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Das Haus Lerebourg – »Zur blauen Mütze«, wie auf dem Schild prangte; »Nouveautés, Federn und Spitzen« – stand in der Rue Saint-Honoré, gar nicht weit von Saint-Roch. Im geräumigen Erdgeschoß der Detailverkauf; im ersten Stock die Konfektionsabteilung mit den Probiersalons. Von Vater auf Sohn waren die Lerebourgs seit Ludwig dem Fünfzehnten Hoflieferanten gewesen und hatten es zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht, das alles zuletzt der jetzige Lerebourg, namens François-Charles, erbte, bei dem einst kein geringerer als der Comte d'Artois Pate gestanden hatte. Dann aber war mit einemmal die Revolution gekommen, und das waren auch für Lerebourg schwere Zeiten gewesen. Sein stark angezweifelter Bürgersinn hatte immer erheblichere Proben seiner Echtheit an den Tag legen müssen; ob das nun Nationalspende, Zwangsanleihe oder sonstwie heißen mochte, waren's jedenfalls Erpressungen gewesen, die nicht gerade um einen Pappenstiel gingen; immerhin aber behielt der Chef des Hauses auf die Art Leib und Leben und Licht und Luft, obschon er als ziemlich Moderierter im Grunde doch brennend verdächtig war. Um sich einigermaßen lieb Kind zu machen, hatte Lerebourg die sämtlichen Musselinkrawatten für den Herrn Collot d'Herbois und alle Pikeewesten für Tallien geliefert, und diese Jakobiner waren denn auch keine Unmenschen gewesen und hatten ihn freiwillig vor der Guillotine bewahrt . . . aber ganz besonderen Spaß hatte ihm dieses Regime nicht bereitet. Erst als das Direktorium eingesetzt wurde und unter dem Einfluß der Stutzer – der »Bisamdufter«! – die Eleganz wiederaufkam, da war auch Lerebourg so recht von Herzen wieder dabei. Barras, ja, das war so sein Mann; seine größten Hoffnungen aber setzte er natürlich auf Bonaparte. Die Wiederaufnahme der Staatsgeschäfte, der Ruhm des kriegerischen Heeres, die Restauration der Kirche, das befestigte das Vertrauen der Pariser Bourgeoisie wie seit vielen Jahren nicht mehr; die Lumpen der Sanskulotten machten der Seide und den Spitzen der Inkroyables Platz, und überhaupt – man konnte sich doch einigermaßen wieder anständig und fesch anziehen, ohne daß es einem gleich den Kopf kostete! . . .
Der Luxus setzte neue Triebe an; es war wie ein Auferstehen im Lerebourgschen Laden; in den Schaufenstern lockte frisches Blühen, und die üppigsten Modephantasien konnten ungestraft wuchern. Madame Lerebourg stellte zehn Demoiselles und fünf Kommis ein; das summte und schwirrte recht bald wie in einem Bienenkorb – und die schöne Frau thronte oben im ersten Stock wie eine kleine Königin. Das Warenhaus an der Rue Saint-Honoré wurde, was es unterm ancien régime gewesen war: der Treffpunkt aller Eleganz der neuen Gesellschaftskreise. Freilich, es war ja bei weitem nicht mehr die frühere illustre Gesellschaft, aber das Geschäft ging; und wenn der Adel im Ausland schmachtete, so mußte man sich eben mit der Bourgeoisie und der Beamtenschaft begnügen. – Madame Lerebourg galt, obgleich sie reichlich zwanzig Jahre jünger als ihr Gatte war, dennoch für eine anständige Frau. Da mochten die jungen und glänzenden Offiziere der italienischen Armee säbelrasseln und sporenklirren, sie war stets allerliebst, geistreich und suchte zu gefallen – aber sie war nie kokett. Das Vertrauen, das Herr Lerebourg in sie setzte, war ebenso unbegrenzt, als in den Augen aller Welt durchaus gerechtfertigt.
