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Aus einem schweren, beängstigenden Traume erwachend, nahm Frau Herta Leonhardt wahr, daß sie ganz gegen ihre Gewohnheit bis in den hellen Tag hinein geschlafen hatte. Durch den schmalen Spalt zwischen den Fenstervorhängen stahl sich das kalte Sonnenlicht eines heiteren Wintermorgens in das Gemach, und ein Blick auf die Wanduhr, die ihrem Bett gegenüberhing, belehrte sie, daß es schon eine Viertelstunde über acht sei. Sie mußte also das Aufstehen ihres Mannes überhört haben, denn er verließ das Schlafzimmer im Winter wie im Sommer niemals später als um sechs Uhr morgens. Ein Blick auf sein Lager schien ihre Vermutung zu bestätigen; denn es war leer. Aber wie sie genauer hinsah, richtete sie sich mit einer Empfindung des Schreckens empor, denn die Kissen und die seidene Decke befanden sich noch genau in derselben Lage wie am Abend; es war unmöglich, daß das Bett inzwischen von jemandem benutzt sein konnte.
Hastig drückte Herta auf den zwischen den beiden Lagerstätten befindlichen Knopf der elektrischen Klingelleitung, und mit unverhehlter Besorgnis wandte sie sich an das unmittelbar danach eintretende Mädchen:
»Haben Sie meinem Manne das Frühstück bereits serviert, Henriette?«
»Nein, gnädige Frau! – Ich habe den Herrn Doktor heute überhaupt noch nicht gesehen. – Ich glaube, der Herr Doktor ist in dieser Nacht gar nicht nach Hause gekommen.«
Rasch hatte die junge Frau die Decke zurückgestreift und sich von ihrem Lager erhoben. Sie war auf das äußerste bestürzt, denn sie kannte die Gewohnheiten ihres Gatten viel zu gut, um nicht zu wissen, daß es ihm niemals in den Sinn kommen würde, eine Nacht zu durchschwärmen. Wenn die Annahme des Mädchens richtig war, ließ sich kaum etwas anderes annehmen, als daß ihm auf seinem abendlichen Ausgang etwas zugestoßen war, was ihn gegen seinen Willen an der Heimkehr verhindert hatte.
In einen leichten Morgenrock gehüllt und mit oberflächlich geordnetem Haar durcheilte Herta die Zimmer der Wohnung, ohne ihren Mann oder ein Anzeichen dafür zu finden, daß er sich während der Nacht in einem dieser Räume aufgehalten habe. Im Speisezimmer stieß sie auf Margot, die bereits vollständig angekleidet war, und mit hastigen Worten gab sie ihren bangen Befürchtungen Ausdruck. Die Freundin aber nahm die Sache sehr kühl.
»Wie kann man sich darüber aufregen!« meinte sie. »Es ist doch nichts so Außergewöhnliches, wenn ein Mann eine Nacht außerhalb seines Hauses zubringt, und man braucht sich um einen erwachsenen Menschen nicht zu ängstigen, wie um ein verlaufenes Kind. Gerade, wenn ihm etwas zugestoßen wäre, hättest du sicherlich längst Nachricht erhalten. Daß ein Mann von der Art des Herrn Rechtsanwalts sich etwa hätte in eine Mördergrube locken lassen, wirst du ja am Ende selbst nicht im Ernst für möglich halten.«
Nein, das glaubte Herta in der Tat nicht. Aber ihre Besorgnis war durch die Beschwichtigungsversuche der Freundin nicht zerstreut worden. Nach einer notdürftigen Vervollständigung ihrer Toilette eilte sie über die Wendeltreppe in das untere Stockwerk hinab, wo sich im großen Schreibzimmer der Bureauvorsteher und die Kanzlisten bereits eingefunden hatten. Auch hier wußte man nichts von dem Rechtsanwalt, und als Herta ihre Hand auf den Drücker der Tür legte, die aus der Kanzlei in das Privatkabinett führte und zugleich den einzigen Zugang zu demselben bildete, fand sie sie verschlossen. Sie erinnerte sich, daß außer dem Schlüssel, den ihr Mann immer bei sich trug, oben noch ein zweiter vorhanden sei, und sie beeilte sich, ihn zu holen.
