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Die Menschen, die auf dem Rennplatz zusammengeströmt waren, drängten dem Ausgang zu, und die Polizei hatte Mühe, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber im Fernen Osten ist eine Menge leichter zu lenken als in Europa. Ein Polizeioffizier hob von einem erhöhten Stand aus plötzlich die Hand und gab ein kurzes Kommando. Darauf bildete sich wie durch einen Zauberschlag eine breite Gasse.
Der König und die Königin verließen den Rennplatz, aber niemand drängte sich neugierig vor. Geduldig und ehrfürchtig warteten die Leute, verneigten sich tief und legten wie betend die Hände zusammen, als die Palastwachen in prunkvoller alter Tracht vorausschritten und das Herannahen des Herrscherpaares ankündigten.
Der König war verhältnismäßig klein. Er trug einen leichten, weißen Leinenrock und einen dunkelblauen Seidenpanung, Schwarzseidene Strümpfe, schwarze Halbschuhe und einen Panamahut. Nicht das geringste Abzeichen seiner hohen Würde war an ihm persönlich zu entdecken, aber hinter ihm gingen Hofbeamte in reichgestickten Uniformen, und einer von ihnen trug den großen, blauseidenen Königsschirm.
»Wozu braucht denn der König einen Schirm?« wollte Ronnie wissen.
»In den Tropen ist es nicht nur angenehm, sondern auch ehrenvoll, unter einem Schirm zu wandeln, und je mehr Absätze dieser hat, desto größere Ehre kommt seinem Besitzer zu. Die Anzahl dieser Stufen muß aber immer ungerade sein.«
»Hat er auch einen blauen Schirm, weil heute Donnerstag ist?«
»Nein. Ich sagte dir doch schon, daß Blau die Farbe des Planeten Jupiter ist, und Jupiter war doch der König unter den Göttern. Also ist seine Farbe auch die des Königs.«
Als die Hofwagen abgefahren waren, wurde die Sperre am Ausgang aufgehoben.
Warwick sah sich nach Marbin, seinem Chauffeur, um und hob die Hand, um sich bemerkbar zu machen. Der Malaie verstand es auch, trotz des starken Verkehrs im richtigen Augenblick vorzufahren. Gewandt steuerte er den offenen Lincoln durch das Gedränge und hielt kurz vor der Stelle, an der Warwick und Ronnie warteten. Dann sprang er behende vom Führersitz und öffnete die Tür.
Warwick nahm am Steuer Platz, und Ronnie setzte sich neben ihn, während sich Marbin hinter den beiden niederließ.
Geschickt brachten die Polizisten vor dem Ausgang des Rennplatzes Ordnung in das Gewimmel der Wagen, aber trotzdem bedurfte es Warwicks voller Umsicht, um in dem Gewühl einen Weg zu finden.
»Glänzende Autostraßen«, meinte Ronnie anerkennend, als sie endlich in die breite Windmill Road einbogen und unter stattlichen Teakbäumen dahinfuhren. »Bin ganz erstaunt über den fortschrittlich modernen Straßenbau in Bangkok. Ich dachte, ihr hättet hier nur armselige Wege für Büffelkarren.«
»Ganz so schlimm ist es doch nicht. Früher waren die Straßen allerdings auch in der Nähe der Hauptstadt entsetzlich schlecht, aber als sich der Vater des jetzigen Königs für den Autosport zu interessieren begann, änderte sich das sehr schnell.«
»Zu schlimm! In diesem absolut regierten Land dreht sich natürlich alles nur um die geheiligte Person des Königs, und an das Wohl des Volkes denkt kein Mensch. Höchste Zeit, daß diese unmöglichen Zustände gegeißelt werden! Ihr Kaufleute könnt das natürlich nicht tun, denn ihr wollt Geld verdienen und müßt deshalb überall Rücksichten nehmen und den Mund halten. Dazu gehört eben ein freier, unabhängiger Schriftsteller, wie ich es bin.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum du den Mund aufreißt und was du geißeln willst. Die Straßen in der Hauptstadt und der nächsten Umgebung sind wunderbar gepflegt und stehen der Allgemeinheit zur freien Verfügung. Bei der Ausdehnung dieser Millionenstadt ist das eine Annehmlichkeit, die du nicht unterschätzen darfst. Wie du siehst, fahren zur Zeit der Abendkühle ja auch alle Leute spazieren.«
»Gut und schön. Aber ihr habt keine Landstraßen! Ihr könnt wohl mit euren Autos in der Nähe der Hauptstadt herumkutschieren, aber damit ist es auch aus!«
»So darfst du die Sache nicht auffassen, Ronnie. Gewiß, in Südsiam gibt es keine Landstraßen wie in anderen Ländern, aber dafür haben wir ein ausgedehntes Kanalnetz. Das ist eben durch die Natur der Landschaft bedingt. Die große Menamebene ist durch den Fluß angeschwemmt und vollkommen flach. Kilometerweit erhebt sich der Boden kaum vier bis fünf Meter über den Meeresspiegel. Wenn wir hier Fahrstraßen bauen wollten, müßten sie so gut fundiert sein und so hoch liegen, daß sie nicht überschwemmt werden könnten. Dadurch würden sich aber die Wasserverhältnisse in der Menamebene ändern, und der Reisbau würde darunter leiden.«
Ronnie hörte erstaunt zu.