So fand der Modewarenhändler auch nichts dabei, wenn er etwa Saint-Régeant zu sich einlud, als man dann endlich, obschon nicht ohne noch manche Gefahr, so doch ohne jeden weiteren Unfall, glücklich in Paris angelangt war. Lerebourg hatte überhaupt eine besondere Zuneigung zu dem jungen Manne gefaßt, der nichts von jener kalten, abwehrenden, ja beleidigenden Vornehmheit Hydes an sich hatte, sondern recht eigentlich der Anstand und die Nettigkeit selber war. Ein reizender junger Herr! – Der Kaufmann ließ sich's vor seiner Haustür in der Rue Saint-Honoré von seinem jungen Freunde noch einmal fest versprechen, ihn schon morgen zu besuchen. – Hyde und Saint-Régeant stiegen in der Rue de l'Arbre-Sec im »Roten Löwen« ab, einem bescheidenen Gasthof, dessen Besitzer durch und durch royalistisch gesinnt war, und wo auch Georges wohnte, der bereits den Abend zuvor – ohne jede Behelligung auf seinem ganzen Weg hierher – angekommen war. Im übrigen war der Chef der Chouans rein nicht wiederzuerkennen. In seinem ausgesprochenen Stutzerhabit, mit Löckchen à la Hundsohren und mit einer mächtigen Musselinhalsbinde. Er hatte auch seit dem frühen Morgen schon halb Paris abgeklappert und sich bei den verschiedenen Freunden angesagt. Ganz besonders aber riet er dann Saint-Régeant, den Verkehr mit dem Modewarenhändler zu pflegen und – sich vielleicht ein wenig an die gnädige Frau das Hauses heranzumachen. Die gute Dame sei mit ein paar Brocken sicherlich leicht zu angeln – und man könne nie wissen, wie sehr so 'ne Modistin mit einemmal der ganzen Parteisache zustatten käme.
»Wenn er will, kaufen wir diesem famosen Herrn Lerebourg den halben Laden ab. Indische Stoffe, Kaschmirs, Manchesterbaumwolle, irländisches Linnen – ganz egal was. Schmuggeln? Schmuggeln können wir ja Gott sei Dank; ich dächte, das hätten wir bewiesen. Eventuell schlagen wir's sogar mit einem Gewinnchen wieder los. Übrigens haben wir's ja dazu! Hauptsache ist, daß Sie sich mit dem Biedermann gut stellen. Für alle Fälle!«
»An mir soll's nicht liegen,« sprach Saint-Régeant. »Wollen mal sehen . . .«
Und er ging den andern Tag, mit dem Spazierstock unterm Arm, nach der Rue Saint-Honoré. Übern Place du Palais-Royal und an Saint-Roch vorüber, wo er seit jenem Schreckenstag nicht mehr gewesen war, an dem er und seine Freunde aus dem Klub de Clichy von zwei Geschützen des Herrn General Bonaparte mit Kartätschenfeuer beehrt worden waren. – Vor einem alten zweistöckigen Haus »Zur blauen Mütze« sodann blieb er stehen. Noch kein ganzes Jahr war's her, daß die jakobinische »rote Mütze« von dem Schild da oben heruntergekratzt wurde . . . na, und wie lange vielleicht noch, und man las schlicht »Zur weißen Mütze« . . .? – Eine Türglocke schlug an, und ein Ladenmädchen kam ihm entgegen:
»Sie wünschen, Bürger?«
»Zu Herrn Lerebourg.«
»Im ersten Stock, Bürger. Gleich die Treppe da vor Ihnen hinauf.«
Ein Dutzend Stufen über einen grünen Sergeläufer hinan, und Saint-Régeant befand sich in den Probiersalons. Da gewahrte er auch schon seinen Reisekameraden in einer wichtigen Unterhaltung mit zwei Damen, die Bänder und Blumen aussuchten.
»Ah!« Und Lerebourg entschuldigte sich »für einen Moment nur« bei seinen beiden Kundinnen:
»Bitte, nehmen Sie ein Augenblickchen Platz. Ich stehe sofort zu Ihrer Verfügung. Nur noch die beiden Damen . . .«
»Aber – bitte – beeilen Sie sich nicht im mindesten. Ich habe Zeit . . .«
Die eine der Damen, eine junge, hübsche Blondine, hatte bereits ihr Lorgnon auf den schönen Jüngling gerichtet und betrachtete ihn neugierig. Saint-Régeant aber setzte sich auf einen Hocker und sah sich derweil im Magazin um. Das war durchaus der ernsthafte großartige Rahmen, wie er ihn sich für Herrn Lerebourg gedacht hatte. Auf den von langjährigem Gebrauch geschwärzten eichenen Tischen und Ladentresen eine reiche Auswahl feinster Ware; die Sessel für die Kundschaft im Stil Louis des Sechzehnten und mit Utrechter Samt bezogen; und von der Decke herab ein bronzener Lüster. Kein Prunk und kein Protzentum; wohl aber Gediegenheit und Komfort.
»Ja also, Herr Lerebourg –« sprach da die jüngere der beiden Damen und stand auf; »nicht wahr – Sie schicken das alles zur Auswahl? Der General wird ja bestimmt nichts dagegen haben; aber er muß es doch wenigstens sehen . . .«
»O, er weiß ja, was Eleganz betrifft, ebenso Bescheid als er in militärischen Dingen kompetent ist . . .« versicherte der Kaufmann lächelnd und bemühte sich artig um die Damen; brachte sie höflich bis zur Treppe und empfahl sich wiederholt. – Dann eilte er freudig auf Saint-Régeant zu:
»Mein lieber, junger Freund! Seien Sie mir nicht böse, aber ich mußte wirklich erst die beiden Damen noch bedienen! – Die jüngere war Madame Murat – die Schwester vom Ersten Konsul . . . die andere ist Madame Junot . . .«
»Sehr hübsch – diese Madame Murat!« meinte Saint-Régeant.
