Ludwig Preller
Griechische Mythologie Theogonie, Götter
Ludwig Preller

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1. Weltanfänge.

Verschiedene Ansätze, unter denen die Hesiodische Dichtung vom Chaos nicht die älteste ist. Vielmehr nennt Homer

a) den Okeanos als den Anfang aller Dinge d. i. das Urflüssige, s. Ilias 14, 201. 302 ϑεῶν γένεσις, 246 ὅσπερ γένεσις πάντεσσι τέτυκται: so daß Thales im Grunde nur die älteste Ansicht der Griechen ausgesprochen hätte, wie auch Aristoteles Met. A. 3 dafür hält. Auch beweisen die örtlichen Sagen von der Ogygischen Fluth, wie sie besonders in Boeotien und Attika verbreitet waren, daß dieser Glaube im griechischen Mutterlande heimisch war; denn Ὠγύγης der Uralte ist nur eine andere 27 Form desselben Wortes Ὠκεανός und derselben VorstellungDavon ὠγύγιος, die Insel Ogygia u. s. w. Noch andere Formen sind Ὠγήν Ὠγενός Ὠγενίδαι, die bei Pherekydes vorkamen. Viele Etymologien sind versucht, u. a. durch skr. augha d. i. Fluth, s. Windischmann Ursagen der arischen Völker (Abh. d. Bayr. Ak.) S. 5ff., vgl. Z. f. vgl. Sprachf. 4, 88.. Ist nun der Okeanos zuerst dagewesen, so muß auch die Erde, muß selbst der Himmel aus ihm entsprungen sein, doch giebt die gewöhnliche Mythologie darüber keine bestimmtere Andeutung. Sie kennt den Okeanos nur als die allgemeine Weltgrenze, als den uralten, Erde und Meer rings umfassenden Grenzstrom, der mit tiefer und gewaltiger Fluth wie eine Schlange in sich selbst zurückfließt und dadurch die Grenze aller sichtbaren Dinge, bildet, während er selbst unbegrenzt istIl. 14, 200 πολυφόρβου πείρατα γαίης, Hes. th. 242 τελήεις ποταμός, vgl. Il. 18, 607, Hes. sc. Herc. 314 u. die Midgardsschlange der Edda. Die oft vorkommende Wendung πέρην Ὠκεανοῖο (Hesiod. th. 215, 274, 294 u. a.) und die Erzählungen wo Jemand über den Okeanos setzt (περᾶν) muß man nicht so verstehen, als ob derselbe auch wieder ein Jenseits und eine feste Grenze hätte. Diese Ausdrücke sind vielmehr so zu nehmen wie unser übers Meer fahren, Il. 2, 626 αἳ ναίουσι πέρην ἁλός Ἤλιδος ἂντα, 24, 752, wo Achill die Söhne der Hecuba verkauft πέρην ἁλὸς ἀτρυγέτοιο ἐς Σάμον ἔς τ’ Ἴμβρον καὶ Λῆμνον.: ein Gebiet des Wunders und aller Geheimnisse des Ursprungs, seine Küsten und Inseln die Heimath der Götter und seliger Menschen und Völker. Dort waltet auch Okeanos selbst als altväterischer, aber milder und allfreundlicher Ur- und Wasser-Greis, der in seinem Jenseits wie außer der Welt lebt und bei allen Weltkämpfen unbetheiligt bleibt, er und seine ehrwürdige Gattin Τηϑύς (Il. 14, 202) d. i. die Nährende, die Urältermutter, welche weiblich dieselbe Natur des Wassers ausdrückt die sich männlich im Okeanos darstellt. Hera die Himmelskönigin ist bei diesem Paare aufgewachsen und zu ihnen geflüchtet als die ganze Götterwelt im wilden Titanenkampfe entbrannt war, und sie möchte auch später zu ihnen, da die beiden Alten in beständigem Zank und Unfrieden leben und nicht mehr bei einander schlafen wollen (Il. 14, 205 ff., 303 ff.): wahrscheinlich der Nachklang einer alten Dichtung die das Aufhören der Zeugungen dieses ältesten Götterpaares durch Verfeindung zu erklären suchte, wie derselbe Gedanke bei Uranos und Kronos durch Entmannung und durch Gefangenschaft ausgedrückt wurde.