»Kanäle sind schon das einzig Richtige für Südsiam«, fuhr Warwick fort. »Große Lasten lassen sich auf dem Wasser in Booten viel leichter fortbewegen als auf Landstraßen. Bei der Reisernte stehen außerdem alle Felder unter Wasser, und man kann mit dem Boot überall bequem hinkommen.«
»Das ist ja die verkehrte Welt«, meinte Ronnie lachend, gab sich aber zufrieden.
Bei einer Wegkreuzung stockte der Verkehr. Ein großer, uralter Bo-Baum stand etwas abseits der Straße und reckte seine starken Äste zum Himmel empor. Der dicke, breite Stamm und auch die Zweige waren mit roten Tüchern behangen, und viele Leute machten sich eifrig an dem Baum zu schaffen. Manche standen, manche saßen, aber Ronnie konnte nicht erkennen, was Sie machten.
»Was tun die denn? Beten Sie etwa den Baum an?« fragte er neugierig.
»Nein, Sie wollen in der Lotterie spielen und holen sich hier Rat. Dies ist ein heiliger Feigenbaum, wie sie vielfach auch in den Tempelhöfen stehen. Die graubraune Rinde ist von vielen verschlungenen Adern durchzogen, und die Leute reiben so lange daran, bis sie Zahlen oder Buchstaben in der Maserung zu erkennen glauben.«
Ronnie hatte das Notizbuch aus der Tasche genommen und schrieb schnell, während Warwick weitersprach.
»Diese Zahlen setzen sie dann in der Chinesenlotterie, und wenn sie gewinnen, bringen sie aus Dankbarkeit dem Baum Spenden dar. Manchmal zünden sie auch Kerzen davor an, oder sie hängen Blumengewinde und Kränze in die Äste, oder auch rote und weiße Tücher. All die vielen Goldflitter und Puppen, die du in den Zweigen siehst, sind Opfergaben.«
»Also wird auch dieses arme Volk von der Spielleidenschaft verdorben?« ereiferte sich Ronnie. »Tut denn die Regierung nichts dagegen?«
»Sie ist sehr fortschrittlich, aber Siam ist ein merkwürdiges Land«, entgegnete Warwick nachdenklich. »Du findest hier finsterstes Mittelalter und modernste Einrichtungen dicht nebeneinander. Kein Land des Ostens – mit Ausnahme von Japan – besitzt zum Beispiel ein so vorzüglich ausgebildetes Flugwesen; auch ist das ganze Land von einem Netz von Wetternachrichten- und Meldestationen für den Luftdienst überzogen, die ausgezeichnet arbeiten. Und doch ließ sich Surja, dem auch dieser Dienstzweig untersteht, vom Hals bis zu den Fußgelenken mit magischen Ornamenten tätowieren, um hieb- und schußfest zu werden. Und dabei hat der Mann in Cambridge seine Examina glänzend bestanden und denkt in anderen Dingen ebenso modern wie wir.«
»Nicht möglich! Das ist ja interessanter Stoff für mein Buch!«
»Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, eine so hochgestellte Persönlichkeit wie den Prinzen in deinem Buch bloßzustellen. Aber ich kann dir etwas anderes erzählen. Neulich kam zu unserem Gesandtschaftsarzt ein siamesischer Marineoffizier, der eine Schußwunde in der Hand hatte. Der Doktor verband ihn und erkundigte sich dabei, auf welche Weise er die Verwundung erhalten hätte. Der betreffende Offizier ist bei der englischen Marine ausgebildet worden, also schließlich kein Dummkopf.
