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Fouché war gerade von all den Morgenrapporten sehr stark in Anspruch genommen, da trat der junge Villiers, einer seiner Sekretäre, ohne anzuklopfen, ein:
»Agent Nummer Sieben möchte den Bürger-Minister sprechen. Sache von höchster Wichtigkeit.«
Fouché sah gar nicht auf und knurrte nur ein gleichgültiges: »Laß 'n hereinkommen« hin.
Ein Kerl kam herein: ein wahrer Riese. Schwarzhaarig übers ganze Gesicht: der Typ eines Vollziehungsbeamten. Denn zu irgendeiner Verkleidung taugte der nun und nimmer. Eben der richtige Bursche, um Doppeltüren aus den Angeln zu treten und im Handgemenge sodann Köpfe einzuschlagen. Ein riesiger Bluthund. Fouché sah ihn an und weidete sich einen Augenblick, schien's, an dieser mächtigen Muskulatur:
»Was ist denn los, Soufflard?«
Gleich Bonaparte hatte auch Fouché ein stupendes Gesichts- und Namensgedächtnis. Er erkannte sofort einen jeden seiner untersten Unterbeamten wieder.
»Bürger-Minister, Braconneau ist vergangene Nacht ermordet worden.«
»Drüben bei Baugirard.«
»Wie?«
»Kugel in der Brust.«
»Von wem?«
»Weiß man nicht. Er war ganz allein losgezogen und hatte nur die Order zurückgelassen: Überwachung von Nummer 35 Rue du Dragon und aller Personen, die aus und ein gehen.«
»Ist er tot?«
»Nicht ganz. Aber so schlimm wie tot. Immer noch nicht wieder bei Bewußtsein.«
»Wo liegt er?«
»In der Pitié . . .«
»Ist jemand bei ihm?«
»Clément.«
»Gut. Daß mir ständig jemand bei ihm bleibt und ich sofort benachrichtigt werde, wenn er das Bewußtsein wiedererlangt und wenn er sich auch nur durch Zeichen verständlich machen kann! Ich komme dann selber hin. Wer hat ihn aufgefunden?«
»Leute aus Montrouge sind zu mir gekommen, und ich bin mit Clément sofort hin.«
»Von euern Späherposten weg – wie?«
»Ja, das . . . das . . . das ist schon richtig, Bürger-Minister.«
»Du hättest allein hingehen sollen und Clément in der Rue du Dragon lassen! Hat Braconneau euch denn nicht erklärt, zu was er euch hinstellte?«
»Doch, Bürger-Minister . . . Er vermutete einen Komplizen von Georges, einen gewissen de Saint-Régeant bei einer Modistin dort im Haus versteckt.«
»›Vermutete‹ nur?«
»Ja, bei Braconneau war freilich Vermuten und Gewißheit immer eins.«
»Und wenn er nun draufgeht, verlier' ich einen meiner besten Agenten.«
»Vielleicht, daß ihn Saint-Régeant selber derart angeschossen hat! Als Braconneau von uns wegging, verfolgte er sicher den gottverfluchten Royalisten!«
»Aber irgendeinen näheren Anhaltspunkt hast du nicht dafür?«
»Nein, Bürger-Minister.«
»Na, dann laßt das Haus in der Rue du Dragon ruhig sein – bis auf weitere Befehle.«
»Gut, Bürger-Minister.«
»Marsch!«
Fouché hatte aus dem Bericht Soufflards die Überzeugung gewonnen, daß Braconneau, der in die geistigen Fähigkeiten seiner Untergebenen wenig Vertrauen setzte, ihnen von der Spur, die er verfolgte, so gut wie gar nichts mitgeteilt hatte. Allem Anschein nach handelte es sich um ein royalistisches Komplott. Aber wie sollte man sich in dieser höchst dunkeln Geschichte auskennen, wenn der, der einzig Licht in die Sache bringen konnte, stumm und ohne Bewußtsein lag? So dachte sich Fouché folgendermaßen: Da Dubois – der Ochse! – doch sicher wieder glaubt, die Jakobiner seien diejenigen welche . . . können wir ruhig zusehen, was der mit seinen Leuten groß herausbringt, wenn schon die meinen mal in Verlegenheit sind. Und wenn Saint-Régeant, nachdem er sich den Braconneau vom Halse geschafft, sich wirklich weiter auf 35 Rue du Dragon verbirgt, wird er dadurch, daß ich die Wachen zurückziehe, höchstens sorgloser und begeht am Ende gar eine Unvorsichtigkeit . . . und dann hab' ich ihn erst recht, wie und wann ich nur immer will.
Indem so die beiden Polizeigewaltigen Dubois und Fouché – dem Steckenpferd Bonapartes zuliebe, das nun einmal die Jakobiner waren – wieder einmal einander, wenn nicht gerade entgegenarbeiteten, so doch zumindest im Stich ließen, ließen sie Saint-Régeant machen was er wollte – in einem Augenblick, wo sie ihm doppelt und dreifach auf die Finger sehen sollten. Und Fouché, der gewiß allen Grund hatte, sich von dem fortgesetzten Verdacht zu reinigen, als verriete er seinen Herrn und konspirierte mit dessen Widersachern, hatte Bonaparte noch nie einer größeren Gefahr preisgegeben als in diesen Tagen des 1. und 2. Nivôse. Denn das Unternehmen Saint-Régeants und Limoëlans war doch nur solange äußerst schwierig, als Braconneau und seine Agenten das Haus der Virginie Grandeau besetzt hielten; sobald aber Fouché die Späherposten zurückzog, mußte es den beiden, zusammen mit Carbon, ein wahres Kinderspiel sein.
Saint-Régeant war um Mitternacht nach Paris zurückgekommen und schlich sich mit aller nur möglichen Vorsicht nach der Rue du Dragon. Von der Ecke der Rue de la Huchette spähte er nach den Zugängen von Nummer 35 und nur zu deutlich gewahrte er vor dem Hause des Weinhändlers den herkulischen Schatten Soufflards. Saint-Régeant überlegte: Geh' ich nun heim und warte zu Hause die Wirkung ab, die Neufmoulins Verschwinden doch sicher auslöst – oder warte ich nicht am Ende lieber, bis durch das Bekanntwerden des Todes des Spions der ganze Wachdienst hier in die Binsen geht?? Aber wo die Nacht zubringen? Aber selbstverständlich doch im »Roten Löwen«, wo mich längst kein Mensch mehr sucht! – Und er ging über die Seine, nach der Rue de l'Arbre-Sec, weckte den Wirt und ließ sich in das kleine Hinterzimmer führen, wo die Royalistenversammlungen stattgefunden hatten. Dort machte er sich's in einem Lehnstuhl bequem und schlief sehr bald den Schlaf des Gerechten.
