Sir John Retcliffe
Nena Sahib
Sir John Retcliffe

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Das goldene Delhi.

Die verhängnisvolle Nachricht, die der Kurier des Generals Barnard auf der großen von den Engländern gebauten Militärstraße von dem Aufstand in Mirut und Delhi nach Bithoor gebracht, bestätigte sich nur zu sehr.

Ralph Ochterlony, der unversöhnliche Feind der Engländer, und Tantiah Topi hatten sich nach dem Norden begeben, weil es notwendig war, daß an einem so wichtigen Punkte des großen indischen Reiches Männer von Energie und militärischer Einsicht die Operationen leiteten. Ein Zusammentreffen von Umständen, während beide Männer sich in Mirut befanden, war ihnen Veranlassung nicht länger zu zögern, sondern hier das Signal zum Ausbruch der Empörung zu geben.

Mirut liegt 35 englische Meilen nordöstlich von Delhi und bildet eines der Bungalowlager der indischen Armee. Es standen hier unter Befehl des General Hevitt das 1. Bataillon des 60. Königl. (Jäger-) Regiments, die 6. Königl. Garde-Dragoner (Karabiniers), das 3. Bengalische Reiter- und das 11. und 20. Bengalische Infanterie-Regiment. Bereits am 6. und 7. Mai hatten sich unter dem 3. Kavallerie-Regiment offene Spuren der Widersetzlichkeit gezeigt, indem 75 Reiter einer Schwadron sich weigerten, mit den neuen aus England gekommenen Patronen zu laden. Sie erklärten, daß dieselben mit Rinds- und Schweinefett bestrichen seien, das erste ein Greuel für die Hindus, denen die Kuh heilig, das andere für die Mahomedaner, denen gleich den Juden das Schwein unrein ist. Die Sepoys behaupteten, die Patronen seien der Anfang, ihnen das Christentum aufzunötigen. Die Widerspenstigen wurden vor ein Kriegsgericht gestellt und zur Einsperrung verurteilt.

Am 9. Mai wurde das Urteil vor versammeltem Regiment verlesen, die Arrestanten wurden gefesselt und nach dem Gefängnis in Mirut abgeführt.

Am Morgen des 10. erfuhr Tantiah Topi, daß einem der eingesperrten und degradierten Unteroffiziere nicht zu trauen sei, und daß derselbe eine Unterredung mit einem der englischen Oberoffiziere verlangt habe, wahrscheinlich um Geständnisse zu machen.

Es galt rasches Handeln.

Auf die von Mund zu Mund gegangene Botschaft der Häupter der Verschwörung rückten gegen Abend das 11. und 20. Regiment, ohne Befehl der europäischen Offiziere, bewaffnet auf den Paradeplatz vor den Hütten, auch der Rest des 3. Kavallerie-Regiments erschien dort zu Pferde, in der Mitte der Reiter Tantiah Topi und der Derwisch Sofi, mit flammenden Worten die Sepoys zur Befreiung ihrer Kameraden auffordernd. Mehrere europäische Offiziere, darunter der Oberst des 11. Regiments, Finnis, eilten herbei.

Oberst Finnis, der zu Pferde erschienen war, von einem Adjutanten begleitet, sprengte vor die Front des Regiments, und den unbekannten Derwisch erblickend, befahl er zornig, denselben zu verhaften und in die Bungalows zurückzukehren.

Ein Hohngelächter antwortete ihm.

Er zog ein Pistol aus der Halfter und richtete es auf den nächsten Jemedar, als die ganze Linie der Sepoys die Gewehre auf ihn anschlug. Oberst Finnis hatte kaum Zeit, sein Pferd herumzuwerfen, als auch schon die Salve erfolgte und er von sieben Kugeln durchbohrt zu Boden stürzte. Noch zwei der britischen Offiziere wurden erschossen, die anderen flohen so rasch sie konnten davon und dem Lager der englischen Truppen zu.

Mit wildem Triumphgeschrei zogen diese nach Mirut, erbrachen das Gefängnis und befreiten die Gefangenen, wobei der des beabsichtigten Verrats Verdächtige mit Bajonettstichen ermordet wurde.

Hierauf begannen sie die Bungalows der britischen Offiziere und Beamten zu plündern und niederzubrennen, und ermordeten jeden Europäer, der in ihre Hände fiel, auf das Grausamste.

Der Aufstand brach gegen 6 Uhr aus. Es ist der stärkste Beweis für die Ratlosigkeit oder die Mißkennung der Gefahr der Engländer, daß erst gegen 9 Uhr das 60. europäische Jäger-Regiment und die Garde-Dragoner erschienen, um die Empörung zu unterdrücken.

In dem sich hierauf entspinnenden Gefecht wurden die Indier nach heftigem Widerstand zurückgedrängt und mußten das Lager räumen. Sie zogen sich auf der Straße nach Delhi zurück, ohne daß die englischen Truppen sie zu verfolgen wagten.


Delhi, die Hauptstadt des ehemaligen Reiches der Großmogule, liegt am rechten Ufer der Dschumna, des Nebenflusses des Ganges. Zur Zeit des Ausbruchs der Empörung lagen hier – das heißt in drei englische Meilen nördlich von der Stadt gelegenen Kasernements – das 38., 54. und 74. Bengalische Infanterieregiment und eine starke Abteilung eingeborener Artillerie.


Ein ziemlich großer Saal an einer offenen Veranda des ersten Stockwerks ist der Schauplatz der Szene, die wir dem Leser am Morgen des 11. Mai, eines Montags, vorzuführen haben.

Der Saal oder das Gemach gehören zu einem selbst in seinem Verfall noch großartigen Palast aus der Zeit Akhbars des Großen, der auf der Südseite des Platzes von Bagh Begum Simmreh liegt.

Fünfzehn oder sechszehn junge Mädchen, sämtlich im Alter von zehn bis achtzehn Jahren, sind in diesem Saale versammelt. Das weite Gemach scheint eine Art Versammlungs- und Arbeitszimmer der jungen Damen und ist nur spärlich möbliert.

Verschiedene Proben weiblicher Beschäftigungen – angefangene und halb vollendete Stickereien – ein Album und ein Zeichenapparat – eine zierliche Briefmappe und künstliche Blumen liegen auf der großen Tafel und auf Rohrsesseln und gleichen Diwans, die an den Wänden oder um den Tisch her stehen.

Auffallend ist die Erscheinung von zwei Frauen, einer älteren, etwa fünfzigjährigen, und einem jungen Mädchen von kaum zwanzig Jahren, die sich von den Damen, die hier versammelt sind, durch ihre Tracht und ihr Benehmen unterscheiden.

Die letzteren sind nach ihrer Kleidung und der Farbe ihrer Haut sämtlich Engländerinnen bis auf eine, deren tieferes, fast goldgelbes Kolorit und bescheidene demütige Haltung eine Tochter Hindostans vermuten läßt.

Fünf oder sechs indische Dienerinnen befinden sich außer ihnen im Saal. Sie kauern auf dem Fußboden, bereit auf den Wink ihrer Herrinnen, wobei jede von ihnen ihre besondere Verrichtung hat und um keinen Preis für die ihrer Gefährtin eine Hand aufheben würde.

Die beiden Frauen, die sich durch ihre Kleidung von den jungen Damen unterschieden, trugen das ernste, schwarz und weiße Gewand der Ursulinerinnen, denn der alte Palast ist das Pensionat der französischen Nonnen, in dem eine Anzahl vornehmer und reicher junger Engländerinnen erzogen wurde.

Der sonst so ausschließende Protestantismus der Briten ist gezwungen, in den Provinzen Indiens eine Ausnahme zugunsten der französischen Nonnen zu machen, weil englische Pensionate, mit Ausnahme eines einzigen in Kalkutta, nicht existieren. Es bestehen derartige Pensionate in Madras, Delhi und selbst in Lahore.

Die ältere Nonne, Soeur Angelique, las den jungen Damen aus einem französischen Buch vor. Die Erziehung der Ursulinerinnen ist keineswegs bigott und streng, aber durch Ordnung und moralische Aufsicht auf das Beste geregelt.

Die junge Nonne, die bisher die Vorleserin gemacht und von ihrer älteren Gefährtin abgelöst worden war, bildete einen lieblichen Gegensatz zu dieser. Ihre Gestalt besaß noch all die zierliche Rundung der Französinnen, denn Soeur Marion zählte kaum zwanzig Jahre und war erst vor einem Jahre aus einem Kloster der Touraine in Indien angekommen.

In diesem Augenblick befand sie sich auf dem äußern Balkon, um frische Luft zu schöpfen.

An ihrer Seite kniete die iunge Indierin, die Tochter eines der reichsten indischen Babus in Delhi, die jedoch nur durch die Fürsprache der Gattin des Dechanten Aufnahme in der Erziehungsanstalt gefunden hatte.

Das Auge der jungen Nonne überflog in unschuldigem Wohlgefallen das bunte Gewühl der Straße zu ihren Füßen.

Das ganze interessante Leben der indischen Volkswelt stellte sich dem Blicke dar. Die Chandrie-Choak besteht aus zwei- oder dreistöckigen Häusern, in deren unteren Etagen sich die offenen Bazare, in den oberen die Wohnungen der reichen Kaufleute und Wechsler befinden. Irgendein noch unbekanntes Ereignis, eine spannende Erwartung schien die Bevölkerung zu erregen, denn an offenen Fenstern, Balkonen oder Erkern der altertümlichen arabischen Häuser sah man Frauen und Mädchen festlich geputzt die Menge beobachten.

