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1. Hiernach denn nun, sagte ich, vergleiche bildlich mit diesem Zustande unsere Begabung betreffs der Bildung und der Ungebildetheit. Stelle dir gleichsam Menschen vor in einer unterirdischen höhlenartigen Wohnung, welche einen gegen das Licht zu geöffneten langen Gang hat, welcher sich durch die ganze Höhle erstreckt, und daß sie in derselben von Kindheit an sich befinden, gefesselt an den Beinen und am Nacken, so daß sie ruhig bleiben müssen und nur nach ihrer Vorderseite hin schauen, ihre Köpfe aber in Folge der Fesseln nicht herumdrehen können, und daß das Licht eines Feuers von oben her und in weiter Ferne hinter ihnen brenne, zwischen dem Feuer aber und den Gefangenen befinde sich oben ein Weg; und an diesem, stelle dir vor, sei eine Mauer aufgeführt, wie bei den Taschenspielern vor den Zuschauern jene hölzerne Brüstung sich befindet, auf welcher sie ihre Wunderdinge zeigen. – Gut, ich stelle dieß mir vor, sagte er. – Stelle dir demnach auch vor, daß dieser Mauer entlang Leute mancherlei Geräthe tragen, welche über die Mauer hinaufreichen, und auch Bildsäulen von Menschen und anderweitig steinerne und hölzerne Thiere und überhaupt allerlei Dinge, wobei, wie sich erwarten läßt, die Einen der vorbeitragenden Leute sprechen und Andere schweigen. – Ein ungereimtes Bild, sagte er, bringst du da vor, und ungereimte Gefangene. – O treffend ähnliche, erwiederte ich; glaubst du nemlich, daß die Derartigen vorerst von sich selbst und gegenseitig von einander irgend etwas Anderes je gesehen haben, als ihre Schatten, welche in Folge des Feuers auf die gegenüberliegende Wand der Höhle fallen? – Wie sollten sie auch, sagte er, woferne sie ja durch Gewalt gezwungen sind, ihre Köpfe unbeweglich ruhig zu halten? – Wie aber ist es mit den vorbeigetragenen Dingen? werden sie von diesen nicht das Nemliche sehen? – Wie sollte es anders sein? – Und wenn sie nun im Stande wären, mit einander zu sprechen, glaubst du nicht, daß sie es für üblich halten würden, eben die je anwesenden Dinge, welche sie sehen, mit Namen zu nennen? – Ja, nothwendig. – Wie aber? wenn die Höhle auch einen Widerhall an der gegenüber liegenden Wand von sich gäbe, so oft einer der außen Vorbeigehenden Etwas spricht, glaubst du, daß sie dann etwas Andres für das Sprechende halten würden, als den eben vorbeigehenden Schatten? – Bei Gott, gewiß nicht. – In jeder Beziehung also, sagte ich, würden die Derartigen nichts Anderes für das Wahre halten, als die Schatten jener Vorrichtungen. – Durchaus nothwendiger Weise, sagte er. – So erwäge denn nun, sprach ich, auch bezüglich ihrer Erlösung und Heilung von den Fesseln und von ihrem Unverstande, welcherlei dieselbe wohl sein möchte, ob sie nemlich nicht von Natur aus in folgender Weise sich ergeben würde: So oft einer derselben losgebunden und plötzlich genöthigt würde, aufzustehen und seinen Nacken herumzuwenden und zu gehen und gegen das Licht hinzublicken, und er bei all diesem Schmerz empfände und wegen des blendenden Schimmers unfähig wäre, jene Dinge zu sehen, deren Schatten er damals sah, was glaubst du dann wohl, daß er sagen würde, falls Jemand ihm erklärte, daß er damals nur eitle Possen gesehen, jetzt aber weit näher an dem Wirklichen und auch zu Wirklicherem hingewendet richtiger sehe, und wenn dieser denn nun ihm auch jedes Einzelne des Vorbeigehenden zeigen und durch Fragen ihn nöthigen würde, zu antworten, was es sei, – glaubst du da nicht, er werde sowohl in Verlegenheit sein, als auch glauben, das damals Gesehene sei ein Wahreres, als dasjenige, was man ihm jetzt zeige? – Ja bei Weitem, sagte er. –