Das Schloß gab ohne weiteres nach, aber im Zimmer ließ sich zunächst nichts erkennen, da die Rolläden vor den nach der Straße hinausgelegenen Fenstern noch herabgelassen waren. Einer der Schreiber zog sie auf den Wunsch der jungen Frau in die Höhe. Und der erste Gegenstand, auf den jetzt Hertas Augen fielen, war der anscheinend achtlos über einen Stuhl geworfene Pelz ihres Mannes. Es sah aus, als ob der Träger ihn in großer Hast abgelegt habe, denn Kragen und Aermel des kostbaren Kleidungsstückes waren auf den Boden gefallen. Und daneben auf dem Teppich lag auch der zusammengerollte Regenschirm, den Herta an dem eigentümlich geformten goldenen Griff sogleich als das Eigentum ihres Mannes erkannte.
Der Rechtsanwalt mußte also von seinem abendlichen Ausgang heimgekehrt sein und sich hier aufgehalten haben. Ja, er mußte sich nach Hertas Ueberzeugung noch immer im Hause befinden, denn es schien ihr undenkbar, daß er, der immer auf das ängstlichste um seine Gesundheit besorgt und namentlich gegen Kälte überaus empfindlich war, in der frostigen Winternacht noch einmal fortgegangen sein sollte, ohne seinen Pelz anzuziehen. Sie sah sich weiter im Zimmer um, und nun erst gewahrte sie darin die Spuren einer Unordnung, die den pedantischen Gewohnheiten ihres Mannes sehr wenig entsprach.
Eine Anzahl von Papieren war bis gegen die Mitte des Gemaches hin über den Fußboden verstreut; noch viel auffälliger aber mußte es ihr erscheinen, daß die dicke, stahlgepanzerte Tür des ganz in die Wand eingelassenen Geldschrankes, den der Rechtsanwalt zur Aufbewahrung der ihm anvertrauten Wertpapiere und wichtigen Dokumente benutzte, weit geöffnet war. Die auf dem Teppich liegenden Papiere stammten ohne Zweifel aus den Fächern dieses Schrankes, denn man konnte ja auf den ersten Blick erkennen, daß sein Inhalt von Händen, die sehr hastig gearbeitet haben mußten, durchwühlt worden war. Aktenstücke, Mappen und Briefumschläge lagen da in wirrem Durcheinander, als wären sie einer flüchtigen Musterung unterzogen und dann achtlos irgendwohin geworfen worden. Niemals, das war für Herta eine unumstößliche Gewißheit, würde ihr Gatte die peinliche Ordnung, die er allezeit unter seinen Sachen aufrecht hielt, auf eine so vandalische Weise zerstört haben.
»Hier muß etwas geschehen sein – etwas Schreckliches!« sagte sie mit kreideweißem Gesicht. »Das hat nicht mein Mann getan, sondern ein Fremder! – Wo – um des Himmels willen – wo sollen wir ihn suchen?«
Der Bureauvorsteher, der sich bis jetzt bescheiden an der Schwelle des Zimmers zurückgehalten, glaubte nun auch seinerseits einer Vermutung Ausdruck geben zu sollen.
