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Von starken Kopfschmerzen gepeinigt, die sich bei ihr als eine unausbleibliche Folge jeder heftigen Gemütsbewegung einzustellen pflegten, lag Herta auf dem Ruhebett in ihrem verdunkelten Zimmer. Sie hatte während des gestrigen Tages nicht weniger als dreimal den Besuch des Kriminalkommissars empfangen müssen, der auf hundert Fragen Auskunft zu erhalten wünschte, und sie war an diesem Morgen, von einer unerträglichen Unruhe dazu getrieben, unaufgefordert zu dem Untersuchungsrichter Werkenthin gefahren, dessen Namen sie gestern aus dem Munde des Kommissars erfahren hatte. Völlig erschöpft war sie nach mehr als einstündigem Verweilen in seinem Amtszimmer nach Hause zurückgekehrt, und ihr Nervensystem befand sich in einem Zustande so hochgradiger Ueberreizung, daß sie sogar Margots Anerbieten, ihr Gesellschaft zu leisten, mit einem freundlichen Dankeswort hatte zurückweisen müssen.
Als nun aber das Hausmädchen nach behutsamem Anklopfen eintrat, um ihr zu melden, daß Herr Mansfeld gekommen sei und den dringenden Wunsch habe, sie wenigstens auf einige Minuten zu sehen, raffte sie all ihre Kraft zusammen und richtete sich von dem Ruhebett empor.
»Führen Sie meinen Bruder hierher,« sagte sie. »Für ihn bin ich selbstverständlich immer zu sprechen.«
Unmittelbar darauf trat er über die Schwelle, ein wohlgebauter, dunkelhaariger Mann, dessen äußere Erscheinung noch immer etwas von dem Typus seines ehemaligen Künstlerberufes hatte.
»Meine arme, arme Herta!« – Das war alles, was er im Augenblick des Wiedersehens mit vor Erregung bebender Stimme herauszubringen vermochte. Aber mit so leidenschaftlichem Ungestüm schloß er zugleich die Halbschwester in seine Arme, daß es für die junge Frau nicht vieler weiterer Versicherungen bedurfte, um sie von der Echtheit seiner Teilnahme zu überzeugen.
»Dem Himmel sei Dank, daß du endlich da bist!« flüsterte sie, ihren schmerzenden Kopf an seine Schulter lehnend. »Ich habe ja so lange und so sehnsüchtig auf dich gewartet.«
»Eine Verkettung unglücklicher Umstände hat meine Rückkehr verzögert. Nachdem sich meine geschäftlichen Verhandlungen in Berlin zerschlagen hatten, war ich genötigt, noch einen kleinen Abstecher zu machen, und so kam es, daß mich dein Telegramm erst beinahe gleichzeitig mit den Zeitungsnachrichten über das hier Geschehene erreichte. Wie Schreckliches mußt du während dieser furchtbaren Tage erduldet haben, mein armes, armes Schwesterchen!«
»Ja, Werner, es ist entsetzlich! Und noch immer fällt es mir schwer, zu glauben, daß dies alles etwas anderes sein könnte, als ein wüster, grausiger Traum. Daß man meinen unglücklichen Mann ermordet haben soll – kannst du es denn fassen?«
»Nein!« erklärte er mit Entschiedenheit. »Und ich glaube auch nicht daran. Ich bin ganz sicher, daß sein Verschwinden sich bald in anderer Weise aufklären wird.«
»O, wenn das möglich wäre! Aber woher soll ich den Mut nehmen, jetzt noch darauf zu hoffen? Und daß man Theodor Neuhoff beschuldigt, sein Mörder zu sein! Aber du hast von diesem Gräßlichen vielleicht noch nicht einmal gehört?«
»Doch! Ich habe es vorhin bei meiner Ankunft gelesen. Es ist natürlich heller Wahnsinn. So oberflächlich auch immer meine Bekanntschaft mit dem jungen Neuhoff gewesen ist, und so viel Zeit auch vergangen ist, seit ich ihn zum letzten Male gesehen, darüber, daß er ein so ungeheuerliches Verbrechen nimmermehr begangen haben kann, gibt es für mich doch nicht den allergeringsten Zweifel.«