Doch schien selbst dem unbefangenen Auge der Nonne heute weniger als gewöhnlich das Interesse des Handels diese Menge zu bewegen. Sie bemerkte, wie sich wiederholt Gruppen bildeten und sogleich auseinanderstoben, wenn zufällig ein Europäer auf seinem Wege sich ihnen näberte. Die Sepoys bewegten sich ernst und schweigend in dieser Menge, blieben beieinander stehen oder tauschten Zeichen beim Begegnen.

Miß Viktoria ließ ungeduldig den Seidenknäuel und die Nadel fallen, mit der sie an einer Stickerei gearbeitet. »Sehen Sie noch nichts von dem Zuge, Soeur Marie?« fragte sie, die Lektüre der älteren Nonne rücksichtslos unterbrechend. »Es muß bald acht Uhr sein, und die Hitze beginnt unerträglich zu werden. Ich bitte Sie, Soeur Angelique, hören Sie auf mit der Lektüre von der heiligen Ursula – wir wissen die Geschichte bereits auswendig und unsere Freistunde hat begonnen!«

Ein leichtes Rot färbte das blasse Gesicht der alten Nonne, sie erhob sich und trat zu der dreisten Sprecherin. »Es würde Ihnen nichts geschadet haben, Mademoiselle,« sagte sie ernst, »wenn Sie zu Ihrem bevorstehenden Austritt aus dieser Anstalt jenes erhabene Beispiel christlicher Ergebung in Leiden angehört hätten, die der Himmel auch den Stolzesten und Mächtigsten senden kann.«

»Sie wissen, Madame,« entgegnete das schöne Mädchen, erglühend über den erhaltenen Verweis, »daß ich nicht Ihrem Glauben angehöre, die Geschichten Ihrer Heiligen also nicht anzuhören brauche.«

»Scheuen Sie sich, von der Legende einer heiligen Märtyrerin Vorteil zu ziehen, so bietet Ihnen Ihr Stickrahmen Gelegenheit zu einer nützlichen Beschäftigung und Sie haben nicht nötig, die Achtung gegen eine Ihrer Lehrerinnen aus den Augen zu setzen.«

Die Augen des schönen Fräuleins füllten sich mit Tränen des Zornes über die Demütigung, die ihr geworden. Sie griff hastig nach der entfallenen Wolle, welche die vor ihr kniende Dienerin ihr reichte und stach sich die entgegengehaltene Nadel tief in die Hand.

»Ungeschicktes Tier,« zürnte die Miß und ein heftiger Schlag ihrer Hand traf das Gesicht des Hindumädchens.

»Pfui, Miß Frazer,« zürnte die Nonne, »Sie vergessen sich und mich. Was kann diese arme Hindu für den Verweis, den Sie sich zugezogen?«

Die alte Nonne verließ, ihren Rosenkranz fassend, den Saal, während ihre junge und schöne Gegnerin in der Mitte desselben in trotzender Haltung stehen blieb.

An die arme Mißhandelte dachte niemand.

Da faßte eine Hand die der trotzigen und hochmütigen Miß.

»Sie taten unrecht, Viktoria,« sagte eine sanfte Stimme. »Schwester Angelique verdient Ihre Achtung und die arme Aurunga hat Sie sicher nicht mit Willen verletzt.«

Es war die junge Nonne, welche so freundlich zu der Erregten sprach, und augenblicklich beruhigte sich deren Leidenschaft. »O, mit Ihnen ist es etwas anderes, Soeur Marie,« rief die junge Miß, ihr um den Hals fallend, »Sie wissen, wie lieb wir Sie alle haben und das, was Sie sagen, uns Gesetz ist. – Da nimm das als Schmerzensgeld und belästige uns nicht länger mit deinem Geschrei!«

Die Geldstücke rollten über die Marmorquadern bis zu den Füßen der Gemißhandelten: aber gegen die gewöhnliche Habsucht der Indier nahm sie dieselben nicht auf.

Sie erhob sich vom Boden und indem sie einen drohenden Blick voll Haß auf Miß Frazer schleuderte, verließ sie das Gemach.

»Sieh da – ein Wunder, eine Nigger läßt das blanke Silber liegen, das man ihr geschenkt. Ei, seit wann sind deine Landsleute so zartfühlend geworden, kleine Irma?«

»Sie haben Aurunga ein unersetzliches Leid zugefügt, Mam Sahib,« entgegnete das junge Mädchen schüchtern, »Sie ist von einer hohen Kaste und Ihr Schlag hat sie dieser beraubt.«

»Sie dürfen die Sache doch nicht so leicht nehmen, Viktoria,« bemerkte die junge Nonne. »Ich habe gehört, daß ein Hindu den Verlust seiner Kaste dem Beleidiger nie vergibt, und es wird sich hoffentlich ein Mittel finden, Aurunga zu beruhigen.«

»Bah – was kann sie mir tun? irgendeine kleine Bosheit, vor der ich mich hüten werde.«

Ein Diener des Hauses öffnete die Tür und meldete: »Die Mam Sahib Hunter, die Frau des großen Priesters!«

Lady Adelaide trat ein und alle eilten ihr entgegen, denn trotz des verschiedenen Glaubens war die Dame eine besondere Beschützerin der Nonnen und in dem Pensionat sehr geehrt.

»Ich komme im Auftrage deines Vaters, mein Kind,« sagte sie zu Miß Frazer, »deine Freundinnen zu dem kleinen Fest auszubitten, das der Oberst übermorgen geben will. Lasse der ehrwürdigen Mutter meine Ankunft melden und sie um eine Unterredung bitten, denn ich habe Eile, da ich der armen Mistreß Elkinson noch einen Besuch machen will und um zehn Uhr im Lazarett erwartet werde.«

»Mistreß Elkinson ist krank?«

»Seit drei Tagen, sie kann das Bett nicht verlassen und die Ärzte hegen Besorgnis.«

»Sie schonen Ihre kostbare Gesundheit zu wenig, Madame,« sagte die junge Ursulinerin. »Die Leidenden nennen Sie nicht umsonst den guten Engel von Delhi, und tausend Kranke und Hilflose segnen Sie als Retterin, aber Sie vergessen sich selbst darüber.«

Der Schall von Trommeln und Militärmusik und das laute Geschrei der Volksmenge drang von der Straße herauf.

»Sie kommen! sie kommen! geschwind!« riefen die jungen Mädchen und eilten nach dem Balkon der Veranda.

»Es ist der Oberst, dein Vater, ich begegnete dem Zug bereits auf der Kaschmir-Straße,« sagte freundlich die Lady. »Laß dich nicht abhalten, das Schauspiel anzusehen, und auch Sie, meine liebe Marie, widmen Sie immerhin einen Blick demselben. Ich will unterdes Ihre Oberin aufsuchen.«

Die jungen Damen und Mädchen waren in die Veranda geeilt, um den Zug des Residenten und des Rajah von Bhurtpur nach dem Dauri Serai, dem Palast der Großmogule, mit anzusehen.

Eine Schar von Musikanten schritt vor der Hauptgruppe des Zuges her, einen wahrhaft entsetzlichen Lärm vollführend.

»Fi donc!« schalt Miß Forrest, die Ohren zuhaltend, »das ist abscheulich. Sehen Sie, Viktoria – da kommen die englischen Offiziere. Angela ist darunter, und Kapitän Gordon Butler.«

»Da neben Oberst Riplei reitet Smith vom 74sten. Aber wo ist Ihr Bruder, Wally?«

»Ich glaube, er hat die Wache im Arsenal.«

»Ah seht, wie Willougby seinen ›Gibraltar‹ kourbettieren läßt und heraufblickt. Glückliche Viktoria, der Gruß gilt dir!«

Ein junger Offizier hob sein schönes Vollblutpferd, gerade als er dem Balkon gegenüber war und salutierte mit dem Säbel.

Die Miß verbeugte sich über den Steinrand des Balkons und ließ den Strauß duftender Blumen, den sie aus einer der Vasen genommen, auf die Straße fallen.

Zugleich mit ihm flog eine einzelne weiße Rose nieder.

Miß Frazer wandte sich hastig um. »Wer warf die Rose – wer war es, der die Blume warf?«

Ihr Auge forschte fragend umher und blieb mit Erstaunen zuletzt auf der jungen Nonne hängen, die die Augen beschämt zu Boden schlug.

»Wie, Sie, Schwester Marie. Sie warfen die Rose?«

»Verzeihen Sie, Miß, ich sah nicht, daß Sie bereits Blumen hatten und wollte Ihnen zu Hilfe kommen.«

»Nun, es wäre auch gar zu komisch,« lachte Wally Forster, »wenn Soeur Marie Viktorien ihren Anbeter abspenstig machen wollte. Aber seht, Kinder, da kommt der Oberst und der Rajah – puh, was der für ein gelbes, grimmiges Gesicht macht in all dem Staat, den er angelegt.«

In der Tat nahte soeben die Hauptgruppe des Zuges der Stelle unter dem Balkon. Der Rajah von Bhurtpur erschien auf einem kolossalen, prächtig geschmückten Elefanten.

Der Rajah war ein noch junger Mann von etwa 25 Jahren, groß, stark, aber von Blatternarben entstellt. Er war unter der speziellen Aufsicht der Engländer erzogen worden und erst vor kurzem, nach dem Tode seines Vaters, eines besonderen Freundes der Engländer, zur Regierung gekommen, weshalb er auch die Gelegenheit benutzen wollte, dem einflußreichen Abgeordneten der Regierung in Kalkutta seine Achtung zu bezeugen.