Braconneau war in der Tat so aufgefunden worden, wie Soufflard berichtete. Feldarbeiter sahen einen Mann in einer großen Blutlache liegen; liefen zur nächsten Polizeistation an der »Barrière«, holten eine Tragbahre und schafften den Toten, der nach in seiner Tasche gefundenen Papieren als Polizeiagent agnosziert wurde, dorthin. Sofort ging ein Expreßbote an den Minister ab; wie's das Unglück aber haben wollte, stieß der Bote just auf Clément, der wieder nichts Eiligeres zu tun hatte, als zu Soufflard zu laufen; die beiden rannten dann gen Baugirard hinaus, wo sie ihren Vorgesetzten bewußtlos, aber noch am Leben vorfanden. – So spielte der Zufall bald zugunsten der einen und bald wieder zugunsten der andern Partei.
Saint-Régeant hätte, um für sich und all seine Komplizen ganz sicher zu gehen, Braconneau eben auch noch die Kugel seiner zweiten Pistole in den Schädel jagen müssen. Aber dazu war Saint-Régeant viel zu viel Soldat. Er hatte den Mann blessiert, damit gut. Gnadenstoß oder Fangschuß gab's bei ihm nicht. Und das war Fehler Nummer eins. – Sodann hatte er Braconneau nicht einmal die Papiere weggenommen, um dadurch doch auf jeden Fall Zeit zu gewinnen: Fehler Nummer zwei. – Freilich sollten all diese Unterlassungssünden sich nicht im mindesten rächen, indem Fouché seine Wachen aus der Rue du Dragon zurückzog und Saint-Régeant auch sonst für eine Weile durchaus unbehelligt lassen wollte. »Falle halber«, wie der schlaue Fouché meinte. Aber in welche fürchterliche Falle geriet dadurch andererseits wieder die Regierung!
Als Saint-Régeant den andern Morgen aus dem »Roten Löwen« kam: das Trottoir der Rue du Dragon wegfrei und auch der Zugang zu 35 unbesetzt. Nirgends ein Spitzel. Virginie Grandeau war natürlich schon in großer Sorge um ihn gewesen; er beruhigte sie, verriet ihr aber nichts von allem, was in der vergangenen Nacht geschehen war, frühstückte nur reichlich, warf sich aufs Bett und ruhte sich tüchtig aus. Gegen Abend ging er ins Kloster zur Heimsuchung, erzählte Limoëlan sein Duell mit Braconneau und setzte mit ihm alles noch einmal für den morgigen Tag fest . . . die Gelegenheit böte sich günstiger als je! . . . und also morgen um fünf Uhr am Kai an der Ecke vom »Institut«! Carbon sollte ebenfalls mit, und dann würden sie zu dritt am »Roten Löwen« vorfahren und dort das Faß aufladen, das im Weinkeller stand.
»Die guten Leutchen haben selbstverständlich keine Ahnung, was in dem Faß eigentlich drinnen ist!« lachte Saint-Régeant. »Und ich fürchte, das Zeugs würde ihnen auch gar nicht gut schmecken!«
»Hoffen wir bloß, daß Bonaparte und sein Gefolge genug davon bekommt!« meinte Limoëlan.
»Ich hab' Georges sagen lassen, daß es morgen losgeht. Er erfährt's morgen im selbigen Augenblick, wo ich hier abdrücke. Er hat doch hoffentlich alle Maßnahmen getroffen, um sogleich die ungeheure Verwirrung, die entstehen wird, auszunützen. Unsere Freunde in Lyon, Valence, Marseille und Bordeaux sind ebenfalls benachrichtigt, damit sie sogleich den König proklamieren und sich aller öffentlichen Ämter bemächtigen. Sowie unsere Höllenmaschine platzt, ist das das Zeichen zur Gegenrevolution.«
»Ich wünschte nur, es gäb' in der Nähe Bonapartes so wenig wie möglich unschuldige Opfer, weißt du. Die Eskorte wird kaum davonkommen und die Adjutanten des Konsuls werden mit ihm krepieren müssen. Aber – das ist eben Krieg, und es sind ja auch lauter Soldaten! Nein, also die meine ich nicht. Nur . . . all die harmlosen Straßenpassanten, Neugierigen, Maulaffen, die den Sieger bei den Pyramiden im Galopp vorüberfahren sehen wollen oder die da herumstehen, um Josephine zu begrüßen und von ihr ein gnädiges Lächeln zu erhaschen . . . Nein, also weißt du, die tun mir eigentlich furchtbar leid und da mache ich mir geradezu ein Gewissen daraus . . .«
»Mein lieber Freund,« sprach Saint-Régeant, »da könnt' ich dir aber ausgezeichnete Autoren zitieren: vom Wohl für die Allgemeinheit und vom Wohl des einzelnen und so . . . Aber denke doch bloß einmal an, welch ungeheure Ströme von Blut während des Schreckenssystems vergossen wurden, alles um den Thron zu stürzen – und wie wahrhaft blutwenig wir vergießen, um ihn wieder aufzurichten. Der Zweck heiligt die Mittel. Zum Eierkuchenbacken muß man eben – Eier einschlagen!«
»Bloß daß unter diesen Eiern wohl auch wir 'n bißchen mit mang sein werden . . .«
»Sehr wohl möglich. Ich gebe für meine eigene Haut nicht soviel mehr, sowie ich einmal abgedrückt habe . . .«