»Ja – aber Madame Junot hat dafür unendlich viel Geist! . . . Tja – heutzutage sind nun das die Prinzessinnen! . . . Aber sagen Sie – wie geht's Ihnen denn?«
»Ausgezeichnet. Mein Kollege ist in Geschäften schon wieder aufs Land – und ich hab' mein Versprechen eingelöst und bin nun hier bei Ihnen . . .«
»Und bleiben zu Tisch bei mir! Meine Frau wird entzückt sein Ihre Bekanntschaft zu machen . . . Sie weiß natürlich schon, wie riesig Sie sich meiner angenommen haben . . . na, und die Frauen sind überhaupt einzig, kann ich Ihnen sagen! Köstlich! . . . Stellen Sie sich vor, daß sie – seit sie weiß, wie wir gereist sind – absolut davon überzeugt ist, daß wir dabei unter besonderem Schutz standen! Ja, sie ist sogar so ziemlich der Meinung, daß Sie ein ganz wer anderer wären als Sie sagen.«
»O! besser kann ich mir's gar nicht wünschen!« sagte Saint-Régeant und lachte. »Denn dabei gewinn ich doch nur!«
»Wirklich? Sehen Sie – mir dürfen Sie sich durchaus anvertrauen. Haben Sie schlechte Geschäfte gemacht – oder – hapert's vielleicht sonst im Geldbeutel?«
»Nein, mir geht's soweit ganz gut. Wahrhaftig! Aber der Geschäftsgang ist freilich ein recht elender. Und ich sage Ihnen frei, daß ich, wenn ich in Paris Glück hätte, gern auf die Reiserei verzichten würde, die nicht immer völlig harmlos ist, wie Sie sich ja selber überzeugen konnten.«
»Ja, aber so was können wir Ihnen doch wohl besorgen, mein' ich . . . Wo waren Sie denn bis jetzt in Kondition?«
»Für Lyoner Häuser . . . in Seide und Samt. Aber – Sie müssen es doch selber wissen – die Industrie ist durch die Revolution ruiniert. Und dann bereitet sich da ein großer Umschwung vor. Ein gewisser Jacquart hat einen mechanischen Webstuhl erfunden, sagt man – – aber die Arbeiter wollten die Maschine demolieren, weil sie ihren Untergang bedeutete, wie sie behaupten . . . Alles in allem ist in meiner Branche die Zukunft herzlich ungewiß . . .«
»Sie sind doch ein flotter Verkäufer?«
»Gott – ja – ich bin bei meinem ›Alten‹ sehr gut angeschrieben –«
»Na, dann lassen Sie mich nur machen . . . Aber da ist meine Frau!«
Durch eine Tür im Hintergrund und einen grünen Vorhang war Madame Lerebourg eingetreten – und Saint-Régeant stand wie gebannt von der berückenden Erscheinung. Eine Frau von fünfundzwanzig Jahren; von einer unendlichen Wohlgestalt der Glieder; von einem unsagbaren Reiz. Ihre süße Schlankheit mochte sie wohl größer erscheinen lassen als sie war. Das Gesichtchen war ein wenig blaß; die Züge voll Adel und Leben; blaue Augen wie ein Licht darübergebreitet – und eine Krone von kastanienbraunem Haar. Ihr Mund lächelte lieblich, und ihre Zähne waren sehr weiß. – So trat Emilie auf ihren Gemahl zu, der ihr den Besuch alsdann vorstellte:
»Also, liebe Emilie, das ist der Herr Victor Leclerc, Seidenwarenreisender, von dem ich dir bereits erzählt habe – mein Lebensretter mit einem Wort!«
»Aber das ist denn doch ein bißchen allzuviel gesagt, verehrter Herr Lerebourg,« wehrte Saint-Régeant ab. »Es war mir jedenfalls ein Vergnügen, in Ihrer werten Gesellschaft zu reisen . . .«
»Seien Sie bedankt für die treue Hilfe, die Sie meinem Gatten haben angedeihen lassen . . .« sprach die junge Frau.
