Ludwig Preller
Griechische Mythologie Theogonie, Götter
Ludwig Preller

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7. Silen und die Silene.

Silen gilt gewöhnlich für den Aeltesten unter den Satyrn, deren leichtfertige Schaar er mit väterlicher Sorgfalt anführt und behütetSo besonders b. Euripides im Kyklopen u. wahrscheinlich überhaupt im attischen Satyrdrama. Auch in dem bacchischen Aufzuge in Alexandrien Athen. 5, 28., die Silene für ältere Satyrn (Paus. 1, 23, 6). Doch scheint noch ein bedeutenderer Unterschied stattzufinden, sowohl hinsichtlich der Abstammung als des dämonischen Characters. 574 Die Silene gehören nehmlich vorzugsweise der kleinasiatischen, namentlich lydischen und phrygischen Sage an, also jenen Formen des Bacchusdienstes die den griechischen zwar verwandt, aber doch in vielen Punkten von ihnen verschieden waren. Und sie waren in diesen Sagen und Religionen vornehmlich Dämonen des fließenden, quellenden, nährenden und befruchtenden und begeisternden Wassers, die eben deswegen meist an Quellen, Flüssen und Brunnen, in feuchten Gründen und üppigen Gärten heimisch gedacht wurdenWelcker Nachtrag S. 214, O. Jahn Ficoron. Cista S. 371. Σειληνὸς scheint dasselbe Wort zu sein mit dem italischen silanus, welches fliessendes und sprudelndes Wasser bedeutet. Im Innern einer Schale aus Vulci: σιλανὸς τέρπων, ἡδὺς ὁ οἶνος, O. Jahn Münchn. Vas. n. 331, Einl. CXII. Vinum aquae misceri (invenit) Staphylus Sileni filius Plin. 7, 199., dahingegen die Satyrn recht eigentlich Berg- und Waldgeister sind. Die Silene hatten überdies in den kleinasiatischen Sagen neben ihrer scurrilen und lasciven Bedeutung doch eine ernstere, nehmlich die der bacchischen Naturbegeisterung die in musikalischen Erfindungen und prophetischen Aussprüchen sich offenbart, so daß sie erst durch die Griechen und durch die Vermischung mit den Satyrn diesen gleichartig geworden zu sein scheinen. Selbst das Symbol des Esels, welches den Silenen eigenthümlich ist und in der Midassage bedeutungsvoll hervortritt, wird erst durch Misverstand und Parodie der Griechen die einseitig lächerliche und scurrile Bedeutung bekommen haben. In dem ursprünglichen Zusammenhange jener asiatischen Sagen muß dieses Thier neben seiner gemeineren Natur eine höhere und edlere, namentlich etwas Prophetisches gezeigt haben, wie in anderen orientalischen Dichtungen. Wie würde es sonst dazu gekommen sein als Opfer des hyperboreischen Apoll genannt zu werden, wie dieses selbst bei dem ernsten Pindar geschiehtPind. P. 10, 33. Auch Kallimachos und Apollodor wußten von diesen Opfern, s. Schol. Pind. l. c. u. Clem. Protr. p. 25 P. Zum Theil erklären sie sich durch die oben S. 207, [Anmerkung 575] besprochene Natur Apollons als eines Befruchters der Heerden, des dem Priap und dem lat. Inuus verwandten Ap. ϑόρναξ u. ἐρισαϑεύς. Doch ist auch hier die mantische Seite wesentlich, vgl. das Orakel des Apoll zu Priapos am Hellespont, Tzetz. Lyk. 29.? Aber freilich wird die Natur der Silene auch in Kleinasien immer eine gemischte, aus gemeinen und idealen, Scurrilität und Tiefsinn, Humor und Ernst zusammengesetzte gewesen sein, ihr wesentlicher Ausdruck der des cynischen Humors und der Ironie, wie diese nicht selten das characteristische Merkmal der orientalischen Fabel ist.