Zuerst wollte der Mann nicht mit der Sprache heraus, aber schließlich erzählte er doch, daß er sich von einem Beschwörer durch einen Zauber hatte unverwundbar machen lassen. Er hatte ihm dafür achtzig Tikals gezahlt – das sind sechs bis sieben Pfund nach unserem Geld und für einen Siamesen eine beträchtliche Summe. Hocherfreut nahm er, als er zu Haus angekommen war, seinen Browning aus der Schublade, um eine Probe zu machen, und schoß sich durch die Hand. Das Geschoß schlug natürlich glatt durch Fleisch und Knochen.«
»Hoffentlich ist er jetzt von dem Wahnsinn geheilt?« erwiderte Ronnie erregt.
»Die Sache kam dem Marineminister zu Ohren, der sehr aufgeklärt ist und den weitverbreiteten Aberglauben ausrotten möchte. Er ließ den Zauberer und den verwundeten Offizier kommen und wollte den Beschwörer bestrafen.«
»Sicher hat er den Betrüger ins Gefängnis gesteckt!«
»O nein.«
»Aber warum denn nicht?«
»Der Mann sagte ganz einfach, dieser Zauber wäre vor Jahrhunderten, ja vor Jahrtausenden entstanden, und damals hätte es noch keine Browningpistolen gegeben. Für alle anderen Waffen genügte er. Nach Ansicht der Eingeborenen hatte er sich damit gerechtfertigt und konnte nicht bestraft werden.«
»Hat der Offizier nachher auch noch eine Probe mit einem Dolch gemacht?«
Warwick schüttelte den Kopf und fuhr langsamer, da er dauernd grüßen mußte. Er nannte seinem Freund auch die Namen der Diplomaten und der großen Kaufleute, die an ihnen vorüberkamen. Ronnie hörte aber nur halb hin, denn ihn interessierten viel mehr die schönen Siamesinnen und die Monmädchen, die in einfachen Rikschas ihre abendliche Spazierfahrt machten. Flinke, sehnige Chinesenkulis zogen die leichten Gefährte. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit bahnten Sie sich einen Weg durch den dichten Verkehr und schlängelten sich wie Aale zwischen den schnellfahrenden Autos durch.
»Sag mal, Warwick, hast du eigentlich eine braune Frau?« fragte Ronnie plötzlich.
»Wie kommst du denn darauf? Hier in Bangkok haben manche Leute, wenn sie nicht auf europäische Art verheiratet sind, eine Mia, das heißt eine eingeborene Frau. Aber über solche Privatangelegenheiten spricht man selbstverständlich nicht, und man mischt sich auf keinen Fall ein.«
»Ist deine Mia hübsch?«
»Ich sagte dir doch eben, daß man nicht über diese Dinge spricht. Wenn du es aber unbedingt wissen mußt – ich habe keine Mia.«
»Warum denn nicht? Wenn doch die anderen eine haben? Es muß sich eigentlich hier in Siam sehr nett mit einer Mia leben. Ich habe schon auf dem Dampfer gehört, daß sie sehr unterhaltsam sein sollen. Mir kannst du es doch ruhig beichten. Du hast bestimmt eine kleine, hübsche Siamesin, wenn du es auch jetzt abstreitest.«
»Aber nein, ich habe wirklich keine. Außerdem habe ich mich auf meinem letzten Urlaub verlobt.«
Ronnie Sah den Freund verblüfft an.
»Davon weiß ich ja überhaupt nichts! Mit wem denn? Kenne ich Sie auch?«
»Das müßtest du doch erraten – Evelyn Breyford.«
Ronnie verstummte plötzlich, und es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder gefaßt hatte.
»Ich gratuliere dir aufrichtig«, sagte er dann feierlich und resigniert.
Warwick erwiderte nichts darauf, und beide schwiegen eine Weile.
Ronnie hatte seine eigenen Gedanken. Er bedauerte sich und fühlte tiefes Mitleid mit sich selbst. Nun wußte er, warum Evelyn seinen eigenen Antrag abgelehnt hatte. Sie liebte einen anderen! – Und ausgerechnet Warwick Warbury, sein bester Freund, war dieser glückliche andere!
Ronnie hatte die beiden nur für gute Sportkameraden gehalten. Allerdings hatte er sich im stillen immer darüber gewundert, daß Evelyn sich so sehr für den Flugsport begeisterte. Nun löste sich dieses Rätsel.