»Gott sei Dank, daß ich endlich einen Menschen habe, der von seiner Schuldlosigkeit ebenso fest überzeugt ist, wie ich! Mein Kopf ist ja noch ganz wirr von all den fürchterlichen Dingen, die mir vorhin der Untersuchungsrichter vorhielt, um mir klarzumachen, daß kein anderer meinen Mann ermordet haben könnte, als er.«
»Hoffentlich wird es unseren vereinten Bemühungen bald gelingen, liebste Herta, seine Ankläger ihres himmelschreienden Irrtums zu überführen. Weshalb aber plagt man dich mit diesen peinlichen Dingen? Wie kommt der Untersuchungsrichter überhaupt dazu, dich zu einer Vernehmung vorzuladen?«
»Er hat mich nicht vorgeladen, sondern ich bin aus freien Stücken zu ihm gegangen. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, Neuhoff unter einem so schrecklichen Verdacht im Gefängnis zu wissen, und ich hoffte, daß mein Zeugnis ausreichen würde, ihn zu befreien.«
»Nun? Und man hat deinem Zeugnis keinen Wert beigelegt? Man beharrt dabei, ihn für einen Mörder zu halten?«
»Ja! – Der Untersuchungsrichter wurde zuletzt beinahe unwillig und sagte, alles, was ich da zu Theodor Neuhoffs Gunsten vorbrächte, wäre zwar ein überzeugender Beweis für die gute Meinung, die ich von seinem Charakter hegte, aber es könnte doch keine einzige von den Tatsachen aus der Welt schaffen, die ihn so schwer belasteten. Solange er sich nicht darüber ausweisen könne, was er von zehn bis zwölf Uhr hier im Hause getrieben, solange bleibe auch der Verdacht auf ihm haften, meines Mannes Mörder zu sein.«
»Es ist ein Unglück für ihn, daß die Leute in seinem Hotel ihn nicht haben heimkehren sehen – das sagte allerdings auch ich mir bereits, als ich den Zeitungsbericht las. Hoffentlich findet sich noch irgend ein Zeuge, der ihn in diesem Punkte zu entlasten vermag.«
In [hoffnungsloser] Entmutigung schüttelte die junge Frau den Kopf.
»Wie sollte das möglich sein, Werner, da doch Deibler mit aller Bestimmtheit erklärt, daß er ihn erst um Mitternacht habe fortgehen sehen? Deibler ist ein rechtschaffener Mann, und er hätte doch auch gar kein Interesse daran, falsches Zeugnis abzulegen. Das ist es ja eben, worüber ich mir unablässig den Kopf zermartere. Was kann er so lange hier im Hause angefangen haben? Und warum weigert er sich, Auskunft darüber zu geben? Wenn er bis um Mitternacht in Margots Gesellschaft verweilt hätte, wie dürfte sie es dann geschehen lassen, daß man ihn deshalb für einen Mörder hält? Und sie würde es auch nicht verschweigen, denn ich glaube – ich glaube, daß sie ihn liebt.«
»In der Tat? Glaubst du das, Herta? Das abendliche Rendezvous im Wintergarten scheint ja allerdings dafür zu sprechen. Aber wie auch immer es sich damit verhalten mag, auf die bloße Aussage dieses Deibler hin könnte man ihn nicht verurteilen – man könnte nicht – es wäre einfach undenkbar! Darum sollst du dir seinetwegen nicht unnötige Sorge machen. Seine Untersuchungshaft kann nach meiner felsenfesten Ueberzeugung selbst im ungünstigsten Fall nicht länger als wenige Tage währen, und seine Rechtfertigung wird eine so vollständige sein, daß auch nicht der kleinste Makel an seinem Namen haften bleibt.«
In seiner Zuversichtlichkeit war etwas Ansteckendes, das Herta ersichtlich wie eine große Wohltat empfand, und das auch auf ihre körperlichen Leiden allgemach lindernd zu wirken begann. Sie ging selbst zum Fenster, um die verdunkelnden Vorhänge zurückzuziehen, da ihr das helle Tageslicht jetzt nicht mehr so unerträglich war wie noch vor einer halben Stunde. Aber als dies Licht jetzt voll auf das Gesicht ihres Stiefbruders fiel, erschrak sie vor der Blässe und der Hagerkeit seiner Wangen, die ihr bisher in der dämmerigen Beleuchtung nicht hatten auffallen können.