Und sie trennten sich, und Saint-Régeant bummelte unangefochten nach Hause nach der Rue du Dragon und legte sich vergnügt aufs Ohr und erwartete alles vom morgigen Tag: zu morgen hatte ihm doch Emilie ihren Besuch versprochen. – Indes, so sehr vorsichtig Saint-Régeant und Limoëlan auch alles angestellt hatten und so sehr niemand außer ihnen beiden etwas von dem Geheimnis wußte – nicht einmal Carbon war richtig eingeweiht worden! –, in der Umgebung des Ersten Konsuls zirkulierten dennoch beunruhigende Gerüchte. Chevalier, der »Erfinder« dieses Fasses Pulver und Nägel, war verhaftet, abgeurteilt und hingerichtet worden, aber die Erfindung war damit nicht aus der Welt, und an eben diesem Tage hieß es mit einmal: für den 3. Nivôse bereitete sich ein Komplott vor – und zwar ausgerechnet in jenem Saal der Opéra. Ja, einige behaupteten geradezu: die Opéra sollte in die Luft gesprengt werden. Josephine kam in höchster Unruhe zu Bonaparte und beschwor ihn, er möchte um Gottes willen den Abend zu Hause bleiben. Und es traf sich, daß der Erste Konsul sowieso von vielen Geschäften sehr ermüdet war, und so ließ er sich gern von seiner Frau bewegen und erklärte am Vormittag, daß die »Schöpfung« wohl auch ohne ihn vor sich gehen könne. Dazu kam noch, daß ihn Haydnsche Musik überhaupt langweilte. Werke, die es von vornherein nicht mit sehr starken psychologischen Entwicklungen zu tun hatten und nicht von sehr tragischen Verwicklungen handelten, ließen ihn einfach kalt. So stand es bei ihm fest: er würde heut abend schön in den Tuilerien bleiben. Er bestellte sich die Generäle Bessisre und Lannes; mit dem ersteren wollte er über Kavallerie-Remonten, mit dem letzteren über neue Armeekorps-Formationen sprechen; und Fouché, den er sich gleichfalls kommen ließ, empfing er in der allerungnädigsten Laune:
»Wieder einmal Ihre Jakobiner! Man spricht von Komplotts . . . Erst gedachten sie mich durch Ceracchi und Arena um die Ecke zu bringen . . . jetzt fangen sie von neuem an . . .«
»General, ich kann es Ihnen beweisen, daß Sie falsch berichtet sind. Spießgesellen von Georges rühren sich mal wieder . . . es ist gewiß wahr . . . und sie haben mir soeben einen meiner besten Agenten erschossen, der ihnen auf der Spur war . . . Aber bis heute abend hab' ich sie ausfindig gemacht, und dann sollen sie mir nicht länger mehr entgehen . . .«
»Ich sage Ihnen aber, daß es die Terroristen sind, die mich wieder einmal bedrohen . . . Sie natürlich verteidigen sie! es sind ja auch ehemalige Freunde und Kollegen von Ihnen! und am Ende fürchten Sie sie gar! . . .«
Fouché verzog das Gesicht zu einem Grinsen, kniff die trüben, glanzlosen Augen zu und sprach dumpf und matt:
»Ich habe keine Freunde unter denen, General, die die Sicherheit des Staates bedrohen. Ich fürchte auch nichts – außer Ihnen zu mißfallen . . .«
Bonaparte entließ seinen Polizeiminister mit einem Neigen des Kopfes. Aber er hatte die Rechnung ohne seine Schwester Caroline und Hortense Beauharnais gemacht. Die beiden kamen am Nachmittag an und machten ihm schlechtweg Vorwürfe darüber, daß er die Soiree in der Opéra abgesagt hatte, Hortense, die sehr musikalisch war, schnitt ihrem Herrn Stiefvater fürchterliche Gesichter, daß er das reizende Töchterchen seiner Frau am Ohr zupfte:
»Nun also, was soll denn das heißen? So traurig seid ihr darüber, daß ihr dies traurige Oratorium nicht hören sollt? Wenn ich euch beiden aber sage, daß es recht, recht langweilig sein wird –«
»General, Sie können ja vor Schluß weggehen und mich mit Mama und Madame Murat noch in der Loge lassen! Bitte, bitte, bitte –«
»Gut, gut! Wollen mal sehen! Ich kann nur jetzt noch nichts Bestimmtes sagen . . . später . . . gegen Abend . . .«
»Aber nein sagen werden Sie auf keinen Fall? Nein? . . . Nein? . . . Gott sei Dank!«
Saint-Régeant erwartete mit fiebrischer Ungeduld – Emilie. Er hatte fast die ganze Nacht ernstlich nachgedacht, und er wußte, es ging in den Tod mit ihm. Nur ein Wunder konnte ihn retten. Um so sehnlicher verlangte es ihn nach dem Preis der einen Liebesstunde, die ihm Emilie versprochen hatte – und von der er wußte, daß sie die einzige bleiben würde. Da endlich – endlich ging die Geheimtür, daß ihm das Herz schier dröhnte in der Brust. Ein Schatten glitt herein, ein Rauschen von Seide, ein köstliches Parfüm . . . die Tür schloß sich wieder, und die beiden Liebenden stürzten einander in die Arme. Und blieben so, eine lange Weile so, wortlos vor Glück, daß sie sich hielten, stumm vor Seligkeit der Erregung. Emiliens Hände flatterten wie weiße Tauben, als sie ihren Hut dann vom Kopfe riß und mitsamt den Handschuhen auf den Tisch warf. Und dann schlang sie ihre Arme neu um seinen Nacken und zerrte ihn gegen das kleine Fenster hin, um ihn besser zu sehen, und ebenso umschlingend fuhr ihr Blick aus ihren blauen Augen, darinnen sich Jubel und Ängste zugleich malten.
»Sprich nicht. Liebste, sag' nichts . . .« Und schon lag sein Mund auf ihrem Mund und sog sich fest, und seine Hände tasteten an ihr herab, und er beugte sich tiefer und tiefer über sie – bis seine Hände mit einemmal zu Fäusten zusammenfuhren und er ihren süßen Leib vom Boden aufschwang und trug . . .
Schier eine Ohnmächtige schwebte sie da . . .
Und nur dies eine Bedauern mischte sich in beider Liebe: daß sie ihr Glück so lang' hinauszögern konnten!
