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Dr. Paul Leonhardt war ein so gesuchter und vielbeschäftigter Rechtsanwalt, daß er nicht, gleich den meisten seiner Kollegen, durch die Rücksicht auf die Praxis gezwungen war, sein Bureau in einer der engen, luftarmen Geschäftsstraßen der Altstadt aufzuschlagen, sondern daß er seinen Klienten wohl zumuten durfte, sich behufs der unerläßlichen persönlichen Besprechungen in das vornehme Villenviertel hinauszubemühen, das während der letzten Jahrzehnte längs des Flusses entstanden war.
Da – in einer der ruhigsten und elegantesten Straßen – bewohnte er die beiden unteren Geschosse eines stattlichen, gartenumhegten Hauses, dessen zweites Stockwerk die Besitzerin, die hochbejahrte Witwe eines Landgerichtsdirektors innehatte. Sein Schreibzimmer wie sein Privatkabinett lagen im Parterre, während sich die mit fast verschwenderischem Luxus ausgestatteten eigentlichen Wohnräume im ersten Stock befanden.
Der große Garten, der sich hinter der Villa bis zum Flußufer dehnte, stand ihm zur alleinigen Benutzung zur Verfügung, da die beinahe vollständig gelähmte Eigentümerin des Hauses ihre Wohnung nur noch höchst selten zu einer kurzen Spazierfahrt verließ.
In einem hohen Souterrain hauste der Pförtner Deibler, ein älterer, aber noch sehr rüstiger Militär-Invalide, mit seiner Frau und einer erwachsenen Tochter, die Villa und Garten in Ordnung zu halten und sich außerdem in die Aufgabe zu teilen hatten, den Einlaßbegehrenden die stets verschlossen gehaltene Haustür zu öffnen. Ihr Dienst war nicht allzuschwer, denn außer den Klienten, die sich zumeist während der Sprechstunden einstellten, kamen nur wenige Besucher zu dem Rechtsanwalt oder zu seiner jungen, kinderlosen Gattin.
Mit so rückhaltloser Hingabe widmete sich Dr. Leonhardt den anstrengenden Pflichten seines Berufes, daß ihm für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nur wenig Zeit übrig blieb. Und seine Gesundheit war nicht kräftig genug, um ihm nach hart durcharbeiteten Tagen die Vergeudung kostbarer Abend- und Nachtstunden an leichte Zerstreuungen zu gestatten.
Sein Umgang beschränkte sich deshalb auf einen sehr kleinen Kreis von Personen, und es ereignete sich selten genug, daß jemand in das erste Stockwerk der Villa emporstieg, der dem Pförtner Deibler oder seinen Angehörigen nicht wenigstens dem Aussehen nach bereits bekannt gewesen wäre.
Namentlich die beiden Frauen gaben oft genug ihrer Verwunderung über dies eingezogene Leben der Herrschaften Ausdruck. Denn der Rechtsanwalt war erst seit wenig mehr als Jahresfrist verheiratet, und man meinte, die junge Frau müsse sich bei einem solchen Dasein umso einsamer und unbehaglicher fühlen, als sie aus einer anderen Stadt hierher gekommen war und außer einem Stiefbruder, der allerdings zu den häufigsten Besuchern des Hauses gehörte, hier keine Angehörigen hatte. Aber ihr stilles, ruhiges Wesen machte am Ende die geringe Vorliebe für gesellige Zerstreuungen erklärlich, und Fräulein Anna Deibler, die trotz ihrer dreißig Lenze noch immer ein bißchen schwärmerisch veranlagt war, neigte überdies zu der Auffassung, daß es im Grunde ja ganz natürlich sei, wenn zwei so jung verheiratete Eheleute nach keiner anderen Unterhaltung Verlangen trugen als nach der, die sie sich gegenseitig gewährten.