»Wie angegriffen du aussiehst, Werner!« sagte sie voll aufrichtiger Besorgnis. »Fühlst du dich denn nicht wohl?«
Werner Mansfeld strich sich mit einer nervösen Handbewegung das dichte Haar aus der Stirn.
»Sei unbesorgt, liebste Herta – ich bin ganz gesund. Es ist nur die Aufregung über dein Telegramm und über die schrecklichen Neuigkeiten, die ich aus den Zeitungen erfahren mußte, was mich ein bißchen mitgenommen hat. Außerdem – aber es sollten ja nicht meine Angelegenheiten sein, von denen wir jetzt reden wollen.«
»Doch, Werner,« drängte sie. »Du sollst es mir nicht verheimlichen, wenn du Sorgen hast. Seitdem ich vorgestern draußen bei dir gewesen bin, habe ich mir ohnedies beständig bittere Vorwürfe darüber gemacht, daß ich mich bisher viel zu wenig um deine Angelegenheiten gekümmert habe.«
Etwas wie ein leises Mißtrauen war in dem forschenden Blick, den Werner Mansfeld auf das Gesicht der Sprechenden richtete.
»Fräulein Heßling hat mir vorhin bei meiner Heimkehr von deinem Besuche erzählt,« sagte er. »Aber ich weiß nicht, inwiefern dieser Besuch für dich eine Veranlassung geworden sein könnte, dich mit derartigen törichten Vorwürfen zu quälen. Du hattest doch wohl kaum erwartet, einen großartigen Betrieb vorzufinden, oder in die Behausung eines Krösus zu kommen.«
»Nein – das wohl nicht. Aber daß du dich in so armseligen Verhältnissen behelfen müßtest, hatte ich doch nicht gedacht. Vielleicht hast du in all dieser Zeit mit wirklichen Verlegenheiten zu kämpfen gehabt, während es dich doch niemals mehr als ein einziges Wort gekostet hätte, um den Beistand meines Mannes zu erlangen. Ich weiß, daß er immer die allerbeste Meinung von dir hatte, und ich habe mich oft über sein freundschaftliches und herzliches Benehmen gegen dich gefreut.«
»Gewiß – er würde sich nicht geweigert haben, mich durch ein Darlehen zu unterstützen, wenn ich ihn darum gebeten hätte. Aber es gab für mich nicht die mindeste Veranlassung, das zu tun. Mein Geschäftsbetrieb wirft bis jetzt sehr wenig Gewinn ab, und hier und da fehlt es auch nicht an kleinen Bedrängnissen; aber das sind Unannehmlichkeiten, die keinem Anfänger erspart bleiben, und deren ich mich bisher noch immer aus eigener Kraft zu erwehren vermochte. Gerade weil ich unsere verwandtschaftlichen Beziehungen ganz ungetrübt erhalten wollte, habe ich es immer vermieden, als ein Bittender zu deinem Manne zu kommen. Das Wenige, dessen ich zur Befriedigung meiner persönlichen Bedürfnisse benötige, war ja auch immer vorhanden.«
»Ich fürchte, du bist jetzt nicht ganz aufrichtig gegen mich, Werner! Deine Sorgen sind drückender, als du es mir zugeben willst. Und du hast auf dieser Geschäftsreise irgend eine unangenehme Enttäuschung erfahren.«