»Himmel . . .! welch ein Wahnsinn . . .!« stammelte Saint-Régeant. »Nachdem du mir längst eingestanden, daß du mich liebst – wolltest du mich ewig nach dir vergehen lassen?«
»Bei Gott – ich hätt' es gemußt – ich hätt' es müssen sollen! . . . Nun ist meine Angst verhundertfacht. Oh – tausendfältig! Gestern hätt' ich dich noch beweinen können – aber von nun an: wie soll ich dich überhaupt noch lassen?«
Da umschlang er sie neu. Und dies kleine schmale Gemach rauschte von Küssen und Liebkosungen. Wie ein schnelles Boot glitt's hin durch die eine bemessene Stunde . . . nur allzu schnell . . . und mit einem Schrei taumelte Emilie auf:
»Gott im Himmel! schon muß ich fort! O Jammer, o Jammer . . . was wird nun morgen sein?«
»Ich bin so glücklich – daß ich wieder hoffe, Emilie! Ich habe das Gefühl, als käm' ich heil aus der Gefahr davon, und als gäb's ein Wiedersehen – morgen, Emilie! Mir ist, als wollt' uns das Schicksal nicht trennen . . . noch nicht . . .«
»O, ich würde ja nicht halb soviel leiden, mein' ich, wenn ich auch nur ein bißchen wüßte, was du vorhast . . . Darfst du mir's nicht sagen –«
»Nein. Ich darf ja nicht. Nur ums Himmels willen bitte ich dich, tu heute abend keinen Schritt mehr vors Haus, sowie's dunkel geworden ist!«
»Aber es wird sicher um fünf Uhr schon dunkel . . . Es fängt jetzt schon an . . . Soll es denn irgendeinen Tumult in Paris geben? Soll es zum Kampf kommen?«
»Bitte, bitte, frag' mich nicht. Nur . . . schließ' dich ein, und was du auch von draußen etwa hörst, trau' dich nicht hinaus!«
»Kann ich dir denn nichts helfen? Du gerätst vielleicht in irgendeine Gefahr, und ich könnte dir irgendwie behilflich sein . . .«
»Daran ist gar nicht zu denken!«
»O doch! Du weißt doch, daß bei uns über unserer Wohnung eine Kammer leer steht . . . dort könnt' ich dich verstecken, zumindest auf einen Tag, und niemand würde was erfahren . . .«
»Niemals, niemals! Du sollst aus dem Spiel bleiben!«
»Aber wenn's etwa doch nötig wäre . . . Mein Gott, ich weiß ja nicht . . . Aber wenn man dir wo einen Fallstrick legen sollte . . .«
»Dann gibt's immer nur das eine: den Tod!«
»Bitte dich – hör' auf! Sprich das Wort nie wieder! Sonst weiß ich nicht mehr, was ich tu'! . . . O Gott, o Gott, was hab' ich überhaupt getan, daß ich nun solche Ängste ausstehen muß!«
»Du hast nicht mehr getan, Liebste, als alle die Unsrigen, die seit zehn Jahren durch den Widerstreit der Parteien gräßlich dahingeopfert worden sind. Dies ganze liebe schöne Land: ein Neid, eine Zwietracht, ein Haß, von Verruchten ausgesät; die tägliche Ernte nur Blut und Tod. Seit der Revolution frißt die eine Hälfte Frankreichs die andere auf, und so sehr wir uns auch wehren, wir drohen leider zu unterliegen. Man hat uns unsere Güter, unsere Namen, unsern Glauben und unsern König genommen, doch so zerschlagen und tödlich verwundet wie wir sind, bäumen wir uns noch einmal aus dem Staub auf und zielen nach unsern Siegern und besonders nach dem einen, dem Haupt unserer Überwinder. Wir sind allzumal blutige Opfer, wir Entrechteten, Hinterbliebenen und Vertriebenen, wenn wir uns den Mord an unserer gerechten Sache gefallen lassen. So stehen wir nun ein letztes Mal auf und kämpfen, und wenn wir dabei fallen sollten, nun, dann sterben wir den Märtyrertod. Es gibt für uns nur noch dies eine: so stark und so aufrecht wie Märtyrer sterben zu wissen, das führt uns zuletzt vielleicht doch noch zum Sieg. Rege dich also nicht darüber auf, daß ich mein Leben einsetze, und weine nicht, wenn ich's wirklich dafür hingeben muß. Nur bewahre dem, der dich geliebt hat, ein zärtliches und treues Angedenken. Und welche Anklage man mir dann auch macht und welches Verbrechens man mich auch bezichtigt, du sollst gewiß sein, daß ich es einzig für Thron und Altar getan habe!«
Bei diesem wahrhaften letzten Willen, der alle Feierlichkeit eines Vermächtnisses hatte, zu dieser letzten Bitte schrie Emilie laut auf, und dicke Tränen rannen über ihre Wangen. Alles an ihm war Stärke, Schönheit und Stolz – und von diesem vergötterten Geliebten sollte sie lassen? Sie drückte ihn immer wieder an sich, und wie um ihn zu schützen vor dem mörderischen Stoß, der ihn treffen sollte, hielten ihre fiebernden Hände vor seinem Herzen Wache. Er wollte sie beruhigen, nahm sie auf die Knie wie ein kleines Kind und küßte sie mit vielen kosenden Küssen, bis sie schier wieder lächelte:
»Daß ich mir aber auch selber so eine Leichenrede halten konnte! Dabei sollst du staunen, wie ich mich schließlich aus aller Verlegenheit ziehe. Ich hab' ja auch hundert Gründe – einer immer noch besser als der andere –, mir mein teures Leben zu erhalten. Erstens will ich doch die Wirkung mit eigenen Augen sehen, die ich ausrichte – und den Effekt in der ganzen Welt genießen. Zweitens kenn' ich da ein entzückendes Persönchen, dem ich lange noch nicht alles gebeichtet habe, was ich so auf dem Herzen habe. Der hab' ich noch eine ganze Masse von hochinteressanten Dingen – aber natürlich unter vier Augen, im strengsten Tête-à-tête – zu berichten. Ich hab' also da noch viel wunderschöne Stunden für mich und für sie in Aussicht. Da wär' ich doch schon deswegen ein großer Esel . . . oder?«
»Ach ja, ja, ja, Liebster, so mußt du sprechen. Mich fein beruhigen mußt du. Mich hoffen lassen, daß ich dich morgen wiederseh', ganz so, wie ich dich jetzt hier habe und halte.«