Sie fuhren unter großen, mächtigen Salabäumen dahin, deren weiße Blütenpracht den grünen Blättern fast keinen Raum gönnte, und ein zarter Duft umfing sie. Durch eine breite Wasserfläche von ihnen getrennt, erhob sich zu ihrer rechten Seite der Tempel der Lotosteiche. Feierlich klangen die Glocken des Klosters, die die Mönche zum Gebet riefen. Die Stunde der Abendkühle war herbeigekommen, und alles atmete erleichtert auf nach der Tropenhitze des Tages. Hell glänzten die prachtvoll geschwungenen Dächer der Tempelbauten mit ihren schönverzierten Schlangen- und Drachengiebeln, und in weiter Ferne grüßte der Goldene Berg, der höchste Tempelturm der Hauptstadt. Er war nach dem Weltberg Meru benannt und sollte andeuten, daß Bangkok den Mittelpunkt der Welt bedeutet.
Warwick erklärte all das seinem Freund, und Ronnie, der sich mit größter Begeisterung allen neuen Eindrücken hingab, tröstete sich bald wieder.
»Ein seltsames Volk«, sagte er etwas sprunghaft, als einige Mönche in malerischen, gelbseidenen Gewändern vorübergingen, die sie nach Art einer Toga umgeschlagen hatten. »Ich verstehe nicht, daß hier so viele Männer ins Kloster gehen, wenn es eine Unmenge von schönen Frauen gibt. Es ist nicht zu begreifen, daß ein vernünftiger Mann sein ganzes Leben als buddhistischer Priester vertrauern mag! Ich wäre jedenfalls nicht dafür zu haben.«
»Du machst dir falsche Vorstellungen. Die meisten Siamesen gehen nur vor ihrer Verheiratung einige Jahre ins Kloster, um sich für das Leben vorzubereiten. Man ist nicht wie bei uns für immer durch das Mönchsgelübde gebunden, man kann jeden Tag wieder aus dem Orden ausscheiden.«
»Das ist allerdings etwas anderes. Alle Achtung, die Leute sind wirklich schlau!«
»So darfst du es nun auch wieder nicht beurteilen«, entgegnete Warwick ernst. »Zuerst ist es mir auch sonderbar vorgekommen, wenn ein Angestellter unserer Firma auf vier Wochen Mönch wurde und ins Kloster ging. Aber als ich dann länger im Land war, sah ich ein, daß der Buddhismus in der Beziehung den Bedürfnissen des Volkes entgegenkommt. Wir könnten nur froh sein, wenn es in Europa ähnlich wäre. Wie viele Mönche und Nonnen würden gern wieder ins Leben zurückkehren, wenn sie sich nicht durch strenge Eide gebunden fühlten! Aber es gibt natürlich auch in Siam Mönche, die ihr ganzes Leben lang im Kloster bleiben und sich dort glücklich fühlen.«
Ronnie überlegte einen Augenblick.
»Wie ist es denn nun bei verheirateten Leuten? Können die etwa auch ins Kloster gehen, und was wird in dem Fall aus der Ehe?«
»Ja, Sie können auch auf längere oder kürzere Zeit das gelbe Gewand nehmen, wenn Sie wollen. Die Ehe wird dadurch geschieden. Später kann Sie wieder aufleben, aber es ist nicht unbedingt nötig.«
»Großartig! Da haben es die Siamesen aber leicht, sich aus unangenehmen Fesseln zu lösen!«
»Ja, es kommt aber selten vor«, erklärte Warwick, »hier sind die Lebensbedingungen noch so günstig. Kinder werden in Siam noch nicht als Last, sondern als Zuwachs an Vermögen, Macht oder Reichtum angesehen.«
Die Fahrt in der Abendkühle war wunderbar erfrischend. Ronnie nahm seinen Tropenhut ab, und der Wind spielte mit seinen strohblonden Haaren. Die Brise trug den süßen Duft der Maliblüten vom Dusitpark herüber.
Plötzlich fühlte Warwick wieder Ronnies Hand auf seinem Arm.
»Hattest du denn wenigstens früher eine Mia? Das möchte ich doch zu gern wissen.«
»Du bist wirklich ein aufdringlicher Mensch und ein schrecklicher Plagegeist!«
»Aber Warwich, sage es mir doch!«
»Ja, ich hatte früher eine Mia.«
»War es eine schöne – au!«
Ronnie empfand plötzlich einen Schmerz an der Schulter, als ob ihn ein Stein getroffen hätte, aber es rollte nur ein großer Nashornkäfer in seinen Schoß, der bei der schnellen Fahrt des Wagens mit ihm zusammengestoßen war.
