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Fräulein Virginie Grandeau war eine Bretagnerin und die Tochter des berühmten Chante-en-hiver, des Leutnants de Charette, der als Chouan mit seinem Chef zusammen gefangen genommen und füsiliert worden war. Die Dienste, die dieses edle Mädchen schon der Royalistenpartei geleistet hatte, waren zahllose. Der Comte de Provence hatte ihr in einem Handschreiben gedankt und zu Hyde damals geäußert: »Wenn ich Herzoginnen ernennen könnte wie ich Herzöge ernenne, wär' Fräulein Grandeau die aller – allererste!« Die Polizei wußte ganz genau, daß in Paris ein Geheimagent der Prinzen war, von dem sowohl nach England, wie nach der Vendée und dem Süden geheime unsichtbare Fäden liefen; aber auf Fräulein Grandeau waren all die Herren zusammen niemals gekommen. Das Geheimnis der Modistin in der Rue du Dragon war unendlich wohl verwahrt, und die Personen, die darum wußten, waren absolut sicher. Limoëlan war ein Verwandter von ihr. Daher seine Beziehungen zu den Emigranten. Ohne diese Vetternschaft aber wäre eine so untergeordnete Persönlichkeit wie er kaum zu solcher Verbindung gelangt.
Der stellte sich denn auch am andern Morgen sogleich in der Rue du Dragon ein. Und zwar diesmal dermaßen unkenntlich, daß auch das geübteste Auge nicht durch die Maskerade gedrungen wäre. Ein Saufaus erster Güte; das ganze Gesicht eine Röte und Gedunsenheit; das heulende Elend selber; und immer zwei Straßenecken voran schon nach Alkohol duftend. In einer ehemals rotsamtenen Handtasche ein richtiggehendes Tapezierhandwerk und über der Achsel klappernde Spannrahmen und Leisten. Er wohnte seit zwei Monaten in der Mansarde neben Mathurine und hatte im ganzen Viertel schon mehr als vierzig Matratzen aufgepolstert und alle Stadtklatschen und Gassenjungen kannten ihn unter dem Namen »Vater Julius«. Angeduselt war er stets; dazu grölte er im fürchterlichsten Pikardischen Dialekt! Die Polizei hatte anfänglich wohl ein Auge auf ihn gehabt; dann aber war er selbst ihr zu blödsinnig vorgekommen, und die Agenten Dubois' halfen Vater Juliussen höchstens, wenn er einmal gar nicht mehr um einen Prellstein herumzukommen schien. Er hatte nur einen einzigen Freund: François, den Pförtner des Frauenklosters »Zur Heimsuchung«, Rue Notre-Dame-des-Champs. Dort in der Portierloge verbrachte er jeden Abend ein Stündchen oder zwei – mit der gnädigen Erlaubnis der hohen Oberin Fräulein de Cicé, der er ebenfalls ein paar Matratzen aufgepolstert hatte. Das Kloster zur Heimsuchung, ein Asyl adeliger Frauen und Mädchen, wohin sich beispielsweise auch die Damen de Beaufort, de Goyon und Duquesne zurückgezogen hatten, hielt seine Pforten allen Betschwestern aus der Provinz offen, die sich vorübergehend in Paris aufhielten, und die »Fremdenzimmer« standen niemals leer.
In Wirklichkeit aber waren all die zugereisten frommen Damen in der Rue Notre-Dame-des-Champs ausnahmlos loyalistische Abgesandtinnen, die die geheimen Instruktionen nach allen Provinzen Frankreichs hinaustrugen. Der Pförtner François war kein anderer als der fürchterliche Chouan Jean Carbon, der auf den Friedensschluß von 1796 etwas pfiff und hier in Paris heimlich weiter der royalistischen Sache diente, indem er, mittels Limoëlan, mit Virginie Grandeau und den Parteiführern in ständiger Verbindung blieb. Alle Orders aus England, alle Rapporte aus der Bretagne und dem Süden liefen in diese Zentralstelle Rue Notre-Dame-des-Champs ein, und Vater Julius und François waren sozusagen das »Amt«, das alle Anschlüsse zu vergeben hatte . . .
