beschämung:
»Das Grausamste also! Das Raffinierteste an Barbarei! Man will mir nicht nur das Leben schenken, sondern sogar ein Leben mit dir! O, die Herren wissen genau, auf welche aberwitzigste Probe sie damit mein bißchen armes Gewissen stellen! Von mir für mich selber erwarten sie schon nichts mehr – aber von mir für dich! für dich! für dich! erwarten sie einfach alles! Emilie, Emilie – begreifst du denn nicht das Rasende dieser Berechnung? Geliebte Seele – und du mußt schweigen! du darfst mir nicht einmal mit armseligen Worten anbieten, was all meine Seligkeit wäre! Sonst ist's für mich doch der doppelte Tod – einmal um mein Leben, einmal um dein Glück!«
Und er ließ sich auf seinen Hocker hinfallen und weinte. Der so unerschütterlich in seinen Entschlüssen war, zerfloß in diesem Augenblick ganz und gar und war schwächer wie ein kleines Kind. Laute Schluchzer erschütterten seine Brust, reichliches Naß floß über seine Backen – und er konnte sein Gesicht nicht einmal dabei verstecken, so sehr hinderten ihn die Fesseln an seinen Gelenken. Emilie beugte sich über ihn und versuchte mit ihrem feinen Batisttüchlein seine Tränen zu trocknen; mit einem Male aber schmiß sie sich auf die Knie vor ihm, schlang beide Arme um seinen Hals und flüsterte mit ihrem Mund ganz nah an seinem Ohr:
»Ist es denn wirklich etwas so Entsetzliches, was man von dir verlangt? Und was riskieren denn die eigentlich, über die du aussagen sollst? Kümmern sie sich übrigens um dich? Haben sie dich nicht vielmehr schmählich im Stich gelassen? Diese undankbaren Prinzen, die ihre Tapfersten in den Kampf schicken und sie selber bleiben fern vom Schuß! Diese Emigrierten, die sich im Ausland großtun und Blutbäder anbefehlen und Massenmorde, ohne daß sie selber jemals dabei wären? – Und dann, sieh' mal, du sollst doch nur mit Namen nennen, was die Konsularregierung längst weiß! Sie kennt sie doch alle miteinander genau, und es ist eigentlich nur eine Formalität, die man von dir will! Nichts weiter! Ein bloßer Vorwand, um dich selber zu befreien! Bonaparte will dich begnadigen – und du sollst den Gnadenakt nur erleichtern – durch nichts als ein bißchen guten Willen! Nichts weiter! Wirklich!«
»Nein, wirklich nichts weiter –« schrie Saint-Régeant von neuem heraus, »– als daß ich eben zum Schurken werde! Und dazu schicken sie mir dich her! dich! daß ich's aus deinem Munde höre! – Aber nein, nein, nein – lieber tausend Tode!«
»Gut. Aber dein Tod ist auch der meinige,« sprach Emilie und richtete sich auf. »Denn ich kann dich doch keinen Herzschlag lang überleben und ich bin auch nur hergekommen, um immer bei dir zu bleiben. Zu dir gehör' ich. Wohin du auch gehst. Geht unser Weg von hier hinaus in die Freiheit, will ich dafür einen genau so großen Preis bezahlen wie du, meine Ehre. Du sollst mir nichts voraus haben. Und ich dir nicht!«
»Unglückliche?« rief Saint-Régeant, »bist du denn schon völlig im Bunde . . . und welchen Handel schlägst du mir da eigentlich vor?«
»Ehre gegen Ehre. Meine Frauenehre gegen deine Parteiehre. Du würdest dich wegwerfen, wenn du aussagen würdest – gut. Ich werfe mich weg, indem ich bei dir bleibe – ja, ich habe mich bereits freiwillig weggeworfen, indem ich den ersten Schritt hier herein tat. Auf die Art hat von uns eins dem andern nicht das geringste vorzuwerfen und wir können ganz gut mitsammen fort und weit übers große Wasser in ein unbekanntes Land und alles, alles vergessen . . .«
