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Als Martha Heßling am Morgen nach dem Tage, an welchem Herr Mansfeld von seiner Berliner Reise zurückgekehrt war, das bescheidene Kontor der photographischen Kunstanstalt betrat, fand sie ihren Prinzipal bereits an seinem Pult. Er sah auch heute noch bleich und angegriffen aus, und es hatte nicht den Anschein, als ob er an diesem Morgen schon sehr emsig gearbeitet habe, denn die mit der Post eingelaufenen Briefe lagen bis auf einen noch uneröffnet vor ihm, und er fuhr bei dem Eintritt der jungen Buchhalterin wie aus tiefem Nachdenken empor.
Mit einem kleinen Anflug von Befangenheit entschuldigte sie ihr verspätetes Erscheinen.
»Meine Mutter hatte eine sehr schlechte Nacht,« sagte sie, »und ich gewann es nicht über mich, sie zu verlassen, ehe der Arzt dagewesen war.«
»Sie hätten unter solchen Umständen überhaupt daheim bleiben sollen, Fräulein Martha! Ich habe Ihnen doch ein für allemal gesagt, daß die Pflichten gegen Ihre Mutter allen anderen vorangehen. Und wenn Sie glauben, daß Sie ihr heute von Nutzen sein können, so bitte ich Sie dringend, wieder nach Hause zu gehen. Hier liegt nichts so Wichtiges vor, daß ich mich nicht auch ohne Sie behelfen könnte.«
Mit einem zaghaft dankbaren Blick sah sie zu ihm auf.
»Sie sind so gut gegen mich!« erwiderte sie leise. »Aber es ist Gott sei Dank nichts Ernstliches, und nach dem Beruhigungsmittel, das ihr der Arzt verschrieben, hat meine Mutter sich schon wieder leidlich erholt. Ihre Krankheit ist ja im Grunde nichts anderes, als eine übergroße Nervosität. Daß sie die Erinnerung an ihr Unglück nicht überwinden kann und sich in nutzlosem Gram um das Verlorene verzehrt, ist die einzige Ursache all ihrer Anfälle und Leiden.«
»Wenn es nur das ist, sollen Sie die Hoffnung nicht aufgeben, daß es eines Tages wieder besser mit ihr werden könnte. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mich bemühen will, Ihrer Mutter wenigstens einen Teil ihres verlorenen Kapitals zurückzuverschaffen, und wenn sich das auch natürlich nicht von heute auf morgen machen läßt, so denke ich doch, es wird mir schließlich gelingen.«
Martha, die ihren Hut und ihr Jäckchen abgelegt hatte, trat zu ihm heran, und während sich ein feines Rot unter ihrer durchsichtigen Gesichtshaut verbreitete, sagte sie bittend:
»Sie sollen sich unsertwegen keine Aufregungen und Angelegenheiten bereiten, Herr Mansfeld! Wie wir diesen Gumbert kennen gelernt haben, ist es ja doch ganz sicher, daß alles, was Sie versuchen könnten, ein vergebliches Bemühen bleiben würde. Als es sich um die Wegnahme unserer wertvollen Möbel handelte, an denen meine Mutter mit ihrem ganzen Herzen hing, habe ich ihn fast kniefällig gebeten, uns wenigstens dies Aeußerste zu ersparen. Aber er blieb hart wie Stein und hatte auf alle meine Vorstellungen und Bitten keine andere Erwiderung, als daß es gegen seine Grundsätze sei, sich auch nur eines Tüpfelchens von seinem guten Recht zu begeben. Wenn der Jammer einer schutzlosen Witwe ihn nicht zu rühren vermochte, was könnten dann Ihre Vorstellungen bewirken – jetzt, nachdem er seine Beute längst in Sicherheit gebracht hat?«
»Warum wollen Sie meinen Beistand heute zurückweisen? Als ich Ihnen zum ersten Male davon sprach, sahen Sie die Sache nicht so hoffnungslos an.«
»Ach, damals – damals fühlte ich mich noch so grenzenlos unglücklich, daß selbst die schwächste Hoffnung auf eine Wendung unseres Schicksals wie ein belebender Sonnenstrahl auf mich wirkte. Jetzt aber habe ich mich in das Unabänderliche gefunden und bin ganz zufrieden mit meinem Lose.«
»Wirklich? – Sind Sie das, Fräulein Martha? Es will mir doch scheinen, als ob Sie sehr wenig Veranlassung hätten, von Ihrer gegenwärtigen Stellung beglückt zu sein.«
»Doch! Ich fühle mich sehr glücklich,« sagte sie leise. Und dann, während es ganz eigen in ihren blauen Augen aufleuchtete, fügte sie zaghaft hinzu: »Aber es würde mich sehr traurig machen, wenn ich denken müßte, Ihnen dadurch, daß ich Sie für unser Schicksal interessiert habe, Aerger und Widerwärtigkeiten bereitet zu haben.«
Werner Mansfeld sah sie an, und als sein Blick dem ihren begegnete, schoß auch ihm das Blut heiß ins Gesicht. Hastig fuhr er sich durch das wirre Haar, und dann, als wäre ihm dies Gespräch plötzlich aus irgend einem Grunde peinlich geworden, griff er nach dem vor ihm liegenden Briefe.