»Herr Leclerc ist zu Tisch bei uns, meine Liebe – und außerdem wollen wir es uns sehr angelegen sein lassen, ihm einen neuen Posten zu verschaffen . . . Er findet, wie so viele junge Leute seines Alters, daß das Leben eigentlich recht schwierig sei . . .«
Madame Lerebourg sah Saint-Régeant mit einem forschenden Blick an; dann sagte sie:
»Ist es nicht erstaunlich, daß der Herr nicht bei der Armee ist? Wie sind Sie bloß bei der Aushebung davongekommen?«
»Das macht – ich war im Ausland, Madame,« und Saint-Régeant errötete schier ein wenig. »Ich wär' vielleicht sonst schon Offizier –«
»Oder mausetot!« warf Lerebourg dazwischen. »Bei jenen Hekatomben drüben in Deutschland oder Italien. – Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Zweiunddreißig.«
»Also müssen wir Sie endlich wo unterbringen. Dafür lassen Sie mich nur sorgen . . . Übrigens kommt ja der Handel wieder in Schwung, die Kundschaft bekommt wieder Zutrauen, kurz und gut: Sie können Geld machen!«
Die junge Frau kam all den Ermutigungen und Versprechungen ihres Gatten an die Adresse des Pseudo-Leclerc mit keinem Wörtchen zu Hilfe. Auch sah sie Saint-Régeant mit keinem Blick mehr an. Und man hätte leicht denken können, daß sie die offenherzigen Anerbietungen des guten Lerebourg keineswegs billigte.
»Was ist übrigens aus Ihrem Freund geworden?« erkundigte sich der Kaufmann weiter. »Den hätten wir doch ebenfalls gern mal bei uns gesehen. Hat der eine Portion Kaltblütigkeit! Der Mann steht sicher nicht auf dem Platz, den er verdiente!«
»Der geht nach dem Süden; erst einmal nach der Charente. Immer hübsch in Branntwein. Übrigens haben Sie vollkommen recht: er stammt aus einer Familie, die durch die Revolution aufgerieben wurde . . . Aber er wird seinen Weg schon machen . . . Um den ist mir nicht bange!«
»Desto besser! . . . Na, und Sie – haben Sie keine lieben Angehörigen mehr?«
»Nur noch Entferntverwandte . . . in der Bretagne, . . . die ich gar nicht kenne . . .«
»Und wo wohnen Sie augenblicklich in Paris?«
»In einem recht mäßigen Gasthof . . . wo's doch ziemlich gesalzen ist . . .«
»Und sind doch zur Zeit grad kein Krösus! . . . Wie wär's, Emilie, wenn wir Herrn Leclerc eine der Stuben im zweiten Stock anbieten würden? Die stehn da leer, und wir gebrauchen sie doch nicht. An Unbekannte vermieten mögen wir nämlich nicht . . . das machte sich doch jetzt wunderschön, das heißt natürlich, wenn der Herr Leclerc vorliebnehmen wollte . . .«
Aber da hielt er inne – ein solcher Schatten glitt über das Gesicht seiner Frau hin –, und er konnte sich nicht helfen und fand das eigentlich merkwürdig. Doch da kam ihm Saint-Régeant noch richtig zuvor:
»Ich wäre untröstlich, wenn ich Ihnen auch nur die geringste Ungelegenheit bereiten würde . . . Außerdem gedenk' ich Paris mit Ende dieser Woche schon wieder zu verlassen, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß ich sobald nicht wieder zurückkomme . . . Also weshalb mich da erst lange einrichten? Ich bin Ihnen für Ihren liebenswürdigen Vorschlag äußerst verbunden, aber Sie sehen, ich kann ihn leider nicht annehmen . . .«
Wie ein leises Aufatmen kam's über die Lippen der jungen Frau. Sie lächelte nun, und sie scherzte fast:
»Ja, sollen wir uns denn wirklich in keiner Weise erkenntlich zeigen können?« Und ihre Scheinheiligkeit stand ihr allerliebst. »Wie traurig – traurig für uns!«
»Ja, und du als Bretagnerin müßtest es eigentlich doppelt bedauern –«
»Madame ist eine Landsmännin von mir?«
»Plémeur ist meiner Frau Geburtsort . . .«
Bei diesem Worte konnte Saint-Régeant seine Überraschung nicht ganz verbergen.