»Aber warum denn nicht? Willst du morgen . . . um dieselbe Stunde wie heute . . . hierherkommen? Ja?«
Emilie jauchzte vor Freude. Was war das für eine frohe Zuversicht in ihr? Für eine glückliche Stimme, ein heller Laut, der ihr sagte: Saint-Régeant wird leben, und du wirst ihn wiedersehen –? Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und sah strahlend zu ihm empor:
»Ja, Liebster, dir gehör' ich an. Denk' nicht an dich, aber an mich, an mich! und daß, sowie du stirbst, eine . . . bis in den Tod dir nachkommt!«
»Bist du wahnsinnig? Einen Kuß nun noch – und geh'.«
Noch einmal umschlangen sie sich; dann tat sich die geheime Tür auf, und Emilie ging. Halb fünf war's. Saint-Régeant wartete noch eine Weile, bis daß er ganz sicher sein konnte, daß sie fort war; dann holte er seine Arbeitergewandung hervor und legte die an. Dazu einen roten Bart, der seine ganze untere Gesichtshälfte verdeckte, und eine Mütze aus Kaninchenfell, das schrecklich haarte. Seine Pistolen verbarg er unter seiner Weste; sodann verließ er unter all der gebotenen und gewohnten Vorsicht das Haus. Es war schon ziemlich finster. Er ging am Kai entlang, über den Pont-Neuf, vergewisserte sich mehrere Male, daß ihm auch niemand auf den Fersen war, und kam so bis zum »Roten Löwen«. Carbon und Limoëlan waren bereits da. Der zweiräderige Karren mit einem elenden Schimmel davor hielt am Tor vom Gasthof. Carbon schlief auf der Karre auf ein paar leeren Säcken; Limoëlan saß am Rand vom Trottoir und rauchte gemächlich seine Pfeife. Beide natürlich ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit verkleidet. Saint-Régeant rief sogleich mit heiserer Stimme:
»Na, was ist denn das eigentlich? Ihr habt 'n Wein noch gar nicht aufgeladen? Ja, glaubt ihr denn, daß sich der vielleicht von selber auflädt? Nu aber los! Es ist höchste Zeit!«
Limoëlan stieß dem schlafenden Carbon eins in die Seite und schrie:
»He du! paß auf'n Wagen auf! ich geh', die Fässer aus'm Keller holen!«
Da kam jemand von der andern Seite der Straße herüber und drückte sich da am Wagen herum. Saint-Régeant erkannte den athletischen Lümmel auf den ersten Blick: Soufflard war's! – und sprach ihn auch sogleich kühnlich an:
»Ich glaub' immer, wir kriegen noch Regen, Herr Nachbar! Wenn dann mein Wein naß wird, dann sagt mein Meister wieder, ich hätt'n getauft!«
Und brach in ein mächtiges Lachen aus. Der Polizist aber nickte nur ein wenig dazu. Da lief Saint-Régeant Limoëlan ins Haus nach:
»Die Polizei ist uns schon wieder auf dem Halse. Aber bei dem ersten Muckser, den der lange Lulatsch macht, schieß' ich ihn übern Haufen . . . Bloß, wir müssen dann sehen, daß wir geschwind verduften . . .«
»Laß mich nur machen. Besser ist's, wir führen ihn so irgendwie an. Und nur wenn's gar nicht anders gehen sollte, greifen wir zu diesem letzten Mittel. Aber auch das bloß hier herinnen im Haus, damit's so wenig wie möglich Lärm macht. Unsere ganze Sache ist doch glänzend vorbereitet, und es wär' tausendmal schade, wenn's nun wegen so einem einzigen Kerl nichts würde.«
In dem kleinen Keller stand unter lauter Wein- und Schnapsfässern das Faß mit Pulver. Saint-Régeant hatte ohne weiteres einen Wachsstock angezündet und stieß das Pulverfaß nun bis zur Treppe. Mit einer Vierteltonne Wein aber machte er es dann genau so.
»Wozu das?«
»Das wirst du nachher schon sehen. Hilf nur.«
Und so schafften sie erst den Wein und dann das Pulver zusammen über die Treppe herauf. Dann rollte ein jeder allein sein Faß bis heraus auf die Gasse.
»Das hätten wir!« rief Saint-Régeant wieder mit heiserer Stimme. »Aber dafür hätt' ich auch Durst. Wie wär's denn nu mit'm kleinen Tropfen?«
Und er sah Carbon vielsagend dabei an. Daß der erwiderte:
»Dem Faß ist's sicher egal. Aber wart', ich werd' hineingehen und 'n Glas vom Wirt verlangen.«
»Um Gottes willen. Der setzt dich schön an die Luft. Da bohren wir doch lieber 'n Loch und setzen einfach 's Maul an.«
»Auch gut. Aber erst die Fässer auf die Karre gehoben. Hupp!«
Saint-Régeant und Limoëlan luden das Fuß Pulver auf. Carbon wandte sich an Soufflard, der immer noch interessiert dabeistand:
»Du hätt'st die nötigen Pranken dazu. Geh, heb mal 'n bißchen mit an, Kamerad.«
Der wahre Herkules umfaßte die Tonne mit beiden Armen und hob sie wie ein Kind auf die Karre hinters Pulverfaß.
»So!« Und er lachte laut.
»Brav, Freund, dafür suppst du auch einen mit uns.«
Carbon schnitzelte geschickt ein Loch nah dem Spund, hielt die Öffnung so lang' mit dem Daumen zu und ermunterte Soufflard:
»Na also, nu sauf!«
Soufflard ließ sich das nicht nochmal sagen und nahm einen mehr als herzhaften Schluck. Danach kamen Carbon und Limoslan an die Reihe; nur Saint-Régeant trank nicht. Der war wieder ins Haus hineingegangen, um sich den Flintenlauf samt Schloß zu holen, womit die Explosion vor sich gehen sollte, und praktizierte das alles unter sein Gewand. Dann verabschiedete er sich vom Gasthofbesitzer, der schlotterte vor Angst, und beruhigte und tröstete den noch. Derweil hatten Carbon und Limoëlan schier Freundschaft mit dem total ahnungslosen Soufflard geschlossen, – Saint-Régeant hatte wahrlich nicht so unrecht, wenn er sich beim Anblick der vergnügten drei sagte: Wenn statt dieses langen Lulatsch Neufmoulin dastünde, wären wir bereits alle miteinander verhaftet! Gott sei's getrommelt und gepfiffen, daß ich die giftige Wanze unschädlich gemacht habe! . . .