»Es ist zehn Minuten über neun, gnädige Frau – und der Herr Rechtsanwalt hat um neun Uhr einen äußerst wichtigen Termin in Sachen Henkel wahrzunehmen. Wäre es nicht denkbar, daß er sich bereits vor acht in das Justizgebäude begeben haben könnte?«
Herta glaubte nicht an eine solche Möglichkeit, aber sie gab natürlich ihre Zustimmung, als der Bureauvorsteher vorschlug, sich durch eine telephonische Anfrage im Anwaltsbureau des Gerichtsgebäudes Gewißheit zu verschaffen. Der junge Mann benutzte den auf dem Schreibtisch seines Chefs befindlichen Fernsprecher, und die Verbindung war sehr bald hergestellt. Aber die von einem im Anwaltszimmer anwesenden Kollegen des Dr. Leonhardt erteilte Antwort war wenig danach angetan, Herta zu beruhigen, denn sie lautete dahin, daß der Termin in Sachen Henkel soeben vertagt worden sei, weil man den Dr. Leonhardt, den Vertreter der klagenden Partei, im Gebäude nicht habe auffinden können.
»Dann gibt es keinen Zweifel mehr, daß ihm etwas zugestoßen ist,« erklärte die junge Frau. »Einen wichtigen Termin würde mein Mann niemals versäumt haben.«
In diesem Augenblick stieß der Bureauvorsteher, der eben im Begriff gewesen war, den Apparat auf das Gestell zurückzulegen, einen kleinen Schrei aus, und auch sein Gesicht war blaß und verstört, als er sich Herta zuwandte.
»Hier auf dem Schreibtisch ist Blut, gnädige Frau – da und da – überall Blut.«
Herta fühlte ihre Knie wanken, aber sie zwang sich trotzdem, an den Tisch heranzutreten. Und sie sah, daß der andere sich nicht getäuscht hatte. Verschiedene von den Briefen und Papieren, die auch hier in wüstem Durcheinander über die Platte hingestreut waren, zeigten größere oder kleinere, unregelmäßig gefärbte rote Flecken, die sich kaum anders, denn als die von blutigen Händen zurückgelassenen Spuren deuten ließen.
Unfähig, sich länger auf den Füßen zu halten, sank Herta in einen Stuhl.
»Allgerechter Gott!« stöhnte sie. »Man hat ihn ermordet!«
Der junge Bureauvorsteher, der sich in der außerordentlichen Situation plötzlich ungeheuer wichtig vorkam, begann nun weiter im Zimmer Umschau zu halten, und das erste, was er feststellte, war der Umstand, daß der Geldschrank nicht unter Anwendung von Gewalt, sondern mit dem Schlüssel des Rechtsanwalts geöffnet worden war, denn der ganze Schlüsselbund steckte noch jetzt im Schloß der zurückgeschlagenen Tür.
»Aber auch hier ist Blut,« sagte der Kanzlist, »an verschiedenen Papieren, und da, an den vernickelten Teilen der Panzerung! Man kann es ganz deutlich erkennen, – wenn gnädige Frau sich überzeugen wollen – –«
Aber Herta fühlte sich dazu nicht mehr imstande. Vor ihren Augen flimmerte es, und ihre Glieder waren wie gelähmt.
»Man hat ihn ermordet!« wiederholte sie. »O, mein Gott – mein Gott – was sollen wir denn nur tun?«
Die Antwort kam nicht aus dem Munde des Bureauvorstehers, sondern von den Lippen Margots, die der Freundin gefolgt und soeben in der offenen Verbindungstür erschienen war.
Sie hatte Hertas letzte Worte gehört, und sie übersah mit einem einzigen Blick die im Zimmer herrschende Unordnung.
»Wie kann man nur gleich mit der schlimmsten aller Möglichkeiten rechnen!« sagte sie, ohne daß sich in ihrem Aussehen wie in ihrer Stimme eine besondere Erregung kundgegeben hätte. »Vorläufig gibt es für die Abwesenheit deines Mannes doch noch hundert Erklärungen, die näher liegen und sehr viel wahrscheinlicher sind als gerade diese.«
Herta hatte sich aufgerafft und warf sich schluchzend an die Brust der Gesellschafterin.