Neben dem Rajah ritt, gleichfalls auf einem Elefanten, der Resident, Oberst Frazer. Hinter dem Gefolge der beiden kam ein Trupp der Soldaten des Rajah zu Pferde; eine Kompagnie Sepoys vom 74. Regiment bildete den Schluß.

Oberst Frazer grüßte, als er an der Erziehungsanstalt vorüberkam und die jungen Damen auf dem Ballon bemerkte, freundlich winkend hinauf, und auch der Rajah, von ihm aufmerksam gemacht, gab seinen Salem, indem er mit der Hand die Stirn und Brust berührte.

Der Zug setzte ohne Aufenthalt seinen Weg nach dem Platz vor dem Dauri-Serai fort und schwenkte sich um die westliche Seite desselben, um durch das große Tor seinen Einzug zu halten.

Am Eingang des Tores empfing sie Kapitän Douglas, der Befehlshaber der Palastwache, der über dem Tor seine Wohnung hatte. Die Leibwache bildete im Innern zu beiden Seiten Spalier.

Der Hof, in den die Elefanten und vornehmsten Reiter jetzt eingetreten waren, während die Krieger des Rajah und die Sepoys auf dem Platz vor dem Palast zurückblieben, bildete den Stallhof. Die Reiter mußten hier die Elefanten und Pferde verlassen, da man nur zu Fuß die inneren Höfe betreten durfte.

Während des Absteigens näherte sich Kapitän Douglas dem Residenten.

»Haben Sie weitere Anzeichen zu berichten, Kapitän,« fragte dieser, »oder hat der alte Tor mit seinen Söhnen sich zum Nachgeben bequemt?«

»Der alte Mann,« entgegnete der Kapitän, »ist eine bloße Null, und hat nicht einmal Kraft genug, um seine Weiber in Ordnung zu halten. Der Gefährlichste von der Familie ist und bleibt Prinz Jehan. Er ist ein kühner Mensch, besitzt die Liebe der Sepoys und wagt es, uns offen Trotz zu bieten.«

»Was sonst? – reden Sie!«

»Ich weiß nicht, mir kommt es vor, als zeige sich ein eigener trotziger Geist unter der ganzen Bevölkerung. Auf der ganzen Stadt scheint mir seit gestern ein anderer eigentümlicher Geist zu liegen.«

»Sie haben recht, Kapitän – das Benehmen des Volkes ist nicht das gewöhnliche. Es herrscht ein ungewohntes Schweigen in der Menge – und doch ist alles in Bewegung und Aufregung.«

»Lassen Sie uns auf der Hut sein, Sir – ich fürchte, es geht etwas vor, von dem wir nicht wissen.«

»Ich sehe, der Rajah ist bereit, lassen Sie uns vorwärts gehen. Wo erwartet uns der König?«

»In den Gärten am Fluß, Oberst.«

Auf ein Zeichen, das der Kapitän gab, setzte sich der Zug in Bewegung Der alte König von Delhi, jetzt ein Mann in den Siebzigern, befand sich in einem arabischen Kiosk mit vergoldeter und emaillierter Kuppel, der sich nach den Gärten in einer Säulenhalle öffnete, während die breiten, balkonartigen Fenster nach dem Dschumna hinausgingen und den Blick auf die Schiffbrücke und das andere Ufer gestatteten.

Abul Mahomed, der letzte Großmogul von Delhi, saß auf einem mit Goldstoff überzogenen Diwan, umgeben von seinen Söhnen und Verwandten, seinen sogenannten Ministern, Dienern und Eunuchen.

Der Resident sah, daß die Favorit-Begum des Moguls, Sinat Mahal, an seiner Seite saß, tief in Schleier gehüllt, während ihr junger Sohn Dschumna Bukh zu ihren Füßen kauerte und ihr alter Vater neben ihr stand. Die vierzehn anderen Söhne des Kaisers, darunter Akhbar Jehan, der Gefährlichste und Entschlossenste der Familie, Bukthur und Timor Aly, standen hinter ihrem Vater.

Als der oberste Schobedar sich dem Sitze des Kaisers näherte, warf er sich nieder und berührte dreimal mit der Stirn den Boden. Dasselbe Zeremoniell wiederholten alle Hindus.

Die Engländer begnügten sich mit drei tiefen Verneinungen, wobei der oberste Schobedar mit lauter Stimme ausrief: »Sehet die Zierde der Welt! Sehet die Zuflucht der Völker! Den König der Könige! Den König Abul Mahomed!«

Hierauf traten der Schatzmeister des Rajah und der Sekretär des Residenten vor und legten auf einem weißem Tuch zu den Füßen des Königs die Totschakana, oder das übliche Geschenk nieder.

»Rohanna Rû, der Rajah von Bhurtpur,« sagte der Oberst, der des Hindostani vollständig mächtig war, nicht ohne Spott, »wünscht dem mächtigen Schah Abul Mahomed seine Ehrfurcht zu bezeugen.«

»Er ist mir willkommen, Sahib,« sagte der alte Mann, »und ihr möget die Hukah des Friedens mit dem Lichte der Welt rauchen.«

Der Rajah und der Resident wurden in ein Nebengemach geführt und dort mit dem Gegengeschenk des Königs, einer Tschoga von flitterhaftem und wertlosem Aufputz bekleidet.

Als sie in die Halle zurückgekehrt waren, brachten die Diener auf goldenen Platten Scherbet und allerlei Süßigkeiten und reichten sie umher, während vor jedem der Gäste eine Hukah niedergelegt wurde.

Nach Verlauf einer halben Stunde erhob sich der Rajah, sich wegzubegeben, und sein Auge traf fragend den Residenten, als dieser ruhig sitzen blieb.

»Verzeihe, Hoheit,« sagte Oberst Frazer, »daß ich dich nicht begleite, ich habe mit dem ›Schatten der Welt‹ noch zu reden und Kapitän Douglas wird meine Pflichten erfüllen. Morgen werde ich dich in deinem Lager besuchen.«

Der Mogul tauschte einen besorgten Blick mit seinen Söhnen und seinen Ministern bei dieser Erklärung des Residenten, doch er konnte der angekündigten Unterredung nicht ausweichen. Die Augen Akhbar Jehans und der Sinat Mahal aber begegneten sich mit Bedeutung, und der Sohn des Moguls trat an die hohen offenen Fenster des Pavillons, die nach der Dschumna hinausgingen.

Ein triumphierendes Lächeln überzog sein braunes Gesicht, als er die Gegend überblickte und er hob einen Finger seiner linken Hand in die Höhe, seiner Vertrauten als Zeichen.

Unterdes hatte sich der Rajah verabschiedet.

Oberst Frazer und Leutnant Willougby blieben unter den Hindostani zurück.

»Ich habe deiner Majestät zu melden,« sagte der Resident nach kurzer Pause, »daß die Regierung Ihrer Majestät der Königin Viktoria und das Direktorium der hohen Kompagnie sehr unzufrieden mit deinem Verhalten sind. Es ist mir die Nachricht zugekommen, daß deine Familie und deine Diener Trotz und Ungehorsam gegen die Befehle des Kapitän Douglas zeigen, und bei jeder Gelegenheit ihre Unzufriedenheit mit den Anordnungen der Kompagnie an den Tag legen.«

»Wallah, Sahib, was kann ich tun, ich bin ein alter Mann und die Knaben lachen mir in den Bart,« entgegnete der Sultan.

»Ich verlange von dir, daß diejenigen deiner Söhne und Verwandten, denen die Regierung Ursache hat, zu mißtrauen, und deren Namen auf diesem Papier verzeichnet sind, mit ihren Familien sofort deinen Palast und Delhi verlassen, sich auf die Landgüter jenseits der Dschumna begeben und nicht ohne meine ausdrückliche Erlaubnis sich von dort entfernen dürfen.«

Die Ankündigung der strengen Maßregel hatte unter der ganzen Familie eine allgemeine Bewegung hervorgebracht, aber der Resident kümmerte sich im Gefühl seiner Macht wenig darum, sondern fuhr fort:

»Das zweite, was ich für notwendig finde, ist die Entlassung der Leibwache. Ich werde mit Brigadier Graves die nötigen Verabredungen treffen, daß von morgen ab eine Kompagnie Sepoys die Wache des Palastes übernimmt.«

Der König warf seinen Turban zur Erde. »Ich bin ein geschändeter Mann,« rief er. »Der Schatten des Unglücks ist über mir, – ich werde Asche auf mein altes Haupt streuen!«

»Schweige, Vater, oder antworte diesem stolzen Faringi, wie ihm gebührt,« schrie der Prinz Jehan. »Ihr habt die Enkel Timurs zum Schatten ihrer alten Größe gemacht, und wollt sie auch des letzten Zeichens ihrer Macht berauben, damit der Thron Aurengzebs der Schemel eurer Füße werde! Brüder und Freunde, wollen wir noch länger die Erniedrigung der Herrscher des goldenen Delhi durch die schmutzigen Kaffirs dulden?«

»Nieder mit ihnen! nieder mit der Herrschaft der Faringi!« riefen zahlreiche Stimmen.