»Da . . . da wohnten Sie ja wohl gar im Schloß de Kermadio . . . bei d'Auray?«
»Während meiner ganzen Kindheit – ja. Mein Vater und meine Mutter sind dort gestorben. Von da schleppten mich die Republikanischen nach Vannes, nachdem sie Kermadio niedergebrannt hatten . . . Ich war siebzehn Jahr alt . . . Ich erinnere mich ganz genau und hab' alle die noch gut im Gedächtnis, die zu meinem Vater kamen und an der royalistischen Bewegung teilnahmen . . .«
Da aber fragte Saint-Régeant nach nichts weiter mehr. Er war mit einemmal sehr ernst geworden. Er schüttelte den Kopf, als ob er dadurch unangenehme und betrübliche Erinnerungen fortscheuchen wollte. Und ließ dann wie absichtlich zerstreut seine Blicke umherwandern: Das waren also die alteichenen und durch den langjährigen Gebrauch geschwärzten Ladentische, und das die vielen Kleiderstoffe in ganzen Stücken, pedantisch aufgeschichtet, und hier wieder welche abgehaspelt und auseinandergebreitet . . . Inzwischen machte sich der ahnungslose Lerebourg daran, in seinem Laden da ein wenig unter den Stoffen aufzuräumen und plauderte dabei auf seine Weise fort:
»Nun sehen Sie, da treffen Sie sich mit Emilie gleich auf gemeinsamem Boden . . . Unter uns gesagt: Madame Lerebourg machte damals mit den übelsten Briganten Bekanntschaft.«
Die schöne Emilie runzelte die Stirn und tauschte mit dem falschen Victor Leclerc einen Blick des Unwillens aus: es war plötzlich eine Art geheimen Einverständnisses zwischen ihnen, ohne daß sie es gewollt hatten . . . Lerebourg aber räumte auf und schwätzte weiter:
»Ich habe ja auch die Adligen heute noch gern – wenn sie bloß nicht so schlechte Zahler wären . . . Ehe Madame de Beauharnais die Gemahlin des Generals Bonaparte wurde, saß sie ziemlich tief in der Kreide bei mir. Heute ja eigentlich noch empfindlich tiefer als damals – aber was riskier' ich heute schon groß? Heute würde ich ihr getrost mein ganzes Lager auf Kredit verkaufen, wenn sie nur wollte . . .«
Da rief jemand von unten über die Treppe herauf:
»Herr Lerebourg – bitte schön! . . . Es ist wegen der Diensthandschuhe für Herrn General Lannes . . .«
»Ist gut! Ich komme! . . . Entschuldigen Sie mich, Bürger Leclerc . . . Ich lasse Sie so lange mit meiner Frau hier . . . Ich bin im Augenblick wieder da!«
Danach wollte der junge Mann Madame Lerebourg just von möglichst gleichgültigen Dingen unterhalten, als diese mit einemmal fragte:
»Herr de Saint-Régeant! Aus welchen Beweggründen verstecken Sie sich hinter einem falschen Namen – und was beabsichtigen Sie hier in Paris?«
Saint-Régeant war nicht wenig erstaunt; aber er lächelte doch und entgegnete ruhig:
»Glauben Sie mir, Madame, daß die Beweggründe, aus denen ich mich verstecken muß, dennoch und durchaus ehrenhafter Natur sind . . . Da ist nichts Verbrecherisches im Spiel, zumindest nichts, was mich verdammenswert und ehrlos machen würde . . . Ich ›verstecke‹ mich nur, weil mein Leben ernstlich bedroht wäre, wenn mich die Polizei aufgriffe!«
»Immer noch diese Chouanerie und Verschwörung?«
»Madame! So lange der König nicht wieder eingesetzt ist, so lange bekämpfen wir seine Widersacher, und die Gefahren, denen wir uns dabei aussetzen, machen all unsere Ehre aus . . . aber ist denn das gnädige Fräulein de Plémeur, seit es Herrn Lerebourg heiratete, jakobinisch geworden?«
»Madame Lerebourg hat ihre Gefühle in keiner Weise geändert, sie ist immer noch Royalistin, und Herrn Lerebourg schaudert es gleichfalls vor aller Revolutionspartei. Im übrigen ist er – ich sage es Ihnen ganz offen, und eigentlich hätt' er es Ihnen bekennen sollen – mit der Konsularregierung durchaus einverstanden. Nach seiner Meinung . . .«
»Ich möchte mich an das halten, was Sie mir über Ihre persönlichen Gefühle gesagt haben . . . Das genügt mir . . .«
»Aber hoffen Sie nicht etwa, daß ich mit Gewalttätigkeiten einverstanden wäre. Falls Sie es auf diese Weise versuchen wollten . . .«
»Wir denken nicht daran. Unsere Absichten sind die friedlichsten von der Welt. Wir wünschen nichts weiter, als daß wir bis vor den Ersten Konsul kommen und eine Aussprache erlangen –«
»Wollen Sie ihn vielleicht für Ihre Sache gewinnen?«
»Vielleicht!«
»Sie sehen einen Monk den Zweiten in ihm?«
»Wir möchten – ihn kennen lernen. Er ist uns doch ganz und gar unbekannt. Was mag er für Absichten hegen, Hoffnungen, Träume? Stachelt ihn nur persönlicher Ehrgeiz an – oder will er Frankreichs Glück? Das, sehen Sie, möchten wir gern aus seinem eigenen Munde hören. Dann erst ziehen wir unsere Konsequenzen.«
»Welche Mittel haben Sie zur Hand, um bis zu ihm zu gelangen?«