575 Die älteste Sage erzählt vom König Midas und seinem Silen, wie jener diesem nachgestellt und ihn endlich durch Vermischung einer Quelle mit Wein (in kleinasiatischen Sagen ein öfter wiederholtes Motiv) gefangen habe, bald in seinen Rosengärten am Bermios bald in Phrygien (S. 508). Der gefangene Silen offenbart dem Könige hohe Weisheit und allerlei verborgene Kunde über die Natur der Dinge und die Zukunft, wovon Aristoteles und Theopomp ausführlicher berichtet hattenAristot. b. Plut. cons. ad Ap. 27, Theopomp b. Aelian V. H. 3, 18. Vgl. Virg. Ecl. 6, 13 ff. u. Serv. z. vs. 26, Cic. Tusc. 1, 48, 114 (Bacchylides fr. 2), Himer ecl. 16, 5 u. das Bild b. Philostr. 1, 22.. Also ein befruchtender und prophetischer Naturgeist des Wassers und der Gärten, der sich durch Wein berücken läßt, aber sonst an jene prophetischen Meeresgreise erinnert, wie an den ihm noch näher verwandten Faunus der italischen Fabel. Eine eigentümliche Version derselben alten Tradition scheint auch die aus der Odyssee 9, 197 bekannte Sage zu sein, von Maron dem Sohne des Euanthes, eines Priesters des Apoll (vermuthlich wegen seines prophetischen Geistes), der dem Odysseus den wunderstarken, von den späteren Dichtern vielgepriesenen Wein giebt und nachmals gewöhnlich ein Sohn des Dionysos oder ein Pflegling oder Sohn des Silen heißtΜάρων ist der Silen von Μαρώνεια, dem früheren Ἴσμαρος, der Name verwandt mit dem des Μαρσύας, des Silen von Kelaenae, vgl. Welcker Nachtr. 216.. Der Silen selbst, von welchem diese Sagen berichten, wird bald in Nysa geboren bald der erste König von Nysa genanntNysigenae Sileni Catull 64, 253, Silen König von Nysa Diod. 3, 71. Bei Aelian V. H. 3, 18 ist Silen der Sohn einer Nymphe, ϑεοῦ μὲν ἀφανέστερος τὴν φύσιν, ἀνϑρώπου δὲ κρείττων, ἐπεὶ καὶ ἀϑάνατος ἦν. Bei Serv. V. Ecl. 6, 13 heißt es: quem alii Mercurii filium, alii Panos et Nymphae, alii ex guttis cruoris Coeli natum esse dixerunt., auch der Pflegevater und Erzieher des Dionysos, den er zu allerlei Kunst und Wissenschaft und den Erfindungen des Weinbaus und der Bienenzucht angeleitet habe, wie er ihm nachmals immer als treuer Freund gesellt geblieben sei. Wobei ohne Zweifel an jenes Nysa in Thrakien gedacht werden muß, welches in der gewöhnlichen Dionysossage und zwar von den ältesten Dichtern als Ort der Pflege des kleinen Bacchus genannt wird.

Sonst werden die Silene in den kleinasiatischen Sagen, ganz wie die Satyrn in den griechischen, als Walddämonen und Liebhaber der Nymphen genannt z. B. der idaeischen (Hom. H. in 576 Ven. 262), endlich als Erfinder der nationalen Musik, sowohl der volkstümlichen z. B. der Syrinx als der im Cultus der Rhea und des Bacchus gebräuchlichen Flötenmusik, was wieder an die lydischen Nymphen oder Musen erinnert (S. 382)Horat. A. P. 239 custos famulusque dei Silenus alumni. Vgl. Ovid F. 3, 137 ff., Synes. calv. encom. p. 68 u. die Bilder aus Pompeji b. Ternite 3, 3–5. Der makedonische Name für die Silene, Σαυάδαι oder Σαῦδοι (Hesych) ist wohl i. q. Σαῦλοι d. h. die Ueppigen, Anakr. fr. 56 Διονύσου σαῦλαι Βασσαρίδες.. So wurden in den phrygischen und lydischen Sagen Hyagnis Marsyas und Olympos als erste Erfinder und Künstler der durch die Religion der Kybele begeisterten Flötenmusik gepriesen, von welchen Künstlern Marsyas ausdrücklich ein Silen, nach dem später gewöhnlichen Sprachgebrauche ein Satyr genannt wirdPlato Symp. 215, Plut. Mus. 5. 7, Paus. 10, 30, 5. Von Hyagnis s. Marm. Par. ep. 10. Marsyas heißt b. Herod. 7, 26 ausdrücklich ein Silen, bei Plato a. a. O. ein Satyr. Ueber Marsyas u. Olympos s. Philostr. Imag. 1, 20. 21, Müller Handb. § 387, 4., Hyagnis der Vater des Marsyas, Olympos sein Schüler, so daß also Marsyas immer die Hauptperson bleibt, wie er auch in der Sage vom König Midas und von der Kybele als solche hervortritt (S. 508. 510). Seine ursprüngliche Bedeutung war nach sicheren Nachrichten die eines Flußgottes des gleichnamigen Flusses bei der alten phrygischen Stadt und Königsburg Kelaenae, wo sich sehr bestimmte Sagen und Andenken von ihm erhalten hattenHerod. 7,26, wo der Fl. καταρρήκτης der Marsyas ist, Xen. Anab. 1, 2, 8, Strabo 12, 578, Paus. 10, 30, 5, Max. Tyr. 8, 8, Liv. 38, 13, Lucan 3, 206 u. A. Ein dem Namen Μαρσύας verwandter Flußname ist Μάσνης oder Μάσσης s. Plut. de mus. 7, C. Müller Hist. Gr. 4, 629.. Die Natur des Silen erkennt man auch daran, daß er seinem Schüler Olympos gegenüber nach Pindar eine ähnliche Weisheit offenbarte wie der Silen der Midassage diesem Könige gegenüberSchol. Arist. Nub. 223 ὁ γάρ τοι Πίνδαρος διαλεγόμενον παράγων τὸν Σειληνὸν τῷ Ὀλύμπῳ τοιούτους αὐτῷ περιέϑηκε λόγους· ὦ τάλας ἐφάμερε νήπια βάζεις χρήματά μοι διακομπέων..