Denselben Abend, an dem Saint-Régeant nach der Rue du Dragon übergesiedelt war, unterhielten sich Vater Julius und François in der Portierloge vor zwei Gläsern Wein, den sie aber nicht anrührten, im Flüsterton:
»Jetzt geht's los!« wisperte Limoëlan. »Die Sache, weißt du, die Saint-Régeant dem Komitee mit Georges und Hyde damals unterbreitet hat und die das Komitee auch genehmigte, übrigens eine furchtbar einfache Geschichte. Wir brauchen nur 'n zweirädrigen Karren, 'n Roß, 'n Faß Pulver und 'ne alte Flinte. Na, und Pferd und Wagen kannst du uns doch verschaffen, oder?«
»Natürlich. Das hab' ich allemal bei der Hand. Da nehmen wir einfach das Fuhrwerk, das jede Woch' in den Gemüsegarten von unsern Damen nach Chevilly hinausfährt und die Küchengemüse und die Hühner und auch 's Fleisch holt . . .«
»Du bist nicht recht bei Trost!« knurrte Limoëlan. »Und wenn die Karre mitsamt dem Pferd dann erkannt wird, und die Polizei hierher kommt und die Namen vom ganzen Kloster als Komplizen verhaftet? Das könnt' 'n ganzen Haufen Köpfe kosten und überhaupt! warum sollen wir so hochedle Damen in eine so gefährliche Sache verwickeln? . . . Wir müssen eine Karre haben, die kein Mensch kennt, wenn wider Erwarten eine Speiche an ihr ganz bleiben soll, und wenn's nicht anders geht, spielen wir selber Pferdchen. Oder meinst du nicht auch, daß wir zwei den Wagen bis zum bestimmten Platz leicht hinziehn?«
»Nein! das wär' zu gefährlich! Ich kenn' einen Gärtner aus Baugirard, der hat so 'ne Karre und 'n ganz alten Schinder. Den werd' ich fragen, ob er mir sein Fuhrwerk nicht verkauft. Der gibt mir's sicher billig. Dann können wir's abholen von ihm, wann wir wollen; und verraten tut der mich gewiß nicht. Dazu kenn' ich ihn zu gut. Übrigens ist ja auch gar nichts dabei . . . Die ganze Geschichte kost't vielleicht hundert Franken . . .«
»Das Faß Pulver und die Flinte besorgt Saint-Régeant. Die Maschine wird fix und fertig sein, und wir brauchen sie nur aufladen . . .«
»Und wann soll's sein?«
»Wann er meint, daß es glückt! Saint-Régeant baldowert noch aus, aber wir erfahren's schon rechtzeitig!«
Auf die Art wollten die drei Männer dem Heroen zu Leibe, auf den Frankreich all seine Hoffnungen setzte. Und die Polizei, bis auf diejenige Fouchés, die aber ebenfalls die Spur verloren hatte, begünstigte das furchtbare Attentat auch noch! Die Tuilerienpolizei wie die Agenten Dubois' überwachten zu der Zeit – dem Ersten Konsul zu Gefallen – fieberhaft die Jakobiner, die sich mäuschenstill verhielten und keiner Katze etwas taten, und verfaßten ellenlange Rapporte über die Philadelphisten, die sich höchstens in theoretischen Diskussionen ergingen. Der einzige Braconneau suchte eifrig nach dem Faden, der ihm entglitten war; und nachdem er zwei Tage und zwei Nächte den Eingang des Gasthofes zum »Roten Löwen« umsonst belauert hatte, wandte er all sein Augenmerk wieder auf die »Blaue Mütze« und auf jeden Schritt, den Madame Lerebourg tat. Von da führte sicher ein Weg bis zu Saint-Régeant, der wie vom Erdboden verschwunden war. Die beiden Liebenden trafen sich doch unbedingt irgendwo. Und wenn Saint-Régeant zurzeit wirklich verreist sein sollte, sowie er wieder zurückkam, suchte er doch selbstverständlich Emilie auf, oder aber sie – ihn. Es hieß also bloß nicht die Geduld verlieren.
Braconneau installierte sich also in der Rue Saint-Honoré drei Schritt weit von der »Blauen Mütze«, tobte gegen Saint-Régeant und schwor fürchterliche Rache. – Den dritten Tag nach der geheimnisvollen Übersiedelung Saint-Régeants in die Rue du Dragon – gegen vier Uhr nachmittags – betrat eine Frau mit einer runden Hutschachtel am Arm den Laden zur »Blauen Mütze« und fragte nach der Bürgerin Lerebourg, Man sagte ihr, sie möchte nach dem ersten Stock hinaufgehen, und da fand sie richtig die junge Frau in eifriger Arbeit mit dem Gatten – eine Musterkollektion zusammenstellen. Der Kaufmann kam ihr sogleich entgegen:
»Was steht zu Diensten?«
»Ach Gott, Bürger, ich komm' eigentlich ganz zufällig Ihre Frau Gemahlin fragen, ob sie sich nicht einige hübsche Spitzen ansehen möchte . . . Ein Gelegenheitskauf, aber für so eine kleine Handelsfrau, wie ich bin, denn doch zu gepfeffert . . . für ein großes Haus wie das Ihrige natürlich eine Kleinigkeit . . .«
»So lassen Sie mal sehen,« bat Lerebourg, der sich unendlich geschmeichelt fühlte. »Aber – meine sehr verehrte Dame! – das sind ja Meßhemdspitzen, die Sie mir da zeigen . . . Teufel! sind die schön . . . Von einer Altardecke . . . wo haben Sie die bloß her?«
»Ich darf's um Gottes willen nicht verraten . . . Sie können sie für zweitausendvierhundert Franken haben, wenn Sie wollen . . . Aber das ist auch der äußerste Preis, und ich selber verdien' keinen Knopf dabei.«
»Nein? Aber was haben Sie sonst für ein Interesse daran?«
»Ich will den Besitzern dieser Spitzen damit nur einen Gefallen tun, und außerdem möcht' ich etwas billiges Band haben für mein Modegeschäft . . . Denn – nicht wahr? – eine Hand wäscht die andere?«
»Selbstredend!« Lerebourg hatte auf den ersten Blick erkannt, daß die Spitzen das Vierfache der geforderten Summe wert waren. »Ich geh' gleich nach der Kasse und bringe Ihnen das Geld hierher. Denn meine Ladenmädchen brauchen von unserm Handel doch nichts zu wissen . . .«
Er eilte davon und ließ die fremde Dame mit seiner Frau allein. Sogleich zog Virginie Grandeau ein schmal zusammengefaltetes Billett hervor, reichte es der jungen Frau und flüsterte: »Lesen Sie's – aber allein! Es ist von Victor Leclerc.« Madame Lerebourg wurde über und über rot; aber da gab's kein langes Zaudern, denn schon hörte sie ihren Gatten über die Treppe heraufhasten.