Es war zur Vormittagszeit eines bitter kalten, aber schneelosen Wintertages. Der Pförtner Deibler stand im Schmuck seiner Ehrenzeichen und Kriegsmedaillen – die er nach einem unter den Anwaltsschreibern verbreiteten boshaften Gerücht nicht einmal des Nachts im Bette ablegte – in der offenen Haustür, um gemächlich dem Zanken und Raufen der hungrigen Spatzen zuzusehen, die er täglich mit einigen Brotstücken zu füttern pflegte. Und er blickte kaum auf, als ein gut gekleideter, stattlicher junger Mann mit leichtem Lüften des Hutes auf ihn zutrat.
»Der Rechtsanwalt Dr. Leonhardt wohnt in diesem Hause?«
»Die Kanzlei ist im Erdgeschoß. Aber die Sprechstunde des Herrn Doktors beginnt erst um zwei Uhr.«
»Ich danke Ihnen für die Auskunft. Hier rechter Hand – nicht wahr?«
Nun sah der Pförtner doch auf.
In dem Ton des jungen Mannes war etwas Bestimmtes und Herrisches, das ihm nicht gefiel. Und seine äußere Erscheinung stimmte gut zu dieser Entschiedenheit des Auftretens. Die hübschen und regelmäßigen Züge des bis auf einen ziemlich starken dunklen Schnurrbart glatt rasierten Gesichts deuteten auf eine bei so jugendlichem Alter nicht gewöhnliche Energie, und die klaren, braunen Augen blickten fest und durchdringend, als seien sie es gewöhnt, Menschen und Dinge scharf aufs Korn zu nehmen.
»Jawohl, rechter Hand,« bestätigte Herr Deibler, der unwillkürlich eine etwas straffere Haltung angenommen hatte. »Wenn Sie aber vielleicht in die Privatwohnung des Herrn Rechtsanwalts wollen – sie befindet sich im ersten Stock.«
Der Fremde grüßte noch einmal leicht. Aber es schien doch keine Angelegenheit privater Natur zu sein, die ihn hierher geführt hatte, denn er verschwand, ohne etwas weiteres zu sagen, hinter der Glastür im Parterre, die der Pförtner ihm mit einer Handbewegung bezeichnet hatte.
Bei seinem Eintritt in die Kanzlei erhob sich der jüngste Schreiber, um nach seinem Begehren zu fragen.
Der Fremde griff in die Tasche und reichte ihm eine Karte, auf der »Theodor Neuhoff, Architekt« zu lesen war.
»Ich wünsche den Herrn Rechtsanwalt in einer persönlichen Angelegenheit zu sprechen.«
»Bedaure sehr! Der Herr Doktor ist noch nicht von der Wahrnehmung seiner Termine im Justizgebäude zurück. Und die Sprechstunde beginnt erst um zwei.«
»Ich habe nicht Zeit, so lange zu warten. Wann wird der Rechtsanwalt wieder da sein?«
Auch hier verfehlten der entschiedene Ton und die kurz angebundene Redeweise des jungen Mannes ersichtlich ihre Wirkung nicht.
»Der Herr Doktor hat vorhin durch den Fernsprecher mitgeteilt, daß wir ihn in einer halben Stunde erwarten sollten. Er könnte also bald hier sein.«
»Gut! Haben Sie irgend einen Raum, in dem ich mich bis zu seinem Erscheinen aufhalten könnte?«
Der kleine Schreiber, der den energischen Herrn nach seinem Auftreten wohl auf eine sehr bedeutende Persönlichkeit taxierte, öffnete dienstbeflissen die in ein Nebengemach führende Tür.
»Wenn der Herr hier Platz nehmen möchten! Aber ich kann mich nicht dafür verbürgen, daß der Herr Doktor wirklich schon in einer halben Stunde da sein wird. Die Termine ziehen sich oft sehr in die Länge.«
Der Fremde machte eine kurz abwehrende Handbewegung.
»Gleichviel, ich werde warten! Aber ich setze voraus, daß der Rechtsanwalt sogleich hiervon benachrichtigt wird.«
Als der Schreiber die Tür hinter ihm ins Schloß gedrückt hatte, ließ er sich in einen der gepolsterten Stühle nieder und zog aus der Brusttasche seines Ueberrocks eine Anzahl von Papieren, deren Inhalt er aufmerksam durchmusterte. Der Ausdruck seines ohnehin tiefernsten Gesichts wurde dabei immer düsterer, und seine Brust hob sich ein paarmal wie in mühsam niedergehaltener Erregung.