»Siamesinnen sind viel zu Stolz, um mit einem Europäer zusammenzuleben. Aber es gibt ja so viele Mädchen aus anderen Volksstämmen hier. Wenn ein siamesischer König früher einen Krieg gewann, führte er einen Teil der Feinde in die Gefangenschaft und siedelte sie mit ihren Familien in der Nähe seiner Hauptstadt an, als bleibendes Denkmal seines Sieges. So haben wir rings um Bangkok eine ganze Anzahl fremder Völker, unter anderen auch die Mon in Paklat. Die Monmädchen stellen einen großen Teil der Mias. Im Volksmund nennt man deshalb auch die Gegend von Paklat ›das Land der Liebe‹.«
Warwick fuhr über eine Brücke und bog links in die Sapatumstraße ein.
»Übrigens ist meine Verlobung mit Evelyn noch nicht veröffentlicht, also sprich bitte nicht darüber. Es soll vorläufig nicht bekanntwerden.«
»Die Türme des Schweigens, in denen die Parsen ihre Toten den Geiern aussetzen, sind Plapperpappeln gegen meine versiegelten Lippen«, erklärte Ronnie mit feierlichem Pathos.
Warwick lächelte.
An der Brückenrampe kam ihnen das große Luxusauto des reichen Kiam Hoa Heng entgegen, in dem mehrere Frauen und Kinder saßen. Der dicke Chinese grüßte Warwick ehrerbietig. Die Straße war an dieser Stelle durch einen großen Schotterhaufen eingeengt.
»Dieser Kerl scheint auch ein feistes Trüffelschwein aus der Herde Epikurs zu sein«, bemerkte Ronnie.
Im selben Augenblick überholte ein großer, dunkelblauer Rolls Royce den Chinesen.
»Verspare dir solche Stilblüten lieber für dein –«
Plötzlich sah sich Warwick in der engen Durchfahrt dem anderen Wagen gegenüber, der mit großer Geschwindigkeit auf ihn zukam.
»Oha!« brüllte Ronnie und sprang kurz entschlossen in großem Bogen in den Straßengraben.
Der Chauffeur hatte dasselbe mit richtigem Instinkt schon eine halbe Sekunde früher getan.
Bremsen kreischten, Scheiben klirrten, platzende Pneus knallten wie Revolverschüsse ...
Ronnie landete etwas unsanft auf dem feuchten Boden, aber Marbin war gleich darauf an seiner Seite und half ihm auf die Beine. Ronnie betastete sich vorsichtig und war froh, daß er außer einigen Abschürfungen keine Verletzungen erhalten hatte.
Als er sich verwundert umsah, entdeckte er Warwichs Wagen auf der anderen Seite des Schotterberges. Das Auto war umgeschlagen und schien schwer beschädigt zu sein. Warwick selbst lag jenseits des Straßengrabens mitten unter den dichten, braunroten Stauden leuchtend roter Wasserlilien. Dahinter lief eine Gartenmauer entlang, und wenige Schritte davon entfernt erhob sich ein großes, prächtiges Parktor.
Unweigerlich wäre es zu einem furchtbaren Zusammenstoß mit dem dunkelblauen Rolls Royce der beiden Prinzessinnen gekommen, wenn Warwick nicht im letzten Augenblick den Wagen herumgerissen hätte und kurz entschlossen in den hohen Schotterhaufen hineingefahren wäre.
»So ein sträflicher Leichtsinn von dem Siamesen! Ich habe alles genau gesehen. Der Kerl allein hatte Schuld!«
Ronnie Schimpfte und humpelte zu Warwick hinüber.
Der Rolls Royce hatte ebenfalls in der vornehmen Villenstraße angehalten. Prinzessin Chanda und Amarin stiegen hastig aus und eilten auf Warwick zu, der reglos am Boden lag.
Ronnie und der Chauffeur knieten neben ihm nieder. Blut strömte über Warwicks Gesicht, Schnittwunden klafften an den Händen und am Kopf, und die Stirnader war durchschnitten.
»Ist er schwer verletzt?« fragte Amarin entsetzt.
Ronnie drehte sich um und sah die beiden Prinzessinnen neben sich, die sich ängstlich vorbeugten. Hinter ihnen stand ihr Chauffeur und starrte mit glasigen Augen auf Warwick nieder.
»Hoffentlich hat er keine inneren Verletzungen«, erwiderte Ronnie besorgt.
»Hier kann er unter keinen Umständen liegenbleiben«, sagte Prinzessin Chanda. »Hole Decken, Krabu«, befahl sie dann ihrem Chauffeur und warf ihm einen bösen Blick zu.