»Das ist offenbarer Aufruhr,« rief der Resident, »und übersteigt meine Nachsicht. Ich verhafte dich, Akhbar Jehan, im Namen der Regierung! Du wirst sofort dich auf die Torwache begeben und meine weiteren Befehle dort erwarten.«

»Zu Kapitän Douglas, Willougby,« befahl der Resident. »Er soll sofort eine Abteilung Sepoys von der Hauptwache hierher kommandieren.«

Prinz Jehan hohnlachte. »Brüder und Freunde, der Augenblick ist gekommen, uns zu rächen, und der Strahl der SonneDer Fluß Dschumma ist nach der indischen Mythe die Tochter der Sonne und die Schwester Yamas des Todesgottes. führt die Söhne des Todes in unsere Mitte!«

Sein ausgestreckter Arm wies triumphierend durch die hohen Bogenfenster der Veranda.

Die Staubwolke hatte sich genähert und einen langen dunklen Strom von Reitern aus ihrer Mitte geboren. Waffen blitzten im Sonnenlicht. Eine Masse Volks umdrängte die Reiter und bis hierhin drang das jubelnde Geheul der Menge.

»Inshallah! was geht mit mir vor? was ist geschehen? Habe Mitleid mit dem armen törichten Buben, o Sahib!« flehte der alte König.

Seine Söhne sprangen dazwischen.

»Erniedrige dich nicht vor dem elenden Kaffir, Kaiser von Hindostan!« schrie Akhbar Jehan. »Möge er fliehen, damit sein Blut nicht den Boden deines Palastes beflecke! – Jene Krieger, die über die Dschumna strömen, sind die Reiter von Mirut, welche die Faringi erschlagen und uns zur Hilfe eilen.«

»Es ist kein Augenblick zu verlieren! Fort, Sir!«

Der Leutnant faßte den vor Schreck willenlosen Residenten am Arm und zog ihn eilig aus dem Kiosk und durch den Garten, verfolgt von dem wilden Geschrei der Söhne und Diener des Königs.

Der junge Offizier war zum Glück mit den Wegen bekannt und erreichte mit seinem Begleiter glücklich den Dewan-Kost.

Hier stürzte ihm, von einem Säbelhieb im Gesicht blutend, Sergeant Soyce, ein Engländer im Dienst des Kapitän Douglas bei der indischen Leibwache, entgegen.

»Aufruhr, Mord, Gentlemen!« schrie der Mann. »Eilen Sie, sich zu retten! Kapitän Douglas sendet mich, er hält das äußere Tor!«

Jetzt hatte auch Oberst Frazer seine Geistesgegenwart und die volle Erkenntnis der Gefahr wiedererlangt.

Die drei flogen, von dem Lärm begleitet, durch den niederen Bogengang in den äußeren Hof, wo sich ihnen eine Szene unendlichen Tumultes zeigte.

Die Leibgarden des entthronten Königs waren noch unter Waffen, aber ihre Reihen hatten sich in wilde Unordnung gelöst. Die indischen Diener des Residenten hätten der Aufforderung der Soldaten, sich ihnen anzuschließen, gefolgt, wenn der Mahoud, ein dem Obersten treu ergebener Mensch, sich nicht standhaft geweigert hätte, den Platz zu verlassen, auf dem er seinen Herrn erwarten sollte.

Die beiden britischen Offiziere trugen über ihren Uniformen noch die Tschoda, das indische Ehrenkleid, das sie zur Audienz bei dem König hatten anlegen müssen, und dieser Umstand rettete vorerst wahrscheinlich ihr Leben. Ehe einer der Meuterer auf sie aufmerksam geworden, waren sie mitten in der Gruppe und der Resident rief dem Mahoud einen Befehl zu, während Leutnant Willougby die Hand auf den Bug seines edlen Rosses Gibraltar legte und mit einem Satz in den Sattel sprang.

In diesem Augenblick erschienen in dem Tor zum Dewan-Kost die Söhne des Königs, und der wilde Bukthur sprang vor und rief, seinen Säbel schwingend: »Bei dem Bart des Propheten! laßt die unreinen Hunde nicht entkommen! sie sollen sterben in diesen Mauern!«

Einer der Leibwachen warf sich dem jungen Offizier entgegen und faßte die Zügel seines Pferdes, aber Willougby beugte sich vornüber, schlug ihn mit dem Säbelgriff ins Gesicht und spornte Gibraltar.

Zugleich schob der Rüssel des Elefanten die dichtgedrängten Männer mit einem kräftigen Ruck zur Seite und machte den Weg in dem Torbogen frei. Gleichsam, als kenne er seine Kraft und wisse, daß er den Rückzug decken müsse, ließ der Elefant den verwundeten Sergeanten vorangehen, dem es gelungen, ein Pferd zu besteigen, und folgte alsdann.

»Schießt auf sie, ihr Feiglinge! nieder mit ihnen!« schrie der wilde Hinduprinz, die Engländer verfolgend.

Die drei Reiter hatten unterdes das Tor passiert und die Brücke erreicht, die über den Graben nach dem Platz vor dem Palast und dem Chandy-Choak führte.

Auf der Brücke stand Kapitän Douglas mit zwei europäischen Korporalen. Alle drei waren bemüht, mit Worten und Hieben auf der einen Seite die Torwache abzuhalten, auf der anderen das Herüberdringen des Pöbels zu verhindern.

»Vorwärts, Gentlemen,« rief Willougby und machte sich bereit, die Sattelpistole in der einen, den Säbel in der andern Hand, auf die Menge einzusprengen, die sich bereits auf der anderen Seite des Kanals mit drohenden Gebärden versammelte.

Da knallten plötzlich mehrere Schüsse hinter ihnen und ein wildes Triumphgeschrei erhob sich auf der Höhe der Mauer.

»Retten Sie sich, Kameraden,« rief Kapitän Douglas, »ich bin verwundet und werde auf meinem Posten sterben.«

Der Resident beugte sich über die Haudah.

»Manakjy,« sagte er zu dem Mahoud, »laß Moll helfen, den Kapitän zu retten!«

Der treue Diener rief dem Elefanten einige Worte zu, – das verständige Tier näherte sich sogleich dem Ort, wo der brave Offizier von der Kugel der Meuterer gesunken war, schlang den Rüssel um ihn und hob ihn so leicht empor, als wäre es ein Kind.

Die Soldaten auf den Mauern und der Pöbel auf dem Platz stießen ein wildes Jubelgeschrei aus bei diesem Anblick, denn sie glaubten im ersten Augenblick, der Elefant werde ihren Feind in die Luft schleudern; aber der Jubel verwandelte sich augenblicklich in ein Wutgeheul, denn das treue Tier reichte behutsam den blutenden Körper des Offiziers über seinen Kopf weg nach der Haudah, in die ihn der Oberst und der Mahoud hoben.

»Jetzt, Manakjy, vorwärts nach Saman-Badsch und nieder mit allem, was uns in den Weg tritt. Soyce, sucht die Bungalows zu erreichen und holt Beistand, und Sie, Willougby, so rasch als möglich ins Arsenal!«

»Sie entfliehen! Feuer! Feuer auf sie!« schrie der Prinz Jehan von der Höhe der Mauer.

Die beiden Korporale, die vergeblich versucht hatten, mit den drei Reitern sich zu retten, und zurückgeblieben waren, wurden von der Bande Bukthurs in Stücke gehauen.

Die Verfolgten erreichten glücklich den Palast des Residenten. Das Tor war zwar geschlossen; auf den Ruf des Herrn jedoch wurde es von dem diensthabenden Sepoy-Unteroffizier geöffnet.

Die finsteren Gesichter der indischen Diener bewiesen sofort dem Residenten, daß er sich wenig auf ihren Beistand würde verlassen können, indes glaubte er jeden Augenblick das Herbeikommen militärischer Hilfe erwarten zu dürfen, und da in dem Palast nicht allein wichtige Papiere, sondern auch eine ziemlich bedeutende Summe Geldes enthalten waren, beschloß er, hier zu bleiben und nötigenfalls seine Wohnung zu verteidigen.

Bevor er den Hof verließ, rief er den Mahoud zu sich.

»Manakjy,« sagte er zu ihm, »du hast deine Ergebenheit in der Stunde der Gefahr bewährt. Hast du den Mut, für mich dich einer neuen Gefahr zu unterwerfen?«

»Sprich, Sahib, Manakjy ist dein Diener und wird dir gehorchen.«

»Du weißt, wo Miß Viktoria, meine Tochter, sich befindet?«

»Die Mam Sahib ist in dem Hause der frommen Frauen.«

»Ich glaube zwar nicht, daß sie dort etwas zu befürchten haben. Indes wird Viktoria sich unnötig ängstigen. Eile zu ihr und beruhige sie über meine Sicherheit, und wenn ihr Gefahr droht, so führe sie hierher oder in die Kantonnements der Truppen.«

»Soll ich Kubadar mit mir nehmen, Sahib?« fragte der Mahoud.

»Nein, laß ihn hier, es würde nur die Aufmerksamkeit dieser Schurken auf dich lenken. Ich vertraue auf dich, du wirst meine Tochter beschützen.«

»Ich habe mit der Mam Sahib als Knabe gespielt,« sagte der Mahoud, »ich werde tun für sie, was ein Mensch für den andern zu tun vermag. Aber es ist schade, daß Moll nicht mit mir gehen darf, er hat den Verstand von zehn Männern und die Kraft von hundert.« Mit diesem Lobe seines geliebten Tieres machte der Mahoud sich auf den Weg, seinen gefährlichen Auftrag auszuführen.