2. Nicht wahr also, auch wenn jener ihn zwänge, in das Licht selbst zu schauen, so würde er Schmerz an den Augen empfinden und sich abwendend wieder zu jenem hinfliehen, was er anzuschauen vermag, und glauben, es sei dasselbe wirklich deutlicher, als was ihm nun gezeigt werde? – Ja, so ist es, sagte er. – Wenn aber, sprach ich, ihn Jemand mit Gewalt von dort hinwegzöge über den rauhen und steilen aufwärts führenden Pfad, und nicht nachließe, bis er ihn herausgezogen an das Licht der Sonne, würde er da nicht Schmerzen erdulden und nur mit Unwillen sich fortziehen lassen, und wann er an das Licht käme, dann die Augen voll des Lichtglanzes haben und auch nicht ein Einziges von demjenigen sehen können, was jetzt als wahr bezeichnet wird? – Allerdings wenigstens nicht plötzlich, sagte er. – Gewöhnung demnach, glaube ich, dürfte erforderlich sein, wenn er das oben Befindliche sehen soll, und zwar zuerst würde er wohl am leichtesten die Schatten erblicken, und hernach die im Wasser erscheinenden Spiegelbilder von Menschen und von den übrigen Dingen, erst später aber die Dinge selbst; nach diesen aber würde er die Dinge am Himmel und den Himmel selbst wohl leichter bei Nacht betrachten, auf das Licht der Sterne und des Mondes hinblickend, als daß er bei Tage auf die Sonne und ihr Licht hinblickte. – Wie sollte es auch anders sein? – Zuletzt aber erst, glaube ich, dürfte er im Stande sein, die Sonne, und zwar nicht ihren bloßen Widerschein in Gewässern oder überhaupt in einem ihr fremden Orte, sondern sie selbst an und für sich an der ihr eigenen Stelle zu erblicken und zu betrachten, wie sie beschaffen sei. – Ja, nothwendiger Weise, sagte er. – Und erst hernach nun würde er betreffs ihrer sich Schlüsse bilden, daß sie es sei, welche den Wechsel der Zeiten und Jahre herbeiführt und Sämmtliches in dem Gebiete des Sichtbaren lenkt und von all jenem, was man je sah, gewissermaßen die Ursache ist. – Es ist klar, sagte er, daß er zu diesem erst nach jenem gelangen würde. – Wie aber nun? wenn er sich seiner ersten Wohnung und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen erinnert, glaubst du nicht, er werde sich glücklich preisen wegen dieser Veränderung, jene Anderen aber bemitleiden? – Ja wohl, gar sehr. – Wenn es aber dort bei jenen irgend gegenseitige Ehren- und Lobsprüche und Belohnungen für denjenigen gäbe, welcher das je Vorüberkommende am schärfsten sieht und am meisten im Gedächtnisse behält, was von jenen Dingen zuerst, und was hernach, und was zugleich vorbeizugehen pflege, und in Folge hievon auch möglichst richtig das künftig Kommende erräth, glaubst du dann, er werde große Begierde hiernach empfinden und diejenigen beneiden, welche bei jenen dort geehrt werden und Machthaber sind, oder es werde ihm nach jenem Homerischen AussprucheS. oben B. III, Cap. 1 (b Anm. 60[2]), woselbst die homerische Stelle wörtlich und ausführlich angegeben ist; namentlich beachte man den letzten der dortigen drei Verse, welcher durch Anwendung auf die hiesige Stelle eine ganz besondere Bedeutsamkeit erhält. ergehen, und er werde es gar sehr vorziehen, als Ackerknecht bei einem anderen unbegüterten Manne im Dienste zu stehen und Jedwedes zu erdulden, als jene Ansichten zu hegen und in jener Weise zu