»Vorläufig keine noch. Wir sind eigens dazu nach Paris gekommen, um uns an irgendwen aus seiner näheren Umgebung zu machen. Wir wissen, daß der General Bonaparte ebenfalls mit uns rechnet. Wir sind ihm ein Faktor in seiner Aufstellung. Seine Politik schwankt zurzeit zwischen Jakobinern und Royalisten. Er schreibt die Opposition, die man seiner Regierung macht, den Jakobinern zu – Fouché hinwiederum mehr den Royalisten. Eine Aussprache zwischen dem Ersten Konsul und uns schafft da sicher Klarheit – ihm und uns! und führt sogar – wer weiß? – zum allgemeinen Friedensschluß!«
»Möge der Himmel ein Einsehen haben! . . . Übrigens, wenn Sie nur noch Anschluß und Geneigtheit bei irgendwem brauchen, der dem Ersten Konsul nahesteht – vielleicht könnte ich das für Sie machen –«
»Das wär' – Sie könnten uns gar keinen größeren Dienst erweisen!«
»Unter der einen Voraussetzung, daß alles, was Sie mir da erzählt haben, die lauterste Wahrheit –«
»Halten Sie mich für so schlecht, daß ich Ihr Vertrauen irgendwie mißbrauchen könnte?«
Emilie sah ihn an. Seine Augen waren die Ehrlichkeit selber. Gleichwohl nahm sie sich vor, sich die äußerste Zurückhaltung aufzuerlegen und sich ja nichts zu vergeben.
»Ich komme recht häufig mit der eleganten, koketten Madame Bonaparte zusammen; das heißt, ich geh' in den Tuilerien so ziemlich aus und ein. Mich kennen alle Kammerfrauen . . . So wär' mir's denn ein leichtes, meiner schönen Kundin von Ihrem Wunsch nach einer Audienz – oder nennen Sie es Aussprache! – zu erzählen. Ich weiß zwar nicht, ob sie es aus reiner Neigung oder aber aus Berechnung tut – jedenfalls steht fest, daß sie alles begünstigt, was am ancien régime festhalten will. Wie vielen Emigranten hat sie durch Bitten bei ihrem Gatten nicht schon zurückgeholfen, und wenn ich recht berichtet bin, ist sie eifrig dabei, die Religion in Frankreich wiedereinzusetzen. Weniger aus Gottesfurcht – ich halt' sie nur für mittelmäßig fromm –, als aus . . . sagen wir . . . Ordnungssinn . . . Wenn es Ihnen also recht ist, dann kann ich Madame ja bitten, daß sie einer Unterredung zwischen Ihren Freunden und General Bonaparte ein wenig die Wege ebnet . . .«
»Ich muß es jedenfalls zuvor noch meinen Freunden mitteilen. Unbedingt nötig wäre jedoch dieses: von der Umgebung des Ersten Konsuls dürfte keines Menschen Seele über unseren wahren Charakter auch nur etwas ahnen! Wenn Dubois oder Fouché auch nur im entferntesten von unseren Absichten Wind bekommen, sind wir auf der Stelle verhaftet!«
»Gut, gut. Sprechen Sie also mit Ihren Freunden, und wenn Sie einen Entschluß gefaßt haben, dann überlassen Sie das andere nur mir. Aber da kommt mein Mann!«
Und Lerebourg erzählte sogleich frei heraus:
»Der Herr General Lannes befindet sich zurzeit in 'ner kleinen Zwickmühle. Der Sieger von Montebello sieht seine Soldaten gern bißchen in Parade, und so hat er, ohne die vorschriftsmäßige Genehmigung einzuholen, für die gesamte Konsulargarde neue Uniformen bestellt. Nun ist der General Bonaparte außer sich und droht, daß er ihm die Rechnung von seiner Apanage abziehen lassen werde . . . Lannes war eben da und hat um Stundung der von uns gelieferten Borten und Tressen gebeten . . . Aber das wird schon alles wieder ins richtige Geleise kommen . . . Sie sind doch Waffenbrüder – zum Donner nochmal!«
»Ja, aber gegen Masséna beispielsweise soll Bonaparte unerbittlich gewesen sein.«
»Na, der gute Nizzarde hatte aber auch eine etwas allzu grapsige Hand . . . Der hat in Italien damals sein Schäfchen geschoren! Aber der Erste Konsul hat ihn gezwungen, alles wieder zu ersetzen . . . Das siegverhätschelte Kindchen soll geweint darüber haben! Er hält eben sein Geld zusammen!«
»Ja, seit er welches hat; und das ist noch gar nicht so lange her –«
»Die Kerle haben eben rasendes Glück gehabt! Murat – ehemaliger Hausknecht! Augereau – Fechtmeister! Masséna – Schmuggler! Ney – Faßbinder! Na, und Bonaparte selber –«
»Pst! mein lieber Freund!« unterbrach ihn Madame Lerebourg und lächelte. »Das ist ganz was anderes – denn der hat Genie!«
»Also, Herr Leclerc, wenn Sie sich's nicht gründlich mit sämtlichen Frauen verderben wollen, dann reden Sie ja nur keinen Ton gegen Bonaparte! . . . Wie? ist's endlich Zeit zum Essen?«
Ein Mädchen hatte die Tür geöffnet, zu der Madame Lerebourg vorhin hereingekommen war. Der junge Mann bot der schönen Emilie den Arm, und man verfügte sich nach der Privatwohnung des Kaufmanns hinüber. Ein echt französisches Mittagessen, um die liebe gewohnte Zeit. Und dieses ganze Eßzimmer – gleichfalls wie ein kleines Auferstehungswunder. Alles Silberzeug hatte sich neu hervorgewagt, und all die Aufmachung bezeugte Saint-Régeant, daß der wohlhabende Bürger sich endlich wieder zu leben getraute.