 

Der treue Mahoud empfand bald lebhaftes Bedauern, daß er seinen wackeren und starken Freund hatte zurücklassen müssen; denn die aus den Straßen der inneren Stadt auf dem Platz vor dem Residentur- Palast hervorströmende Menge versperrte ihm den Weg und zwang ihn, mit ihr umzukehren. Er hegte große Besorgnis um das Schicksal seines Herrn und vielleicht nicht weniger um das seines Tieres und beschloß, vorerst sich Kenntnis von jenem zu verschaffen, ehe er seinen Auftrag ausführte.

Oberst Frazer war ein weder unter der Bevölkerung Delhis noch im allgemeinen unter seinen Dienern beliebter Mann wegen seines stolzen und anmaßenden Charakters.

Von der St. Jakobskirche her rückten ein Teil des 38. bengalischen Infanterieregiments und eine Abteilung Artilleristen, an der Spitze Oberst Ripley, im Sturmschritt auf den Platz, während sowohl von der Schiffbrücke als aus dem Innern der Stadt sich eine dichte Schar von Meuterern und ein Teil der Kamelreiter von Mirut heranwälzten. An der Spitze der letzteren tummelte Prinz Jehan sein schwarzes Roß, dessen Worte den Haß und Blutdurst der Reiter nur noch mehr entflammten.

»Jetzt werden die verräterischen Kanaillen ihren Lohn empfangen,« rief der Resident dem schottischen Kapitän zu. – »Ripley läßt seine Artilleristen schwenken, um sie abzuschneiden. Burrowes, der wackere Burrowes, befiehlt fertig zum Feuern.« Er riß die Jalousie auf und ließ sein Tuch wehen.

Man hörte das englische Kommando: »Fertig! – Schlagt an! – Feuer!«

»Was ist das? – was soll das heißen?« Das Gesicht des Residenten war blutlos, als er vom Fenster zurückfuhr.

Kein Schuß war gefallen.

Die Offiziere der Sepoys sprangen erstaunt vor und redeten die Leute an. Aber von der anderen Seite sprengten die Reiter herbei, voran der Prinz, der wenige Schritte vor der Front der Sepoys sein Roß parierte.

»Männer von Hindostan!« erscholl deutlich vernehmbar die Stimme des Prinzen über den Platz herüber, »es ist nicht genug, daß ihr euch nicht befleckt mit dem Blute eurer Brüder vom dritten! Folgt ihrem Beispiel und werft die Ketten ab, welche jene Faringi um eure Brust geschlungen, damit sie euch zu ungläubigen Kaffirs machen, wie sie selber sind! Nieder mit ihnen, mit den Feinden unserer Freiheit und unseres Glaubens, damit die besudelte Erde Delhis in ihrem Blute gewaschen werde!«

»Schändlicher Empörer,« schrie Kapitän Burrowes und stürzte mit erhobenem Degen auf ihn zu. »Du mußt sterben!«

Die Kugel eines seiner eigenen Sepoys traf ihn im Rücken und machte ihn taumeln. Akhbar Jehan erhob sich in den Bügeln, zog ein Pistol und schoß den Wankenden mitten durch die Stirn. Er stürzte ohne Laut tot zu Boden.

Der Schuß war das Signal zu einer wilden Mordszene. Die Sepoys feuerten auf ihre Offiziere und mehrere derselben stürzten; den Leutnants Hyslop und Reveley und Kapitän Gordon Buttler gelang es, mit der blanken Waffe sich durchzuschlagen und nach dem Kaschmir-Tor zu entfliehen.

Der Resident sah auch den Kommandeur der Truppen, Oberst Ripley, fallen, als aber die Sepoys sich auf ihn stürzen wollten, um ihn mit Bajonettstichen vollends zu töten, widersetzten sich die Artilleristen und gestatteten, daß er von zwei anderen ihrer Offiziere nach der Hauptwache gebracht würde, wogegen sie jeden anderen Gehorsam verweigerten und die Sache der Meuterer zu der ihrigen erklärten.

Kapitän Douglas hatte sich bei dem Erschrecken seines Freundes von seinem Wundlager emporzurichten versucht. »Was ist geschehen, Frazer?«

»Wir sind verloren, Douglas,« sagte der Resident; »wollen uns aber wenigstens wie Männer gegen die Schurken verteidigen.« Er riß eine Doppelflinte von der Wand und sprang hinaus.

Ein Jubelgeschrei erhob sich in der Nähe, dann wurde die Tür aufgerissen und Oberst Frazer, blutend am Kopf und an der Schulter, stürzte herein und verschloß die schwache Tür.

»Die verräterischen Schurken! – ich kam zu spät – der Unteroffizier hat das Tor geöffnet – Gott erbarme sich unser und meines Kindes!«

Vor der Tür heulte die Meute der Verfolger – zwei, drei Stöße – und das leichte Holz flog in Trümmer. Die Menge stürzte herein, der Delhi-Prinz voran, und füllte das Gemach.

»Verfluchte Mörder!« rief der Schotte und schoß beide Pistolen in den dichtgedrängten Haufen ab, im nächsten Augenblick fiel er von zwanzig Säbelhieben und Bajonettstichen zerfleischt, glücklicher in dem raschen Soldatentod, als sein Gefährte.

Dieser versuchte mit der Linken mit einigen Degenstößen sich zu verteidigen, aber die Waffe wurde zur Seite geschlagen und die Menge riß ihn zu Boden.

Über dem Gefallenen stand der Prinz, drohend seinen Tulwar schwingend.

Der Resident rang unter den Fäusten der Menge. »Töte mich, Elender, ich weiß als Soldat und Brite zu sterben!«

»Hamed!«

Ein kräftiger Schwarzer drängte sich auf den Ruf aus dem Haufen. Er hielt ein bereits bluttriefendes Messer in der Faust und sein gelbes Auge glänzte in Bosheit und grausamer Freude.

»Was befiehlt der Sohn des Herrn der Welt!«

»Reiße dem Faringi die freche Zunge aus dem Hals, mit der er das Haus Timur zu beleidigen gewagt!«

Der Mohr stieß dem Unglücklichen den Griff seines Messers in den Mund. Dann streckte er die schwarze Faust so tief als möglich in den Schlund des Offiziers und erfaßte wie eine Schlange das zuckende Glied – ein gewaltiger Ruck – und ein Strom von Blut folgte dem an seinen Wurzeln aus dem Halse gerissenen Fleisch.

Der bestialische Mörder warf das Glied auf den Boden und grinste zu seinem Herrn empor, während der Verstümmelte sich im Todeskampf am Boden wälzte.

»Nun, Schlange, zische noch einmal deinen stolzen Übermut gegen die Söhne Timurs!« schrie der Prinz in fanatischem Jubel. »Fahre zur Hölle, stolzer Kaffir, und erinnere dich im Todeskampfe, daß Akhbar Jehan das Kind deines Blutes den niedrigsten Lastträgern zur Beute vorwerfen wird, damit selbst dein Name geschändet sei!«

»Jetzt, Brüder, nach dem Zollhaus und dem Arsenal, Bukthur zu Hilfe. Dort sind Gold und Waffen für uns alle!«

Ein furchtbarer entsetzlicher Donner erschütterte plötzlich die Luft! – – – – – – – – – – –

Wir kehren zunächst zu Leutnant Willougby zurück, der im Karriere durch die sich sammelnden Volkshaufen die Straße nach dem Arsenal gewann und dieses glücklich erreichte.

Das Arsenal von Delhi besteht aus mehreren von einer Mauer umgebenen Gebäuden und Magazinen, zu welchen drei Tore führen, in dem bedeutende Vorräte von Waffen, Geschütz und achtzehntausend Pfund Pulver aufbewahrt wurden.

In dem Arsenal kommandierte Leutnant Forrest, bei ihm befanden sich seine Frau und seine drei Töchter, die Kondukteure Buckley und Scully, der Unterkondukteur Crow, der Sergeant Steward und ungefähr zwanzig andere Europäer, nebst einigen Artilleristen von den Ghurkas oder Bergbewohnern von Nepal.

Willougby fand den Leutnant bereits im Hofe, und berichtete mit flüchtigen Worten die Gefahr. Beide Offiziere beschlossen sofort, das Arsenal gegen jeden Angriff der Meuterer zu halten, und Leutnant Forrest sandte seine Gattin und seine Töchter unter dem Schutz eines europäischen Artilleristen und zweier Ghurkas, denen er trauen zu dürfen glaubte, aus dem Arsenal, um sich durch das Kaschmir-Tor nach den Bungalows zu flüchten. Glücklich gelangten die Frauen bis zu dem Tor, wo sich bald mehrere Flüchtlinge unter dem Schutz Major Abbotts sammelten.

Schnell wurden die Tore geschlossen und vor jedes ein Sechspfünder mit doppelter Kartätschen-Ladung gestellt, so daß sie den Zugang beherrschten. Der Kondukteur Crow und der Sergeant Steward übernahmen die Leitung der Verteidigung an den Nebentoren.

Zwei Sechspfünder wurden innen vor dem Haupttor postiert, das durch eine Reihe spanischer Reiter geschützt war, zwei andere so, daß sie gleichzeitig das Tor und die benachbarte kleine Bastion beherrschten.

Während der Ingenieur des Arsenals, Forrest, diese Anstalten in aller Eile traf, widmete sich Willougby, ein Mann von kühnster Entschlossenheit trotz seiner Jugend, einer noch furchtbarern Tat.

Das Pulvermagazin des Arsenals lag links von dem Hauptgebäude, zur Seite des Tores.

Der Leutnant nahm den Kondukteur Scully mit sich und öffnete den Turm, der in seinen Gewölben die Pulverfässer enthielt.