»Hier, Bürgerin, das Geld. Was Schriftliches brauchen wir doch wohl nicht? . . . Wenn Sie übrigens wieder einmal derartiges haben, dann, bitte, denken Sie an mich!«
Die Modistin nahm den kleinen Beutel voller Gold und ließ ihn in ihrem Ridikül verschwinden. Sie verneigte sich etwas vor Madame Lerebourg und sprach:
»Nun zeigen Sie mir, bitte, Ihre Neuheiten in Bändern, die ich zum Garnieren brauche . . .«
»Wollen Sie, bitte, mit mir kommen. In die Abteilung für Seide und Band. Ganz recht, die Treppe . . . bitte schön . . .!«
Da war Emilie allein und – wie hätte sie der Lust widerstehen sollen, zu erfahren, was Saint-Régeant trieb, wo er war und – – ob man sich vielleicht sehen konnte. Gleichwohl schalt sie eine Stimme tief innen: Bist du toll? Du begibst dich da in die Gefahren einer Leidenschaft, die dir nicht allein deine Seelenruhe verstört, sondern die auch noch deinen Gatten schwer kompromittieren kann! Nun kann doch kein Zweifel mehr darüber sein: Saint-Régeant – ein Verschwörer! Ist es nicht eine Schickung des Himmels, daß die Polizei dich und ihn getrennt hat? Wenn du nicht freiwillig zu ihm gehst . . . er kann nun wahrhaftig nimmer zu dir! Und du brauchst nur den Brief ungelesen zu zerreißen und die Fetzen in den Kamin werfen . . . und alles ist aus! Du bleibst eine anständige Frau, friedlich, geruhig, ordentlich . . . kein Mensch kann dir was nachsagen . . . und deine Laune für den schönen Chouan war ein Traum. – So diktierte die Vernunft. Zwischen hinein aber klang die Liebe wie ein Lied. Und sie zog das Billett aus der Tasche, entfaltete es und las – und, ach Gott, es waren sowieso nur die wenigen hastigen Zeilen:
»Emilie! wenn du mich liebst und mich wiedersehen willst, komm unter Tag Rue du Dragon 35 zu Madame Virginie Grandeau, Modistin und Überbringerin dieses. Du brauchst keine Angst zu haben und machst nur unbeschreiblich glücklich
Deinen
Victor.«
Und nun nach dem Lesen erst machte sie, was sie, wenn sie gescheit gewesen wäre, schon vorher getan hätte: verbrannte das Papier an einer Kerzenflamme und warf die Asche in den Kamin . . . Und dann sann sie immerfort und träumte bald mit offenen Augen: Also diese Frau, die die Spitzen gebracht hatte, war die Wirtin Saint-Régeants . . . Wie sah sie denn gleich noch aus? . . . In den Vierzigern zumindest und abschreckend häßlich . . . nun also, zum Gefährlichwerden etwa hatte die das Zeug nicht . . . (Und das machte sie Emilie schon sympathisch!) Übrigens nach der Rue du Dragon zu einer Modistin gehen, ist eigentlich die natürlichste Sache von der Welt . . . und was sollte da dran verdächtig sein? Nein wirklich: die Wahl, die Saint-Régeant in bezug auf sein neues Asyl getroffen hatte, war für sie – Emilie – ebenso praktisch wie schlau. Blieb nur noch die eine Frage: Wo und wie man sich sähe! Und Emilie beschloß, gleich morgen nachmittag einmal nachzuschauen und sich ein wenig zu vergewissern. – Seit dem Verschwinden Saint-Régeants war Madame Lerebourg nicht mehr richtig aus gewesen. Ein paarmal nur ein paar Schritt weit, frische Luft schnappen. Bis zur Feuillantiner Terrasse bei den Tuilerien. So daß Braconneau bereits alles zum Teufel gehen sah. – Danach kann man sich den Seufzer der Erleichterung denken, den er ausstieß, als die liebreizende Emilie den andern Tag so gegen drei Uhr in etlichem Staat aus der Ladentür trat.
Sie stolzierte erst in der Richtung nach dem Palais-Royal. Dort aber nahm sie einen Fiaker und fuhr zur Seine hinab. Braconneau mußte Beine machen, damit er den Wagen im Straßengewimmel nicht aus den Augen verlor. In der Nähe der Münze kam er wirklich nicht mehr nach und erst am Quai des Grands-Augustins kriegte er ihn glücklich wieder. Und als Madame Lerebourg an der Rue du Dragon halten ließ – gegenüber der Rue de la Huchette – war der Geheimpolizist tatsächlich am Ende seiner Lungen.
Madame Lerebourg hieß den Kutscher warten und ging in ein Haus, an dem Braconneau beim besten Willen nichts Besonderes finden konnte. Das Modistinnenschild sprach nur zu deutlich, daß dieses ganze atemversetzende Rennen vergebliche Liebesmüh' gewesen war. Höchstens das eine gab zu denken: wieso Madame Lerebourg einen solch weiten Weg zu einer so unbedeutenden Modistin fuhr, die es doch, vermittels ihrer geschäftlichen Verbindungen, zu den allerersten Pariser Häusern viel näher haben konnte. Das war immerhin staatsverdächtig, und er beschloß auf alle Fälle hier zumindest so lange wie der Kutscher auszuharren.
Indem war Emilie eine Treppe hoch gestiegen und hatte an der Tür des Fräuleins Virginie Grandeau die Klingel gezogen. Die alte Mathurine öffnete und führte sie in den Anprobesalon. Bald danach stand sie Virginie ein zweites Mal gegenüber. Nebenan aus dem Atelier klangen die Stimmen der Mamsells herüber, und so rief die Modistin ihre »Erste« herein und befahl ihr, doch schnell mal das Kapotthütchen zu bringen, an das sie gerade letzte Hand anlege. Die angebliche Kundin probierte es auf; die »Erste« mußte noch andere Modelle bringen, und nach Verlauf von reichlich einer Viertelstunde endlich entschied sich Madame für einen kleinen entzückenden Hut. Damit war ihre Anwesenheit genügend legitimiert; die »Erste« kehrte ins Atelier nebenan zurück, und Virginie führte Emilie über den dunkeln Korridor nach der Küche, setzte die verborgenen Scharniere des geheimnisvollen Wandschrankes in Bewegung, sprach: »Aber ich kann Ihnen leider nicht mehr als eine Viertelstunde gewähren. Jede Minute darüber könnte gefährlich sein!«, ließ die junge Frau hineinschlüpfen und schloß hinter ihr die Geheimtür wieder zu.