»Nun ja – ihr Ergebnis hat meinen Erwartungen nicht entsprochen – daraus brauche ich kein Geheimnis zu machen. Ich hatte seit Wochen mit einer großen Berliner Firma unterhandelt, die geneigt schien, mir durch Hergabe eines beträchtlichen Kapitals zu einer lange geplanten Erweiterung meiner Kunstanstalt zu verhelfen. Nur noch ein paar geringfügige Differenzen sollten durch eine persönliche Besprechung beseitigt werden; aber als ich jetzt nach Berlin kam, stellte man mir Bedingungen, auf die ich unmöglich eingehen konnte. Die Sache ist vollständig gescheitert, und ich werde wohl oder übel unter den bisherigen bescheidenen Verhältnissen weiterarbeiten müssen, falls ich es nicht vorziehe, die ganze Geschichte zu verkaufen und anderswo mein Heil zu versuchen.«
»Nein, Werner, das darfst du nicht! Du darfst mich jetzt nicht verlassen. Ich fühle mich so entsetzlich hilflos und vereinsamt, und ich habe doch jetzt auf der ganzen weiten Welt keinen Menschen außer dir.«
»O, es ist auch nicht davon die Rede, daß ich heute oder morgen von hier fortgehen könnte. Und so lange dir mein Beistand von irgend welchem Nutzen sein kann, werde ich unter allen Umständen bleiben. Uebrigens – da wir nun doch einmal von meinen Angelegenheiten sprechen – es scheint, daß du dich sehr lange und eingehend mit meiner Buchhalterin unterhalten hast. Ich habe sie noch nie von einem Menschen mit so schwärmerischer Begeisterung sprechen hören, wie von dir.«
»Es freut mich, das zu hören, denn das junge Mädchen hat einen überaus sympathischen Eindruck auf mich gemacht, und wenn sie sich in ihrer Arbeit ebenso brauchbar erweist, als sie anmutig und liebenswürdig ist, so hast du sicher eine sehr gute Wahl getroffen.«
»Eine gute Wahl – soweit ihre Stellung als Buchhalterin in Frage kommt? Das ist es doch wohl, was du meinst?«
»Freilich! Wie sollte ich es denn sonst gemeint haben, Werner?«
Wieder strich er sich mit der eigentümlich fahrigen Geste durch das Haar.
»Natürlich – natürlich! Aber du beurteilst sie vollkommen richtig. Und du hast bei einer so flüchtigen Begegnung ihre vortrefflichen Eigenschaften überdies nur sehr oberflächlich kennen lernen können. Denn sie ist ein ganz außerordentliches Geschöpf, ein Mädchen, dem das glänzendste Los beschieden sein müßte, wenn in dieser närrischen Welt die Tugend jemals nach Verdienst belohnt würde. Schon der Heldenmut, mit dem sie sich für ihre kränkliche Mutter aufopfert, wäre des höchsten Lohnes wert.«
»Sie deutete mir an, daß sie früher in besseren Verhältnissen gelebt habe.«
»Ja. – Ihre Mutter ist durch die Betrügereien eines Schurken um ihre ganze Habe gebracht worden. Und während der spitzbübische Gauner, dem nach dem Buchstaben des Gesetzes nichts anzuhaben ist, heute im Ueberflusse schwelgt, werden die beiden schutzlosen Frauen sich vielleicht bis an das Ende ihrer Tage mit der gemeinen Not des Lebens herumschlagen müssen.«
»Es wäre denn, daß Fräulein Heßling die Liebe eines braven Mannes gewinnt, der sie ein für allemal der Notwendigkeit dieses schmerzlichen Kampfes überhebt. Und bei dem Liebreiz ihrer Erscheinung ist dazu doch wohl einige Aussicht vorhanden.«
Mit beinahe leidenschaftlichem Ungestüm war Werner Mansfeld emporgefahren.