Einige Andeutungen über die elementare Thätigkeit des Okeanos giebt sein Geschlecht bei Hesiod th. 337 ff. Von ihm 28 stammen nehmlich alle Flüsse Bäche und Quellen, nach der Ilias 21, 196 auch das Meer: also alles fließende und strömende Wasser, dessen zeugerische und nährende Kraft die Griechen in so vielen Bildern und Sagen ausdrückten. Zunächst dadurch daß sie alle Flüsse und Quellen für κουροτρόφοι hielten (Hesiod th. 347 mit d. Schol.), was sich weiter in vielen örtlichen Sagen von zeugenden Flußgöttern und von kinderliebenden Nymphen ausprägte, von alten Fluthen, denen ein neues Geschlecht entsprungen, von ersten Menschen und Stammvätern, welche aus dem See oder dem Flusse der Landschaft geboren worden. Ja beim Nil, der den Aegyptern war was den Griechen Okeanos, wollte man es sogar deutlich beobachten können wie das organische Leben sich durch ihn erzeuge (Aesch. Suppl. 823, Ovid. M. 1, 422, Diod. 1, 10). Daher auch die Flußgötter so häufig als Stammväter der mythischen Geschlechter genannt wurden, z. B. der Inachos, der Asopos, der Xanthos u. A., während die Quellnymphen selbst die kindlichen Jahre der Götter nähren und pflegen, wie in der Sage von Kreta und Naxos, von Arkadien und Messenien die des Zeus, in anderen Sagen die des Dionysos. In kosmogonischer Hinsicht aber sind unter allen Söhnen und Töchtern des Okeanos bei weitem die merkwürdigsten Styx und Acheloos, die älteste Tochter und der älteste Sohn des alten Ursprungswassers, jene ein Bild des primitiven Grauns und Dunkels, aus welchem die ersten Strömungen des Lebens entsprangen, Acheloos ein Bild des organischen Lebens, wie es sich aus dem Okeanos in tausend Flüssen und Bächen über die Erde ausbreitet. Von der Styx dichtete man daß sie fern im äußersten Westen, also da wo Nacht und Sonnenuntergang ist, fern von allen Göttern in einem prangenden Hause, das mit silbernen Säulen rings zum Himmel emporrage, unter hohen Felsen wohne. Selten nur komme Iris dahin um von dem heiligen Wasser zu holen, wann Streit unter den Göttern ausgebrochen und nur durch Eidschwur zu lösen ist, und wehe dem Gotte der bei diesem Wasser falsch schwört (Hesiod th. 782 ff.). Die silbernen Säulen des Hauses sind die aus jäher Höhe herabfallenden Sprudel des Quells, an dessen unterem Falle, wo er sich zur Strömung sammelt, die Göttin selbst wohnend gedacht wurde; das Wasser aber fließt von dort abwärts unter die Erde in die tiefe tiefe Nacht, das äußerste Graun selbst für die Götter und eben deshalb ihr EidschwurIl. 15, 37 τὸ κατειβόμενον Στυγὸς ὕδωρ. Hesiod th. 787 πολλὸν δέ ϑ’ ὑπὸ χϑονὸς εὐρυοδείης ἐξ ἱεροῦ ποταμοῖο ῥέει διὰ νύκτα μέλαιναν Ὠκενοῖο κέρας. Als Eidschwur der Götter hieß die Styx auch schlechthin Ὅρκος s. Buttmann Lexil. 2, 53, Plin. 4, 31. Den Eid selbst erklärt Aristoteles daraus daß Okeanos und Styx der Ursprung der Götter sind, τιμιώτατον γὰρ τὸ πρεσβύτατον, ὅρκος δὲ τὸ τιμιώτατόν ἐστι, Met. A, 3. Natürlicher denkt man an das Graun des Todes und der Unterwelt, denn Στὺξ hängt zusammen mit στυγέω στυγνός στυγερός und das Wasser der Styx galt für tödtlich. Ein Eidbruch des Schwures bei der Styx wird an den Göttern mit langer Ausschließung vom Olymp und schwerer Pein bestraft, Hesiod 795 ff, Serv. V. A. 6, 324. 