Die beiden Liebenden waren allein und wie von aller Welt abgetrennt. Aber statt daß Saint-Régeant dadurch kühner geworden wär', war er nur um so zaghafter, scheuer und schämiger. Er nahm Emilie bei der Hand, führte sie zu einem der Stühle und setzte sich dann neben sie.
»Also . . . hier hausen Sie nun?« Das klang so unglücklich . . .
»Ich hab' bereits ganz andere Löcher hinter mir . . . In Morbihan damals; unter der Erde; wie die Kaninchen zusammengepfercht; ohne Heizung, ja oft ohne einen Bissen Essen . . . Das war kein Spaß; aber das ist eben der Krieg, und wenn wir nun bald siegen werden . . .«
»Ja – wenn ihr siegt . . .! Ach, Saint-Régeant, Euer Beginnen scheint mir Wahnsinn! Wie wollen Sie das bloß machen? Sie – mutterseelenallein in dem großen Paris – umzingelt und umstellt! Und – gegen diese Siegernatur, die sich Bonaparte nennt!!«
»Sprechen wir nicht von meinem Schicksal, liebe – liebste Emilie! Vergällen und vergiften wir uns doch die paar Augenblicke, die wir nun beieinander sind, nicht mit dieser scheußlichen und ekelhaften Politik! . . . Du lichter Engel, der den armen Saint-Régeant nicht vergessen hat! Ich bin wirklich mutterseelenallein in dem großen Paris, und wenn du mich nun auch noch aufgegeben hättest, und sei's nur, um deine Ruhe und deinen Frieden wiederzufinden . . . o ja, ich weiß, ich allein bin schuld an deinem tiefen Kummer! Sei mir aber deswegen nicht böse, ich bitte dich, und gönne mir ein Lächeln, ein einziges, in dieser meiner Trostlosigkeit hier . . .«
»Es war sehr unvernünftig von mir, daß ich gekommen bin. Aber ich hätt's nicht ausgehalten, ohne Sie . . . ohne dich zu sehen und wie es dir geht und was du treiben magst. Ach, ich hab' ja keine Gewalt mehr über meinen Willen, so sehr, daß ich nur noch wünsche, was du wünschest, und an nichts weiter mehr denke als an die Gefahren, die dir drohen . . .«
Saint-Régeant drückte zärtlich Emiliens Hand und neigte seinen Mund ganz nah an ihr Ohr und flüsterte:
»Wenn du nur noch wünschest, was ich wünsche, Emilie . . . sei gut, Emilie, sei gut, . . . und laß mir hier eine Erinnerung zurück, die süßeste, die köstlichste von allen . . .«
Aber da wehrte sie sich sogleich und mit erglühendem Gesicht:
»Ich darf doch nur einen Augenblick bei dir bleiben . . . gib dich heut damit zufrieden, daß ich überhaupt kam . . . und dann kann doch auch die Frau jeden Moment hereinkommen und uns überraschen . . . nein, nein, um Gottes willen, Saint-Régeant!«
Er aber hatte sie in seine Arme genommen und verschlang sie schier mit Augen und Atem. Es war ein so wahnsinniges Begehren nach ihr in ihm, die ganze Glut seiner jungen Jahre flammte auf, und sie ergab sich schon bald – da war ein leises Geräusch hinter der geheimen Tür . . . sie entwand sich ihm und beschwor ihn, am ganzen Leibe bebend vor Nachgiebigkeit und Angst zugleich:
»Nein, nein, nicht jetzt . . . ein andermal . . . wenn ich dich bitte . . .«
»Und wenn ich bis dahin aufgegriffen oder tot bin?«
Sie warf sich erneut und mit einem verzweifelten Aufschrei in seine Arme. Da konnte er erst so recht gewiß werden, bis zu welchem Grad sie ihn liebte und was ihr mehr war – sein Glück oder ihre Frauenehre.
»Nun ist mir alles gleich!« – Aber nun galt für Saint-Régeant nur eines: das junge Weib, das er so sehr erschreckt hatte, zu beruhigen:
»Aber, Liebste, du brauchst doch nicht das geringste für mich zu fürchten . . . ich bin doch hier absolut geborgen . . . und komm nur recht bald wieder zu mir, und dann bist du mein . . . ganz mein . . . ja? Ich will ja dein gehorsamer Sklave sein, und du sollst mir nichts schenken, bis du es willst . . .«
Da belohnte sie sein Vernünftigsein mit einem langen Kuß, daß sie beide von neuem blaß und zitternd und . . . unvernünftig zu werden drohten.
»Aber nun sag' mir, Emilie,« riß sich der junge Mann heldenhaft los, »wie du hierher gekommen bist. Hast du was Verdächtiges auf dem Weg bemerkt, oder ist dir wer gefolgt?«
»Wer wohl? Mein Mann – der gute! – hegt nicht den leisesten Argwohn, und ich bin doch hier bei einer Modistin! Der Wagen, mit dem ich herfuhr, wartet unten vor der Tür . . . und damit alles recht plausibel sei, weißt du, hab' ich mir ein wirklich entzückendes Hütchen gekauft, an dem dann nur noch ein paar Kleinigkeiten abzuändern sein werden, so daß ich übermorgen noch einmal hierher muß . . .«
»Übermorgen!« erschauerte Saint-Régeant vor Glück.