leben. – Ja, ebenso, sagte er, glaube auch ich, daß er eher sich gefallen lassen würde, Alles zu dulden, als in jener Weise zu leben. – Bedenke demnach auch Folgendes, sprach ich: Wenn der Derartige wieder hinab steigen und den nemlichen Sitz einnehmen würde, müßte er da nicht, indem er plötzlich aus dem Sonnenlicht käme, die Augen voll Dunkel haben? – Ja wohl, gar sehr, sagte er. – Und wenn er nun genöthigt wäre, wieder jene dortigen Schatten zu unterscheiden und dabei einen Wettstreit mit den für immer dort Gefangenen einzugehen, wobei er stumpfsichtig blinzeln müßte, bis er seine Augen zur Ruhe gebracht hätte, und die Zeitdauer dieser allmäligen Gewöhnung gerade keine kleine wäre, würde er dann wohl nicht Lachen erregen, und würde von ihm nicht gesagt, er komme in Folge seines Hinaufgehens in die obere Gegend nun mit verdorbenen Augen zurück, und es lohne sich demnach gar nicht des Versuches, nach Oben zu gehen? und jenen, welcher Hand anlegen würde, sie loszubinden und hinauf zu führen, würden sie wohl, falls sie ihn ergreifen und tödten könnten, wirklich tödten? – Ja gewiß, sagte er. –
3. Dieses gesammte Bild demnach, mein lieber Glaukon, sprach ich, mußt du mit dem vorher Gesagten verknüpfen, indem du das ganze durch den Gesichtssinn erscheinende Gebiet mit jener Gefängniß-Wohnung vergleichst, das Licht des Feuers aber in derselben mit der Kraft der Sonne; und wenn du dann das Hinaufgehen in die obere Gegend und den Anblick des dort Befindlichen als den Aufschwung der Seele in das Gebiet des Denkbaren bezeichnest, wirst du von meiner Erwartung nicht abirren, da du nemlich dieselbe von mir ausgesprochen zu hören wünschest; Gott aber wohl weiß, ob sie wahr sei. Was sich also mir zeigt, besteht darin, daß in dem Erkennbaren zuletzt die Idee des Guten, und zwar nur zur Noth erblickt werde, aber sobald sie erblickt wurde, von ihr geschlossen werden muß, daß sie ja für Alles die Ursache von allem Richtigen und Herrlichen ist, indem sie sowohl in dem Sichtbaren das Licht und den Machthaber des Lichtes gebiert, als auch in dem Denkbaren selbst die Machthaberin ist, Wahrheit und Vernunft zu verleihen, und daß auf sie Derjenige hinblicken müsse, welcher in verständiger Weise, sei es als Einzelner, oder sei es im Staate, handeln will. – Es bin auch ich, sagte er, so weit ich nur kann, der nemlichen Meinung wie du. – So komm demnach, sprach ich, und sei auch in Folgendem mit mir der nemlichen Meinung und wundere dich nicht darüber, daß jene, welche so weit gelangt sind, in die Verhältnisse der Menschen nicht eingreifen wollen, sondern ihre Seelen immer darnach drängen, oben zu verweilen; denn es ist doch wohl zu erwarten, woferne es sich hinwiederum jenem Bilde gemäß verhält. – Ja allerdings, sagte er, ist es so zu erwarten. – Wie aber? glaubst du, sprach ich, man müsse über Folgendes sich wundern, wenn Jemand von göttlichen Anschauungen weg zu den menschlichen Uebeln kommend dort sich nicht zu helfen weiß und als gar Lächerlicher sich zeigt, indem er noch stumpfsichtig blinzelt und, ehe er genügend an die gegenwärtige Finsterniß gewöhnt ist, genöthigt wird, in Gerichtshöfen oder anderswo über die Schatten des Gerechten oder über die Bilder, deren Schatten jene sind, einen Kampf zu bestehen und einen Wettstreit darüber einzugehen, wie diese Dinge irgend von Denjenigen aufgefaßt werden, welche die Gerechtigkeit an und für sich niemals geschaut habenHier steht eigentlich schon völlig das Bild des