565. Zur Beschreibung der Styx vgl. Apul. Met. 6, 13. 14.. Wie finster und schrecklich man sich jene Quelle 29 der Styx und ihre Wohnung dachte, das lehrt am besten deren Uebertragung auf die bekannte Schlucht bei Nonakris in der Gegend von Pheneos, wo man in historischer Zeit die Styx zu suchen pflegteHerod. 6, 74, Paus. 8, 17. 18. Es war eine der finstern Schluchten von der kühnsten Naturbildung, wie man sie in Arkadien nicht selten sieht, diese kühner als alle anderen, s. E. Curtius Pelop. 1, 195, Chr. Th. Schwab Arkadien, Stuttg. u. Tüb. 1852 S. 15 ff. u. v. Stackelberg b. Gerhard hyperb. röm. Stud. 293 ff. Auch der thessalische Titaresios galt für einen Theil der Styx, Il. 2, 755., da ihre mythische und kosmogonische Bedeutung sie vielmehr in jene der Unterwelt benachbarten Gegenden der Nacht und des Nebels entrückt, wo Hesiod sie beschreibt und wo er auch noch andre Quellen des Okeanos kenntTh. 282, vgl. Hesych. v. Ὠκεανοῖο πόρον, wo ἀήρ der Nebel des Todtenreiches ist.. Hier also wäre der Ursprung des wunderbaren Stromes, der ersten Ursache von allen Dingen zu suchen, und zwar floß nach Hesiod ein zehnter Theil der ganzen Fluth als Styx durch die Finsterniß in die Unterwelt, wo der Kokytos ein Theil von ihr istOd. 10, 514, vgl. Il. 8, 369., während die übrigen neun Theile in silbernen Wirbeln um Erde und Meer fließen. Aber auch über die Erde verbreiten sich die Strömungen des Okeanos, denn alle Flüsse und Quellen stammen von ihm, unter ihnen Acheloos der Fluß schlechthin und in gewisser Hinsicht mit dem Okeanos gleichbedeutend, nehmlich sofern dieser die Erde nicht allein begrenzt, sondern auch als Quelle alles süßen Wassers die wahre Ursache ihrer Befruchtung ist. Die Ilias 21, 194 nennt den Acheloos den mächtigen (κρείων) und neben dem Okeanos, welcher so wenig wie jener dem Zeus widerstehen könne; Akusilaos nannte ihn den ältesten unter den dreimal tausend Söhnen des Okeanos, welcher von allen am meisten verehrt wordenVgl. Schol. Il. 21, 195 ὁ Ἀχελῶος πηγὴ τῶν ἄλλων πάντων. Vib. Seq. Achelous Aetoliae primus erupisse terram dicitur.. Ohne Zweifel hat zu dieser 30 Verherrlichung am meisten der aetolische Acheloos und der Dienst des Zeus von Dodona beigetragen. Dieser Fluß war nehmlich der größte unter allen griechischen, und da seine Quellen die fruchtbare Landschaft bei Dodona wässerten, so scheint eben deshalb dieses Orakel die Verehrung des Acheloos überall empfohlen und dadurch zu der Verbreitung derselben wesentlich beigetragen zu habenEphoros und Didymos b. Macrob. S. 5, 18, Schol. II. 21, 194. 24, 615. Vgl. Aesch. Pers. 869, Eurip. u. Aristoph. b. Macr. I. c, Orpheus b. Lobeck Agl. 952.; obwohl dieses allein wohl nicht ausreicht um den merkwürdigen Gebrauch des Namens Acheloos und die außerordentlich weite Verbreitung seines Cultus zu erklären. Man sagte nehmlich allgemein sowohl im religiösen als im poetischen Sprachgebrauch Acheloos für Fluß und Flußwasser schlechthin, wie es bei vielen religiösen Handlungen und bei den meisten örtlichen Gottesdiensten zu Reinigungen und Heiligungen gebraucht wurde; der Cultus aber des Acheloos als des ältesten und angesehensten Flußgottes war nicht allein über Griechenland, sondern auch über dessen Colonien verbreitet, namentlich zu Rhodos