»Sie brauchen sich darum nicht beunruhigen. Ich werde unter keinen Umständen mehr für Sie tun, als sich mit meinen eigenen Interessen verträgt. – Wie steht es denn übrigens hier bei uns? Ich mußte Sie leider während des ganzen gestrigen Nachmittags allein lassen und bin erst am späten Abend nach Hause gekommen. Hat sich inzwischen etwas Besonderes zugetragen?«
Ueber das Gesicht der jungen Buchhalterin legte es sich wie ein Schatten.
»Es ist ein Kommis aus der Gutmannschen Kunsthandlung dagewesen, Herr Mansfeld – er sagte, daß sein Prinzipal sehr ungehalten sei wegen der Verzögerung in der Ablieferung der bestellten Bilder – und daß – ich muß es ja leider wiederholen – daß dies der letzte Auftrag gewesen sei, den die Firma Ihnen erteilt habe. Aber wenn Sie heute einmal bei Herrn Gutmann vorsprechen würden, so glaube ich doch, daß Sie den Verlust dieses besten Kunden noch abwenden könnten.«
Aber Werner schüttelte mit einem Stirnrunzeln den Kopf.
»Es liegt mir nicht viel daran. Und ich wüßte auch kaum, womit ich den Mann beschwichtigen sollte. Denn ich werde weder heute noch in den nächsten Tagen dazu kommen, die Abzüge fertigzustellen.«
Martha sah ganz erschrocken zu ihm herüber.
»Der Kommis betonte sehr nachdrücklich, wie wichtig die Lieferung für seine Firma sei,« wandte sie schüchtern ein. »Und Sie – und wir hatten es doch auch so fest versprochen.«
»Nun ja – man kann nicht immer halten, was man verspricht. Und er mag sich in Gottes Namen nach einem zuverlässigeren Lieferanten umsehen. War sonst noch etwas?«
Die Buchhalterin zögerte. Es fiel ihr offenbar schwer, mit ihrer Mitteilung herauszukommen. Beklommen sagte sie dann:
»Es war auch ein Notar da, um den während Ihrer Abwesenheit präsentierten Wechsel von Neuert & Hansen zu protestieren. Er hinterließ, daß das Papier bis heute mittag zwölf Uhr in seiner Kanzlei eingelöst werden könnte. Wenn ich sogleich hinginge –«
»Sie können sich die Bemühung ersparen, Fräulein Martha – denn ich habe das Geld nicht zur Verfügung.«
Sie schaute eine kleine Weile still in das Kontobuch, das sie sich zurechtgelegt hatte. Dann – mit einem anscheinend schwer erkämpften Entschlusse – brach sie das nach seinen letzten Worten eingetretene Schweigen:
»So erlauben Sie mir wenigstens, statt Ihrer zu Herrn Gutmann zu gehen. Wenn ich ihm vorstelle, daß Sie durch die unvorhergesehene Notwendigkeit einer wichtigen Geschäftsreise verhindert waren, Ihre Zusage einzulösen, wird er gewiß Rücksicht üben und Ihnen seine Kundschaft nicht entziehen.«
Es schien, daß Werner Mansfeld eine ablehnende Antwort auf den Lippen habe, aber ein Anschlagen der Haustürglocke hinderte ihn, sie auszusprechen. Martha machte eine Bewegung, als ob sie hinausgehen wolle, um zu öffnen, doch er kam ihr zuvor.