Es mochten kaum fünf Minuten seit seinem Eintritt vergangen sein, und er war mit seiner Beschäftigung noch nicht zu Ende gekommen, als sich, ohne daß er es bemerkte, eine andere Tür des Zimmers auftat. Eine jugendliche weibliche Gestalt war in ihrem Rahmen erschienen und beim Anblick des lesenden Fremden für einen Moment zaudernd stehen geblieben. Sie war wohl kaum mehr als zweiundzwanzig Jahre alt und von zierlichem, mädchenhaft schlankem Wuchs. Ihre einfach vornehme Kleidung aber war eher die einer jungen Frau, und an dem Ringfinger der schmalen Hand, die noch unschlüssig auf dem Türgriff lag, glänzte ein glatter goldener Ehereif. Ihre Haustoilette und der Umstand, daß die üppige Fülle ihres blonden Haares durch keine Kopfbedeckung verhüllt war, ließen kaum einen Zweifel, daß sie zu den Bewohnern der Villa gehöre.
Und hinter ihr wurde denn auch durch die offene Tür das Ende der schmalen Wendeltreppe sichtbar, die einzig für den Privatgebrauch des Rechtsanwalts und seiner Hausgenossen aus der oberen Wohnung direkt in die Kanzleiräume hinabführte.
Sie hatte von der Stelle, auf der sie stand, das durch die Papiere verdeckte Gesicht des Fremden nicht sehen können, aber als er eben jetzt zufällig die Hand sinken ließ, machte sie eine unwillkürliche Bewegung der Ueberraschung, wenn nicht der Bestürzung, und heiß schoß es in ihren Wangen auf.
»Theodor! – Herr Neuhoff, Sie hier bei meinem Mann!«
Auch der Besucher war mit einer fast ungestümen Gebärde emporgefahren.
»Herta!«
Seine Augen hingen an ihrem schönen, erschreckten Gesicht, als ob sie sich darin einbohren wollten, und die Papiere in seiner Rechten knisterten zwischen den zusammengepreßten Fingern.
Sekundenlang standen sie einander gegenüber, ohne etwas weiteres zu sprechen. Dann aber warf die junge Frau wie im Unmut über die eigene Befangenheit den blonden Kopf zurück und trat vollends ins Zimmer.
»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie gestört habe,« sagte sie in kühlem, gewöhnlichem Tone, der in seltsamem Gegensatz stand zu dem Klang ihres ersten, von der Ueberraschung erpreßten Ausrufs. »Sie warten vermutlich auf meinen Gatten?«
Auch der junge Architekt hatte sich gefaßt. Aber zwischen seinen Brauen war noch immer eine scharf eingeschnittene Falte, als er mit einer sehr höflichen und sehr gemessenen Verbeugung erwiderte:
»Allerdings, gnädige Frau! Man sagte mir dort in der Kanzlei, daß der Herr Rechtsanwalt bald zurückkehren werde, und man wies mich hierher. Hätte ich für möglich gehalten, daß ich Ihnen da durch meinen Anblick lästig fallen könnte, so würde ich es natürlich vorgezogen haben, auf der Straße zu warten.«
»Das Zimmer gehört zu den Bureauräumen meines Mannes, und die Schreiber konnten selbstverständlich nicht wissen, daß ich gerade jetzt herabkommen würde. Ich bitte Sie, sich nicht weiter stören zu lassen.«
Sie tat ein paar Schritte auf die gegenüberliegende Tür zu, aber sie mußte dabei so nahe an dem andern vorüber, daß er nur hätte den Arm auszustrecken brauchen, um ihre Hand zu ergreifen. Und in dem Moment, da er ihre anmutige Gestalt so dicht vor sich sah, verließ ihn für einen Augenblick die Selbstbeherrschung, die ihn ihr noch soeben so kalt und gemessen hatte antworten lassen.