und in Italien und Sicilien, wo man ihn wie in Akarnanien mit Spielen feierte. Also mag auch der Name ursprünglich eine allgemeinere Bedeutung gehabt haben, zumal da derselbe in verschiedenen Formen in Kleinasien und Griechenland für verschiedene Flüsse und Bäche im Gebrauch warEin Fluß Ἀχελῶος oder Ἀχέλης am Sipylos und in Lydien, wo es auch νύμφαι Ἀχαλήτιδες gab, II. 24, 616 c. Schol. Andre Flüsse d. N. gab es in Troas, Thessalien, Achaja und Arkadien, Strabo 9, 434, 10, 450, Paus. 8, 38, 7. Der seit J. C. Scaliger herkömmlichen Erklärung, ἄχα sei i. q. aqua, skr. ap, goth. ahva widerspricht G. Curtius Grundz. d. Et. 1, 95.. Dasselbe gilt von der Amalthea, deren Wunderhorn, ein Sinnbild der überquellenden Fülle und aller guten Gaben, nach der aetolischen Heraklessage aus dem Besitze des Acheloos in den des Herakles überging, aber auch ein Attribut des Dionysos, des Pluton und andrer Götter des materiellen Segens war. Die gewöhnliche griechische Sage kannte Amalthea als Nymphe, die kretische Zeussage als nährende Ziege, und demgemäß wurde auch der sprichwörtliche Gebrauch des Ausdrucks Horn der Amalthea verschieden erklärtAls Nymphe heißt sie bald eine T. des Okeanos bald die des Αἱμόνιος, was nach Thessalien weist. Andre kannten sie als Nymphe von Thespiae oder von Libyen, s. Apollod. 2, 7, 5, Diod. 3, 67, Palaeph. 46. Das Horn der Amalthea wird bald das eines Stieres welches A. besessen, bald das des Acheloosstiers, bald das der Ziege Amalthea genannt, Str. 459, Apollod. l. c, Paroemiogr. 1 p. 45. 191, 2 p. 45. Wahrscheinlich ist es ursprünglich als ῥυτὸν d. h. als Symbol des strömenden Segens zu denken. Bei Ovid M. 9, 87 füllen es die Najaden mit Blumen und Früchten.. In Wahrheit aber bedeutet auch 31 dieser Name die nährende und befruchtende Kraft des Wassers; es ist die Quelle schlechthin als nährende MutterἈμάλϑεια nach Schoemann op. 2, 260 alma mater von ἂμμα und ἄλϑω ἀλϑαίνω d. i. αὔξω, ϑεραπεύω«, vgl. Ἀλϑαία die aetolische Geliebte des Dionysos und Frau des Oeneus., wie der latinische Glaube vor allen übrigen Quellen die Juturna verherrlichte, die gute, die heilende Nymphe schlechthin, welche in der Landessage bald für die Gattin des Ursprungsgottes Janus galt bald für eine Geliebte des Jupiter. Auch wurde bei den Griechen eine gewisse Art von parkartigen Anlagen mit reichlicher Bewässerung nach der Amalthea oder nach ihrem Horne benanntDuris b. Athen. 12, 59, Onomast. Tull. ed. Baiter 2 p. 33.. Lauter Bruchstücke desselben Glaubens, welcher den alten Wassergott Okeanos und seine weibliche Hälfte, die Nährmutter Tethys zum Anfang der Dinge machte, denn überall ist Okeanos nicht blos als begrenzender Strom einer transcendenten Welt, sondern auch als der Schöpferische, der Ursprung schlechthin zu denken. Daher die Sage von seligen Inseln in seiner Fluth erzählt und von wunderbaren Gärten der Götter, namentlich von einem Garten der Hera, in welchem der Wunderbaum der hesperischen Aepfel wachse, auch ein Sinnbild unerschöpflicher Fruchtbarkeit, welchen die Erde zur Feier des Beilagers des Zeus und der Hera habe entstehen lassen, da wo die Quellen von Nektar und Ambrosia fließen und wo die Erde ihre herrlichsten Gaben in ununterbrochener Fülle spendet (Eurip. Hippol. 748).