Er trat an Limoëlan heran und patschte dem kräftig auf die Schulter:
»Habt ihr nu wieder fein zugespundet? Denn ist's richtig! Aber nu los – nach der Bastille!«
»Was? nach der Bastille fahrt ihr?« erkundigte sich Soufflard.
»Ja. Zu einem Möbelhandler aus der Vorstadt Antoine. Der trinkt gern einen vom besten, wie du ja wohl selber geschmeckt hast! Los, los jetzt! Gu'n Ab'nd, Kam'rad! Hüh, Schimmel, zieh' an!«
Und er patschte dem Schinder eins auf die Hinterbacken, und los ging die Fuhre in der Richtung nach der Bastille. Carbon hatte die Zügel, Saint-Régeant und Limoëlan stapften nebenher, Soufflard sah ihnen wohl eine Weile nach und pflanzte sich aber dann wieder doppelt eifrig auf seinem Posten vorm »Roten Löwen« auf. An der Ecke der Rue de l'Arbre-Sec bog die Karre nach links statt nach rechts ein – und geradeaus auf das Palais-Royal zu. Aber es war schon zu finster und die Straßenbeleuchtung zu matt, als daß der Polizeispitzel es sehen hätte können – selbst wenn er ihnen wirklich nachgesehen hätte. – –
Der Erste Konsul hatte einen arbeitsreichen Tag mit Cambacérès hinter sich und empfing nun eben für eine Viertelstunde noch den Architekten Visconti, mit dem er den geplanten Ausbau der Tuilerien besprechen wollte. – Da kamen auf ein neues Josephine und Hortense, die vor der Dinerstunde noch wissen wollten, was der gnädige Herr über den heutigen Abend nun endlich beschlossen. Bonaparte war vorzüglich gelaunt:
»Ihr wollt also unbedingt dabei sein, und ich soll also tun, was ihr wünscht? Frauen sind doch viel schwieriger zu handhaben wie Männer. So gebt denn Befehl, daß die Wagen vom Großen Dienst parat seien. Ihr fahrt zusammen in einem Wagen und ich mit Lannes und Bessières, die ich hierherbestellt habe, im andern. Die beiden werden sich ungeheuer freuen! Lannes besonders, der nach dem bloßen Schall eher einen Zwölfpfünder von einem Achtpfünder unterscheidet als eine Flöte von einem Fagott. Bessières freilich ist ein Gascogner; der mag gern ein leidenschaftlicher Musikfreund sein. Er ist auch adelig, wohingegen Lannes . . . na, aber Lannes ist nicht umsonst ein Held, er wird es also heldisch zu ertragen wissen . . .«
»Wir werfen uns in großen Staat – natürlich!« meinte Josephine.
»Dich dürft's doch nicht viel kosten, um strahlend schön zu sein!«
So unterstützte die eigene Familie Bonapartes durch Bitten und Betteln noch das Gelingen des Attentats, das die Royalisten vorhatten. – Währenddem war der Wagen mit Saint-Régeant, Carbon und Limoëlan in der Rue Saint-Nicaise angelangt. Die Gelegenheit war von den Komplizen sicher ausbaldowert worden, und es konnte zum wirklichen Gelingen nichts fehlen. Der Weg von den Tuilerien zur Opéra ging über den Place du Carrousel durch die Rue Saint-Nicaise, Rue de Chartres und Rue de la Loi. An der Ecke der Rue de Chartres war eine Nische – wie geschaffen für die Karre. Limoëlan sollte an der Ecke Rue Saint-Nicaise nach dem Place du Carrousel hin stehen und Saint-Régeant das Zeichen geben, seinen Flintenlauf in das Pulverfaß zu praktizieren – in dem Augenblick, wo der Wagen des Ersten Konsuls in die Rue de Chartres einfuhr. Der Wagen mußte auf eine solch kleine Entfernung an der Höllenmaschine vorbei, daß Insassen, Pferde, Eskorte – alles miteinander zu Staub zermalmt werden mußte. Und Saint-Régeant selber ließ ebenfalls dabei sein Leben. Außer wenn ihm eins gelang – welche Chance aber gleichwohl fast Null war –: im entscheidenden Augenblick noch in eine Art Keller zehn Schritt weiter hinter dem Wagen hineinzuflüchten. Das war eine kleine Warenhandlung, und die Tür war ständig offen: wunderbarerweise konnte er vielleicht so dem Tod entgehen. Er hatte diese äußerste Möglichkeit wohl berechnet. Wenn auch nicht aus Feigheit etwa, sondern nur aus Liebe. An sich dachte er dabei nicht. Einzig an Emilie.
Limoëlan war mit ein Paar hastigen Worten in den Plan dieses ganzen Attentats eingeweiht worden, und nun war es ungefähr sieben, und die Straßen fast leer. Der Pariser Bourgeois saß in dieser kalten und schwarzen Dezembernacht lieber wohlgeborgen daheim und wartete am Kaminfeuer das Abendbrot ab. Limoëlan begab sich auf seinen Posten an der Ecke Rue Saint-Nicaise; Carbon paßte auf dem Platz du Carrousel auf. Saint-Régeant warf seinem Schimmel die paar leeren Säcke als Decke über und brachte allgemach den Flintenlauf richtig am Pulverfaß an. Ein Druck auf die Abzugsstange am Gewehrschloß – und die ganze Kiste ging in die Luft. Mit einer Kaltblütigkeit sondergleichen setzte er sich nun auf einen Prellstein und wartete. Unten im Laden im Keller sang ein Kind . . .