In den abendländischen Sagen hat die bacchische und scurril humoristische Natur der Silene jene geistigeren Eigenschaften der nationalen Sage fast ganz in Vergessenheit gebracht. Doch beweist die Art wie Plato Sokrates mit den Silenen überhaupt und insbesondre mit Marsyas vergleicht (Symp. p. 215), bei welcher Gelegenheit er namentlich von der Musik des Marsyas und seines Schülers Olympos mit großer Bewunderung 577 spricht, daß den Griechen auch die ernstere Seite dieser Gestalten nicht unbekannt war. Auch wurde Silen hin und wieder in Griechenland nach asiatischer Weise als Spender von Quellen und als bacchischer Genius der Fruchtbarkeit verehrtPaus. 3, 25, 2; 6, 24, 6, T. des Silen in Elis (ohne Dionysos), Μέϑη δὲ οἶνον ἐν ἐκπώματι αὐτῷ δίδωσι. Pausanias sah auch Gräber von Silenen in Palaestina und in Pergamum. Auch kommt Silen an der Seite der Guten Tyche in der Bedeutung des Guten Dämon vor, Gerhard Agathod. 466 u. t. 3., desgleichen als Pflegevater des Bacchuskindes, in welcher Eigenschaft er durch schöne Statuen verherrlicht wurde, deren Copieen auch uns einen lieblichen Anblick gewährenPindar b. Paus. l. c. ο ζαμενὴς δ' ο χοροιτύπος, ὸν Μαλεάγονος (vom Vorgebirge Malea) ἔϑρεψε Ναίδος ἀκοίτας Σειληνός. Vgl. Müller Handb. § 386, 4 u. Wieseler D. A. K. 2, 406. Vgl. Dens. Samml. d. arch. numism. Instituts d. Univ. Gött. 1859 S. 21.. Und so würde auch das Bild des Marsyas nicht als Symbol der Freiheit in den Städten aufgerichtet worden sein, wenn er nicht eine ähnliche Bedeutung wie Dionysos λύσιος und ἐλεύϑερος gehabt hätteHorat. Sat. 1, 6, 120, Röm. Myth. 443..