Mit diesem Bilde vom Okeanos und seiner Wunderwelt verbindet sich b) sehr häufig die Vorstellung von dem Ursprunge der Dinge aus Nacht und Dunkel, wie darauf schon die Styx zurückführte. Noch deutlicher aber tritt diese Ansicht in den Mythen hervor wo von dem Ursprunge der himmlischen Mächte des Lichts die Rede ist. Denn in allen alten Religionen und Mythen ist das Licht aus der Finsterniß entsprungen, also diese das Primitive. So sind Apollo und Artemis die Kinder der dunklen Leto, und die Fabel von der Entstehung des Chrysaor und des Pegasos, auch die von der Geburt der Athena, erklären sich gleichfalls am besten unter der Voraussetzung dass zuerst dunkles Gewölk über den Fluthen lagerte und daraus dann mit Hülfe der himmlischen Mächte der erste Strahl des Lichts und der Blitz geboren wurde. Die Hesiodische Theogonie 123 ff. nennt 32 aus demselben Grunde Erebos und Nyx als die ersten Kinder des Chaos, welches nach ihr den Anfang bildeteSo auch nach Akusilaos b. Schoemann Op. 2, 78, dahingegen andre Theogonieen umgekehrt Nacht und Finsterniß zum Anfange der Dinge machten, s. Antiphanes ib. p. 76, Hygin. fab. pr.: Ex Caligine Chaos, ex Chao et Caligine Nox Dies Erebus Aether cet. In noch andern war die Nacht die Tochter des Erebos, Paul. p. 83 Erebum u. Nox Erebeis b. Virg. Cul. 202 rec. Haupt. Dem Ἔρεβος (vgl. ἐρεμνός) entspricht Σκότος b. Soph. O. C. 40. 106. Als Göttin ist die Nacht schon der Ilias bekannt, 14, 259. 260, Eos d. h. Hemera als T. der Nacht auch b. Aesch. Agam. 256 vgl. 270 τῆς νῦν τεκούσης φῶς τόδ’ εὐφρόνης u. Schoemann l. c. p. 34, 18., darauf Aether und Hemera als Kinder der Nacht und des Dunkels: von welchen Personificationen Erebos und Aether das stoffliche Licht in der Höhe und das stoffliche Dunkel in der Tiefe ausdrücken, Nyx und Hemera die Erscheinungen des Dunkels und des Lichts in dem ewigen Wechsel von Tag und Nacht. Den Erebos dachte man sich unter der Erde heimisch, die Nacht dort wo die Sonne untergeht, daher diese beiden Gegenden, die tiefe Erde und der Sonnenuntergang, zugleich als Gegenden alles Ursprungs gedacht wurden, aber auch als Gegenden des Todes und vieler Schrecknisse, wie sich dieses in vielen alterthümlichen Bildern und Sagen ausspricht. So erklären sich namentlich die Graeen und Gorgonen der Perseussage am besten als Symbole des höchsten Alterthums und des urweltlichen Dunkels der westlichen Fluth, auch die Dichtung vom Atlas und dem Garten der Hesperiden, dem Göttergarten mit dem Baume des Lebens den ein Drache hütet, während Atlas die ungeheure Tragkraft des Meeres zu bedeuten scheint welche Himmel und Erde unterstützt. Am meisten finden sich diese Bilder bei Hesiod th. 736 ff. ausgeführt, aber leider mehr gehäuft als gesondert, so daß beide Vorstellungen, die von dem Erebos in der Tiefe und die von der Nacht im äußersten Westen, beständig in einander laufenVgl. Schoemann l. c. p. 320–339. Bei Eurip. Or. 176 haust die Nacht im Dunkel des Erebos, bei Alkman nach Schol. Soph. O. C. 1248 (Schoem. p. 332, 19) in den Rhipaeen d. h. im stürmischen Norden. Dagegen scheint mir bei Stesichoros Athen. 