»Lassen Sie mich das besorgen!« sagte er hastig. »Wahrscheinlich ein Geschäftsreisender, den man am besten gleich zwischen Tür und Angel abfertigt.«
Mit einer Eilfertigkeit, die er sonst in solchem Fall niemals an den Tag gelegt hatte, ging er hinaus. Aber es war kein Geschäftsreisender, dem er sich da gegenüber sah, sondern es war seine Stiefschwester Herta, und mit dem ersten Blick sah er die furchtbare Erregung, die in ihren Augen flimmerte:
»Dem Himmel sei Dank, daß ich dich daheim finde, Werner!« sagte sie mit fliegendem Atem. »Ich kann dich doch unter vier Augen sprechen?«
»Gewiß, liebste Herta! Aber was ist denn Neues geschehen? Hat man ihn gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht so, wie du es vermutest. Wir können hier in dein Wohnzimmer eintreten – nicht wahr?«
Sie hatte die Hand schon auf die Klinke der Tür gelegt, von der sie nach Martha Heßlings Mitteilung vermuten mußte, daß sie in ihres Stiefbruders Wohnstube führte, aber Werner Mansfeld erfaßte ihren Arm.
»Nein – nicht da hinein, Herta! Die Zimmer sind noch unaufgeräumt, denn die Aufwärterin kommt erst gegen Mittag. Wir können recht wohl im Kontor miteinander reden. Ich brauche ja nur Fräulein Heßling fortzuschicken.«
Herta fügte sich seinem Willen; aber ihre Aufregung war so groß, daß sie sich ersichtlich Gewalt antun mußte, um die junge Buchhalterin, die sich bei ihrem Eintritt erhoben hatte, mit erzwungener Fassung zu begrüßen.
»Sie haben Ihr Versprechen, mich zu besuchen, bis jetzt nicht eingelöst, liebes Fräulein,« sagte sie. »Ich hoffe aber noch immer, Sie bald einmal bei mir zu sehen.«
Martha hatte die innere Unruhe, die sich hinter der freundlichen Anrede verbarg, wohl bemerkt; sie warf einen halb fragenden, halb bittenden Blick auf Werner, und es gewährte ihr augenfällig eine gewisse Erleichterung, als er sagte:
»Wenn Sie sich von einem Besuch bei Gutmann wirklich etwas versprechen, Fräulein Heßling, so will ich Sie nicht abhalten, hinzugehen. Aber ich wiederhole, daß mir nicht allzuviel an seiner Kundschaft gelegen ist, und daß ich für die nächsten Tage keine bindenden Verpflichtungen eingehen kann. Nachher aber brauchen Sie nicht hierher zurückzukehren, sondern können sich für den Rest des Tages der Pflege Ihrer Frau Mutter widmen. Ich wünsche ausdrücklich, daß Sie es tun.«
Sie hatte schon angefangen, sich zum Fortgehen fertigzumachen und mit einem leisen Dankeswort für die Gewährung des unverlangten Urlaubs schritt sie zur Tür. Herta reichte ihr noch einmal die Hand, die die junge Buchhalterin errötend annahm; dann waren die beiden Halbgeschwister allein.
Mit einer raschen Bewegung drehte Werner den in der Tür steckenden Schlüssel; dann – mit allen Anzeichen lebhaftester Spannung – wandte er sich gegen Herta.
»Was ist's also mit deinem Manne? Denn es handelt sich doch wohl um ihn?«
Die junge Frau hatte ein paar Knöpfe ihres Kleides auf der Brust geöffnet und ein zusammengefaltetes Briefblatt hervorgezogen, das sie dort verborgen.
»Lies!« sagte sie. »Es ist ein Brief von Paul, den ich vor einer Stunde erhalten habe.«
Mit einer Gebärde höchster Ueberraschung erhob Werner die Arme.