»Krabu wird in letzter Zeit immer nachlässiger. Ich habe ihn im Verdacht, daß er Opium raucht«, sagte Me Kam, Amarins Amme, die zu der älteren Prinzessin trat. Sie war seit langer Zeit mit dem Chauffeur verfeindet und benützte jede Gelegenheit, um ihn bloßzustellen.
Ronnie stand wieder auf. Er sah etwas schmutzig und zerzaust aus, aber er riß sich zusammen.
»Mein Name ist Ronnie Maynard – Mr. Warburys Freund«, stellte er sich den Damen vor.
Amarin nannte leise ihren Namen und den ihrer Tante.
Der siamesische Chauffeur brachte eine blaue, silbergestickte Plüschdecke, zögerte aber, sie auf den feuchten Boden auszubreiten.
Prinzessin Chanda nahm sie ihm ab.
»Mr. Maynard, helfen Sie doch bitte, Ihren Freund auf die Decke zu legen. Er muß sofort drüben ins Haus gebracht werden, die Chauffeure können ihn dorthin tragen.«
Zahlreiche Wagen hatten angehalten, verschiedene Leute stiegen aus und betrachteten die Gruppe neugierig. Einige Europäer traten näher und boten ihre Hilfe an. Inzwischen wurde Warwick von den Chauffeuren nach dem Gartentor getragen. Ronnie ging nebenher und hielt bedrückt und niedergeschlagen die Hand seines Freundes in der seinen.
Auf einen Wink der Prinzessin Chanda kletterte Krabu über den Zaun und riegelte die beiden Flügel von innen auf.
»Man kann aber doch nicht einfach in ein fremdes Grundstück eindringen?« fragte Ronnie betroffen.
»Das ist kein fremdes Grundstück – das Haus gehört dem Vater der Prinzessin Amarin«, wies ihn die Amme Me Kam vorwurfsvoll zurecht. »Es steht nur leer, weil Prinz Akani zur Zeit in Ceylon lebt.«
Chanda ging schnell zum Hause voraus, das eine Reihe hoher, starkstämmiger Saketbäume von der Straße aus wie eine Kulisse gegen Sicht schützte. Sie waren aber so geschickt angeordnet, daß sie die Seitenfronten nicht gegen den erfrischenden Monsunwind absperrten.
Die Prinzessin ließ eine Couch auf die Veranda bringen, und sie legten Warwick darauf nieder. Ronnie wollte sich wieder über ihn beugen, aber Me Kam schob ihn energisch beiseite und untersuchte mit sachkundiger Hand die Verletzungen. Sie hatte Übung und Erfahrung in der Wundbehandlung, wenn ihr Wissen auch reichlich mit Aberglauben durchsetzt war.
Mit Hilfe der anderen Dienerinnen verband sie Warwick und legte heimlich einen mit Segens- und Zaubersprüchen beschriebenen Palmblattstreifen, den sie aus ihrem Brusttuch zog, zwischen die Leinen. Sie war fest davon überzeugt, daß der Zauber mehr helfen würde als alle Arznei.
Prinzessin Chanda ließ sofort an einen englischen Arzt und an das englische Hospital telefonieren, während Amarin stumm in einem Sessel saß und unverwandt auf Warwicks bleiches Gesicht blickte. Die schwarzen Locken waren mit Blut verklebt und hingen wirr in seine Stirn. Sie schauderte zusammen. Daß von all den vielen Tausenden in Bangkok gerade dieser eine Mann durch ihren Wagen verunglücken mußte! Während der Spazierfahrt hatte sie dauernd an ihn denken müssen. Seine männlich schönen Züge kamen ihr so vertraut vor, als ob sie ihn seit langem kennen müßte.
»Dr. Hayes ist nicht zu Hause«, meldete der Chauffeur Marbin, der zu einer der nebenan liegenden Villen geeilt war und von dort aus telefoniert hatte.
»Dann muß Dr. Pois gerufen werden«, erwiderte Prinzessin Chanda.
»Ich habe bereits versucht ihn zu erreichen – ebenso noch drei andere europäische Ärzte. Aber Sie Sind um diese Zeit alle unterwegs, um Krankenbesuche zu machen.«
»Vielleicht kann Pra Nivet helfen«, sagte Amarin hastig. »Er ist doch unser alter Hausarzt.«
»Du hast recht – aber er hat kein Telefon. Am besten fahre ich selbst hin und hole ihn«, entgegnete Prinzessin Chanda kurz entschlossen.