»Gib mir etwas von deiner Ruhe und von deiner Zuversicht, Margot! Und sage mir, was ich tun soll! Hier im Zimmer ist überall Blut, und mein Mann ist verschwunden. Er ist nicht in die Wohnung hinaufgekommen, und er ist auch nicht ins Gericht gegangen. Wo – wo sollen wir ihn suchen?«
»Blut – sagst du? – Und ist das nicht des Doktors Pelz, den er gestern abend beim Fortgehen trug?«
»Ja, sein Pelz und sein Schirm! Er ist also ganz sicher nach Hause gekommen, und nach seiner Heimkehr hat man ihn hier ermordet.«
Nun hatte auch das Gesicht der Gesellschafterin einen Ausdruck tiefen Ernstes angenommen.
»Das ist allerdings merkwürdig,« sagte sie. »Und unter solchen Umständen muß natürlich sofort die Polizei benachrichtigt werden. Wenn ich dir einen Rat geben soll, Herta, so ist es der, daß wir alle das Zimmer verlassen, und daß niemand es betreten darf, ehe jemand von der Polizei gekommen ist. Wir können ja inzwischen in den anderen Räumen nachsehen, ob sich nicht doch vielleicht ein Anhalt finden läßt, der uns den Verbleib deines Mannes erklärt.«
Sie war in diesem Augenblick ganz die kaltblütig entschlossene Tochter des alten Soldaten, der in drei Kriegen gelernt hatte, sich jedem Unerwarteten gegenüber seine ruhige Besonnenheit zu bewahren. Und ihre Gefaßtheit blieb nicht ohne wohltätige Rückwirkung auf die erregten Nerven der jungen Frau.
»Ich will alles tun, was du für richtig hältst, Margot! Aber wenn – wenn wir ihn nun finden – vielleicht als einen Toten –«
»So laß mich allein suchen! Ich würde mich auch vor diesem Aeußersten nicht fürchten, obwohl ich noch immer sehr weit davon entfernt bin, es für möglich zu halten.«
Da schämte sich Herta ihrer kleinmütigen Schwäche und erklärte, daß sie nicht ruhen würde, bis sie alle Winkel des Hauses durchforscht habe. Der Bureauvorsteher aber erhielt von Margot den Auftrag, sich unverweilt durch den Fernsprecher mit der Polizeibehörde in Verbindung zu setzen und um schleunigste Entsendung von Beamten zu ersuchen. Er mußte dazu den im Schreibzimmer befindlichen Apparat benutzen, denn das Privatkabinett, in dem nach ihrem Befehl nichts mehr hatte angerührt werden dürfen, wurde von Margot verschlossen, und sie ließ den Schlüssel in die Tasche ihres Kleides gleiten.
Dann begann die Arbeit des Suchens, an der sich scheu und zitternd auch die beiden Dienstmädchen beteiligten. Aber sie blieb ohne jedes Ergebnis. Und als man auch den letzten, entlegensten Winkel umsonst durchforscht hatte, fühlte sich Herta so erschöpft, daß Margot darauf bestand, sie solle sich wenigstens für eine Viertelstunde niederlegen; denn auch die Gesellschafterin, die äußerlich ihre volle Ruhe bewahrte, hegte jetzt keinen Zweifel mehr, daß der jungen Frau noch schwerere Stunden als die eben durchlebte bevorständen.
Als ein Schreiber mit der Meldung heraufkam, daß zwei Herren von der Kriminalpolizei da seien, erteilte Margot den Befehl, der Frau Rechtsanwalt vorläufig nichts davon zu sagen, und sie ging selbst hinunter, um an Hertas Stelle mit den Beamten zu reden.
Sie bat die Herren, deren einer sich ihr als der Polizei-Kommissar Schwarzenberg vorgestellt hatte, während der andere ein einfacher Kriminalschutzmann war, in das Wartezimmer einzutreten und erzählte ihnen mit kurzen Worten von dem rätselhaften Verschwinden des Dr. Leonhardt.