»Daß wir uns so wiedersehen müssen, Herta! Ich hatte mir gelobt, dich niemals danach zu fragen – aber nun, da eine unselige Fügung uns ohne mein Zutun zusammengebracht – da ich dich vor mir sehe – hier im Hause dieses Erbärmlichen, dem du dich – –«
Die junge Frau hatte rasch auch die letzten Schritte zurückgelegt, die sie noch von der Tür zum Schreibzimmer trennten, und beinahe heftig wandte sie sich hier nach dem Sprechenden um.
»Kein Wort weiter, Herr Neuhoff! Sie haben mich nichts zu fragen, und ich habe Ihnen nichts zu sagen. Aber wenn Sie vielleicht in der Absicht hierhergekommen sind, meinen Gatten zu beleidigen, so werde ich ihn verhindern, Sie zu empfangen.«
Sie war totenbleich, aber die Blässe ihrer Wangen war auch das einzige äußere Anzeichen ihrer Erregung. Derselbe ruhige, hoheitsvolle Stolz, den ihre Haltung zeigte, war auch im Tonfall ihrer Rede gewesen, und es schien, daß die Entschiedenheit der Zurückweisung den Architekten schnell genug zur Besinnung gebracht hatte.
Seine kraftvolle Gestalt straffte sich, und seine Züge nahmen ihre vorige ernste Geschlossenheit wieder an.
»Verzeihung, gnädige Frau! Ich vergaß mich in der Tat. Und Ihre Auffassung, daß wir einander nichts mehr zu sagen haben, mag wohl die richtige sein. Den Vorsatz aber, den Sie soeben aussprechen, sollten Sie doch lieber nicht zur Ausführung bringen. Was ich mit Ihrem Manne zu besprechen habe, ist nicht weniger wichtig für ihn als für mich. Und nicht ich würde den größeren Nachteil davon haben, wenn die Unterredung, wegen der ich die Reise machte, unterbliebe.«
»Und der Gegenstand dieser Unterredung, er steht nicht im Zusammenhange mit – meiner Person?«
»Nicht im entferntesten Zusammenhange. Ich verbürge mich Ihnen dafür mit meinem Wort. Das wird Sie hoffentlich beruhigen.«
»Einer Beruhigung bedurfte es kaum, denn ich hätte für mich ja in keinem Fall etwas zu fürchten. Aber mein Mann ist nervös und leidend – ich darf nicht zugeben, daß er sich ohne Not einer Aufregung aussetzt. Und es hat nicht eben den Anschein, als ob Sie mit freundlichen Absichten hierhergekommen wären.«
»Ich bin einzig in der Absicht gekommen, mit dem Rechtsanwalt Leonhardt eine geschäftliche Angelegenheit ins reine zu bringen. Der Umstand, daß dieser Rechtsanwalt zufällig gleichzeitig Ihr Gatte ist, kommt dabei für mich nicht in Betracht, so wenig im freundlichen als im feindlichen Sinne.«
»So werde ich mich im Vertrauen auf Ihre Ritterlichkeit jeder Einmischung enthalten. Sie haben gehört, daß Sie es mit einem Leidenden und Schonungsbedürftigen zu tun haben; das wird, wie ich hoffe, Ihr Benehmen ihm gegenüber bestimmen. Guten Tag!«
Sie neigte den Kopf zu einem Abschiedsgruß, den er durch wortlose Verbeugung erwiderte, dann verließ sie das Zimmer.
»Mein Mann ist noch nicht zurück?« fragte sie den Bureauvorsteher, der sich gleich den Schreibern ehrerbietig erhoben hatte. Und auf die verneinende Antwort fügte sie hinzu: »Ich bin nur gekommen, mir ein Buch aus dem Privatkabinett zu holen. Wenn mein Mann später erscheint, so sagen Sie ihm, bitte, daß ich erfreut sein würde, ihn recht bald oben zu sehen.«
Aber es blieb dem Bureauvorsteher erspart, die Bestellung auszurichten, denn Herta hatte kaum das Arbeitszimmer ihres Gatten betreten, als draußen vor dem Hause eine geschlossene Droschke vorfuhr, der sie den Erwarteten entsteigen sah.