»Soll sie sich vielleicht um schnödes Geld an den ersten besten verkaufen, den es nach ihrer Jugend und ihrer Schönheit gelüstet? Soll sie – – aber vergib! Es ist ja geradezu unverantwortlich, daß ich hier mit dir über das Schicksal eines Mädchens rede, die dir kaum mehr als eine gleichgültige Fremde sein kann, während dein Herz voll der schwersten Sorgen ist. Natürlich müssen wir zunächst alles daran setzen, um diese Legende von der Ermordung deines Mannes zu zerstören, denn so lange man an ein Verbrechen glaubt, wird man natürlich nicht aufhören, nach dem Verbrecher zu suchen, und wer weiß, ob nicht noch so und so viele andere Unschuldige das Schicksal dieses armen Neuhoff teilen müßten.«
»Aber wenn er nicht ermordet worden ist, Werner, was – um des Himmels willen – sollte dann aus ihm geworden sein? Daran, daß er selbst seinem Leben ein Ende gemacht haben könnte, ist bei der Art seines Charakters doch nicht zu denken. Und wenn ihm hier im Hause ein Unfall zugestoßen wäre, hätte man ihn doch gefunden.«
Werner Mansfeld blickte eine kleine Weile in angestrengtestem Nachdenken vor sich nieder.
»Aber er könnte doch noch einmal das Haus verlassen haben, ohne daß Deibler sein Fortgehen bemerkt hätte,« sagte er endlich. Und als die junge Frau ungläubig den Kopf schüttelte, fügte er hastiger hinzu:
»Mir scheint, daß die ganze Untersuchung viel zu einseitig und viel zu sehr unter dem Einfluß einer vorgefaßten Meinung betrieben wird. Man denkt immer nur an einen Mord, oder allenfalls an einen Selbstmord, obwohl mir nach Lage der Dinge gerade diese beiden Möglichkeiten als die am wenigsten wahrscheinlichen vorkommen wollen. Warum beschäftigt man sich gar nicht mit der mindestens ebenso naheliegenden Vermutung, daß er sich aus irgend einer Veranlassung heimlich von hier entfernt haben könnte?«
»Und warum sollte Paul geflohen sein, Werner? Er müßte doch irgend einen Grund dazu gehabt haben. Und ich kann keinen finden, soviel ich auch grübeln und nachdenken mag. Er war wohlhabend und angesehen; es gab nichts, das ihn bedrückte, und er konnte sich sein Leben hier ganz nach seinem Gefallen einrichten. Was sollte ihn da bestimmt haben, mittellos in die weite Welt hinauszugehen?«
»Bist du so sicher, daß er mittellos war? In dem Zeitungsbericht ist doch davon die Rede, daß dem Geldschrank Wertpapiere im Betrage von beinahe dreißigtausend Mark entnommen worden sind. Und außerdem verfügte er ohne Zweifel über so viele andere Hilfsquellen, daß er sich leicht Tausende verschafft haben kann. Was aber den Anlaß zu einer Flucht betrifft – mein Gott, es ließe sich deren mehr als einer denken. Vielleicht hatte er irgend etwas auf dem Gewissen – eine heimliche Schuld, von der wir nichts ahnten. Gerade während der letzten Wochen habe ich die Erfahrung machen müssen, daß man nicht überall Gutes von deinem Manne spricht, Herta!«
Mit einer lebhaft abwehrenden Handbewegung hinderte ihn die junge Frau, weiterzureden.
»Nein – nein – nicht so, Werner! Paul mag seine Schwächen und seine Fehler gehabt haben, wie jeder andere Mensch. Und sicherlich hat es ihm auch nicht an Feinden und Widersachern gefehlt. Wir beide aber, denen er nur Gutes getan, und gegen die er sich niemals vergangen hat, wir dürfen keinen Schatten auf seinem Andenken dulden. Ich würde mir schlecht und undankbar vorkommen, wenn ich einen häßlichen Verdacht gegen ihn Wurzel fassen ließe in meinem Herzen.«
Werner Mansfelds Stirn hatte sich in finstere Falten gelegt.