»Bitte, Platz zu nehmen, lieber Kollege.« Saint-Régeant sollte zwischen Lerebourg und seiner Gemahlin sitzen. »Hoffentlich haben Sie Ihren gesegneten Appetit wie auf unserer Reise noch. Das Weinchen dürfte sogar etwas besser sein wie in jenen Gasthäusern . . . trinken wir darauf, daß wir so fröhlich beisammen sind! . . . Schade nur, daß Ihr Freund nicht auch dabei ist . . . ein feiner Mann . . . wenn er noch etwas Branntwein wieder mit zurückbringt von seiner Tour, muß er mir ein Fäßchen ablassen . . .«
»Ich werd's ausrichten.«
»Bis dahin wollen wir meinem Burgunder etwas Ehre antun. Ein echter roter Chambertiner. Der gleiche, den auch der Erste Konsul trinkt. Trotz aller Revolution – dies edle Blut ward nicht vergossen – prost!«
Während Saint-Régeant mit diesem braven Bürgersmann dann tafelte, erfuhr er allerlei, das ihm einen Einblick sozusagen in die Volksseele gewährte. Ihn interessierte ja vor allem, wie der Durchschnittspariser dachte; nun konnte er es hören. Dem Hofe zu Hartwell durfte zurzeit an nichts mehr gelegen sein als zu hören, auf welche Meinungen er mit seinen Absichten einer Restauration stieß; hier saß quasi die öffentliche Meinung zu Tisch. Es ging doch im Grunde alles um die Wünsche und Erwartungen der großen Masse: war aus aller Schreckensherrschaft her doch etwas Revolutionäres an ihr haften geblieben oder aber ersehnte sie einen Wechsel im System, der etwa neu zur Monarchie führte? – Saint-Régeant erfuhr es nur zu bald: Bonaparte hieß das große Unterpfand; Bonaparte der Inbegriff der Gewalt und der Autorität; ohne Bonaparte keine Ordnung und kein Frieden.
»Was uns vor allem nottut, lieber Herr Leclerc: Bestand, Bestand und noch einmal Bestand. Was soll mir eine Regierung, die alle Jahr eine andere ist? Ich muß in Sicherheit arbeiten können . . . ohne Sicherheit ist kein Geschäft . . . na, und ohne Geschäft ist überhaupt nichts! Seit zehn Jahren, verehrter Herr, konnten wir nicht einmal mit dem morgigen Tag rechnen. Tag für Tag ein neuer Putsch oder eine andere Katastrophe. Zwangsanleihe, Staatsbankrott, Maximum und wie die schönen Dinge alle heißen. Es wurde einfach alles versucht, um unser armes Land so tief wie möglich zu ruinieren; und man faßt sich richtig an den Kopf, daß ein Leben überhaupt so zäh sein konnte . . . Heut kann man doch einigermaßen wieder aufatmen! Die Ruhe ist neu eingekehrt, und die Verbindungen werden aufgefrischt. Schon zittert man wenigstens für sein Leben nicht mehr, traut sich wieder zu denken und ein Wort zu reden. Man ›empfängt‹ wieder, na, und da kann auch der Luxus nicht länger mehr ausbleiben. Und der Luxus, ja der macht Paris erst zu Paris. Oder wie wollen Sie Seide verkaufen, wenn alle Konfektion ruht? Aus mit dem Sanskulottismus! Man pudert sich wieder, und vorbei ist's mit der roten Mütze! Ei ja, Bürger Leclerc, nun geht's wieder aus einem andern Ton, und alle Tage kommen neue Emigranten zurück!«
»Ja, man erzählt sich, daß Madame Bonaparte dieses letztere mit einem Eifer betreibt, der noch alles mögliche Gute erhoffen läßt –«
»Sicher! Sie hat es eben nicht vergessen, daß sie selber eine ehemalige Vicomtesse de Beauharnais ist! Eine ausgezeichnete Frau!«
»Na, und er, der Erste Konsul – wie ist denn der?«
»Ja – wer kann das wissen? Ein bedeutender Mann! Aber . . . wo hinaus mag er wollen?«
Herr Lerebourg dämpfte seine Stimme:
»Manche sagen, er wäre insgeheim für die Bourbonen und wolle ihnen den Weg ebnen. Er selber würde dann Konnetabel, Fürst . . . und eben genau das, was George Monk wurde, als er dem Sohn des Charles Stuart wieder auf den englischen Thron verhalf . . . Aber wer weiß was Gewisses? Das ist ein gar Schweigsamer und immer in Gedanken! Der weiß wohl, was er will . . . nur er bindet's uns natürlich nicht auf die Nase! – Nun ja . . . er ist der Herr! Warum soll er schließlich nicht auch der Herrscher werden?«
»Er! Der kleine korsische Krautjunker! Der ganze Kerl der reine Zufall! Der Parvenu! Der Glückspilz im wahren Sinn des Wortes!«
»Na, na, na, na! Der Sieger bei den Pyramiden! Der General von Marengo! Der verdankt alles sich selber! Der ist sein eigener Ahnherr!«
»Ihnen wär's recht, wenn er Diktator würde!«
»Aber er braucht's doch gar nicht mehr zu werden, er ist's doch längst! Cambacérès und Lebrun – Statisten! Bonaparte allein zählt! Zwischen ihm und dem Thron steht nichts als sein eigener Wille! Wenn er dennoch verzichten sollte, so ist das das Größte – – das Größte – –«
»Ja, das Klügste, das er machen kann!«
»Wieso? Was riskiert er denn dabei? Ein Schritt, und er ist oben!«
»Oder aber ein Schritt, und es ergeht ihm wie Cäsar!«
»Verflucht nochmal! Meinen Sie, daß die Jakobiner imstande sein sollten –«
Saint-Régeant lächelte:
»Ich brauch' Sie doch nur an den Tag zu erinnern, als der Streich gegen den Rat der Fünfhundert geschah. Da haben die Grenadiere, denk' ich, Arbeit genug gehabt, ihren geliebten General gegen die ungeheuer aufgebrachten Repräsentanten zu schützen.«
»Freilich, freilich – ich vergaß! . . . Aber – und was würden die Royalisten in diesem Fall machen?«
»Sie fragen mich armen Teufel über Politik? Mein Gott, ich hab' doch keinen Schimmer davon. Im geraden Gegenteil. Ich lasse mich die ganze Zeit schon durch Ihre geschätzte Meinung belehren –«
Madame Lerebourg strafte Saint-Régeant mit einem Blick. Die ärgerte sich, daß der junge Mann ihren Gatten zu immer noch größerer Schwatzhaftigkeit verleiten wollte.
»Gott – ja – die Kaufmannschaft hätte schließlich auch nichts dagegen, wenn wir wieder monarchisch würden, aber – Hand aufs Herz – wir glauben im Augenblick nicht recht daran. Dazu ist die Armee zu sehr die uneingeschränkte Herrscherin über Frankreich. Das haben wir am 18. Brumaire gesehen. Wir erringen erstens einmal Sieg auf Sieg und zweitens ist doch alle öffentliche Sicherheit wiederhergestellt. Und wem haben wir dies zu verdanken? Dem Militär, das sich seit zehn Jahren mit ganz Europa herumhaut – und eine Waffentat immer glänzender als die andere. Dieses und dazu die öffentliche Ordnung – ja, mehr können wir doch beim besten Willen nicht verlangen. Wenn Sie nun obenein den bourbonischen Lilien wieder zu Ehren helfen wollen – bitte! bitte!! Aber ohne eine neue Revolution – möchten wir uns schönstens ausgebeten haben! Meine Frau zum Beispiel, die im Grunde ihres Herzens ja immer noch Royalistin ist, wird freudig auf den Handel eingehn. Falls aber andererseits Bonaparte sich wirklich zum Imperator aufschwingt, werde ich gleichfalls nicht die geringsten Sperenzchen machen. Und so wie ich denkt die gesamte Pariser Kaufmannschaft . . . wir brauchen Ruhe, um arbeiten zu können . . . und in diesem Sinne, Bürger, Prösterchen!«
Die Gläser klangen aneinander. Das edle rote Burgunderblut glühte. Der Nachtisch kam.