»Er muß am gestrigen Abend oder während der Nacht nach Hause zurückgekehrt sein,« schloß sie ihren Bericht. »Aber was dann aus ihm geworden sein kann, ist völlig unbegreiflich. Und die in seinem Arbeitszimmer wahrnehmbaren Blutspuren, wie der offenstehende Geldschrank und die unter den Papieren herrschende Unordnung müssen die Vermutung nahelegen, daß er hier im Hause das Opfer eines Verbrechens geworden ist.«
Der Kommissar erklärte, zunächst das Arbeitszimmer in Augenschein nehmen zu wollen und bat Margot, die sich ihm als eine mit den Verhältnissen vollkommen vertraute Hausgenossin des Verschwundenen zu erkennen gegeben hatte, um ihre Begleitung.
Aufmerksam sah er sich in dem Raume um und besichtigte die Blutspuren, auf die Margot ihn hinwies, aber er äußerte keine eigene Meinung darüber und rührte nichts an.
»Sie erkennen den Pelz mit Bestimmtheit als das Eigentum des Dr. Leonhardt?«
»Ja. Den Pelz und den Schirm. Da ist kein Irrtum möglich.«
»Und er trug den Pelz, als er gestern abend das Haus verließ?«
»Ja.«
»Können Sie angeben, wohin er gegangen ist?«
»Nein – auch seine Frau hegt darüber nicht einmal eine Vermutung. Der Rechtsanwalt sprach ihr in meiner Gegenwart davon, daß er eine Verabredung in geschäftlichen Angelegenheiten habe, sich aber bald loszumachen hoffe. Und eine weitere Frage hat sie dann nicht an ihn gerichtet.«
»Ging der Rechtsanwalt öfter des Abends zu solchen geschäftlichen Besprechungen aus?«
»Nein! Während des letzten Vierteljahres ist es nicht ein einziges Mal vorgekommen.«
»Es handelte sich also um einen ungewöhnlichen Ausnahmefall? Sie haben aber trotzdem nichts Auffälliges darin gefunden?«
»Ganz und gar nicht. Er selbst legte dem Ausgang ja auch offenbar keine sonderliche Bedeutung bei. Und da er wieder nach Hause gekommen ist, steht diese Verabredung doch wohl kaum in irgend welchem Zusammenhange mit seinem späteren Verschwinden.«
»Es wäre dessenungeachtet von Wichtigkeit, festzustellen, wo er sich zuletzt aufgehalten hat. Aber Sie sagen ja, daß Sie es nicht wissen. Es ist Ihnen auch nichts davon bekannt, daß der Rechtsanwalt etwa eine Veranlassung gehabt haben könnte, sich heimlich zu entfernen?«
Margot schüttelte den Kopf.
»Nein! Eine solche Veranlassung war gewiß nicht vorhanden. Dr. Leonhardt lebte in einer glücklichen Ehe und in den angenehmsten Verhältnissen. Die Möglichkeit einer Flucht ist nach meiner Ueberzeugung ebenso vollständig ausgeschlossen, wie etwa der Gedanke an Selbstmord. Er hatte sein Leben ohne Zweifel sehr lieb, denn er war stets voll der ängstlichsten Besorgnis um seine Gesundheit.«
»Die Schlüssel dort in der Tür des Geldschrankes – sie gehörten dem Rechtsanwalt?«
»Ja! Ich habe den Bund mit dem eigentümlich geformten Schlüsselring wiederholt in seinen Händen gesehen.«
»Und Sie glauben, daß er diesen Bund auch gestern bei sich getragen habe?«
»Meine Freundin sagte mir vorhin auf meine Frage, daß er ihn niemals von sich gelassen habe.«
»Sie haben die übrigen Räume des Hauses bereits durchsucht?«
»Bis in den letzten Winkel.«
»Eine nochmalige polizeiliche Nachsuchung wird sich trotzdem nicht umgehen lassen. Nur eine Frage noch, mein Fräulein! Gibt es unter Ihren Hausgenossen irgend eine Persönlichkeit, die sich nach Ihrem Dafürhalten mit einem an dem Rechtsanwalt verübten Verbrechen in Verbindung bringen ließe?«
Wieder machte Margot eine bestimmt verneinende Bewegung.