»Und da ich dann ein wenig länger bleiben werde, werde ich von vornherein so tun, als ob ich diesmal eben länger Zeit hätte und ich werde zu Fuß hierher bummeln. Für den Fall, daß mir wirklich wer nachspürt! Ich kenn' ja jetzt den Weg . . . und ich finde es überhaupt als das Einfachste von der Welt!«
»Emilie! Süße Emilie! Wie gut du bist und wie du dich für mich aufopferst!«
»Sag' lieber, wie wahnsinnig ich bin – gewiß: wahnsinnig! Aber was wär' das ganze Leben ohne ein Körnchen Tollheit! Trübsinnig, abgeschmackt, nicht wert, daß man es lebt! Also . . . ich verlasse dich für heute . . . und auf baldiges Wiedersehen –«
»Übermorgen!«
Noch ein letzter sehnender Kuß; dann klopfte Saint-Régeant leis an die Geheimtür, Virginie öffnete ebenso leis und geleitete die Geliebte hinaus. Der Kutscher schlief auf seinem Bock; Emilie rief ihn an und befahl ihm, sie nach dem Platz du Palais-Royal zurückzufahren. Mit dem einen Fuß auf dem Trottoir und mit dem andern im schmutzigen Rinnstein stand Braconneau und steckte die Nase in die Höh', als ob ihn das Dach des gegenüberliegenden Hauses wirklich ungemein interessierte; dabei entging ihm natürlich keine Bewegung und keine Silbe von allem, was Madame Lerebourg tat oder sprach. Aber es war nichts Verdächtiges an ihr. Sie hielt einen großen Karton in der Hand und hatte allem Anschein nach nicht mehr verbrochen als das gewöhnlichste und Gewohnheitsverbrechen der Frau: sie war bei einer Modistin gewesen und hatte einen Hut gekauft . . . Aber Braconneau hatte Saint-Régeant aus den Augen verloren, und es war schon mehr eine fixe Idee von ihm und er halluzinierte geradezu: alles was Emilie tut oder läßt, muß mit ihrem Liebhaber zusammenhängen; und wenn sie nun hier einen Besuch gemacht hatte, so hatte der Besuch doch irgendwie Saint-Régeant gegolten, und also mußte dieses Haus in der Rue du Dragon und insonders Fräulein Virginie von heute ab überwacht werden.
Mochte Madame Lerebourg nur ruhig nach Hause fahren! Das interessierte ihn nicht. Seine Polizeinase stöberte nur: warum Madame Lerebourg vordem von zu Hause weggefahren war. Hielt sich der junge Royalist am End' in diesem Haus 35, Rue du Dragon auf? Aber wo? wie? bei wem? Nun nur immer hübsch der Reihe nach. Da galt's zuerst einmal beim Apotheker zu ebener Erd' zu sondieren. Hier lag freilich die Wahrscheinlichkeit neunundneunzigfach zu hundert nahe, daß die Vorsicht absolut zwecklos wäre. Indes, hatte er es nicht mit dem gerissensten aller Gegner zu tun? So durfte man also nichts außer acht lassen! Und er trat in den Laden ein und sah sich den Quacksalber einmal etwas genauer an. Ein Männchen; fünfzig; kahlköpfig; schmutzig und kränkelnd. Braconneau verlangte eine Unze Sennesblätter. Das Apothekermännchen lächelte und sprach wie ein gelernter Doktor:
»So ein Purgativ ist eine feine Vorsichtsmaßregel. Sowie eine Jahreszeit in die andere übergeht, und besonders im Frühling, Sennesblätter sind ein drastisches Purgativ und besser wie Rhabarber, der ja wohl für Indigestionen gut ist . . .«
Und er wog ein paar Blätter in einer Papiertüte ab. Braconneau aber schätzte währenddem mit einer ganz gleichgültigen und fast wie gelangweilten Miene die Mauerstärken ab sowie die Zimmerdeckendicke und warf wie von ungefähr auch einen Blick ins Laboratorium, das auf einen schlecht erleuchteten kleinen Hof hinauslag.