»Kann Krabu das nicht besorgen^«
»Nein, der darf nach diesem Unfall heute kein Auto mehr steuern. Ich nehme den Chauffeur von Mr. Warbury. Aber der weiß nicht, wo Pra Nivet wohnt, deshalb will ich selbst mitfahren. Ich werde auch gleich dafür sorgen, daß Pra Nivet alles Nötige mitbringt.«
Rasch erhob sie sich und winkte Marbin. Die Dienerinnen und Me Kam blieben zurück.
Prinzessin Amarin wollte sich erheben, aber im selben Augenblick fühlte sie, daß jemand ihre Waden streichelte. Sie wandte sich um und sah, daß die Amme vor ihr kniete.
»Der schöne Farang Angkrit (Engländer) hat seinen Wagen geopfert und ist in den Steinhaufen gefahren, sonst wäre ein großes Unheil geschehen, und wir wären alle schwer verunglückt oder tot. Wir wollen alles tun, Herrin, daß er gerettet wird und am Leben bleibt.«
Amarin sah sie erschrocken an.
»Ist er denn so schwer verletzt?«
»Die Wunden bluten weiter, aber ich weiß ein Mittel. Wir müssen einen Zauber machen, der wird ihm helfen.«
Die junge Prinzessin schüttelte abwehrend den Kopf.
»Doch, wir müssen es tun, sonst wird er zu schwach, und wenn Pra Nivet kommt, ist es zu spät. Ich habe Ma Di schon fortgeschickt – sie hat Wachslichter, Blumenketten und Weihrauchstäbchen geholt.«
Amarin war unentschlossen und wußte nicht, was sie dazu sagen sollte.
»Aber ihr könnt doch nicht seine Wunden besprechen! Sein Freund ist hier – er wird darüber lachen.«
»Ach, Herrin, auf den kommt es nicht an. Mit dem werde ich schon fertig.«
Amarin erinnerte sich an ihre Kindheit, und in ihrer Not und Angst brachte sie es nicht übers Herz, ihrer Amme den Wunsch abzuschlagen. Schaden konnte Me Kam mit einer Beschwörung ja nicht anrichten. Sie war dann außerdem bis zur Rückkehr der Prinzessin Chanda beschäftigt und störte nicht durch dauerndes Reden. Amarin wußte aus Erfahrung, daß die Amme sie immer wieder mit Bitten bestürmen würde, wenn sie ihr nicht nachgab.
»Gut. Mache es aber kurz, damit ihr fertig seid, wenn Prinzessin Chanda mit Pra Nivet zurückkommt.«
Me Kam warf ihr einen vorwurfsvollen und traurigen Blick zu. Immer wieder das alte Leid! Wenn die Prinzen und Prinzessinnen nach Europa gingen und dort von den Farangs unterrichtet wurden, glaubten sie nicht mehr an die alten Lehren.
Me Kam trug stets die altsiamesische Tracht, die sie selbst während ihres langjährigen Aufenthaltes in Europa, als sie Amarin nach Paris begleitete, nicht abgelegt hatte, obwohl sie ihre etwas behäbige Gestalt nicht gerade vorteilhaft kleidete. Sie war die einzige siamesische Dienerin, welche die Prinzessin begleitet hatte, und nahm daher eine bevorzugte Stellung ein.
Amarin erhob sich und trat zu Ronnie, der sich auf einem Stuhl in der Nähe seines Freundes niedergelassen hatte. Sie versuchte, ihm Me Kams Absicht zu erklären.
Er erschrak, als sie zu ihm sprach, verstand aber sofort, was sie ihm sagen wollte, und zu ihrem größten Erstaunen interessierte er sich lebhaft dafür. Er erbot sich sogar, zu helfen, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.
Inzwischen hatten die Dienerinnen Warwicks Lager mit Ketten aus starkduftenden weißen Blüten behängt. Nun traten sie aus dem Nebenzimmer heraus. Me Kam führte die Reihe der Frauen an, die hintereinander gingen. Jede trug eine Lotosblüte und eine brennende Wachskerze zwischen den gefalteten Händen. Mit gleitenden, feierlichen Schritten umkreisten sie das Lager, während Me Kam mit singendem Ton alte Beschwörungsformeln sprach, in die die anderen einstimmten.
Dreimal umwandelten sie Warwick im Sinn des Sonnenlaufs, so daß sie die rechte Seite dem Kranken zuwandten. Dann kniete Me Kam am Kopfende nieder, während die anderen einen Kreis um ihn bildeten und ebenfalls auf die Knie sanken. Wieder begann sie mit eintöniger Stimme zu singen, und die anderen fielen im Chor ein. Dann nahmen sie die Lotosblumen und die Kerzen in die linke Hand und wehten mit der Rechten den Rauch zu dem Verunglückten hin.