stoischen Weisen vor uns, welcher sich allein für ein gottgefälliges oder auch göttliches Wesen hält und in aller gespreizter Eitelkeit das verdiente Hohngelächter der Menschen als langst ersehntes Martyrium betrachtet und wollüstig in dem Bewußtsein schwelgt, daß er doch der beste der Menschen sei. Nur dadurch unterscheidet sich die platonische Ansicht allerdings wesentlich von der Stoa, daß Plato, wie wir sogleich sehen werden, die Philosophen zum Heile des Gesammt-Organismus wieder in das Jammerthal der praktischen Verhältnisse zurückkehren heißt, da ja die Gesammtheit das erreichbare Glück genießen soll, sobald die Philosophen die Herrscher sind. Insoferne aber dieß nach beiden Seiten hin, sowohl bezüglich der Praxis, als auch bezüglich der Speculation ein das menschliche Wesen mißkennendes Ideal ist, so war es einerseits nur Aeußerung eines gesunden Sinnes, daß die spätere Entwickelung der griechischen Philosophie Solches fallen ließ, und andrerseits blieb davon nur jene arrogante Aufgeblasenheit der Philosophie übrig.. – Allerdings, nicht im Geringsten, sagte er, ist dieß zu verwundern. – Aber, woferne Jemand Einsicht besitzt, sprach ich, möchte er sich wohl daran erinnern, daß durch zwei Dinge eine zweifache Störung für die Augen erwächst, nemlich sowohl wenn man aus Licht in Finsterniß tritt, als auch wenn aus Finsterniß in Licht. Und in der Ueberzeugung nun, daß dieß Nemliche auch bezüglich der Seele stattfinde, würde er beim Anblicke einer Seele, welche in Verwirrung und unfähig ist, Etwas zu erblicken, nicht unvernünftiger Weise in ein Gelächter ausbrechen, sondern erwägen, ob sie aus einem helleren Leben kommend nur durch die Ungewohntheit verdunkelt sei. oder ob sie aus größerer Unwissenheit in ein Helleres übergehend nun durch den glänzenderen Schimmer erfüllt sei, und auf diese Weise wird er die Eine glücklich preisen wegen ihres Zustandes und ihres Lebens, die andere aber bemitleiden, und wollte er etwa über sie lachen, so wäre sein Lachen weniger lächerlich, als jenes über eine Seele, welche von Oben her aus dem Lichte kömmt. – Ja, völlig nach dem rechten Maße, sagte er, sprichst du da. –
4. Wir müssen demnach, sagte ich, in diesem Betreffe, woferne das Bisherige wahr ist, auch in folgender Beziehung glauben, daß die Bildung der Seelen nicht wirklich eine derartige sei, wie Manche bei ihren Versprechungen sie darstellen; sie behaupten ja nemlich,. daß, während ein Wissen in der Seele gar nicht vorhanden sei, sie es ihr einpflanzen, wie wenn sie blinden Augen den Gesichtssinn einpflanzen würden. – Ja, so behaupten sie wenigstens, sagte er. – Hingegen unsere jetzige Begründung, sprach ich, deutet ja darauf hin, daß die in der Seele eines Jeden schon vorhandene Fähigkeit und das Werkzeug, vermittelst dessen Jeder lernt, gerade so, wie auch das Auge sich nur zugleich mit dem ganzen Körper vom Dunkeln zum Hellen drehen kann, gleichfalls zugleich mit der ganzen Seele aus dem Werdenden hinüberführt werben müsse, bis sie befähigt wird, den Blick in das Seiende und in das Hellste unter dem Seienden zu ertragen; dieß aber ist, sagen wir, das Gute; oder wie anders? – Ja. – Also eben hievon, sagte ich, möchte es wohl auch eine Kunst geben, nemlich eine Kunst des Hinüberführens, auf welche Weise wohl Jemand am leichtesten und am raschesten herumgedreht werden könne, nicht daß man ihm das Sehen selbst einpflanze, sondern derartig, daß er dasselbe bereits besitzt, nur aber