»Hast du wirklich des Guten so viel von ihm erfahren, Herta? Daß er dich zur Frau genommen hat – jung, schön und blühend wie du warst – willst du es ihm vielleicht als eine Tat der Großmut und der Herzensgüte anrechnen? Oder willst du mich heute glauben machen, daß du an seiner Seite über die Maßen glücklich gewesen bist?«
»Ich kann dir darauf nicht antworten, Werner, und ich bitte dich von Herzen, mich nicht mit solchen Fragen zu quälen. Wenn ich in meiner Ehe nicht glücklich gewesen bin, so war der größere Teil des Verschuldens wohl bei mir, nicht bei meinem Manne. Wie hätte ich von ihm verlangen dürfen, was ich selber ihm nicht zu gewähren vermochte?«
Der Stiefbruder blieb ihr die Antwort schuldig, und erst nach einem langen Schweigen kam er auf das Thema zurück, von dem ihr Gespräch abgeschweift war.
»Schließlich gäbe es ja auch noch andere Erklärungen für eine heimliche Entfernung deines Mannes. Er war ohne Zweifel überarbeitet und krankhaft nervös. Ja, ich habe ihn nach gewissen Anzeichen sogar im Verdacht, daß er ganz im geheimen Morphinist war. Solche Menschen sind in ihren Handlungen oft unberechenbar, und es geschieht gar nicht selten, daß sie ohne jede vernünftige Ursache wochen- und monatelang unter dem Zwang einer quälenden Unruhe planlos in der Welt umherirren, ängstlich darauf bedacht, sich vor ihren Angehörigen zu verbergen und jede verräterische Spur hinter sich zu verwischen. Du kannst dir das Vorkommen dieser eigentümlichen Krankheit bei geistig sonst scheinbar ganz gesunden Menschen von jedem Arzt bestätigen lassen. Und wenn ich natürlich auch nicht behaupten kann, daß Paul –«
Er mußte sich mitten in seiner Rede unterbrechen, denn es war an die Tür des Zimmers geklopft worden, und auf Hertas Zuruf trat Margot über die Schwelle. Sie hatte offenbar nicht von Werner Mansfelds Anwesenheit gewußt, und es klang etwas gereizt, als sie nach ziemlich gemessener Erwiderung seines Grußes, gegen Herta gewendet, sagte:
»Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, daß du schon wieder wohl genug bist, um Besuch zu empfangen, so würde ich es dem Kriminalkommissar nicht so entschieden verwehrt haben, dich zu sprechen. Denn es schien ihm außerordentlich viel daran gelegen.«
»Mein Gott, welche weiteren Auskünfte soll ich ihm noch geben nach allem, was er mich bereits gefragt hat? Will man denn niemals aufhören, mich zu quälen?«
Auch Werner hatte eine mißbilligende Aeußerung für den offenkundigen Uebereifer des Beamten. Margot aber sagte in einem schroffen, abweisenden Ton, der ihrer untergeordneten Stellung eigentlich recht wenig entsprach:
»Mir scheint, daß der Kommissar für den Eifer, mit dem er sich der Sache widmet, gerade hier viel eher Dank und Anerkennung als Vorwürfe ernten sollte. Und diesmal hatte sein Erscheinen außerdem einen sehr triftigen Grund. Die vermißten Pfandbriefe aus dem Geldschrank des Herrn Doktors befinden sich nämlich seit diesem Morgen in den Händen der Untersuchungsbehörde.«
So gewaltig wirkte das Ueberraschende dieser Mitteilung auf die junge Frau, daß sie im ersten Moment nicht einmal eines Wortes oder eines Aufrufs fähig war; Werner Mansfeld aber machte zwei rasche Schritte auf die Gesellschafterin zu.
»Ist es möglich? Sind Sie dessen ganz gewiß? Aber mit der Herbeischaffung dieser Papiere muß doch auch alles andere seine Aufklärung gefunden haben.«
Margot schüttelte den Kopf.