»Sie haben wohl Mäuse hier in Ihrem Laden?«
»Ach, ich kann Ihnen sagen, Bürger, das ist schon nicht mehr schön! Meine Frau und ich . . .«
»Sie sind verheiratet? Aber wo wohnen Sie denn da?«
»Zweiten Stock, drei Zimmer nach vorne raus . . . Es ist zwar Mansarde, aber es ist doch ganz nett . . . Wir haben nur Vater Juliussen, den Matratzenmacher, neben uns und unter uns die Bürgerin Grandeau . . . Nein also, soweit ist's wirklich ganz nett . . . die verdammten Mäuse freilich . . .«
»Die Bürgerin Grandeau«, sagten Sie? Ist das nicht die Modistin im ersten Stock . . . 'n schönes Mädchen, die einen feinen Liebhaber hat . . . 'n schlanken kräftigen jungen Mann, der erst vor zwei Tagen wieder von einer Reise zurückkam?«
Das Gesicht des Pharmazeuten wurde mit jedem Wort Braconneaus länger:
»Die Bürgerin Grandeau – 'n schönes Mädchen? Die Bürgerin Grandeau überhaupt – und 'n Liebhaber? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Bürger . . . oder aber Sie verwechseln sie mit einer von ihren Mamsells! O ja, da sind zwei oder drei, Rackerchens, Luderchens, jung, hübsch und knusprig, kann ich Ihnen sagen, na, und die haben wohl auch jede ihren Schatz . . . aber die sollten sich's nur einfallen lassen, und ihn einmal bis hier ins Haus mitbringen: die würde Fräulein Grandeau schön an die Luft setzen!«
»Was! Ist diese Virginie Grandeau wirklich ein solcher Ausbund von Tugend, daß niemals ein männliches Wesen zu ihr kommt?«
»Nein, aber so dürfen Sie nun wieder auch nicht daherreden! Es kommen doch Lieferanten zu ihr, und wenn Sie gerade hinaufgehen und vielleicht ein Hütchen bei ihr bestellen, fliegen Sie auch nicht gleich die Treppe herunter . . . Aber aus galanten Motiven – is nicht bei ihr! Nein, nein! . . . Hier, bitte schön, Ihre Sennesblätter . . .macht fünf Sous . . . Und wenn Sie was gegen Mäuse wünschen, so könnte ich Ihnen ein ausgezeichnetes Mittel empfehlen: ›Duvallons echter Mäusetot‹, das ich selbst erprobt habe, und das mir wunderbar geholfen hat . . . Arsenik und Phosphor . . .«
»Gut, ich werd' mir's merken,« sprach Braconneau und zahlte und wollte gehen. Er wußte ja nun wohl Bescheid . . . Aber da ließ der Apotheker nicht locker. Er wollte ihm die Verheerungen des ›echten Mäusetods‹ gleich ad oculus demonstrieren:
»Möchten Sie vielleicht sehen, wie ich diese Giftköder in meinem Kapernaum anbringe?«
Das kam Braconneau höchst gelegen. Mit Freuden folgte er dem Apotheker ins »Laborator« und von da bis auf den kleinen Hof hinaus, der das Haus vom Nachbarhaus trennte. Da betrachtete er denn lang' die Häuserwand, und sein Auge blieb gerade an der Stelle haften, dahinter das Versteck Saint-Régeants lag, als jemand zu einem Fenster im ersten Stock gar lustig herauslachte:
»Na, Vater Wismut, wie geht's mit der Gesundheit? Besser als Ihren Kunden, was? Denn die vergiften Sie ja doch bloß mit Ihren Tränklein!«
»Na, warte, Hexe! Sie kommen mir ja doch wieder, wenn Sie Husterchen-Husterchen haben!« lachte der Pharmazeut. »Das war eine der Mamsells von der Bürgerin Grandeau. Immer lustig und fidel. Sie nennen mich Vater Wismut. Das tut erstens nicht weh, und zweitens macht's ihnen Spaß . . .«
Der Argwohn Braconneaus schwand immer mehr hin. In diesem friedlichen und einfachen Häuschen roch es – wenn es auch sonst nicht lieblich roch – nach keinerlei Verschwörung. Da war kein mysteriöses Kommen und Gehen möglich. Die Leutchen hockten allzunah wie Hühner aufeinander. Das war ein Winkelchen Provinz in diesem großen Paris, und hier hauste der abgefeimte Gegner Braconneaus sicher nicht . . . Aber warum nur war Madame Lerebourg hiehergekommen? Und Braconneau nahm sich mit Gewalt aufs neue vor, die Sache hier nicht einfach auf sich beruhen zu lassen. Er verabschiedete sich vom Pharmazeuten mit vielem Dank und rief draußen auf der Straße gleich einen seiner Leute an, der sich höchst verdächtig vor einer harmlosen Weinhandlung herumtrieb, und prägte ihm äußerste Überwachung des Hauses 35 ein. Er dachte sich dabei so: Wenn Saint-Régeant vielleicht doch Rue du Dragon verborgen ist, dann kommt Bürgerin Lerebourg gewißlich noch einmal. Dann aber umzingle ich das Haus und such' es gründlich ab. Vielleicht finde ich die Bürgerin Lerebourg nur im Laden der Virginie Grandeau; vielleicht aber auch find' ich sie mit Saint-Régeant in seinem Versteck; auf jeden Fall finde ich etwas.
Zweimal verließ Saint-Régeant am Abend das Haus und begab sich zu Limoëlan ins Kloster zur »Heimsuchung«. Aber beide Male wurde er von den Leuten Braconneaus, die ihm übrigens gewissenhaft folgten, nicht erkannt; die meinten, es wäre vielleicht ein Bote vom Geschäft Grandeau. Nur Braconneau, der sich doch genau informiert hatte, daß außer dem Apotheker und Vater Julius kein männliches Wesen im Haus wohnte, vermutete sofort: Saint-Régeant! und zog den andern Abend selber auf Wache. Er folgte dem nächtlichen Spaziergänger, der freilich etwas kleiner schien und auch etwas dicker als »sein Mann«, bis vors Kloster und wartete dort . . . nur hatte er dabei das Pech, von Limoëlan gesehen und erkannt zu werden.