nicht richtig gewendet ist und nicht dorthin blickt, wohin er soll, und man also eben dieß bewerkstellige. – Ja, so scheint es, sagte er. – Es kömmt demnach darauf hinaus, daß die übrigen sogenannten Vortrefflichkeiten der Seele so ziemlich jenen des Körpers nahe sind, daß nemlich diese wirklich, nachdem sie vorher nicht vorhanden waren, später einmal durch Gewöhnung und Uebung eingepflanzt werden; hingegen die Vortrefflichkeit des Verstandes gehört vor allem Anderen, wie es scheint, irgend einem Göttlicheren an, welches seine Fähigkeit nie verliert, aber durch jenes Hinüberführen ein Brauchbares und Nützliches oder hinwiederum ein Unbrauchbares und Schädliches wird; oder hast du noch nicht bemerkt, wie bei Denjenigen, welche man als schlechte, aber kluge Leute bezeichnet, ihre Seelchen einen so durchdringenden Blick habe und so scharf Alles durchschaue, worauf es sich wendet, nicht also, daß es einen schlechten Gesichtssinn habe, sondern vielmehr daß es gezwungen ist, der Schlechtigkeit zu dienen, und daher, je scharfsichtiger es ist, desto mehr Unheil stiften wirdS. den nemlichen Grundsatz, daß die höchste Begabung auch zur größten Schlechtigkeit führe, oben B. VI, Cap. 6.. – Ja allerdings, sagte er. – Wenn hingegen gerade bei einer derartigen Begabung sogleich von Kindheit an jenes weggehauen würde, was mit ihrer Entstehung verwachsen ist, gleichsam wie Bleigewichte, welche an Völlerei und all derartige Vergnügungen und Leckereien sich anschließen und hiedurch den Gesichtssinn der Seele nach Unten ziehen, – und wenn sie von all diesem befreit zum Wahren herumgedreht würde, so möchte eben die nemliche Begabung dieser nemlichen Menschen wohl auch dieses ebenso im schärfsten Maße sehen, sowie sie nun jenes sieht, worauf sie jetzt hingewendet ist. – Ja, so scheint es, sagte er. – Wie aber? sprach ich; ist nicht auch Folgendes gemäß dem Bisherigen wahrscheinlich und nothwendig, daß weder die Ungebildeten und der Wahrheit Unkundigen jemals genügend einen Staat lenken dürften, noch aber auch jene, welchen man gestattet, in der Bildung bis zum Ende zu verweilen, die ersteren darum nicht, weil sie überhaupt nicht einen einzigen Zielpunkt im Leben haben, im Hinblicke auf welchen sie Alles thun sollen, was sie als Einzelne oder in staatlicher Beziehung thun, und die letzteren nicht, weil sie niemals mit Willen Solches thun werden, in der Meinung, sie seien noch stets bei Lebzeiten in den Inseln der Seligen wohnhaft. – Dieß ist wahr, sagte er. – Also unsere Aufgabe ist es, sprach ich, von jenen Bewohnern die besten Begabungen zu nöthigen, daß sie zu dem Unterrichtsgegenstande, welchen wir im Obigen B. VI, Cap. 16 f. als den höchsten bezeichneten, kommen und das Gute schauen – und jenen aufwärts führenden Weg emporschreiten, und dann aber, wenn sie nach dem Hinaufschreiten es genügend geschaut haben, ihnen nicht zu gestatten, was man ihnen jetzt gestattet. – Was meinst du hiemit? – Daß sie dortselbst verbleiben, sagte ich, und nicht mehr herabsteigen wollen zu jenen Gefangenen und nicht teilnehmen wollen an den dortigen Mühen und Ehren, mögen dieselben geringfügiger oder gewichtiger sein. – Dann aber, sagte er, werden wir ihnen ja Unrecht thun, und bewirken, daß sie ein schlechteres Leben führen, während sie die Möglichkeit zu einem besseren haben. –