Das dauerte einige Minuten. Darauf brachte Krabu auf einen Wink der Amme eine Schüssel mit Wasser, die er zu Warwicks Füßen niedersetzte. Me Kam und die Frauen kamen herbei und klebten ihre Kerzen an den Rand der Schüssel, so daß die Flammen über die Wasserfläche geneigt waren und das Wachs in die Schüssel tropfte. Die Lotosblumen hatten Sie auf das Lager gelegt.
Nach einigen Minuten nahm Me Kam die brennenden Kerzen vom Rand des Gefäßes und wand sie, ohne sie auszulöschen, zu einer einzigen zusammen. Dann trat sie noch einmal an das Kopfende des Lagers, murmelte wieder einige Beschwörungsformeln und wehte mit der rechten Hand den Rauch der Kerze dicht über Warwicks Wunden.
Inzwischen hatten die anderen Dienerinnen die Wasserschüssel herbeigetragen. Eine reichte Me Kam eine Anzahl von Makblättern, mit denen diese die brennenden Dochte auslöschte. Eine andere brachte eine sonderbar geformte Silberflasche aus dem Haus, und Me Kam füllte sie mit dem Wasser. Die wenigen Tropfen, die übrigblieben, sprengte sie auf Warwick, der immer noch nicht zu sich gekommen war. Dann trat sie mit der Flasche zu Amarin und Ronnie.
»Herrin, sage dem Nai Farang, daß dies ein starkes, zauberkräftiges Weihwasser ist. Jeden Tag muß etwas davon in die Speisen des Kranken gegossen werden, auch sollen immer ein paar Tropfen davon in das Wasser geschüttet werden, in dem er sich wäscht und das er trinkt. Dann wird er bestimmt wieder gesund.«
Unten fuhr das Auto der Prinzessin Chanda vor, und gleich darauf trat Pra Nivet an Warwicks Lager, ein mittelgroßer, älterer Siamese von schmächtigem Körperbau. Seine Bewegungen waren ruhig und gemessen, und er sprach nur wenig.
Me Kam war der Prinzessin entgegengeeilt und hatte ihr berichtet, daß sie die heilkräftige Beschwörung mit dem Weihwasser und den Kerzen vorgenommen hatte.
Prinzessin Chanda war befriedigt, denn sie gehörte noch zur alten Schule und glaubte fest an diese Beschwörungsformel. Sie sah Me Kam dankbar an und lobte sie.
»Sie müssen nicht denken, daß ich auch diesem Aberglauben verfallen bin, Mr. Maynard«, Sagte Amarin leise zu Ronnie, »aber Me Kam und die Dienerinnen glauben fest daran, und ich muß sie gewähren lassen.«
»Königliche Hoheit, es war ein großes Erlebnis für mich«, entgegnete Ronnie schnell. »Wenn auch das Wasser und der Kerzenrauch keine Wunder tun und helfen können, so ist doch der intensive Wunsch und Glaube dieser Leute eine gewisse Macht, und wir sind heutzutage weit davon entfernt, nur hochmütig über diese Dinge zu lächeln.«
Er war seltsam gepackt von dieser eindrucksvollen Feier.
Amarin nickte ihm dankbar zu. Aber dann fiel ihr Blick auf Pra Nivet, der den Verband gelöst hatte, und sie sah, daß die Wunden aufs neue bluteten. Traurig setzte sie sich wieder in ihren Sessel. Es war ja klar, daß Me Kam nichts hatte ausrichten können.
Minuten vergingen, während der alte, erfahrene Siamese Warwick behutsam, aber sehr eingehend untersuchte.
Amarin hielt den Atem an, und als sich der Arzt endlich aufrichtete, preßte sie die Finger krampfhaft in die Armlehne des Stuhls.
Eine Dienerin reichte ihm eine Schüssel mit Wasser, in der er die blutigen Hände wusch.
»Wie steht es mit Mr. Warbury?« fragte Prinzessin Chanda, die näher trat.
»Ich werde ihn aufs neue verbinden und vor allem die durchschnittenen Adern abfangen. Das ist im Augenblick alles, was ich tun kann. Später, wenn die Blutung zum Stillstand kommt, muß er ins Krankenhaus gebracht werden. Dort müssen die inneren Verletzungen untersucht werden.«
»Wird er am Leben bleiben^« fragte Amarin. Sie versuchte sich zu beherrschen, aber ihre Stimme zitterte vor innerer Erregung.
Pra Nivet zuckte die Achseln.