»Ein Brief – von ihm – den alle Welt für tot hält. Und das ist keine Täuschung, Herta? Kein Betrug?«
»Nein! Die Handschrift der Adresse war verstellt, aber in dem Briefe erkannte ich sie auf den ersten Blick. Und wenn du gelesen hast, wirst du alles verstehen.«
Jetzt erst griff er nach dem Blatt, das sie ihm entgegenhielt, und trat an das Fenster, um zu lesen, obwohl er auch da, wo er stand, Licht im Ueberflusse gehabt hätte.
Es waren steile, pedantisch gleichmäßige Schriftzüge, auf denen sein Auge ruhte, und die Worte, zu denen sie sich zusammenschlossen, lauteten:
»Meine geliebte Herta!
Ein Unglücklicher, Geächteter ist es, der sich an Dich wendet, und der damit sein Schicksal in Deine Hände legt. Denn ich bin mir wohl bewußt, eine wie furchtbare Gefahr ich mit diesem Briefe über mich heraufbeschwöre. Aber nachdem ich aus den Zeitungen erfahren habe, daß man an meine Ermordung glaubt, peinigt mich unablässig die Vorstellung der Aengste und Kümmernisse, denen Du um meinetwillen preisgegeben bist, und mein Gewissen treibt mich, wenigstens Dir die Wahrheit zu offenbaren, die vor der Hand noch keinem anderen kund werden darf. Nein, man hat mich nicht ermordet, und niemand hat mich bestohlen. Das Geld und die Wertpapiere, die man in meinem Tresor vermißte, ich selbst habe sie ihm entnommen. Und die Blutspuren, die man in meinem Arbeitszimmer gefunden, können einzig von einer Verletzung herrühren, die ich mir in der Hast meines Gebarens an dem scharfkantigen Riegel der Geldschranktür zugezogen. Diese Hast aber wirst Du verstehen, wenn ich Dir sage, daß ich an jenem Abend als ein Verzweifelnder nach Hause zurückkehrte – als ein Mensch, für den es kein anderes Heil und keine andere Rettung mehr gab, als eine schleunige Flucht. Eine unglückselige Verirrung, über deren Natur ich mich auch Dir gegenüber nicht aussprechen kann, hat mich in die Hand von Menschen gegeben, auf deren Mitleid und Nachsicht ich mir keine Hoffnung mehr machen durfte. Ich mußte mit einer Denunziation bei der Staatsanwaltschaft und vielleicht schon für den nächsten Tag mit meiner Verhaftung rechnen. Diesem Aeußersten zu entrinnen, blieb mir nichts als eine heimliche Entfernung. Und so spät erst hatte ich Kenntnis von der mich bedrohenden Gefahr erlangt, daß mir nicht Zeit blieb, meine Vorbereitungen zu treffen. Es wäre mir ein leichtes gewesen, mich am nächsten Morgen mit ausreichenden Mitteln zu versehen; aber ich durfte nicht bis zum nächsten Morgen warten. So wenigstens erschien es mir in meiner ersten wahnsinnigen Erregung. Darum mußte ich mich an Mitteln für meine Flucht mit dem begnügen, was ich eben im Hause hatte. Es war unglücklicherweise sehr wenig, denn ich hatte erst am Morgen jenes Tages sechstausend Mark an Theodor Neuhoff gezahlt, und es waren nicht mehr als knapp viertausend an barem Gelde in meiner Kasse verblieben. Weil ich befürchtete, mit einer so geringen Summe nicht weit zu kommen, gedachte ich noch einige leicht verwertbare Effekten mit mir zu nehmen. Auch wenn ich mich damit für den Augenblick an fremdem, mir anvertrautem Eigentum vergriff, verdiente mein Beginnen doch nicht den Namen einer Unterschlagung, denn mein zurückgelassenes Vermögen war zwanzigmal groß genug, um den Verlust zu ersetzen. Und sobald ich ein Land erreicht haben würde, von dem ich nach den bestehenden Verträgen eine Auslieferung nach Deutschland nicht zu befürchten hatte, wollte ich alles ordnen. Aber in meiner Aufregung