»Lassen Sie viermalige Doppel-Ladung für jedes Geschütz nehmen, Kondukteur,« befahl der Offizier.

»Ja, ja, Sir!«

Der alte Artillerist gehorchte und die Kartuschen mit dem Pulversack wurden fortgeschleppt.

Als der Kondukteur von dem Transport zurückkehrte, fand er den Offizier auf einem der Fässer sitzen, dem er mit einem Beilhieb den Boden ausgeschlagen.

»Fertig, Sir,« meldete der Kondukteur.

Der Leutnant hob den Kopf und sah ihn scharf an. »Sie haben keine Familie, Scully?«

»Nein, Sir!«

»Ich auch nicht, wir haben also nur an unsre Pflicht zu denken. Nach dem, was ich gesehen, fürchte ich, daß wir uns auf die Garnison nicht verlassen können. Wollen wir ungerächt sterben, wenn das Arsenal genommen wird?«

»Den Teufel, Sir! wir müssen so viele der verdammten Niggers zur Hölle schicken, als möglich!«

»Das ist auch meine Meinung, und Sie sind mein Mann. Haben Sie das Nötige bei sich, Scully, um ein Zündlinie zu legen?«

»Ein guter Artillerist ist nie ohne sein Handwerkszeug,« lachte der Alte.

»Aber wer soll den Zunder in Brand setzen?«

»Wer anders als ich. Nur für den Fall, daß mich eine Kugel zum Tode trifft, merken Sie, wo das Ende liegt. Sobald Sie Ihr Tuch schwenken, zünde ich an.«

»Braver Mann – es ist gewisser Tod!«

»Das weiß ich, aber besser, als unter den Händen der schwarzen Henkersknechte zu enden. Goddam! Da sind sie wahrhaftig schon. Lassen Sie uns an die Arbeit gehen, Sir, und vergessen Sie das Tuch nicht – Noch eins,« sagte er, die Hand auf den Arm des Offiziers legend, »Sie sind jung, Leutnant!«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts, als daß Sie sich erinnern mögen, daß das Pulver nicht nach unten drückt. Wen die Explosion verschont, der mag leicht im Dampf und der Verwirrung zu den Unseren entkommen.«

Die Meuterer hatten sehr wohl begriffen, daß es eine ihrer nächsten und wichtigsten Aufgaben sein müßte, sich des Arsenals zu bemächtigen, um mit den darin befindlichen Vorräten ihre Anhänger und die niedere Bevölkerung der Stadt zu bewaffnen.

Im nächsten Augenblick donnerten die Waffen der Empörer an das Tor und die Stimme Bukthurs verlangte Einlaß.

Der Ingenieur-Offizier warf einen Blick auf seine kleine Schar, – in allen Gesichtern drückte sich Mut und Entschlossenheit aus.

»Geht zum Teufel, Kanaillen,« antwortete der Offizier mit erhobener Stimme, »und seht zu, daß euer Gehirn nicht an diesen Mauern verspritzt, noch ehe die Regimenter anrücken. Wer den Hof zu betreten wagt, betrügt den Galgen um sein Futter!«

Ein gellendes Wutgeheul begegnete der Schmähung des Briten, wilde Schläge und Schüsse donnerten gegen das feste Tor – durch den Lärm hörte man das Kommando der Anführer, welche Leitern herzuholen befahlen.

Die Engländer hatten sich mit Waffen aus den Vorräten des Arsenals versehen, um ihr Leben so teuer als möglich zu verkaufen, wenn es zum Einzelkampf kommen sollte. Leutnant Willougby hatte in den Gürtel zwei Revolver gesteckt und eine Patronentasche mit Munition umgehangen, in der Hand trug er ein Gewehr. So postierte er sich bei den beiden Geschützen gegenüber dem Tor, deren Kommando der Genie-Offizier ihm anvertraut hatte.

»Kameraden,« sagte dieser, »haltet ein wachsames Auge auf die Mauern und den ersten, der den Kopf darüber hebt ....«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Willougbys Gewehr an die Wange fuhr und sein Schuß krachte. Lautlos, durch die Schläfe geschossen, stürzte der Sowar, der sich der Erste von der Leiter auf die Mauer schwingen wollte, zurück.

Das Rachegeschrei der Stürmenden folgte dem glücklichen Schuß. Kugel auf Kugel warf jetzt die unter dem Allahruf und Kampfgeschrei: »Ram! Ram! Mahadeo!« an den Mauern Emporklimmenden nieder, aber die kleine Schar der Europäer vermochte nicht so rasch zu laden, als die Zahl ihrer Feinde auf Mauer und Bastion wuchs, Schüsse krachten von hüben und drüben, Leutnant Forrest wurde an der Hand verwundet, Buckley durch die Schulter geschossen, einer der Ghurkas getötet, schon sammelte sich ein Haufe innerhalb des Tores und bemühte sich, die Sperrbalken zu lösen.

»Feuer, Willougby, Feuer auf die Schurken, oder sie öffnen das Tor!«

Der Kartätschenhagel prasselte in der Entfernung von höchstens siebzig Schritt in grader Linie auf den Steinquadern: das wilde Todesgeheul der Getroffenen erfüllte die Luft, zugleich löste Kondukteur Scully das Geschütz, das die Bastion bestrich, über die in dichten Massen die Meuterer herauf drangen.

»Ruhig Leute, ruhig geladen, ehe ihr den andern Schuß gebt!« klang die Stimme Forrest's.

Auf dem Pflaster des Hofes wanden sich die Verstümmelten in Todesgeheul oder versuchten, sich mit den zerrissenen Leibern in einen Winkel zu flüchten vor den todbringenden Schüssen der weißen Männer.

Die Laute des Schmerzes und Todeskampfs wurden durch ein Freudengeheul von außen her übertönt. Zwei der Eingedrungenen war es gelungen, den schweren Sperrbaum aus den Krampen zu heben, gleich darauf schlug eine der Kartätschen gegen das Schloß und sprengte die Riegel – ein gewaltiger Anlauf der Menge, und die Flügel des Tores wichen.

Willougbys zweites Geschütz riß eine Gasse in den dichten Haufen, der durch die geöffnete Pforte hineinstürzte.

Über die Bastion her drang ein zweiter Strom und besäete mit seinen Leichen den Weg hinab.

Mit heroischer Kaltblütigkeit arbeiteten die Kondukteure und Mannschaften an ihren Geschützen, ausgesetzt den Kugeln der Empörer, die jetzt von der Höhe der Mauer und von den Wällen der Bastion auf sie feuerten.

Über die Hälfte der kühnen Verteidiger war bereits verwundet, mehrere gefallen, dennoch kämpften sie wie die Teufel in den Feuerströmen, die um sie her blitzten.

Die Bedienung der Geschütze rechts, welche den Torweg bestrichen, hatte viermal gefeuert, als ein wütender Anprall der Sowars sie vertrieb und auf die Geschütze vor dem Hauptgebäude zurückwarf. Glücklicherweise gelang es den Männern, ehe sie weichen mußten, die Kanonen umzustürzen.

Der alte Kondukteur, der die Geschütze zur Linken kommandierte, sah auf den jungen Offizier fragend herüber, während er mit Wischer und Ladestock hantierte, aber der Leutnant arbeitete im Pulverdampf, ohne sich um ihn zu kümmern, und seine Kartätschen brüllten eben zum dritten Mal den Feinden den Tod zu. Noch ehe der Rauch emporgewirbelt, warfen sich die Männer wieder auf die Geschütze, um auf's neue zu laden.

»Nieder mit den Faringi!« donnerte die Stimme Bukthurs. »Auf sie! auf sie! tötet sie!« Eine dunkle Wolke von Kriegern drängte hinter ihm her und füllte den Eingang, von den Mauern, von der Bastion her warfen sich ganze Scharen in den weiten Hof.

»Old England for ever!« Forrest hieb die Lunte auf das Geschütz – Scullys letzte Salve schlug von der Seite in die dicht gedrängte Menge – der Boden war mit Leichen besäet.

Hoch auf seinem Roß schwang unverletzt der wilde Prinz den Tulwar. »Chalo Bhai!Vorwärts Brüder! Das Paradies ist denen, die sterben für den Glauben!« Er spornte sein Pferd über die Leichenhaufen.

»Es ist zu Ende mit uns – lebt wohl, Kameraden! Gott sei uns gnädig!«

»Auf den Boden alle! werft euch nieder, rasch!« schrie Willougby.

»Gott helfe uns, Freund Scully!« Er schwang das Tuch durch die Luft und warf sich zu Boden.

Ein furchtbarer Schlag erschütterte die Luft und machte die Erde erbeben, gleich als risse sie aus ihren Grundfesten – ein Flammenstrom schoß breit in die Höhe, gleich als öffne sich der Krater eines Vesuvs – und dichte Finsternis hüllte minutenlang den Hof ein.

Durch diese Finsternis, durch diese greifbaren Wolken von dickem Qualm, stürzte ein Regen von Mauertrümmern, Balken, menschlichen Gliedern und Waffen.

Die Mauern des Pulverturmes waren wie von dem Erdboden rasiert; – die Geschütze, welche in seiner Nähe gestanden, weit über die Bastion und das große Magazingebäude hinweggeschleudert, dessen Mauern wankten und zusammenstürzten. Der Torbogen, eine große Strecke der Umfassungsmauer lag in tausend Stücke zerstreut, mächtige Quadern des Turmes waren bis über den Nebenarm der Dschumna geschleudert.