»Im Gegenteil! Die Sache erscheint dadurch für den Augenblick nur noch rätselhafter und verworrener. Denn die Pfandbriefe sind der hiesigen Staatsanwaltschaft heute früh mit der Post zugegangen, und man hat bis jetzt außer dem Poststempel nicht den geringsten Anhalt, um die Person des Absenders zu ermitteln.«
»Außer dem Poststempel – sagen Sie? Die Sendung kam also aus einer anderen Stadt?«
»Ja – aus Dresden.«
»Und hat Ihnen der Beamte auch mitgeteilt, wann sie nach Ausweis des Stempels dort aufgeliefert worden ist?«
»Gestern abend zwischen sieben und acht Uhr. Der Kommissar hatte den Briefumschlag mitgebracht, in dem sich die Pfandbriefe ohne jede weitere Mitteilung befunden hatten, denn er wünschte zu erfahren, ob vielleicht irgend jemandem hier im Hause die Handschrift der Adresse bekannt sei, und ob wir etwas von Beziehungen deines Mannes zu einer in Dresden lebenden Persönlichkeit wüßten. Ich konnte beide Fragen natürlich nur für meine eigene Person verneinen, und es ist darum sehr wahrscheinlich, daß er im Laufe des Tages noch einmal kommen wird, um auch dir das Kuvert vorzulegen. Was übrigens die Handschrift betrifft, so war sie ganz unverkennbar absichtlich verstellt. Es war eine mit großer Geschicklichkeit ausgeführte Nachahmung von Druckbuchstaben, so daß es bei flüchtigem Hinsehen beinahe aussah, als wäre die Adresse mit der Schreibmaschine hergestellt.«
Werner Mansfeld war während ihrer letzten Rede, von der er darum doch kein Wort verloren hatte, lebhaft erregt im Zimmer auf und nieder gegangen.
»Das ist merkwürdig – höchst merkwürdig!« sagte er. »Und ich kann mir wohl denken, daß es den Herren schwer fällt, eine Erklärung dafür zu finden. Unter allen Umständen aber ist es doch ein unzweideutiger Beweis, daß es nicht Theodor Neuhoff gewesen sein kann, der die Pfandbriefe aus dem Geldschrank entwendet hat. Denn zu der Zeit, wo sie in Dresden zur Post gegeben wurden, befand er sich hier in Untersuchungshaft. Du siehst, liebste Herta, daß meine Prophezeiung, seine Schuldlosigkeit werde bald an den Tag kommen, sich noch schneller erfüllt hat, als ich selbst es zu hoffen wagte.«
»Dem Himmel sei Dank dafür!« kam es leise von den Lippen der jungen Frau. »Hast du von dem Kommissar gehört, Margot, ob man Herrn Neuhoff bereits aus dem Gefängnis entlassen hat?«
»Nein, das hat man nicht getan. Und man hält die Einsendung der Pfandbriefe durch eine andere Persönlichkeit nicht einmal für ein entlastendes Moment. Diese Leute haben sich so ganz in die Ueberzeugung verrannt, daß er der Mörder sein müsse, daß sie sich für alles eine Deutung in diesem Sinne zurechtzumachen wissen. Sie glauben jetzt, daß er einen Mitwisser haben müsse, dem er gleich nach der Tat die Pfandbriefe und vielleicht auch die noch fehlende Geldsumme übergeben oder übersandt habe, und sie sehen in der Rückgabe der für den unberechtigten Inhaber ohnedies ganz wertlosen Pfandbriefe nur einen Versuch, die Untersuchungsbehörde auf eine falsche Fährte zu führen.«
Mit einem schmerzlichen: »O, mein Gott!« verbarg Herta das Gesicht in den Händen. Werner Mansfeld aber geriet in die heftigste Erregung.