beging ich einen unglückseligen Irrtum und nahm eine Anzahl von Pfandbriefen mit mir, die wegen des darauf befindlichen Sperrvermerks für mich absolut wertlos waren. Ich habe mich ihrer schon gestern dadurch entledigt, daß ich sie an die dortige Staatsanwaltschaft abschickte. Aber ich durfte mich nicht als den Absender bezeichnen, so lange ich noch deutschen Boden unter den Füßen habe. Denn wenn auch meine Feinde bis jetzt auf die beabsichtigte Denunziation verzichtet haben sollten, weil sie mich gleich allen anderen für einen Toten halten, so würden sie doch unfehlbar in demselben Augenblick gegen mich vorgehen, wo sie erfahren, daß ich noch unter den Lebenden weile. Die Aufrechterhaltung des Glaubens an meine Ermordung bedeutet für mich die einzige Hoffnung auf glückliches Entkommen. Ich darf natürlich auch Dir nicht verraten, wo ich mich in diesem Augenblick befinde, und welches meine nächsten Pläne sind. Alles, was ich Dir sagen kann, ist, daß ich eine günstige Gelegenheit abwarten muß, mich ungefährdet in einem deutschen oder holländischen, vielleicht auch in einem österreichischen Hafen einschiffen zu können. Aber ich werde Dir selbstverständlich unverzüglich Nachricht zukommen lassen, sobald ich mich in Sicherheit befinde. Und dann wird es an der Zeit sein, auch die Ordnung meiner Vermögensangelegenheiten zu betreiben und mit der Frage vor Dich hinzutreten, ob Du Dich in Deiner Liebe zu mir stark genug fühlst, das Los eines Verbannten zu teilen. Für heute war es mir einzig darum zu tun, Dich durch ein Lebenszeichen aus der Qual Deiner Ungewißheit zu befreien. Noch habe ich nicht den Mut, Dich um Verzeihung zu bitten für all das Ungemach, das ich durch die Verfehlung eines unbewachten Augenblicks über Dich gebracht habe. Und bis zu der Stunde, da ich Dir alles bekennen darf, bitte ich Dich einzig, ohne Groll und Verachtung zu gedenken
Deines unglücklichen Paul.«
Werner Mansfeld hatte eine sehr lange Zeit gebraucht, um diesen Brief zu Ende zu lesen, und als er sich endlich in das Zimmer zurückwandte, brannten fieberrote Flecken auf seinen Wangen.
»Da haben wir also die Bestätigung dessen, was ich von allem Anbeginn vermutet habe,« sagte er mit leicht verschleierter Stimme. »Und das scheinbar unlösliche Rätsel hat mit einem Schlage seine einfache Aufklärung gefunden. Und – was gedenkst du nun auf diesen Brief hin zu tun?«
Mit in den Schoß gefalteten Händen hatte die junge Frau dagesessen, so lange er mit der Lektüre des Briefes beschäftigt gewesen war. Und wie sie jetzt das Gesicht erhob, las er deutlich die verzweifelte Ratlosigkeit in ihren Zügen.
»Ach, wenn ich das wüßte, Werner! Aber ich komme mit allem Grübeln und Kopfzerbrechen zu keinem Entschluß. Ich darf doch nicht zur Verräterin und Angeberin werden an meinem eigenen Manne.«
»Und warum darfst du es nicht?« fragte er hart. »Willst du lieber untätig zusehen, wie ein Unschuldiger um seines Verbrechens und um seiner Feigheit willen leidet?«
»Ja, das ist das Schreckliche, das mir in jeder Minute des Tages und der Nacht vor Augen steht. Alles, alles würde ich hingeben, wenn ich Theodor Neuhoff damit Ehre und Freiheit zurückgewinnen könnte. Nur dies – nur dies eine kann ich und darf ich nicht für ihn tun.«
»Dies eine – es ist die Preisgabe von deines Mannes Geheimnis, was du darunter verstehst? So groß also ist deine Liebe zu ihm?«
Seine Frage hatte einen bitteren, vorwurfsvollen Klang gehabt, und heftig schüttelte Herta den Kopf.