5. Du hast wieder vergessen, mein Freund, sagte ich, daß dem Gesetzgeber nicht das am Herzen liegt, auf welche Weise bloß Einer Gattung im Staate es ganz hervorragend gut gehe B. VI. Cap. 1., sondern daß er dieß für den gesammten Staat durch eine harmonische Vereinigung der Bürger, sei es durch Ueberredung oder durch Zwang, zu veranstalten sucht, indem er bewirkt, daß sie sich gegenseitig von dem Nutzen mittheilen, welchen die Einzelnen für das Gemeinsame beizutragen vermögen, und indem er selbst eben derartige Männer in den Staat bringt, nicht um sie frei zu lassen, wohin etwa jeder Einzelne sich wenden wolle, sondern um sie selbst zur Verknüpfung des Staates zu benützen. – Du hast Recht, sagte er; ich vergaß es nemlich wirklich. – Erwäge demnach, o Glaukon, sagte ich, daß wir den bei uns vorkommenden Weisheitsliebenden auch nicht Unrecht thun werden, sondern völlig Gerechtes zu ihnen sagen werden, wenn wir sie nöthigen, für die Uebrigen zu sorgen und sie zu bewachen; wir werden nemlich zu ihnen sagen: »Jene, welche in den übrigen Staaten als Derartige sich finden, nehmen aus guten Gründen an den Plagen in denselben keinen Theil; denn ganz von selbst entstehen sie ohne den Willen der Staatsform, in der Natur des Rechtes aber liegt es, daß, was ja von selbst gewachsen ist, Niemandem einen Dank für Pflege schuldet und daher auch nicht geneigt ist, irgend Jemandem die Verpflegungskosten zu ersetzen; euch aber haben wir für euch selbst und für den übrigen Staat, gleichsam wie in einem Bienenstocke als Weisel und Könige erzeugt, indem ihr besser und vollkommener als jene gebildet worden und in höherem Grade befähigt seid, an Beiderseitigem Theil zu nehmen; wieder herabsteigen also muß seinerseits jeder Einzelne von euch in die gemeinsame Wohnung der Uebrigen und sich mit diesen daran gewöhnen, das Dunkle zu betrachten; denn wenn ihr euch mit ihnen daran gewöhnt, so werdet ihr unzähligemal besser als die dortigen erblicken und einsehen, was die Abbilder seien und wessen Abbilder, da ihr ja das Wahre betreffs des Schönen und des Gerechten und des Guten gesehen habt; und auf diese Weise wird von uns und von euch der Staat im Zustande des Wachens bewohnt werden, nicht aber in jenem des Schlafens, wie nemlich jetzt die meisten nur von Solchen bewohnt werden, welche gegenseitige Schattenkämpfe und Aufruhr über das Herrschen aufführen, wie wenn dasselbe ein großes Gut wäre; hingegen das Wahre verhält sich folgendermaßen, daß ein Staat, in welchem die zum Herrschen Bestimmten mit der wenigsten Bereitwilligkeit herrschen, nothwendiger Weise am besten und mit dem wenigsten Aufruhre bewohnt wird, jener hingegen, welcher gegentheilige Herrscher hat, in gegentheiliger Weise.« – Ja allerdings, sagte er. – Werden uns also, glaubst du, unsere Zöglinge dieß nicht glauben, wenn sie es hören, und wird nicht Jeder seinerseits wieder bereitwillig in dem Staate mit den Uebrigen sich plagen wollen, sondern werden sie etwa die meiste Zeit bloß unter sich in dem Gebiete des Reinen mit einander wohnen wollen? – Dieß ist unmöglich, sagte er; denn Gerechtes ja schreiben wir Gerechten vor; im höchsten Grade ja wie zu einem Nothwendigen wird Jeder zur Ausübung einer Herrschaft gehen, ganz im Gegensatze gegen jene, welche jetzt in den einzelnen Staaten herrschen. – Ja, allerdings verhält sich's so, mein Freund, sagte ich; wenn du nemlich ein Leben ausfindig machst, welches für die zum Herrschen bestimmten besser ist als das Herrschen, so wird dir der Staat die Möglichkeit enthalten, in trefflicher Weise bewohnt zu werden; denn in einem solchen allein