An tausend Menschen waren teils in Atomen in dieser schrecklichen Wolke mit emporgeflogen, teils von dem Luftdruck erstickt, von den fallenden Trümmern erschlagen oder verstümmelt worden. Mit wildem Schreckensgeheul flohen die Überlebenden von der blutigen Stätte. – –

Als Leutnant Willougby von der Betäubung wieder zum Bewußtsein erwachte, kreisten noch immer Dampfwolken über dem Platz. Er begriff, daß, wenn er auf Rettung hoffen wolle, er rasch und entschlossen handeln müsse. Seine Glieder waren unverletzt, nur von der Stirn rann aus einer leichten Wunde warmes Blut.

Umhertastend fühlte er die Brust seines letzten Gegners unter seiner Hand sich leise heben und senken – er lebte gleichfalls noch. Er bemächtigte sich des Turbans und des Dolches des Prinzen und erhob sich.

Indem er sich rasch seiner Uniform entledigte, um sich allein in die Tschoga zu hüllen, die er noch immer trug, fiel aus jener ein weißer Gegenstand zur Erde. Er hob ihn auf – es war die weiße Rose, welche die Ursulinerin vor kaum einer Stunde vom Balkon des Palastes der Chandy-Choak ihm zugeworfen. Die einfache Blume eröffnete eine rasche Flucht von Gedanken in seinem Sinn; sein Entschluß war gefaßt. Die Patronentasche, die Revolver und den Dolch des Prinzen unter dem weiten indischen Kaftan verbergend, den Turban tief in das Gesicht gedrückt, wagte er es, über die Trümmer und Leichen zu steigen.

Wie sich später ergab, war fast die Hälfte vom Rest der kleinen Besatzung, wenn auch nicht unverletzt, durch das rechtzeitige Niederwerfen der Vernichtung entgangen. Leutnant Forrest hatte sich mit einigen nach dem Lahore-Tor gerettet und dasselbe glücklich erreicht, während andere im Schrecken und in der Verwirrung in das Innere der Stadt zurück gerieten.

Dahin, – nach dem Chandy-Choak – wandte auch Leutnant Willougby seinen Weg.

Er hatte den Platz kaum betreten, als er Manakjy, den treuen Mahoud des ermordeten Residenten, neben seinem riesigen Tier herlaufen und dieselbe Richtung einschlagen sah. – – – –

 

Als der Zug des Residenten die Chandy-Choak passiert hatte, blieben auf dem Balkon der Erziehungs-Anstalt die jungen Mädchen zurück, plaudernd über das Ereignis und den Zug so lange wie möglich mit den Augen verfolgend.

»Seht, die Begleitung des Rajah bleibt auf dem Platz,« sagte Miß Frazer, das Glas vor dem Auge. »Auch Ripley kehrt wieder um. Ich glaube, das Schauspiel hat halb Delhi auf die Füße gebracht, – es ist ein Gewühl, wie am Moharremfest.«

»Es muß etwas Besonderes vorgehen in der Stadt und dem Palast,« rief Miß Forster, »alle Welt strömt dahin – die Kaufleute schließen ihre Läden –«

In diesem Augenblick erschien ein Diener an der Tür des Saales und zeigte der kleinen Irma mit bedeutsamer Gebärde einen Brief.

Zugleich kehrte Lady Hunter in Begleitung der Schwester Angelique in das Gemach zurück.

»Der Zug kommt zurück,« rief eines der Mädchen aus der Veranda, »nein, ich irre mich – es sind nur die Indier – mein Gott, was geht dort vor?«

Ein entfernter Schuß wurde gehört, – ein Geheul der Volksmenge auf der Straße und dem Platz antwortete.

Alle Frauen eilten auf den Ballon, um zu sehen. Die Begleiter des Rajah und dieser selbst jagten bereits an der Mauer des Palastes entlang nach dem Delhi-Tor zu.

In diesem Augenblick stürzte die junge Hindu, die Tochter des reichen Babu, in den Saal.

»Möge Lakschmi uns beschirmen,« rief sie, auf die Frau des Dechanten zueilend, »Cartikia hat die Bande des Friedens gesprengt und zieht auf seinem Feuerwagen durch die Stadt!«

»Was ist geschehen, was hast du, mein Kind?«

»Es ist Kampf in der Stadt zwischen den Faringi und den Männern meines Volkes,« schluchzte das Mädchen. »Der Babu, mein Vater, schreibt mir, daß große Gefahr, und daß ich mich verbergen solle, bis er kommen könne, mich zu holen.«

Eine Flintensalve von dem Dauri-Serai her und das Geheul der Volksmenge bestätigte den Schreckensbericht des Mädchens.

»Das ist ein Volksauflauf, der sich bald beruhigen wird,« besänftigte die Lady. »Lassen Sie für alle Gefahr die Tür nach der Straße schließen, Soeur Angelique.«

»Gerechter Gott! wenn nur meinem Vater kein Unglück geschieht!« Miß Viktoria flog zurück auf den Gitterbalkon.

Pulverdampf wirbelte von dem Tor des Dauri-Serai auf – auf der Brücke sah man Moll, den Elefanten des Residenten, der den Verwundeten zur Haudah emporreichte.

»Willougby! – Das ist Willougby auf dem Gibraltar! er sprengt hierher – barmherziger Himmel – er wird in die Hände dieser Rasenden fallen!«

«Nein – er wendet sich zur Rechten – jetzt ist er verschwunden!«

Ein tiefer Atemzug, wie aus befreiter Brust, war deutlich hörbar. Die beiden Hände auf das Herz gepreßt, totenbleich, lehnte die kleine Nonne an einem der steinernen Pfeiler.

»Vater! Vater!« schrie Miß Frazer und streckte die Arme aus, als könne ihre Stimme in dieser Entfernung sein Ohr erreichen.

»Beruhige dich, Kind – er ist gerettet, das treue Tier trägt ihn sicher durch die Menge – und dort erreicht er eben die Straße nach dem Palast.« Die edle Frau war schreckensbleich, wie die anderen, aber sie behauptete ihre Fassung und Ruhe.

Ein wildes Geheul – gellendes Hilfegeschrei scholl aus der Chandy-Choak herauf. Die Lady, von Irma gefolgt, eilte nach dem Balkon, während die anderen Frauen und Kinder sich wie eine Schar geängstigter Tauben zusammendrängten.

Ein Blick hinunter belehrte Adelaide, daß der Babu, Irmas Vater, die Gefahr nicht übertrieben. Der Pöbel begann bereits verschiedene von Europäern gehaltene Läden auf dem Silbermarkt zu plündern. Die unglücklichen Besitzer mit ihren Familien wurden herausgerissen und grausam unter tausend Mißhandlungen ermordet. Ihr Jammergeschrei klang entsetzlich durch den Lärm, die Schüsse, das Geheul, das von allen Seiten sich zu erheben begann.

Die Lady trat entsetzt zurück; dann eilte sie rasch entschlossen auf die Äbtissin zu. »Irma hat recht – das ist kein bloßer Volkstumult, das ist eine Empörung, eine allgemeine Revolution. Sie müssen versuchen, zu fliehen, Irma kann Sie geleiten und hoffentlich schützen. Leben Sie wohl, und möge der Himmel mit Ihnen sein!«

Sie winkte den Mädchen einen Abschiedsgruß zu und schritt entschlossen nach der Tür.

»Um der gebenedeiten Jungfrau willen, Mylady, wo wollen Sie hin?« Die Äbtissin, die Nonnen, die Mädchen warfen sich ihr in den Weg.

»Mit Gottes Beistand meine Pflicht erfüllen,« sagte die Lady mit erhobener Stimme. »Sie alle vermögen zu fliehen, aber die arme Mistreß Elkinson und meine Kranken können Delhi nicht verlassen. Bei ihnen ist meine Stelle.«

Als sich die Pforte des schützenden Hauses hinter ihr schloß, blieb die Lady kurze Zeit auf der Schwelle stehen.

Dann rasch entschlossen schlug Lady Hunter den Schleier ihres Hutes zurück und schritt auf die Straße, die Richtung nach der schwarzen Moschee einschlagend, in deren Nähe die verlassene Kranke, die Frau eines Kampagniebeamten wohnte.

Im ersten Augenblick schien die Menge, die eben einen neuen Laden erbrochen, ihre Anwesenheit nicht zu bemerken, aber im nächsten schon erscholl der brüllende Ruf: »Tötet die Faringa! nieder mit der Faringa!« und hundert Hände streckten sich gegen sie, Waffen wurden erhoben, und einer der Reiter von Mirut, der sich in dem tobenden Haufen befand, spornte sein Pferd und schwang seinen Säbel, um der kühnen Frau das Haupt zu spalten.

Lady Adelaide sah, daß sie sterben müsse, und faltete die Hände, – ihr Blick harrte mit Ruhe dem Todesstreich entgegen.

In dieser furchtbaren Gefahr erscholl der kreischende Ruf einer Frauenstimme:

»Der Engel von Delhi! – Schützt den Engel von Delhi!«

Eine Hindufrau, ihrer Kleidung nach den unteren Ständen angehörend, stürzte sich gleich einer Furie zwischen den Sowar und die Bedrohte. »Unglücklicher, was willst du tun? – Es ist der Engel von Delhi, den dein Tulwar bedroht!«

Jetzt erkannten mehrere aus der Menge die Lady, und der Ruf ihrer Mildtätigkeit, ihrer Güte und ihres Wohltuns war so weit verbreitet, daß der allgemeine Ruf: »Ehre der Heiligen! Schutz dem Engel von Delhi!« wie ein Lauffeuer durch die Masse ging und gleichsam einen Heiligenschein um das Haupt der Dame schlang.