11, 38 die gewöhnliche Wohnung im Westen πέρην Ὠκεανοῖο vorausgesetzt werden zu müssen.. Da wo der Tartaros ist, sagt er, und das Gefängniß und die Wache der Titanen, da sind die Enden und Anfänge aller Dinge, des Meeres der Erde und des Himmels, die dort wie Wurzeln in die Tiefe wachsen. Da steht Atlas und trägt den Himmel, da gehen Tag und Nacht aus und ein, nur auf der Schwelle sich flüchtig begrüßend, da wohnen Schlaf und Tod, da ist die Unterwelt mit 33 dem Palaste des Aïdoneus und der Persephone, da wohnt die Styx: und setzen wir hinzu, da sind auch jene Gärten der Götter und die Inseln der Seligen, da sind nach der ältesten Auffassung selbst die Wohnungen der Eos und des Helios. Gewiß ein merkwürdiger Dualismus, welcher aber bei dem Gedanken an Licht und Finsterniß natürlich ist und sich auch in dem Geschlechte der Nacht wiederholt, wie dieses bei Hesiod th. 211 ff. ausgeführt wird. Aus der älteren theogonischen Sage sind die freundlichen Hesperiden geblieben, welche auf einer Insel des Okeanos (πέρην κλυτοῦ Ὠκεανοῖο) die schönen goldnen Aepfel und den Wunderbaum des Göttergartens pflegen, die Kinder der guten Mutter NachtDaher Εὐφρόνη bei Hesiod, Aeschylos und Herodot. Dagegen heißt sie b. Hes. th. 224 als Mutter von so vielen Uebeln Νὺξ ὀλοή., die sich mit ihren feuchten Schwingen allnächtlich über die Erde ausbreitet und die ganze Natur in Schlaf und Dunkel hüllend über embryonischen Formen des Lebens brütet. Und so mögen auch die Moeren, die Göttinnen von Geburt und Tod, die der Aphrodite verwandte Nemesis, der Liebesgenuß und der Schlaf mit den Träumen unter ihren Kindern zu der lichteren Seite zählen. Die übrigen aber sind meist von finsterer Natur und dem Leben feindlich, wie die Erinyen, alles Weh, Alter und Tod, Streit und Krieg, Spott und Betrug und Zwietracht. Wie aber Manche die Nacht und nicht das Chaos zum Anfange der Dinge machten, so galt bei Einigen auch der Himmel nicht für ein Geschöpf der Erde, sondern für den Sohn von Aether und Hemera, der Kinder von Erebos und NyxCic. N. D. 3, 17, 44, wo Amor und Gratia zu dem Geschlechte der Nacht gerechnet werden, wie bei Hesiod Φιλότης (Orph. H. 3, 2 Νὺξ γένεσις πάντων, ἣν καὶ Κύπριν καλέσωμεν). Vgl. Cramer Anecd. 1, 75 Αἰϑέρος υἱὸς ὁ Οὐρανός, ὡς ὁ τὴν Τιτανομαχίαν γράψας, d. i. vermutlich Eumelos oder Arktinos. Hygin l. c. ex Aethere et Die Terra Coelum Mare.: ein neuer Beweis daß bei diesen kosmogonischen Systemen immer Vieles dem Ermessen der Einzelnen überlassen blieb.