»Sprich mir nicht von meiner Liebe zu ihm, Werner – nie wieder – ich bitte dich inständig darum. Ich habe die Lüge satt, die schmähliche Lüge gegen andere und gegen mich selbst. Was ich während dieser entsetzlichen Tage ständig wie einen quälenden Selbstvorwurf empfunden habe – und was ich mir doch nicht eingestehen wollte, weil es mir wie eine abgrundtiefe Schlechtigkeit vorkam – beim Lesen seines Briefes ist es mir mit einer Klarheit zum Bewußtsein gekommen, vor der aller Selbstbetrug zerrinnt. Nein, ich liebe meinen Mann heute so wenig, als ich ihn am Tage unserer Hochzeit geliebt habe. Und nicht einmal das, was ich damals für ihn empfunden, vermag ich heute in meinem Herzen wachzurufen. Ich hätte bis an mein Lebensende ruhig und gleichgültig neben ihm hergehen können, ohne zu gewahren, wie breit und wie tief in Wahrheit die Kluft geworden war, die mich von ihm trennte, und ohne zu merken, daß mein Leben unauflöslich mit dem eines mir innerlich fremden Menschen verflochten war. Er hatte es ja schon in den ersten Tagen unserer Ehe aufgegeben, den Verliebten und Leidenschaftlichen zu spielen, und er hatte überhaupt niemals von mir verlangt, daß ich ihm eine Zärtlichkeitskomödie vorspielte. So kam es, daß ich mir kaum noch irgend welche Gedanken über die traurige Leere und über die innere Verlogenheit meiner Ehe machte. Ich fühlte mich einsam und unglücklich, ohne recht zu wissen – warum. Jetzt aber weiß ich's, und jetzt weiß ich auch, daß es nichts Gemeinsames mehr gibt zwischen mir und diesem Manne, von dem ich in all den langen Monaten des Zusammenlebens nichts anderes kennen gelernt habe, als seine äußere Erscheinung.«
Werner Mansfeld hatte sich wieder dem Fenster zugekehrt und unverwandt in den trüben Wintertag hinausgestarrt, so lange sie sprach. Und auch jetzt, da sie innehielt, da er genötigt war, ihr zu antworten, drehte er sich nicht nach ihr um.
»So ungefähr habe ich euer gegenseitiges Verhältnis immer beurteilt,« sagte er. »Aber nach diesem Bekenntnis verstehe ich um so weniger, was dich abhält, Pauls Brief an die Untersuchungsbehörde weiterzugeben.«
»Wenn ich es täte, würde man Theodor Neuhoff aus der Haft entlassen müssen – nicht wahr?«
»Ich denke wohl, daß man es tun müßte. Wenn es keinen Ermordeten mehr gibt, kann man doch unmöglich länger nach einem Mörder suchen.«
»Aber man würde gleichzeitig auch die Verfolgung meines Mannes aufnehmen? Er selbst ist jedenfalls davon überzeugt, und er hat mir diesen Brief geschrieben in dem festen Vertrauen, daß ich ihn als ein Geheimnis bewahren würde.«
»Und hast du nicht dies Vertrauen bereits getäuscht, indem du ihn mir gezeigt hast?«
»Ich konnte nicht anders, Werner! Ich mußte mit irgend einem Menschen darüber reden. Und ich weiß ja, daß du zu niemandem davon sprechen wirst, wenn ich dich darum bitte.«
»Aber du bist hierhergekommen, um meinen Rat zu erhalten, und ich rate dir noch einmal, die Pflicht gegen einen Schuldlosen höher zu stellen als die gegen einen Schuldigen.«
»Es war meine erste Eingebung, so zu handeln. Aber seitdem ich mir klar geworden bin über meine Empfindungen, seitdem fühle ich, daß ich es nicht darf.«
»Das verstehe ich nicht, Herta!«
»Nein, du kannst es auch nicht verstehen. Aber da ich dir schon soviel gesagt habe, sollst du auch das noch erfahren. Ich darf es nicht tun, weil – weil ich Theodor Neuhoff noch immer liebe.«
Er fuhr mit einer raschen Wendung nach ihr herum.