»Ich habe natürlich schon darüber nachgedacht, aber ich wüßte nicht, wen ich verdächtigen sollte. Der Haushalt des Dr. Leonhardt besteht aus seiner Frau, mir und zwei Dienstmädchen, die weder als Mörderinnen noch als Mitwisserinnen in Betracht kommen könnten, denn es sind zwei brave Personen, von denen die eine mit einem Postunterbeamten, einem sehr anständigen, gesitteten Menschen, verlobt ist, während die Köchin, die nahezu fünfzig Jahre alt ist, meines Wissens keinerlei Beziehungen nach außen hin unterhält. Sie ist überdies schon seit mehr als zehn Jahren im Dienste des Rechtsanwalts, dem sie vor seiner Verheiratung die Wirtschaft geführt hat.«
»Und das Kanzleipersonal?«
»Darüber habe ich allerdings kein Urteil. Ich weiß nur, daß der Doktor bei der Einstellung seiner Schreiber mit großer Vorsicht verfuhr, nachdem er einmal mit einem betrügerischen Bureauvorsteher, der sich später das Leben nahm, üble Erfahrungen gemacht hatte.«
»Das Haus ist aber noch von anderen Parteien bewohnt, als von der Familie des Rechtsanwalts?«
»Nur noch von der Eigentümerin, der halb gelähmten Witwe eines hohen Justizbeamten, und von dem Pförtner Deibler, der eine Frau und eine erwachsene Tochter hat.«
»Was für ein Mensch ist dieser Pförtner?«
»Ein Militärinvalide, der nach seinen vielen Orden und Medaillen zu urteilen, mit großer Auszeichnung gedient haben muß. Ich halte ihn für etwas beschränkt, aber für einen nüchternen und ruhigen Mann, der es mit der Bewachung des ihm anvertrauten Hauses fast übertrieben ernst nimmt.«
»Haben Sie diesen Mann noch nicht um die Wahrnehmungen befragt, die er etwa während der verflossenen Nacht gemacht hat?«
»Nein! Daran haben wir bisher nicht gedacht.«
»Sie sagen, mein Fräulein, daß Sie mit den persönlichen Verhältnissen des Rechtsanwalts vertraut seien. So wissen Sie vielleicht auch, ob er die Gewohnheit hatte, beträchtliche Summen in seinem Geldschrank zu verwahren?«
»Nein, darüber kann ich Ihnen eine Auskunft nicht geben. Der einzige, der darüber möglicherweise unterrichtet sein könnte, ist wohl der Bureauvorsteher.«
»Der Mann ist augenblicklich hier anwesend?«
»Er befindet sich nebenan im Schreibzimmer. Soll ich ihn hereinrufen?«
»Ich bitte darum, mein Fräulein!«
Margot öffnete die Verbindungstür.
»Der Polizeibeamte wünscht Sie zu sprechen, Herr Nenntwig!«
Der Gerufene trat ein, ein harmlos aussehender, noch ziemlich junger Mann mit hagerem, sommersprossigem Gesicht.
»Sie sind als Bureauvorsteher bei dem Rechtsanwalt Dr. Leonhardt angestellt. Und Sie haben jedenfalls bereits vernommen, daß die Angehörigen des Herrn Doktors durch sein unerklärliches Verschwinden beunruhigt werden. Hegen Sie auf Grund Ihrer Kenntnis der geschäftlichen Verhältnisse des Rechtsanwalts irgend eine Vermutung, die dies Verschwinden erklären könnte?«
»Nein, Herr Kommissar!«
»Sie wissen auch nicht, mit wem Ihr Chef gestern abend zu später Stunde noch eine Besprechung gehabt haben könnte?«
Der Gefragte schüttelte den Kopf.