c) Die eigentlich Hesiodische Lehre vom Ursprung der Dinge ist die vom Chaos, der Mutter Erde und vom Eros. Das Chaos ist seiner Wortbedeutung nach der gähnende RaumΧάος von χαίνειν vgl. die Kluft der Klüfte, gap ginnûnga, der nordischen Mythologie, Grimm D. M. 525., also schon eine gewisse Abstraction; obwohl es nicht schlechthin als abstracter Raum zu denken ist, sondern mit einem gewissen Urstoff des Nebels und der Finsterniß erfüllt: wenigstens wird 34 in der ausgebildeten Weltordnung, in welcher es zu existiren fortfuhr, bald der mit Finsterniß erfüllte Raum unter der Erde mit demselben Namen benannt, bald der mit Luft und Wolken d. h. mit dem der Finsterniß verwandten Nebel erfüllte Himmelsraum über der ErdeVgl. Hesiod th. 700. 814, Arist. Nub. 424 τὸ Χάος τουτὶ καὶ τὰς νεφέλας, 626 μὰ τὸ Χάος μὰ τὸν ἀέρα, Av. 192, Eurip. Ibyc. Bacchyl. b. Schoemann l. c. p. 68. 69, auch Benfey Z. f. vgl. Spr. 8, 187–206, welcher Parallelen der indischen Sprache und Vorstellung nachweist. Die rudis indigestaque moles Ovids gehört der späteren Auffassung.. Das Chaos war zuerst, heißt es bei Hesiod, darauf entstand die breitbrüstige Erde, die unerschütterliche Feste sowohl der überirdischen als der unterirdischen Götterth. 117 πάντων ἕδος ἀσφαλὲς αἰεὶ ἀϑανάτων, οἳ ἔχουσι κάρη ϑιφόεντος Ὀλύμπου Τάρταρά τ’ ἠερόεντα μυχῶ χϑονὸς εὐρυοδείης. Ich folge der Erklärung Schoemanns p. 66, 7 u. 442, welcher Τάρταρα mit ἔχουσι verbindet und nur drei Principien annimmt, Chaos Erde und Eros. Gewöhnlich nimmt man Τάρταρα für den Nominativ, also als viertes Princip. Doch ist er wesentlich unschöpferisch und nichts weiter als eine natürliche Ausscheidung des Raums unter der Erde, also das Chaos als unterirdischer Abgrund, Hes. th. 740., und Eros, der schönste von allen Unsterblichen, der Gebieter über Sinn und Gemüth aller Götter und Menschen. Aus dem Chaos entstehen weiter Erebos und Nyx, durch diese Aether und Hemera (S. 32). Die Erde, welche die breitbrüstige heißt (εἰρύστερνος), weil ihre körperliche Bildung als sehr fest und stämmig gedacht wird, die riesige, die ungeheure (πελώρη), der feste Grund und Boden aller Naturerscheinungen über und unter ihr, diese erzeugt zuerst den ihr gleichartigen HimmelΟὐρανὸν ἀστερόενϑ’, ἵνα μιν περὶ πάντα καλύπτοι. Also der Sternenhimmel als Gewölbe über der Erde, dieser gleichartig (ἶσος), weil er eben so fest und unvergänglich ist. Das Wort Οὐρανὸς entspricht dem indischen Varunas von Skr. var d. i. decken, wie unser Himmel von hima d. i. decken, umhüllen, bekleiden. Obgleich der indische Varunas mit der Zeit zum Wassergotte geworden ist, ohne Zweifel weil der Himmel für das Princip aller Befruchtung gehalten wurde, wie der griechische Uranos aus demselben Grunde der Gemahl der Erde ist., dessen Gewölbe sie ganz bedeckt und der eben so unvergänglich ist als sie selbst. Die Dichter nannten ihn den ehernen, auch den eisernen (χάλκεος, πολυχάλκεος, σιδήρεος), nicht als ob er von solchem Stoffe wäre, sondern eben wegen seiner unvergänglichen Dauer und seiner nicht der Veränderung unterworfenen NaturPind. N. 6, 3 ὁ δὲ χάλκεος ἀσφαλὲς αἰὲν ἕδος μένει οὐρανός., in welcher Hinsicht er noch vollendeter und seliger ist als die Erde, daher auch die Götter dort ihre Wohnung aufgeschlagen haben. Ferner zeugt sie die ragenden Berge, in 35 denen die Nymphen und die Satyrn und andre dämonische Geschöpfe heimisch sind, und das Meer mit der tosenden Wasserfluth, das unfruchtbare genannt (ἀτρύγετον πέλαγος), weil man es im Gegensatze zu der fruchtbaren Erde zu denken gewohnt war. Und zwar hat die Erde den Himmel und die Berge und das Meer noch von selbst geboren, als unmittelbare Folge des organischen Triebes, mit dem sie aus dem dunklen Schooße des Chaos hervorgetreten war. Nun aber beginnt sich in ihr und in allen Dingen die Liebe zu regen, jenes göttliche Naturgesetz des Werdens, welches das Männliche und Weibliche scheidet um es wieder zusammenzuführen und zu paaren und daraus durch Begattung und Zeugung eine Generation nach der andern entstehen zu lassen: zugleich der Uebergang von der bloßen Kosmogonie zur Theogonie, von der Naturgeschichte zur Göttergeschichte, die sich von nun an wie eine große Verkettung von göttlichen LiebespaarenVirg. Ge. 4, 317 aque Chao densos divom numarabat amores. fortsetzt. Eros, der älteste und der jüngste von allen Göttern, der nach dem Vorgange des Hesiodischen Gedichtes von so vielen anderen philosophirenden Dichtern seit Parmenides gefeiert ist, ein Liebling aller Mysterien und des mystischen Hymnengesanges, vorzüglich im Culte des Hermes und der AphroditeSchoemann Opusc. 2 p. 60–92.. Zuerst beginnt dieser schaffende Liebestrieb sich in den Ausgeburten des Chaos, dem Erebos und der Nacht zu regen, denen bei solchem Triebe das größte Wunder der Schöpfung, das Licht entspringt. Dann ergreift er das herrlichste aller Götterpaare, Himmel und Erde, durch deren Zeugung die neue Welt der Titanen, der Kyklopen, der Hekatoncheiren ins Dasein gerufen wird.