»Was ist das, Herta? Und noch immer – sagst du? Es gab also etwas Derartiges schon, ehe du Paul Leonhardts Frau wurdest?«
Mit müdem, todestraurigem Gesicht neigte sie bejahend den Kopf.
»Noch zu Lebzeiten unseres armen Vaters hatte ich mich heimlich mit ihm verlobt. Und ich habe das Verlöbnis aufgehoben, als man mir von dem leichtfertigen Lebenswandel erzählte, den er in Berlin führen sollte. In einem Augenblick, da ich mich über sein Verhalten in meinem Vertrauen und in meiner Mädchenehre tödlich beleidigt fühlte, schickte ich ihm seine Briefe zurück und gab ihn frei. Heute darf ich ja gestehen, daß mich dabei die Hoffnung erfüllte, er würde sich verantworten und rechtfertigen können, oder sich wenigstens durch die Aufrichtigkeit seiner Reue meiner Verzeihung würdig machen. Aber er hielt es nicht der Mühe wert, mir überhaupt etwas zu erwidern. Und in der trotzigen Auflehnung meines tief verletzten Stolzes, unter dem unablässigen Zureden meiner Umgebung ließ ich mich in einem unglückseligen Augenblick verleiten, Paul Leonhardts Bewerbung anzunehmen.«
»Ohne daß du aufgehört hattest, den andern zu lieben? Und Neuhoff hat keinen Versuch gemacht, dich zurückzugewinnen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Als meine Verlobung bekannt gemacht worden war, schickte auch er mir meine Briefe zurück – das war alles. Und damals glaubte ich, daß in meinem Herzen alles erstorben sei, was ich einst für ihn gefühlt. Aber ich habe mich damit belogen, wie ich mich in so vielem anderen belogen habe. Ich brauchte ihn nur zum erstenmal wiederzusehen, um inne zu werden, daß in Wahrheit er allein der Gegenstand und das Ziel der unbestimmten Sehnsucht gewesen war, an der all diese Zeit hindurch meine einsame Seele gekrankt hatte.«
»Meine arme Herta!« murmelte er, und seine dunklen, krankhaft umschatteten Augen ruhten voll innigsten Mitleids auf ihrem blassen Gesicht. »Ja, nun verstehe ich, was du heute leidest.«
»Ich hätte dir die beschämende Beichte nicht abgelegt, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, daß du mich verstehen würdest. Ich dürfte vielleicht zur Verräterin an meinem Manne werden, wenn der Unschuldige, den man als seinen Mörder ins Gefängnis geworfen, mir ein Fremder wäre. Aber ich darf einen ungeliebten Gatten nicht der Verfolgung und der Bestrafung ausliefern, um den Mann zu retten, den ich liebe. Auch wenn die ganze Welt meine Handlungsweise guthieße, vor meinem eigenen Gewissen würde ich doch bis an das Ende meines Lebens wie eine Verworfene und eine Ehebrecherin dastehen.«
Werner Mansfeld mochte fühlen, daß es nutzlos sein würde, ihr zu widersprechen. Aber er sah so bedrückt und niedergeschlagen aus, als hätten ihre Worte ihm eine schwere Enttäuschung bereitet. Wie in düsterem Grübeln blickte er vor sich hinaus, und eine geraume Weile war verstrichen, ehe er das verstummte Gespräch wieder aufnahm.
»Nehmen wir also an, es gelänge deinem Manne, sich nach einem überseeischen Hafen zu flüchten, und er hielte sein Versprechen, dir von dort aus eine Nachricht zu geben, die du nicht gleich der heutigen zu verheimlichen brauchtest, – hast du auch daran gedacht, Herta, daß darüber selbst im günstigsten Fall eine ziemlich lange Zeit vergehen müßte, und daß der Verdacht des Mordes vielleicht bis dahin auf Theodor Neuhoff ruhen bleibt?«
Die junge Frau erhob den Kopf, und er war überrascht von dem Ausdruck einer festen und zuversichtlichen Entschlossenheit, den ihre Züge angenommen hatten.