»Nur daß hinter mir dann ein ganzes Volk herschreit: Saint-Régeant, der Verräter, hat seine Herren und seine Freunde verkauft! Aus Liebe zu einem Weib hat der das Geheimnis seiner Partei preisgegeben! Ja, glaubst du denn, daß ich diese Schmach und Schande nicht ewig und immer hören würde? Und glaubst du, daß ich solche Ehrlosigkeit auch nur eine Stunde lang überleben könnte? Da täuschest du dich gar sehr, Emilie! Ich kann doch meine Seele und mein Gewissen nicht einfach auslöschen – o, ich würde nicht einmal im Grabe Ruhe vor solcher Verräterei finden! Überlaß mich doch meinem Schicksal und gib's auf, mich zu retten . . . ich kann dem Tod nicht entgehen und will es auch nicht . . . denn nur der Tod erlöst und sühnt mich. Ich habe unschuldiges Blut vergossen und muß und will das büßen, und der Henker wird mein Erlöser sein!«
Emilie schwieg einen Augenblick. Seltsam düster und starr. Sie fühlte, daß sie ihr Spiel verloren hatte, und daß ihr heißestes Flehen ihn nicht mehr bewegen könnte. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus:
»Wenn dich nichts dazu bestimmen kann, weiterzuleben, nun, so sterben wir doch!«
»Was sprichst du immer vom Sterben, Liebste?« Das klang voll ungestümer Zärtlichkeit. »Du zerreißt mir damit das Herz, in dem Augenblick, wo ich all meine Ruhe und Festigkeit bewahren soll . . . Du machst mir mein Elend damit ja nur noch größer . . . Leb' du doch um Himmels willen, und wär's um nichts anderes als mich zu beweinen und an meinem Grab zu beten! Und dann, denke an deinen armen Mann, der's so gut mit dir meint, und erspar' dem doch den Schmerz. Deine Pflicht ist, bei ihm zu bleiben und wieder an ihm gut zu machen, was du und ich ihm angetan haben!«
Sie schüttelte mit dem Kopf:
»Ich könnte es nicht. Wie sollte ich denn auch mit einem Schritt nur nach Hause gehen können, nachdem ich dich am Fuße des Schafotts zurückgelassen habe? Soll ich ein halbes Leben damit hinbringen, Tag für Tag von Schmerz und Reue gefoltert, und fremden Menschen ein gleichgültiges Gesicht zeigen, wo mir ewig die Tränen aus den Augen stürzen – und alltägliche Dinge reden, wo ich in jedem Augenblick laut aufschreien möchte? Nein, eine solche große Komödie – ich brächt's nicht einen Tag lang fertig . . .«
Und sie nestelte an ihrem Kleide und zauberte das Fläschchen aus ihrem Busen hervor, das bei der eiligen und oberflächlichen Untersuchung natürlich nicht gefunden worden war:
»Hier – es ist schon alles bereit. Das langt reichlich für uns beide, da du ja sterben willst . . . Komm, komm, wir sterben zusammen . . .«
Sie reichte ihm das Fläschchen hin. Er aber nahm sie behutsam bei der Hand und sprach lächelnd:
»Nein. So will und darf ich nicht enden, Liebste – in den Armen einer Frau und im Dunkel der Gefängniszelle. Mein Tod soll nicht nur eine Sühne sein, sondern auch ein Beispiel. Ich will den letzten Gang mit erhobenem Haupte antreten und tun – nicht wie ein Verbrecher, sondern wie ein Besiegter. Ich will aufrecht an derselben Stätte sterben, wo so viele von den Unserigen für Gott, König und Vaterland gestorben sind. Wenn man mich vergiftet hier in der Zelle finden würde, heißt es: aha, er hat sich vor der Guillotine gefürchtet. Mein Kopf soll unterm Fallbeil fallen, gibt es denn eine größere Ehre für mich, als einem Ludwig dem Sechzehnten und einer Marie-Antoinette nachzufolgen? Die Guillotine ist durch einen Saint-Just und Robespierre beschmutzt und entweiht worden – ich will sie mit meinem Blut abwaschen!«
Emilie barg das Fläschchen wieder in ihrem Busen:
»Gut. So ist dies eben für mich allein.«
»Und jetzt, meine Einzige, Liebste –« und wie eine Weihe ging seine Rede. »Denken wir an nichts mehr als an die Süßigkeit dieser letzten Stunde. Und laß auf unsern Lippen nur noch Liebe und Küsse feiern.«
Und er bot ihr seine gefesselten Hände; und sie umschlang ihn und sog von seinem Munde den berauschenden Trank, der alles vergessen macht . . .