Ein Viertel nach acht hatte es gerade geschlagen, da kam ein Hufeklappern die Rue Saint-Nicaise her: eine Abteilung Kavallerie trabte den Tuilerien zu. Das war die Eskorte. Durch das Pferdegetrappel waren ein paar Neugierige da und dort in den Gassen erschienen; und auch das Kind, das gesungen hatte, das Töchterchen des Kellerladenbesitzers, war herausgelockt worden und lief zum Wagen her. Besah sich den Schimmel voll Interesse und wurde aber dann gleich wieder nach Hause gerufen und trollte sich. Noch eine Viertelstunde verging; da blieben ein paar Passanten stehen und der eine von ihnen erkundigte sich bei Saint-Régeant:
»Fährt nicht der Erste Konsul heute noch aus und ist nicht eben seine Eskorte hier vorübergeritten? Im ›Publiciste‹ stand wenigstens heute morgen, daß Bonaparte nach der Opéra fahren würde . . .«
»Ich weiß nicht« – gab Saint-Régeant zur Auskunft, der alles in der Welt darum gegeben hätte, daß die Straße menschenleer bliebe.
»Von hier aus wird man ihn gut vorbeifahren sehen.«
»Vorn am Platz du Carrousel sieht man ihn noch viel besser.«
»Der Bürger hat recht. Also auf nach dem Platz du Carrousel.«
Saint-Régeant fiel ein Stein vom Herzen. Aber es trieben sich doch da und dort noch Gaffer herum und kamen näher und gingen vorbei. Und nun war auch das kleine Mädchen aus dem Kellerladen wieder da und streichelte den Kopf des Pferdes.
»Geh weg, Kleine!« sagte Saint-Régeant. »Geh bloß von dem Pferd da weg . . . das beißt!«
»Is' ja nich' wahr! Es hat mir soeben die Hand geleckt!« lachte die Kleine.
»Ob du jetzt machst, daß du da wegkommst! Du gehörst nicht hieher!«
»Na, und Sie vielleicht?« versetzte sie schnippisch.
Im selben Augenblick – ein Räderrollen. Und da hob auch Limoëlan den Arm bereits zum Zeichen.
»Wirst du jetzt . . . wirst du . . . wirst –« brüllte Saint-Régeant das Mädchen an. Die Kleine aber stand durch seinen jähen Wutausbruch erst recht wie angewurzelt. Saint-Régeant ging verzweifelt auf sie zu – er wollte sie einfach die Treppe hinunterwerfen. Die Range, mit einem lauten Kreischen: »Mama! Mama!« kneift ihm aus. Da sprengten schon die zwei Vorreiter von der Konsulargarde daher.
»Soll dich der Teufel holen?« murmelte Saint-Régeant. »Hol' dich der Teufel!«
Der Wagen im Galopp heran . . . Saint-Régeant drückt ab . . . und springt in einem Satz die Kellertreppe hinunter. Ein ungeheurer Krach. Das ganze Viertel erbebt. Ein Klirren von zahllosen Fensterscheiben auf das Pflaster. In lauter Rauch und Flammen an zwanzig Gaffer tot oder verletzt. Mörderische Schreie. Zwei Mann von der Eskorte wälzen sich samt ihren Pferden zur Seite des Wagens. Von der Karre, vom Schimmel, den Fässern und dem kleinen Kind – nur noch Fetzen und Klumpen. Und alles zusammen war das Werk einer Sekunde gewesen. Der Wagen des Ersten Konsuls aber war durchaus heil geblieben. Das energische Gesicht des General Lannes sah heraus und überschaute, wenn auch halb noch geblendet, die Situation mit einem Blick, und mit einer Stimme wie auf dem Schlachtfeld kommandierte er dem Kutscher:
»Galopp!«
Der Kutscher hieb auf die Pferde ein, die etwas zerstreute Eskorte schloß sich neu zusammen und dahin ging's.
Bonaparte im Wagen – so seelenruhig wie bei Marengo – sagt:
»Was haben Sie denn, Lannes?«
»General. Man hat mit einer Kanone auf Ihren Wagen geschossen.«
»Nicht möglich! Sonst hätt' ich doch die Kartätsche pfeifen hören müssen!«
»Jedenfalls hat man versucht, Sie zu töten.«
Da spricht Bonaparte:
»Sehen Sie doch, bitte, mal nach, ob meiner Frau nichts passiert ist!«
Bessières beugte sich aus dem Fenster und meldete in ziemlichem Gascogner Dialekt:
»Der Wachen von Madame Bonaparte folcht in aller O'dnung.«
»Dann – alles Weitere, bis wir an der Opéra sind.«
Im Keller – ein paar Sekunden später: Saint-Régeant schaut auf, sieht um sich – wie aus einem Traum. Die ungeheure Erschütterung hatte ihn einfach hingeschmissen und er war hart an der untersten Stufe liegen geblieben. Er richtet sich auf – da! – im rechten Arm ein wahnsinniger Schmerz. Mit geröteten und von Pulverdampf angeschwollenen Augen besieht er den Arm: der halbe Rockärmel überhaupt – fehlt; das Hemd zerrissen; und eine Wunde, daß vom Fleisch schier der Knochen bloßliegt. Das blutet natürlich . . . und wie! Schnell legt er sich aus seinem Sacktuch einen Verband unterm Ellenbogen an. So . . . und sieht wieder um sich. Fenster gibt's keine mehr in dem Laden. Auch kein Möbelstück mehr ganz. Scherben; Splitter. Dem Ladeninhaber ist der Kopf fortgerissen; liegt in einer Lache Bluts, unter Kasserollen, an denen auch nicht mehr viel heil ist. Seine Frau, auf einem Stuhl sitzend, tot. Saint-Régeant rafft sich entsetzt auf und wankt die Stufen hinauf, die ihn allein vor dem sicheren Tod retteten. Da wälzen sich die Unglücklichen auf dem Pflaster und jammern: Hilfe! Hilfe! Polizei eilt herbei; Mannschaften von der Tuileriengarde sind schon an der Arbeit, die Verwundeten aufzuheben. Es kann kaum noch Minuten dauern, und dann ist alles, was noch hier am Ort des Attentats betroffen wird, Gegenstand peinlichster Untersuchung. So stützt Saint-Régeant seinen schmerzenden rechten Arm mit der linken Hand, beißt die Zähne zusammen und wankt die Rue Saint-Nicaise hinunter, und wiewohl er wankt, rennt er doch schier und fühlt sich erst in der Rue Saint-Honoré unter einem Torweg in einiger Sicherheit und lehnt da nun todmatt und überlegt: Was tun?