Von mehr als mittelgroßer Gestalt und breiten Schultern, machte der Rechtsanwalt Paul Leonhardt in dem weiten Biberpelz, dessen feiner Seeotterkragen an sich schon ein kleines Kapital repräsentieren mochte, eine recht stattliche, fast imponierende Figur. Aber das dunkelbärtige Gesicht unter dem glänzenden Zylinderhute war blutlos und eingefallen, und von einer ungesunden, gelblichen Färbung, mit tiefliegenden Augen und schweren, müden Lidern. Er machte den Eindruck eines kränklichen, überarbeiteten Menschen, und wie er nun mit seiner Aktenmappe durch den kleinen Vorgarten schritt, ging er langsam und mit gesenktem Haupte, wie einer, dessen Schultern eine niederdrückende Last zu tragen haben.
Die junge Frau war neben dem Bücherschrank stehen geblieben, seinen Eintritt erwartend. Und als er nach kurzem Aufenthalt im Vorzimmer, seines Hutes und Pelzes bereits entledigt, die Tür öffnete, ging sie ihm ohne Lebhaftigkeit um einige Schritte entgegen.
»Guten Tag, Paul! Du bist mir doch nicht böse, daß ich in deiner Abwesenheit hier eingedrungen bin? Ich wollte mir das Buch holen, von dem wir gestern abend gesprochen.«
Er hatte seinen Arm leicht um ihre Taille gelegt und küßte sie auf den Mund, nicht mit stürmischer Zärtlichkeit, sondern viel eher wie in zerstreuter Ausübung einer gewohnten Artigkeit.
»Seit wann müßtest du dich deshalb entschuldigen, liebes Herz. Du weißt, daß ich nicht zu den Männern gehöre, die vor ihrer Frau irgend welche Geheimnisse zu hüten haben.«
Das sollte scherzhaft klingen, aber es kam viel zu hastig und zu gezwungen heraus, um wie ein Scherz zu wirken. Noch während er sprach, waren seine Gedanken ersichtlich schon bei ganz anderen Dingen, und ohne eine Antwort abzuwarten, trat er an den Schreibtisch, um die auf der Platte liegenden Briefschaften durch seine Finger gleiten zu lassen.
»Ich will dich nicht länger aufhalten,« sagte die junge Frau nach einem kleinen Schweigen etwas unsicher. »Ich glaube – ich glaube, es ist jemand im Wartezimmer, der dich sprechen möchte.«
In der hastigen, ruckweisen Art, die all seinen Bewegungen eigentümlich war, erhob Paul Leonhardt den Kopf.
»Ja, man hat mir's gesagt. Aber woher weißt du? – Hast du ihn denn gesehen?«
»Ich mußte durch das Wartezimmer, weil ich über die Wendeltreppe heruntergekommen war.«
»So? Und du hast mit ihm gesprochen?«
»Nur ein paar Worte, Paul! Wir – wir sind ja alte Bekannte.«
»Und hat er dir auch gesagt, was er eigentlich von mir will?«
»Nein! Er sprach nur von einer geschäftlichen Angelegenheit, die er mit dir ins reine bringen möchte.«
»Na ja – er wird irgend ein Anliegen an mich haben in Sachen seines Vaters. Ich habe dir doch wohl gelegentlich erzählt, daß der Baumeister Neuhoff in Eberstadt vollständig verkracht ist?«
Bestürzt sah ihn Herta an.
»Nein, Paul, davon hattest du mir bis jetzt nicht gesprochen.«
»Nun, dann war ich wohl der Meinung, daß es kein besonderes Interesse für dich haben würde. Ich hab's ja schließlich auch nur vom Hörensagen. Aber es soll ein vollständiger Schiffbruch gewesen sein. Der Mann wollte eben mit seinen Unternehmungen von jeher zu hoch hinaus. Da mußte notwendig früher oder später die Geschichte zusammenbrechen.«
»Aber das ist schrecklich. Der Baumeister genoß in meiner Vaterstadt allgemein die höchste Achtung. Und er ist ein alter Mann, der gewiß nicht mehr Kraft und Lebensmut genug hat, sich noch einmal in die Höhe zu arbeiten.«
Doktor Leonhardt machte eine ungeduldig nervöse Bewegung mit den Schultern.