werden jene herrschen, welche wirklich reich sind, nicht an Gold, sondern daran, woran der Glückliche reich sein muß, an einem guten und verständigen Leben; wenn aber Bettler und solche, welche an eigenen Gütern Hunger leiden, an die staatlichen Verhältnisse sich machen, in der Meinung, sie müßten von dorther das Gute rauben, so ist jenes nicht möglich; denn indem das Herrschen dann Gegenstand eines Kampfes wird, vernichtet dieser häusliche und innere Krieg sowohl sie selbst, als auch den übrigen Staat. – Völlig wahr, sagte er. – Weißt du nun, sprach ich, irgend ein anderes Leben, welches die Uebungen staatlicher Herrschaft verschmäht, als eben jenes der wahrhaften Weisheitsliebe? – Nein, bei Gott nicht, sagte er. – Sie dürfen aber ja nicht als Liebhaber des Herrschens sich an die Herrschaft machen, denn außerdem werden ja die Nebenbuhler dieser Liebe mit ihnen kämpfen. – Wie sollte es auch anders sein? – Welche Anderen also wirst du nöthigen, sich an die Bewachung des Staates zu machen, als Diejenigen, welche bezüglich der Dinge, durch die der Staat am trefflichsten bewohnt wird, sowohl das meiste Verständniß haben, als auch anderweitige Ehrenbezeugungen und ein besseres Leben in sich tragen, als das staatliche ist? – Keine Anderen, sagte er. –
6. Willst du also, daß wir nunmehr jenes erwägen, auf welche Weise die Derartigen uns entstehen möchten, und wie man sie zum Lichte hinaufführen könne, gleichsam wie man von Einigen sagt, daß sie vom Hades aus zu den Göttern hinauf kamen? – Wie sollte ich dieß nicht wollen? sagte er. – Es wäre dieß demnach, wie es scheint, nicht ein Herumwenden einer Scheibe auf ihre KehrseiteD. h. ein Kinderspiel, s. m. Anm. 32 z. Phädrus., sondern ein Hinüberführen der Seele, wobei diese aus einem nächtlichen Tage in einem wahrhaften Aufschwung zum Seienden wandelt, welchen wir denn auch als die wahre Weisheitsliebe bezeichnen werden. – Ja allerdings. – Nicht wahr also, es muß erwogen werden, welcher unter den Unterrichtsgegenständen eine derartige Kraft habe? – Warum auch nicht? – Welcher Unterrichtsgegenstand also, o Glaukon, möchte wohl die Seele vom Werdenden weg zum Seienden hinziehen? Aber eben Folgendes fällt mir ein, während ich dieß sage: behaupteten wir denn nicht, daß jene nothwendig schon in ihrer Jugend Kriegskämpfer sein müssen? – Ja, wir behaupteten es B. III, Cap. 20 f. u. B. V, Cap. 14–16.. – Sie müssen also auch noch diesen Unterrichtsgegenstand, welchen wir eben suchen, zu jenem hinzu erwerben? – Ja, welchen meinst du denn? – Keinenfalls einen, welcher für kriegerische Männer unbrauchbar ist. – Allerdings soll es ein solcher sein, sagte er, wenn es möglich ist. – In gymnischer und musischer Bildung aber wurden sie uns ja schon im Obigen B. II, Cap. 17 bis B. III, Cap. 18. unterrichtet. – Ja, dieß geschah, sagte er. – Die gymnische Bildung nun verweilte doch wohl bei jenem, was entsteht und vergeht, denn sie waltet über Zunahme und Abnahme des Körperlichen. – Ja, so zeigt sich's. – Dieß also möchte der Unterrichtsgegenstand wohl nicht sein, welchen wir suchen. – Nein. – Besteht er also etwa in der musischen Bildung, wie wir sie im Obigen durchgingen? – Aber jene, sagte er, war ja, wenn du dich erinnerst, die Kehrseite der gymnischen, indem sie durch Gewöhnung die Wächter bildete und gemäß einer Harmonie eine harmonische Stimmung, nicht aber ein Wissen, und gemäß eines Rhythmus eine taktvolle Gesinnung ihnen verlieh und auch in den mündlichen