Was tun? Mit solch schwerer Verwundung und derart großem Blutverlust bis zur Rue du Dragon laufen und bei der guten getreuen Virginie Grandeau Unterkunft suchen? Er fühlt's, er würde auf dem halben Wege liegen bleiben. Um zu sterben? Nicht doch. Die Verwundung ist ja nicht tödlich. Aber um von Vorübergehenden aufgegriffen, zur Polizei gebracht und dort entdeckt und sogleich des ganzen Verbrechens bezichtigt zu werden . . . Das ging also nicht. Einen Wagen nehmen und sich bis zur Rue du Dragon oder mindestens bis zum Kai des Augustins fahren lassen? Ja, aber welche Ausrede dann für den Kutscher, der erst aus Mitleid fragt und dann aus Neugier und es morgen herumerzählt und ihm die Polizei auf den Hals schickt! Das ging also auch nicht . . . Blieb drittens das Haus Lerebourg. Da war natürlich ebenfalls nicht alle und jede Gefahr ausgeschlossen; aber das war doch schon unendlich weniger schwierig. Vor allem: nicht so weit zu laufen. Kaum hundert Schritt von hier. Und dann: der Freundschaft des Gatten sicher; und der Ergebenheit der Frau noch mehr. Für die ersten Tage nur – für die ersten Stunden, dann ließ der Schmerz ja wohl schon wieder nach . . . und dann nach der Bretagne – in völlige Sicherheit. – In all die Überlegungen aber fragte es fortwährend herein: Ist die Tat geglückt – und der Erste Konsul durch den Vulkan, der sich zu seinen Füßen auftat, hin? Vom ganzen Wagen war nicht ein Stäubchen mehr auf dem Platz geblieben und unter toten Pferdeleibern wanden sich und krümmten sich Soldaten. Saint-Régeant hatte ja nicht Zeit gehabt, die Wirkung der Explosion abzuwarten. Lehnte hier todmatt an diesem Torweg und hörte noch immer die fürchterlichen Schreie von allen Seiten und erlebte fortwährend aufs neue den grausigen Anblick: der Platz von Leichen und Verwundeten starrend, und dazwischen immer wieder die fürchterliche Frage: »Ist mir's gelungen? Hab' ich ihn auch wirklich getötet?«
Da hasteten Schritte her und eilten nach Saint-Roch zu vorüber. Gleichfalls Fliehende vom Ort des Attentats? Und der Royalist vernahm:
»Er ist wie durch ein Wunder dem Tod entgangen!«
»Ich sah ihn, wie er an der Opéra ankam. Der ganze Wagen durchlöchert. Bessières' Uniform voller Blut. Aber machen wir weiter . . . jetzt ist's nicht geheuer auf der Straße . . . man verhaftet einen jeden.« Saint-Régeant behielt nur die Worte: man verhaftet einen jeden. Also galt's vor allem, sich in Sicherheit zu bringen. Und er wankte in der Richtung nach der »Blauen Mütze« weiter. Es war etwa neun Uhr. Er klopfte an der Haustür. Der Hausmeister: Zu wem wollen Sie? Er antwortete: Zum Bürger Lerebourg.
Der Hausmeister erkannte ihn übrigens trotz der Dunkelheit:
»Ah! Bürger Leclerc! . . . Gut! Kommen Sie, bitte, herein! Bürger Lerebourg selber ist nicht da. Der ist vorhin fortgerannt, sich erkundigen, was denn eigentlich los ist . . . Aber die Bürgerin Lerebourg ist zu Hause . . . Können Sie vielleicht sagen, was geschehen ist?«
»Ja. Man hat versucht, den Ersten Konsul zu töten.«
»Oh! diese Elenden! Räuber! Aber das waren gewiß wieder die Terroristen! Wenn die doch endlich mit Stumpf und Stiel ausgerottet wären!«
Saint-Régeant aber stützte sich längst die Treppe hinauf nach der Privatwohnung des Kaufmanns. Er läutete an und sogleich wurde die Tür aufgemacht und in der spärlichen Beleuchtung des Vorzimmers stand Emilie. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und hob unwillkürlich die Hände zum Himmel auf – wie zum Dank. Er aber hatte sich auf den nächstbesten Stuhl fallen lassen und war halb ohnmächtig, Emilie schloß die Tür, ergriff ihn am Arm und stieß hastig hervor:
»Ich bin allein hier. Meinen Mann drängte ich, er solle sich erkundigen, was geschehen ist – nur damit ich ihn von hier fortbekam. Ich hatte die geheime Hoffnung, daß du kommst. Aber . . . um Gottes willen! . . . du bist ja voller Blut? Gottes Barmherzigkeit . . . was hast du getan? Der fürchterliche Donner, all das Laufen, das Schreien . . . daran hast du Schuld? Und bist selber beinah darin umgekommen? Du kannst nicht hier bleiben . . . Komm in den zweiten Stock . . . es ist kein Mensch oben . . . Unserm Burschen vom Magazin habe ich bis morgen mittag freigegeben . . . Aber . . . sieh mich nicht so an . . . als ob du sterben würdest . . .«
Da wurde Saint-Régeant vollends ohnmächtig. Sie war um ihn und koste ihn, bis er wieder zu Bewußtsein kam. Dann stützte sie ihn mit Aufbietung all ihrer Kraft:
»Nur jetzt vor allem in die Kammer hinauf, wo du dich hinlegen kannst . . . Da kommt niemand und sucht dich kein Mensch . . . Da hast du die ganze Nacht, um dich einigermaßen wieder zu erholen . . . Morgen sprechen wir weiter! Ach, Liebster, ich bin ja so froh, daß du einer so großen Gefahr entgangen bist! Aber nun komm – schnell . . . Mein Mann kann jeden Augenblick zurückkommen . . . Und bis dahin mußt du doch schon liegen . . .«
Und sie stützte ihn mit vieler Sorgfalt und Umsicht und geleitete ihn Schritt vor Schritt und lautlos nach der Mansarde hinauf, wo er in Sicherheit war.