»Das ist unerhört!« rief er. »Das streift wahrhaftig schon nahe an bewußten Justizmord! Mit solchen überklugen Forderungen könnte man ja schließlich selbst ein unmündiges Kind zum Mörder stempeln. Es ist geradezu empörend, einen Wehrlosen der Willkür solcher Beamten preisgegeben zu sehen. Und man müßte irgend einen tüchtigen Rechtsanwalt veranlassen, sich der Sache dieses armen Neuhoff anzunehmen.«
»So tun Sie es doch, Herr Mansfeld!« sagte Margot. »Damit, daß wir uns hier in Zornesergüssen gegen die Behörden ergeben, ist ihm jedenfalls nicht geholfen.«
Eine schneidende Bitterkeit war im Klang ihrer Worte gewesen, und in dem Blick, den sie dabei auf die ganz in sich zusammengesunkene Herta gerichtet, sprühte es wie heißer Zorn. Werner Mansfeld aber war plötzlich verstummt. In finsterem Nachdenken schaute er eine Weile vor sich hinaus, um sich dann an seine Stiefschwester zu wenden:
»Es würde in der Öffentlichkeit vielleicht einen schlechten Eindruck machen, wenn ich zu Neuhoffs Gunsten etwas unternähme, was dich als seine Beschützerin erscheinen lassen könnte. Darum dürfen nicht wir es sein, die ihm einen Verteidiger bestellen. Aber ich hoffe, daß sich mir eine andere Möglichkeit bieten wird, ihm zu nützen. Denn darüber, daß wir die moralische Verpflichtung haben, ihm beizustehen, gibt es für mich keinen Zweifel. – Kann ich sonst in diesem Augenblick noch irgend etwas für dich tun, liebste Herta? Im anderen Falle möchte ich dich um die Erlaubnis bitten, mich zu verabschieden. Ich habe infolge meiner mehrtägigen Abwesenheit eine Menge geschäftlicher Arbeiten nachzuholen, und ich merke außerdem erst jetzt, in wie hohem Maße mich die Aufregungen und Strapazen dieser letzten Tage erschöpft haben.«
Sein Aussehen sprach deutlich genug dafür, daß er damit nur die volle Wahrheit sagte, und Herta selbst drängte ihn, zu gehen.
»Aber du läßt dich doch bald wieder bei mir blicken – nicht wahr?« bat sie innig. »Mir ist zumute, als säße ich mutterseelenallein inmitten der fürchterlichsten Schrecknisse auf einer wüsten Insel, und zum ersten Male habe ich in diesen Tagen empfunden, was die Sehnsucht nach einem mitfühlenden Menschenherz bedeutet.«
Noch ehe Werner imstande gewesen war, ihr zu antworten, hatte sich Margot mit einer unmutigen Gebärde erhoben und das Zimmer verlassen.
Als sich ziemlich geräuschvoll die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sagte er:
»Wie es scheint, hast du deine Freundin gekränkt, liebe Herta! Nach ihrem Benehmen wollte es mir überhaupt erscheinen, als ob nicht mehr das alte, vertraute Verhältnis zwischen euch bestände. Hattet ihr denn ein Zerwürfnis?«
Die junge Frau schüttelte verneinend den Kopf.
»Wir haben einander nichts zuleide getan, und ich habe keinen Grund, Margot einen Vorwurf zu machen. Denn am Ende war ich ja nicht berechtigt, zu verlangen, daß sie mich von ihren heimlichen Beziehungen zu Theodor Neuhoff unterrichtete. Aber ich kann trotzdem nichts daran ändern, daß ihre Gesellschaft mir keinen Trost und keine Erleichterung gewährt. Es gibt Augenblicke, in denen der Klang ihrer Stimme mir weh tut und in denen es mir geradezu unerträglich ist, ihr Gesicht zu sehen. Das ist gewiß sehr häßlich von mir, aber ich glaube, man muß in diesen Tagen ein wenig Nachsicht mit mir haben.«
Ein Schluchzen erschütterte ihren Körper, und Werner, unter dessen schwarzem Schnurrbart es ebenfalls verdächtig zuckte, trat auf sie zu, um seinen Arm zärtlich um ihre bebenden Schultern zu legen.
»Nur der schlechteste und gefühlloseste Mensch könnte dir diese Nachsicht versagen, mein armes, liebes Schwesterchen! Aber sei tapfer und getrost! Noch kann sich alles zum guten wenden, und du wirst mich jedenfalls zu allen Stunden als treuesten Freund an deiner Seite haben.«
Minutenlang verharrten sie in stummer Umarmung, dann mahnte Herta, ihre Tränen trocknend, den Stiefbruder mit freundlicher Eindringlichkeit an seine Pflichten gegen sich selbst, und nach einem letzten, langen Händedruck ging er tiefernsten, bekümmerten Antlitzes von dannen.