Aussprüchen Anderes hiemit Verschwistertes enthielt, sowohl bei jenen, welche mehr fabelhaft waren, als auch bei denjenigen, welche der Wahrheit näher standen; ein Unterrichtsgegenstand aber bezüglich eines derartigen Gutes, wie du es jetzt suchst, war in jener Bildung nicht enthalten. – Auf's genaueste ja, sagte ich, erinnerst du mich daran; denn wirklich enthielt jene nichts Derartiges; aber, o wunderlicher Glaukon, welcher Unterrichtsgegenstand wäre wohl ein derartiger; denn die Künste ja schienen uns sämmtlich niedrige Gewerbe zu sein? – Wie sollten sie auch nicht? und in der That aber, welch anderer Unterrichtsgegenstand bleibt noch übrig, welcher von musischer und gymnischer Bildung und von den Künsten getrennt wäre? – Wohlan also, sagte ich, wenn wir Nichts außerhalb dieser zu finden vermögen, wollen wir vielleicht Etwas aufgreifen, was auf alle diese sich erstreckt? – Was meinst du hiemit? – Ich meine Etwas, wie jenes Gemeinsame, von welchem alle Künste und jedes Nachdenken und alle Wissenschaften Gebrauch machen, was auch Jeder nothwendig schon unter den ersten Unterrichtsgegenständen lernt. – Was denn? sagte er. – Jenes Schlichte, erwiederte ich, die Unterscheidung des Eins und der Zwei und der Drei; ich nenne es aber im Ganzen das Zählen und Rechnen; oder verhält es sich betreffs dessen nicht so, daß jede Kunst und jede Wissenschaft genöthigt ist, desselben theilhaftig zu werden? – Ja wohl, gar sehr, sagte er. – Nicht wahr also, sprach ich, auch die Kriegskunst? – Ja, durchaus nothwendig. sagte er. – Als einen sehr lächerlichen Feldherrn wenigstens läßt in den Tragödien der PalamedesWas den Palamedes betrifft, welcher übrigens durchaus nur dem nachhomerischen Sagenkreise angehört, so gilt derselbe einerseits als ein sehr erfindungsreicher, weiser Mann, und es wird ihm die Erfindung der Buchstaben und des Maßes und Gewichtes, sowie der Wage, des Diskus, des Brettspieles und der Würfel, und selbst der Leuchtthürme zugeschrieben; andrerseits aber erscheint er als ein Opfer von Intriguen, welche Odysseus gegen ihn während des Kampfes von Troja anzettelte und hiezu auch den Agamemnon und den Diomedes auf seine Seite zog; es wurde nemlich ein gefälschter Brief nebst Gold als angebliche Bestechung, mit welcher sich Priamus an Palamedes gewendet habe, in das Zelt des Letzteren gelegt, und nach erfolgter Durchsuchung des Zeltes Palamedes vom Heere gesteinigt. Nicht bloß die beiden Tragiker Sophokles und Euripides wählten dieses Schicksal des Palamedes als Gegenstand von (uns verlornen) Tragödien, sondern es war auch ein Lieblings-Thema der Sophisten, die Anklage- und Vertheidigungsreden dieses interessanten Rechtsfalles zu bearbeiten. Daß es auch in jenen Tragöden nicht an rhetorischer Aufzählung der Verdienste, welche Palamedes um das Heer sich erworben habe, fehlte, scheint aus dieser platonischen Stelle wohl hervorzugehen. jedesmal den Agamemnon erscheinen; oder hast du nicht bemerkt, daß er immer behauptet, er habe durch Erfindung der Zahlen sowohl die Schlachtreihen in dem Heere vor Ilium hergestellt, als auch die Schiffe und alles Uebrige gezählt, als wäre dieß Alles vorher ungezählt gewesen und hätte, wie es scheint, Agamemnon nicht einmal gewußt, wie viele Füße er habe, woferne er ja nicht zu zählen verstand; und doch für welch einen Feldherrn müßte man ihn dann halten? – Für einen sehr ungereimten, sagte er, müßte wenigstens ich ihn halten, wenn jenes wahr wäre. –