d) Eine noch andere Art sich den Anfang der Dinge zu erklären ist die Dichtung vom Weltei, welches Bild besonders in der Orphischen Theogonie beliebt warAuch in den Orphischen und Bacchischen Mysterien, s. Plut. Symp. 2, 3, 10–12, Macrob. 7, 16, 8. Im Orient läßt es sich bei den Indern, den Persern, den Phoeniciern u. s. nachweisen. Vgl. auch Varro b. Prob. V. Ecl. 6, 31.. An und für sich liegt es nahe genug das Ei als Sinnbild der Erzeugung und Belebung zu betrachten, daher die bildliche Anwendung davon sich bei verschiedenen Völkern findet, in der älteren griechischen Mythologie in der Fabel vom Ei der Leda. Doch scheint die Uebertragung auf die Kosmogonie speciell jenem Gedichte anzugehören 36 und die bekannte Parodie bei Aristophanes Vögel 693 mag also schon durch dieses veranlaßt gewesen sein. Wenigstens vereinigt sich gut damit was wir sonst von der ältesten Redaction der Orphischen Theogonie, die bis in die Zeit der Pisistratiden reichte, wissen oder vermuthen können, namentlich daß auch nach Orpheus das Chaos und Erebos und die Nacht zu den ersten Anfängen gehörten. Durch Erebos und die Nacht scheint dann weiter das Weltei entstanden zu sein, aus welchem zugleich mit dem Lichte Eros entspringt, den die Orphiker deshalb Phanes nannten. Mit der Zeit aber kamen bei dieser Secte künstlichere Versionen der Theogonie auf, wie es deren besonders zwei verschiedene gab, welche aber beide auf das Weltei zurückgingen. Die eine begann mit dem Okeanos oder dem Wasser, aus welchem sich ein schlammartiger Niederschlag gebildet habe, aus dem wieder der Gott Aeon d. i. die ewige Zeit entstand, und von diesem wurde endlich das Weltei abgeleitet. Die andere Version war zuletzt die gangbarste und ist deshalb die bekannteste. Den Anfang bildete hier die Zeit, selbst ohne Anfang. Darauf entsteht das Chaos, ein tiefer Abgrund in welchem Nacht und Nebel brüten, und der feurige Aether, das Princip aller Beseelung und Gestaltung. Die Zeit bewirkt daß die Nebel des Chaos bei rotirender Bewegung sich zum Ei bilden indem sie sich um den Kern des Aethers legen, bis die heftig schwingende Bewegung zuletzt das Ei reift, so daß es in zwei Hälften zerplatzt. Aus diesen entstehen Himmel und Erde, aus dem Kerne geht das Orphische Wunder- und Allwesen hervor, welches sie mit sehr verschiedenen Namen benannten (Eros, Metis, Phanes, Erikapaeos u. A.) und mit allen möglichen Kräften ausstatteten. Also manche alterthümliche Bilder und Vorstellungen, aber versetzt mit modernen Phantastereien, wie sie das sinkende Heidenthum in großer Menge aufbrachte. Und dieses ist der allgemeine Character aller Orphischen Poesieen, welche deshalb bei mythologischen Studien nur mit Vorsicht zu gebrauchen sind.


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