»Wann haben Sie den Rechtsanwalt zuletzt gesehen?«
»Gestern abend um sieben, als die Kanzlei wie immer geschlossen wurde. Wie an jedem anderen Tage entfernte ich mich erst, nachdem sämtliche Schreiber gegangen waren, und wünschte dem Herrn Doktor, der arbeitend an seinem Schreibtisch saß, einen guten Abend.«
»Sie haben in seinem Wesen nichts Auffälliges bemerkt?«
»Nein! Der Herr Doktor schien nicht sehr gut gelaunt, aber das war er uns gegenüber ja überhaupt nur sehr selten. Und seine Art war nicht anders, wie sonst, als er mir noch verschiedene Anweisungen für den heutigen Tag erteilte und mir sagte, daß er schon um neun Uhr einen Termin in Sachen Henkel wahrzunehmen habe.«
»Wieviel Zugänge hat die Kanzlei, und wie wird es mit ihrem Verschluß gehalten?«
»Vom Treppenhaus her gibt es nur eine einzige Tür zu den Bureaulokalitäten, Herr Kommissar! Sie führt in einen Korridor, auf den sich zur rechten die Türen des Schreibzimmers und des Wartezimmers öffnen, während links der Eingang zu dem großen Gartensalon ist, den wir Schreiber nie betreten, weil er einen Teil der Privatwohnung des Herrn Rechtsanwalts ausmacht. Die Tür zum Treppenhaus hat ein sogenanntes Drückerschloß, das man von außen nicht ohne den dazugehörigen Schlüssel öffnen kann. Während der Bureaustunden bleibt sie zumeist geöffnet, weil der Herr Rechtsanwalt durch das häufige Klingeln zu sehr gestört wurde. Aber des Abends, wenn ich fortgehe, drücke ich sie hinter mir ins Schloß, und dann kann niemand mehr hinein, der nicht den Schlüssel besitzt.«
»Haben Sie einen solchen Schlüssel?«
»Nein! Ich hole ihn mir an jedem Morgen aus der Privatwohnung des Herrn Rechtsanwalts im ersten Stock.«
»Das haben Sie auch heute getan?«
»Jawohl – er wurde mir von der Köchin ausgehändigt. Und sie sagte mir bei der Gelegenheit, daß der Herr Doktor während der Nacht gar nicht nach Hause gekommen wäre.«
»Auf einem anderen Wege als durch die Tür im Treppenhause kann man also nicht in die Kanzlei gelangen?«
»Doch, Herr Kommissar! Eine schmale Wendeltreppe führt direkt von der Privatwohnung herab. Wenn man sie benutzt, kommt man zuerst in das Wartezimmer, von da durch eine Verbindungstür in die Schreibstube. Aber es war mir und den andern Kanzlisten streng verboten, uns für etwaige Bestellungen in der Privatwohnung dieser Treppe zu bedienen.«
»Es ist gut – ich werde mich über diese örtlichen Verhältnisse ja noch durch den Augenschein informieren. Jetzt zu etwas anderem! Wie pflegte es der Rechtsanwalt mit der Verwahrung der eingehenden Zahlungen zu halten? Behielt er sie in seinem Geldschrank?«
»Sehr große Summen wurden in der Regel gleich auf die Bank geschickt. Aber Beträge bis zu zwanzigtausend Mark hatte der Doktor doch häufig im Hause.«
»Wissen Sie, wie groß die Summe war, die sich gestern in dem Geldschrank befand?«
»Es waren im Laufe des Tages verschiedene ziemlich erhebliche Zahlungen geleistet worden, aber aus dem Kopf kann ich den Betrag nicht angeben. Wenn indessen das kleine Kassenbuch noch vorhanden ist, das der Herr Doktor immer selbst führte, so muß es sich leicht feststellen lassen, denn darin verzeichnete der Herr Doktor an jedem Abend den vorhandenen Barbestand.«
»Sehen Sie sich nach diesem Kassenbuche um, Herr Bureauvorsteher – aber nur, soweit es geschehen kann, ohne daß Sie irgend einen Gegenstand von seinem Platze nehmen müßten!«
Der junge Mann trat an den Schreibtisch.