»Du! wenn mich nicht alles trügt, ist das der famose Lavernières, der sich ins Komitee im Roten Löwen einschleichen wollte, bis ihn Valoris dann doch noch abschüttelte . . .«
»Hm. Wenn das aber Lavernières ist, dann ist es auch Neufmoulin! Neufmoulin war der Schurke, der bis nach dem Süden mit mir fuhr und mir in Lyon gründlich zu schaffen machte. In diesem Fall muß ich den Mann auf die Seite bringen, und zwar so schnell als möglich. Was ist ein verdammt gefährlicher Patron!«
»Ja, aber wie willst du denn das machen?«
»Ganz einfach. Ich geh' jetzt von dir weg und schlage mich auf die Felder nach Vaugirard hinüber. Wenn er mir nicht nachkommt, such' ich meinen Bischofswinkel auf – bis auf eine bessere Gelegenheit. Kommt er mir aber nach, dreh' ich mich um, geh' auf ihn zu und . . . Meine Pistolen hab' ich ja immer bei mir.«
»Du willst ihn totschießen?«
»Aber in einem regelrechten Zweikampf . . . Ich bin kein Mörder! Wenn er bewaffnet ist – und er ist es sicher! – dann sind doch die Waffen gleich. Wenn nicht, mag er eine von meinen Pistolen haben und sich verteidigen . . .«
»Du bist ein sonderbarer Heiliger!« Linoëlan lächelte. »Morgen schon sprengst du vielleicht die ganze Eskorte Bonapartes in die Luft und heute zögerst du und willst einen Spion, der dir doch einzig nach dem Leben trachtet, nicht glatt übern Haufen schießen!«
»Das ist in der Tat sehr dumm von mir,« sprach Saint-Régeant. »Aber so bin ich nun mal. Wenn ich das Faß Pulver explodieren lasse, dann ist doch mein Leben ebenfalls auf dem Spiel . . . Genau wie im Krieg . . . Aber einen Menschen einfach meuchlings niederknallen – ich kann es nun mal nicht!«
»Wenn du Brutus gewesen wärst, hättest du Cäsar nicht ermordet?«
»Aber doch lieber bei Pharsalus!«
»Wie edelmütig! Weißt du, daß du mir nachgerade Sorgen machst, und daß ich weit lieber einen andern an deiner Stelle sähe? Du bist imstande und drückst im entscheidenden Moment nicht ab, nur weil gerade ein hübsches Frauenzimmer oder ein Greis im Silberhaar noch übern Weg will . . . eija, dir ist wahrhaftig zuzutrauen, daß du den Ersten Konsul verschonst, weil sonst das Frauenzimmerchen oder der Mummelgreis ebenfalls mit draufginge!«
»Rede mir bloß nicht von solchen Nebenumständen bei meiner Tat! Ich will das Eine, Große: Bonaparte – und damit basta. Mein Leben gilt mir nichts . . .«
»Und wann soll's nun endlich sein?«
»Hast du den Wagen schon?«
»Jederzeit – binnen einer Stunde.«
»Das Faß, fix und fertig geladen, mitsamt der Flinte, steht im ›Roten Löwen‹.«
»Also braucht's nur noch die günstige Gelegenheit?«
»Und auch die ist schon da. Die ›Gazette‹ kündigt für den 3. Nivôse, also zu übermorgen, in der Opéra die Erstaufführung des neuen Haydnschen Oratoriums ›Die Schöpfung‹ an. Der Konsul, Madame Bonaparte und der kleine Hof werden erscheinen.«
»Na, und?«
»Der Weg Bonapartes zur Opéra ist doch klar. Durch die Rue Saint-Nicaise und die Rue de la Loi, An der Ecke Rue Saint-Nicaise, auf der linken Seite, wo der Wagen vorbeikommt, stellen wir das Zeug auf . . . Die Wirkung wird eine großartige sein. Alles zu Staub zermalmt.«
»Ja, aber an der Ecke Rue de Nicaise? Da wird die Wirkung doch nicht so fürchterlich sein wie Rue de la Loi, wo immer die meisten Zuschauer stehn . . .«
»Und die meiste Polizei, die uns dann schön auf die Finger sehen würde.«
»Da hast du wieder recht! – Und was sollen Carbon und ich dabei machen?«
»Ihr kommt mit dem Fuhrwerk vor den ›Roten Löwen‹. Da laden wir das Fäßchen auf und fahren damit Rue de Nicaise. Es wird sicher schon dunkel sein, und das kommt uns dann auch noch zugute.«
»Und vorher willst du noch den Spion um die Ecke bringen?«
»Das geschieht heute nacht noch. – So, und nun denk' ich, hätten wir alles Nötige besprochen.«
»M – ja . . .«
»Übermorgen fünf Uhr mit dem Wagen vorm ›Roten Löwen‹. – Und wenn ich wider Erwarten nicht da sein sollte, verlangst du Flinte und Faß vom Wirt und vertrittst mich eben ganz und gar.«
»Wenn du nicht da sein solltest . . .«
»Für den Fall, daß ich verhaftet wäre oder tot.«
»Gut.«
Saint-Régeant sah noch einmal seine Pistolen nach; dann drückte er seinem Freund die Hand und ging über den Hof auf die Straße. – Braconneau ihm auf den Fersen; doch war dieser nicht wenig erstaunt, welche Richtung Saint-Régeant einschlug. Das ging ja geradenwegs aus der Stadt hinaus; über Felder bald, auf Vaugirard zu. Indes, das sollte Braconneau gleich sein. Er ließ dem andern, sowie sie einmal aus den Straßen heraus waren, nur etwas mehr Vorsprung, denn hier im Freien und ohne jede Deckung kam er ihm schon nicht so leicht aus den Augen. Übrigens sah der Verfolger bald ein, daß er selber nicht länger unbemerkt nachschleichen konnte; und es wurde so rasch ein Spiel mit offenen Karten. – Nun hörten selbst die Zäune auf; weit und breit nicht einmal ein Gemüsebauer mehr; Saint-Régeant bog auf einen Fußweg nach Montrouge ein, ging aber bald darauf langsamer, blieb stehen, setzte sich und – wartete. Das war deutlich genug für Braconneau. Er ging ruhig weiter – gerade auf den jungen Mann zu; und als er nah' genug herangekommen war, zog er seinen Hut und sprach:
»Guten Abend, Herr de Saint-Régeant.«
»Ergebenster Diener, Herr Neufmoulin.«
»Das trifft sich aber nett. Sowas hab' ich gern.«
»Durchaus meinerseits! Aber nun hören Sie mal: Sie sind der Neufmoulin von unserer Reise nach Lyon. Sie sind auch jener Lavernières, der mit dem Abbé de Valoris Bekanntschaft machte – Sie wissen schon. Und dann sind Sie außerdem wohl noch der und der und der, lauter Mimiken eben von einem einzigen Verwandlungskünstler – das heißt Polizisten, dessen wahres Gesicht und wirklichen Namen wir nicht kennen. Ihren wirklichen Namen weiß ich nicht und will ihn auch gar nicht wissen, aber Ihr wahres Gesicht will ich nun einmal sehn – unter all den Schminken, Perücken, Haaren aus der Nase und Haarbüscheln aus den Ohrlöchern und künstlichen Kautschukbacken . . .«
»So, so. Und wie wollen Sie das anstellen, wenn ich fragen darf?«
»Indem ich Sie kalt mache, Herr Neufmoulin!«
Der Polizist wich denn doch ein wenig zurück; Saint-Régeant stand langsam auf, pflanzte sich breit mitten auf den Weg und zog zwei Pistolen aus der Tasche:
»Ich hab' mit Ihnen an einem Tisch gesessen, Neufmoulin, und obwohl Sie sonst nicht gerade eine empfehlenswerte Persönlichkeit sind – Sie mit Ihrem traurigen Metier! –, so will ich doch nicht so sein, und Sie sollen sich wenigstens verteidigen können. Also wählen Sie sich die Distanz, die Ihnen beliebt, und auf mein Kommando drücken Sie ab. Aber schonen Sie mich nicht etwa – ich ziele erbarmungslos, kann ich Ihnen sagen!«
»Herr de Saint-Régeant, Sie versetzen mich da – in der Tat! – in eine heikle Sache. Ich habe niemals daran gedacht, Sie zu töten oder auch nur zu verwunden. Das ist meines Amts nicht; ich habe mich nur Ihrer Person zu versichern . . .«
»Deshalb lockte ich Sie auch hier ins offene Feld heraus; weit genug fort von allen Ihren Leuten. Nun, sagen Sie mal, Neufmoulin, wie möchten Sie mich denn nun verhaften?«
»Herr de Saint-Régeant, ich werde alles tun und machen, was in meinen Kräften steht, um Sie festzulegen . . . Meinetwegen gehen Sie heute abend nicht zu Ihrer Bürgerin Grandeau schlafen! Mich interessiert persönlich auch nicht im mindesten, was Sie mit dem Pförtner des Klosters zur ›Heimsuchung‹ für Geheimnisse haben! Ich weiß nur, daß da etwas nicht koscher ist . . . Vielleicht haben Sie die Liebenswürdigkeit, es dem Bürger Fouché selbst zu sagen . . .«
»Oh! Sie wissen ja glänzend Bescheid!« sprach Saint-Régeant. »Um so schlimmer für Sie . . . also machen Sie jetzt voran, nehmen Sie eine von den Pistolen und setzen Sie sich zur Wehr oder – beim Himmel! – ich strecke Sie nieder wie einen tollen Hund!«
»Saint-Régeant, hören Sie mich, bitte, erst noch an. Ich will Ihnen nichts Schlimmes – das hab' ich Ihnen soeben, denk' ich, bewiesen. Ich hätte mich auch an die Lerebourg halten können – und ich habe es nicht getan. Ja, mir blutet geradezu das Herz, wenn ich sehe, wie ein junger Mann von so blendenden Eigenschaften wie Sie in eine solch aussichtslose Sache verwickelt ist . . . Georges und seine ganze Clique . . . Lassen Sie die Finger davon – reisen Sie ab – und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort – ich will Ihnen noch dazu behilflich sein!«
»Damit Sie hinterdrein all die andern verhaften können und ich zum gemeinsten aller Verräter würde! Also, Herr, ich habe geschworen, der Sache zum Sieg zu verhelfen – oder wollen Sie mich mit diesem Ihrem Unsinnen auch noch schwer beleidigen? Genug jetzt! Fertig! Aus! Sie sind da in einer verfluchten Situation, Neufmoulin, und kommen nur heil wieder heraus, wenn ich auf dem Platze bleibe –«
»Sie zwingen mich dazu! Es war durchaus nicht meine Absicht . . .«
Und er zog eine Pistole aus dem Überzieher und entsicherte sie. Sie standen etwa dreißig Schritt voneinander; die Nacht war dunkel, und ein leichter Sprühregen fiel.
»Achtung, Neufmoulin!« schrie Saint-Régeant und kam mit der Pistole in der Hand Schritt vor Schritt auf den Mann zu, der wie eine Mauer stand. Zehn Schritt nur noch. Neufmoulin hoffte immer noch, daß der andere zuerst abdrückte und so entwaffnet war und ihm auf Gnad' und Barmherzigkeit ausgeliefert. Aber dieses Manöver durchschaute Saint-Régeant natürlich. Jetzt blieb der junge Royalist stehen – jetzt zielte er auf Neufmoulin. Da drückte der Spitzel ab – die Kugel fuhr Saint-Régeant durch den Mantelkragen – im selben Augenblick schoß auch der Royalist – und Neufmoulin fiel, in die Brust getroffen, platt auf die Nase übern Weg.
»Bei Gott, er hat's nicht anders gewollt!« murmelte Saint-Régeant.
Er trat auf den Polizisten zu, der sich in einer Blutlache wälzte. Drehte ihn auf den Rücken um und riß ihm die Perücke herunter: am sogenannten Neufmoulin war nicht viel Maske gewesen, und das war beinah' sein wahres Gesicht . . . Dann schleppte er den Körper ein wenig vom Weg ab ins Feld hinein, damit ihn die Gemüsebauern, die alle Nacht nach den Pariser Markthallen hier vorüberfuhren, nicht sogleich fänden. Legte die abgeschossene Pistole des Polizisten neben ihn hin und sprach, da er überzeugt sein mußte, daß der Mann bereits tot war, ein leises:
»Requiescat in pace.«
Und machte sich in der Richtung nach der Stadt davon.