Gewöhnlich aber spielte Marsyas auf der attischen Bühne und Silen im bacchischen Thiasos eine ganz andere Rolle, wie eben der Witz des attischen Satyrspieles und die volkstümliche Lust der öffentlichen Aufzüge solche ausländische Figuren zu entstellen pflegte. Marsyas wurde auf der attischen Bühne zum Repräsentanten der ausgearteten, von Apollo als dem Vertreter der Kitharistik hart gezüchtigten Flötenmusik. Nehmlich in der oft erzählten, auch durch schöne Kunstwerke verewigten Fabel wie Athena die Flöte erfunden aber weggeworfen, Marsyas sie darauf an sich genommen und mit solcher Kunst cultivirt habe, daß er sich mit Apoll in einen Wettstreit einzulassen wagte, worüber er selbst geschunden wird und der Schiedsrichter Midas, der dem Marsyas den Sieg zugesprochen, zu seinen Eselsohren kommtS. die Verse des Melanippides und Telestes b. Athen. 14, 7, Eurip. b. Strabo 13, 616, Böttiger kl. Schr. 1, 3–60, Ad. Michaelis Ann. d. Inst. 30, 298–347. Vgl. oben S. 176. 508.. Es scheint dabei eine ältere phrygische Sage von Kelaenae zu Grunde zu liegen. Hier sah man nehmlich auf dem Markte der Stadt die Quelle des Marsyas und bei derselben aufgehängt den sogenannten Schlauch des Marsyas, angeblich seine eigne ihm von Apollo abgezogene Hautτὸν ὑπὸ Φρυγῶν λόγος ἔχει ὑπὸ Ἀπόλλωνος ἐκδαρέντα ἀνακρεμασϑῆναι, Herod. 7, 26.. Zur 578 Erläuterung dient der in Kleinasien und auch sonst bei den Alten ziemlich allgemeine Gebrauch, die Silene in ihrer Bedeutung als Quelldämonen an Quellen und Fontänen auf einem Schlauche sitzend oder stehend oder neben ihm lagernd abzubilden, so daß also jener Schlauch des Marsyas ursprünglich gewiß dieselbe Bedeutung gehabt hatte. Erst in der Zeit wo das Flötenspiel minder angesehen war als früher, wie diese Ansicht vorzüglich von dem jüngeren Athen und im Widerspruch gegen die Kunstübungen der Boeoter vertreten wurde, wird die Wendung hinzugefügt sein daß Apoll den Marsyas wegen seiner Anmaßung in dieser Kunst und bei lebendigem Leibe geschunden habe. Einige setzen noch hinzu daß aus dem dabei herabrinnenden Blute des Marsyas oder aus den über ihn vergossenen Thränen der Nymphen der nach ihm benannte Fluß entsprungen seiΜαρσύας νυμφαγενής Tetestes b. Athen. 14, 7, vgl. Ovid M. 6, 382 ff., Paus. 10, 30, 5, Plut. de fluv. 10..

Der bacchische Silen aber wurde zu dem gemüthlich scurrilen Trunkenbolde, wie ihn so viele alte Kunstdenkmäler zeigen, entweder allein oder unter den übrigen Figuren des bacchischen Gefolges. Ein kurzer dickwanstiger, am Kopfe mit einer Glatze versehener, am Leibe sehr haariger Alter, der immer Betrunkene Ueberselige, der auf seinem Esel dem Zuge seines Herrn und Meisters folgt und der Stütze der Satyrn, seiner dienstwilligen Umgebung bedarf, sonst würde er jeden Augenblick von dem Esel herunterfallenLukian deor. conc. 4 ὁ φαλακρὸς γέρων, σιμὸς τὴν ῥῖνα, ἐπὶ ὄνου τὰ πολλὰ ὀχούμενος, Λυδὸς οὗτος. Vgl. Müller Handb. § 386, D. A. K. 2, 494–521, Gerhard hyperb. röm. Stud. 2, 87. 112.. Oder er mischt sich stehend den bacchischen Trunk, oder er lehnt oder liegt mit seinem Schlauche, der überall wesentlich zu ihm gehört, oder er sitzt mit der Syrinx oder der Flöte in der Hand, wie ihn die attischen Bildhauer in ihren Läden aufzustellen und zur Aufbewahrung kleinerer Götterbilder von Gold zu benutzen pflegtenPlato Symp. l. c., vgl. Panofka b. Gerhard D. u. F. 1853 S. 172.. Neben ihm erscheint das ganze Geschlecht der Silene in entsprechenden Situationen, trinkend oder betrunken, den Kordax tanzend, aber auch die Kithar spielend, gewöhnlich alt und zottig. Eine eigenthümliche Nebenart ist die der Papposilene oder Silenopappe, die vollends ganz haarig und thierisch aussehen, von πάππας dem phrygischen WorteS. oben S. 511. Hier in der volksthümlichen Bedeutung wie Väterchen. Bacchus gestützt von einem Silenopappos, schöne Gruppe von Marmor Mon. d. Inst. 1854 p. 81, vgl. p. 119 den trunknen Silen auf seinem Esel. Auf der Bühne erschienen die Silene gewöhnlich im s. g. χορταῖος χιτῶν d. h. einer zottigen Bekleidung., auch diese also eine der 579 phrygischen Dämonologie entlehnte, aber ins Grobkomische übertragene Charactermaske.


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