»Nein, das soll nicht geschehen – denn wenn ich dies Opfer nicht für ihn bringen durfte, etwas anderes kann ich doch für ihn tun – etwas, das ich vor meinem Gewissen verantworten kann – jetzt, nachdem ich den Beweis dafür in den Händen halte, daß er so wenig ein Dieb als ein Mörder ist.«
»Ich verstehe nicht, wie das gemeint ist, Herta!«
»Und du darfst mir nicht zürnen, wenn ich es dir in diesem Augenblick nicht deutlicher erkläre. Ist es geschehen, so wirst du es vermutlich auch erfahren. Und wenn ein Tag kommen sollte, an dem die Welt mich deshalb verdammt, dann wirst du dich an das Geständnis erinnern, das ich dir vorhin abgelegt habe, und wirst mich nicht verachten.«
Von einer augenfälligen Unruhe erfaßt, trat er auf sie zu.
»Hast du mich soweit deines Vertrauens gewürdigt, um mir zu offenbaren, was du wahrscheinlich keinem andern eingestanden hättest, warum willst du mir dann ein Geheimnis machen aus dem, was du da vorhast? Fürchtest du etwa, ich könnte deine Absichten durchkreuzen?«
»Vielleicht fürchte ich das in der Tat. Aber wenn du mir auch im vorhinein versprächest, mich gewähren zu lassen – ich könnte doch nicht darüber reden, bevor es geschehen ist. Und – nicht wahr, Werner – du bist mir darum nicht böse?«
»Ich habe kein Recht, dir böse zu sein; aber du darfst dich nicht darüber wundern, daß deine geheimnisvollen Andeutungen mich beunruhigen und ängstigen. Eine Frau, und zumal eine liebende Frau, läßt sich so leicht zu einer Uebereilung, einer Torheit hinreißen. Und wenn es sich bei deinem Vorhaben um etwas handelt, das nachher nicht mehr ungeschehen gemacht werden könnte – –«
Herta stand auf und legte ihre beiden Hände an seine Schultern.
»Quäle mich nicht – ich bitte dich inständig! Damit, daß ich den Brief meines Mannes verheimliche, begehe ich ein schweres Unrecht gegen einen Unglücklichen. Und wenn es mir gelungen ist, ein Mittel zu finden, durch das ich dies Unrecht wenigstens zum Teil wieder gutmachen kann, so darf ich nicht lange wägen und überlegen, ob meine Handlungsweise vor jedem Richterstuhle bestehen könnte. Und nun laß mich gehen! Mir ist, als ob ich wieder Ruhe finden müßte, wenn ich erst einmal ausgeführt habe, was ich mir vorgenommen.«
»Und den Brief hier – du hast die Absicht, ihn zu vernichten?«
»Nein! Ich könnte seiner doch eines Tages bedürfen, und bis dahin werde ich ihn so gut verbergen, daß niemand ihn findet.«
Sie hatte ihm das Blatt aus der Hand genommen und schob es wieder unter ihr Kleid. Während sie sich dann den vorhin abgestreiften Handschuh anzog, fragte Werner:
»In dem Briefe selbst ist der Ort der Aufgabe nicht genannt – aber er muß doch aus dem Poststempel ersichtlich sein – hast du darauf geachtet?«
»Ja, der Brief ist in Dresden-Altstadt zur Post gegeben. Und der Kriminalkommissar sagte, daß von dort her auch die Pfandbriefe gekommen seien. Es scheint also sicher, daß Paul sich noch immer ganz in unserer Nähe aufhält. Wenn ihm so viel daran liegt, sich zu verbergen, so ist das sehr unvorsichtig. Denn ich weiß aus seinem eigenen Munde, daß er in Dresden viele Bekannte hat.«
»Deshalb glaube ich auch nicht daran, daß er sich dort befindet. Aber es ist jedenfalls müßig, daß wir uns den Kopf darüber zerbrechen, denn die Wahrheit würden wir doch schwerlich ergründen. Kehrst du jetzt nach Hause zurück?«
»Nicht auf dem geraden Wege, denn ich habe zuvor etwas Wichtiges zu erledigen.«
»Und willst du mir gestatten, dich zu begleiten?«
Aber Herta bat ihn, davon Abstand zu nehmen. Das, was sie vorhatte, sollte, bis es getan war, offenbar ihr ängstlich gehütetes Geheimnis bleiben.