»Was sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen! Auch der Herr Baumeister wird sich sein Schicksal selbst gezimmert haben, wie jeder andere. Und ich wüßte nicht, weshalb es dir mehr als ein anderes zu Herzen gehen sollte.«
»Er gehörte zu den besten Freunden meines Vater, Paul!«
»Na ja, was weiter! Es verkehrten vielerlei Leute in deines Vaters Hause. Der Sohn war ja wohl auch einer von euren Stammgästen – wie?«
»Du hast eine etwas sonderbare Art, von dem Freundeskreise meines Vaters zu sprechen. Die er seines Umganges würdigte, waren dieser Auszeichnung sicherlich wert.«
»Gewiß – gewiß! Es fällt mir ja auch gar nicht ein, nachträgliche Kritik an seinem Verkehr zu üben. Das macht jeder nach seinem eigenen Geschmack. Aber der Herr Architekt wird vielleicht ungeduldig, liebes Herz!«
Der Wink war nicht mißzuverstehen, und doch zögerte die junge Frau noch, sich zu entfernen.
»Vergib, wenn ich mich mit meiner Frage in Dinge einmische, die mich nicht kümmern sollten. Du – du hattest doch kein Zerwürfnis mit Theodor Neuhoff oder mit seinem Vater?«
Der Rechtsanwalt lachte kurz auf.
»Ein Zerwürfnis? Nein, ich habe mit niemandem Zerwürfnisse, liebes Kind! Wenn dieser oder jener es mir nachträgt, daß ich einen Prozeß gegen ihn geführt und gewonnen habe, so ist das eben lediglich eine Narrheit anderer, von der ich nicht weiter Notiz zu nehmen pflege. Aber im vorliegenden Fall würde nicht einmal das zutreffen. Du brauchst dir also keinerlei Sorgen zu machen. Es wird sich um irgend ein Anliegen – irgend eine Bitte handeln – weiter nichts.«
»Diesen Eindruck hatte ich eigentlich nicht, Paul! Aber ich darf dich nicht länger daran hindern, Herrn Neuhoff zu empfangen. Du kommst doch wohl gleich hinauf, nachdem du ihn gesprochen hast?«
»Gewiß, liebes Herz! Auf den Flügeln der Sehnsucht, wie immer. Aber möchtest du deinen Weg jetzt nicht lieber über die Haupttreppe nehmen? Der junge Herr könnte sonst leicht glauben, daß du es geflissentlich darauf anlegst, ihm recht oft zu begegnen.«
»Nein, das würde er gewiß nicht glauben. Aber ich war ohnedies entschlossen, nicht wieder durch das Wartezimmer zu gehen.«
Ritterlich gab der Rechtsanwalt seiner jungen Frau auch noch durch die Schreibstube das Geleit. Als er dann in sein Privatkabinett zurückkehrte, war der mühsam festgehaltene Ausdruck einer verbindlichen Heiterkeit aus seinen Zügen verschwunden, und nichts als Verdrießlichkeit und Abgespanntheit waren auf seinem mageren, gelben Gesicht zu lesen.
Er warf die Mehrzahl der vorhin flüchtig gemusterten Briefe uneröffnet beiseite und griff nach einem wenig geschäftsmäßig aussehenden Billett, das schon vorhin seine besondere Aufmerksamkeit erregt zu haben schien.
Hastig rissen seine mageren Finger den Umschlag herab, und seine unruhigen Augen überflogen die engbeschriebenen vier Seiten des Blattes, das er ihm entnommen.
Als er zu Ende gekommen war, hatte sein Gesicht sich noch finsterer beschattet denn zuvor. Er schob den halb zerknitterten Brief in die Brusttasche seines Rockes, strich sich mit einer fahrigen Bewegung das Haar aus der Stirn und schlug auf den Knopf der vor ihm stehenden Tischglocke.
»Ich lasse Herrn Neuhoff bitten!« wandte er sich an den eintretenden Schreiber. »Aber ich bin heute vormittag für niemand weiter zu sprechen – hören Sie? – für niemand, ohne jede Ausnahme!«