»Da liegt es, Herr Kommissar!«
Der Beamte griff nach dem schmalen Kontobuche und begann darin zu blättern.
»Wir haben heute den 21. Januar,« sagte er. »Unter den Eingängen vom 19. finde ich den Vermerk: Bestand: 2718 Mark 45 Pfennige, dann kommt eine Doppelseite mit der Bezeichnung: 20. Januar, auf der links die Eingänge und rechts die geleisteten Zahlungen eingetragen sind. Ein Abschluß aber ist an diesem Tage nicht gemacht worden.«
Der Bureauvorsteher sah mit einem Male sehr verständnisvoll aus.
»Dann kann ich mir den Hergang sehr gut erklären, Herr Kommissar! Der Herr Doktor hat nach seiner Heimkehr den Tagesabschluß noch bewirken wollen und hat zu diesem Zweck den Geldschrank mit seinem Schlüssel geöffnet. Und bei dieser Beschäftigung muß er dann von einem Einschleicher überrascht und – –«
Er unterdrückte mit einem Blick auf Margot den Rest seiner Vermutung. Der Kommissar aber hatte die Augen noch immer in Dr. Leonhardts Kassenbuche.
»Nach einer oberflächlichen Addition müßten sich, wenn die gestern geleisteten Zahlungen in Abzug gebracht werden, ungefähr elftausend Mark im Gewahrsam des Rechtsanwalts befunden haben. Ist der Schrank heute bereits auf seinen Inhalt geprüft worden?«
Margot verneinte, und der Kommissar winkte den Kriminalschutzmann zu sich heran.
»Angesichts der Möglichkeit eines Verbrechens müssen wir unverzüglich festzustellen suchen, ob eine Beraubung vorliegt. Ich bitte Sie, mein Fräulein, mir bei der Untersuchung des Schranks ebenfalls als Zeugin zu dienen.«
Außer einer Anzahl von Wertpapieren, Aktien und sonstigen Effekten, die in großen Aktenkuverts verwahrt und durch entsprechende Aufschriften als das Eigentum verschiedener Personen bezeichnet waren, fanden sich eine unverschlossene stählerne Kassette, die einen Betrag von zweiundsiebzig Mark in Silbermünzen enthielt, und eine leere lederne Brieftasche.
»In diese Brieftasche pflegte der Herr Doktor die eingegangenen Kassenscheine zu legen,« sagte der Bureauvorsteher, der den Nachforschungen mit begreiflicher Aufmerksamkeit gefolgt war. »Wenn sich nichts mehr darin vorfindet, ist hier ohne allen Zweifel ein Diebstahl verübt worden.«
»Unter solchen Umständen können weitere Recherchen in diesem Zimmer als dem mutmaßlichen Tatort eines Verbrechens nur nach vorgängiger Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft erfolgen,« erklärte der Kommissar. »Ich lege den Raum deshalb bis auf weiteres unter amtlichen Verschluß und ersuche, mich durch die übrigen Gelasse der Wohnung zu führen.«
»Auch Sie glauben also, daß man den unglücklichen Rechtsanwalt ermordet habe?« fragte Margot.
»Darüber kann ich mir auf Grund der vorliegenden Anzeichen noch kein Urteil bilden, mein Fräulein,« erwiderte der Beamte mit merklicher Zurückhaltung. »Aber es erscheint jedenfalls geboten, diese Möglichkeit im Auge zu behalten, solange sich nicht eine andere Erklärung für das Verschwinden des Dr. Leonhardt finden läßt.«
»Ja!« stimmte sie zu. »Und Sie werden sie um so fester im Auge behalten müssen, Herr Kommissar, als es nach meiner Ueberzeugung die einzige ist, die hier jetzt noch in Betracht kommen kann.«