»Sprich, Mam Sahib,« sagte das Weib, »wohin du deine Schritte lenken willst? Paravana, deren Knaben deine Pflege dem Yama entrissen, als ihn die boshaften Faringi für ein geringes Vergehen zum Tode gemißhandelt, nachdem sie seinen Erzeuger getötet – sie wird deinen Weg ebnen und vor dir herschreiten, damit du siehst, daß die Kinder der heißen Sonne ein dankbares Herz im Busen tragen.«

Die zitternde Lippe der Lady nannte den Namen und die Wohnung der kranken Engländerin, und sogleich streckte die Megäre das blutige Beil, das sie in der Hand hielt, nach jener Richtung aus und schritt durch die Gasse voran, welche zu beiden Seiten die Menge öffnete.

Hinter dem Engel von Delhi aber schloß sich die Menschenwoge aufs neue, das Geheul der Rache und Mordluft gellte zum Himmel empor und der Strom der Wütenden stürzte sich wieder vernichtend auf die unglücklichen Europäer.

Man sah jetzt unter den Haufen, die sich nach allen Seiten wandten, neue Gegenstände ihrer Wut, ein neues Feld der Zerstörung zu suchen, ein anderes Weib, ein Hindumädchen, jung und hübsch, aber das Auge blutunterlaufen und Spuren von Blut noch im Gesicht, auftauchen und die Mörderhaufen anreden. Ihre wilden Gebärden deuteten nach dem Palast der Prinzessin Dschehanara, und ihre Worte glichen lodernden Funken, die den Brand entzünden.

Mit einem gellenden Geheul warf sich ein Haufen der blutigen Mörder auf die bisher so friedliche Stätte des segensreichen Wirkens der schuldlosen Nonnen. Das Versprechen, daß Gold und Weiber dort zu finden, daß sie in Christenblut ihre Rache kühlen konnten, entftammte noch mehr die wilden Gemüter.

Stangen – Waffen aller Art donnerten an die schwere Pforte und verlangten die Öffnung.

Die Hände ringend – schreiend – wehklagend stürzten in den Räumen des Palastes die Frauen und Kinder durcheinander.

In dieser Not, wo keine Rat und Hilfe wußte, erschien Irma nebst einer der Hindudienerinnen mit einem Berge von langen indischen Schleiern und Feredschis beladen.

»Hier,« rief sie und warf die Last auf den Boden, »nehmt rasch, hüllt euch alle darein, es sind so viel, als ich habe finden können. Zuleina und ich werden euch durch die Gärten geleiten, bis ihr in Sicherheit seid.«

Marion hatte mit eigener Aufopferung überall hilfreiche Hand geleistet, ohne an sich selbst zu denken. Die zitternde Schar der Mädchen war in dem hinteren Flur des Palastes versammelt, um sich durch den Garten zu retten, als der Blick Irmas auf die junge Nonne fiel.

»Bei dem Haupte Wischnus, eile dich, Maria – wo ist dein Schleier? – Miß Viktoria, spute dich!«

In der Tat waren alle glücklich mit den Verkleidungen versehen, bis auf die junge Nonne und Miß Frazer; die Aufopferung der einen und der Stolz der anderen hatten es verschmäht, sich beizeiten der Kleider zu bemächtigen.

Während Irma ratlos umherschaute, hörten sie von vorn die Stöße eines schweren Balkens gegen die Pforte krachen, die in ihren Angeln zu wanken begann.

»Fort um der heiligen Jungfrau willen, rettet euch!« rief Marion. »Ich suche uns Schleier und wir folgen euch!«

Sie drängte die Mädchen mit Schwester Angelique, die bei ihnen zurückgeblieben war, und die widerstrebende Irma hinaus, und rannte zurück in die vorderen Räume, andere verbergende Gewänder für sich und Miß Frager zu holen.

Diese, zagend, allein das Freie zu betreten, folgte ihr.

Die beiden Mädchen hatten eben die vordere Halle erreicht, als das mächtige Tor in seinen Angeln wich und in Stücke zertrümmert in das Innere stürzte.

Die blutdürstigen Gesichter der Menge, die funkelnden Waffen erschienen vor den Augen der Unglücklichen – die junge Nonne warf sich vor die Pensionärin und sank in die Knie, den Tod erwartend.

In diesem Augenblick, als sich die Vordersten des Haufens anschickten, in das Innere zu dringen, erzitterte die Luft von einem gewaltigen Druck, und ein Krachen, als stürze das Himmelsgewölbe zusammen, ließ sich hören.

Es war die Explosion des Pulvermagazins im Arsenal.

Ein gewaltiger, von dem Zahn der Zeit gelockerter Steinblock des über dem Eingang schwebenden Altans löste sich von der mächtigen Erschütterung und stürzte, den über ihm schwebenden Pfeiler mit sich hinabreißend, zermalmend unter die Stürmenden.

Ein Jammergeschrei mischte sich mit dem Echo des Donners und dem Wutgeheul der Menge, Staub und Dampf wirbelte empor und schied in dichten Wolken die Mörder von den Bedrohten. – –

 

Aurunga, als sie ihr Werk getan und die tobende Schar auf das Haus ihrer Gebieter gehetzt, eilte um die Mauern des Palastes, nach der Seite der Gärten, um jede Flucht der Weißen zu verhindern.

Sie hatte noch nicht die Seitengasse verlassen, als der Schlag der Explosion sie zu Boden warf. Sie erhob sich bald wieder, und ereichte jetzt den mit Zypressen und Zedern besetzten Platz, welcher die Gärten des Dschehanara-Palastes von dem Palast und dem Grabmal der Begum von Somroo scheidet.

Indem sie, die Pforte im Auge, aus welcher bereits die Nonnen mit den Kindern geflohen waren, weiter eilte, stieß sie auf Manakjy, ihren Geliebten, der neben seinem Tier herrannte.

»Der Gott des Krieges hat seine Schwingen entfesselt, die dunkeläugige Bhawani streckt ihre Hand über Delhi und fordert ihre Opfer,« rief ihr der Mahoud entgegen.

»Was ist geschehen, Manakjy – wo willst du hin?« fragte das Mädchen, sich mit ihm der Pforte nähernd.

»Der Sahib, mein Gebieter, ist erschlagen von dem Sohne des Königs, und sein letztes Wort an die Treue Manakjys hat mich gesandt, die Tochter seines Blutes zu retten und unversehrt zu den weißen Männern, ihren Brüdern, zu führen!«

»Nimmermehr! Die Mem Sahib muß sterben, wie ihr Vater. Ihre Hand hat das Weib deines Herzens entehrt und ihrer Kaste beraubt!«

»Das ist schlimm, Aurunga,« sagte der ehrliche Mahoud, indem er mit seinem Tier stehen blieb, »aber ich habe des Sahibs Brot gegessen, bevor ich das heilige Wasser mit dir trank. Wenn du mir nicht helfen willst, die Mem Sahib zu retten, so bleibe bei Moll, indes ich mich in den Palast schleiche.«

Aurunga, die fürchtete, um ihre Rache zu kommen, und doch nicht wagte, ihrem Geliebten weiteren Widerstand zu leisten, war dem Mahoud nach dem Ausgang des Gartens vorausgeeilt, denn sie hatte zwischen den Bäumen hindurch gesehen, wie eine Anzahl von Frauen, in indische Schleier und Gewänder gehüllt, scheu durch die Pforte schlüpften und über den Platz eilten.

Ein Messer in der Hand, das sie in der Chandy-Choak aufgerafft, eilte sie den Flüchtlingen mit den Sprüngen einer Pantherin nach und warf sich ihnen in den Weg.

»Wo ist die Tochter des Faringi-Sahib? Gebt sie heraus, oder ihr alle sollt sterben,« schrie sie ihnen entgegen, die blitzende Klinge schwingend.

»Um des Himmels willen, Aurunga, laß uns fliehen! Die dich mißhandelte, Viktoria, ist noch im Palast!«

»Zeigt euer Antlitz!«

Die Schleier wurden auf den Befehl gelüftet – die Hindu überzeugte sich, daß keines der angstbleichen Gesichter ihrer stolzen Feindin gehörte.

»Geht,« sagte sie, »und nehmt meinen Fluch mit euch!«

Sogleich aber schien sie sich zu besinnen. Sie faßte die Hand Miß Forsters und hielt das zitternde Mädchen zurück, während sie den anderen ungeduldig sich zu entfernen winkte.

Sie flohen in der Richtung des Lahore-Tores davon.

Aurunga wandte sich zu ihrer Gefangenen. »Sie eilen ihrem Verderben entgegen,« sagte sie finster, »du allein kannst Rettung finden, wenn du tust, was ich dir sage.«

»O, rette mich vor dem schrecklichen Tode,« flehte das Mädchen. »Alles, was ich besitze, soll dein sein.«

»Still,« gebot die Dienerin, die jetzt die Herrin geworden. »Hülle dich in deinen Schleier und antworte auf keine Frage, als mit einem Ja oder dem Neigen deines Hauptes. Man muß dich für die halten, die du deine Freundin nennst, sonst bist du verloren.«

Sie riß das Mädchen mit sich fort und schleppte sie zur Gartentür zurück, wo eben der wackere Mahoud anlangte.

Aurunga warf die Pforte ins Schloß und stellte sich vor ihn. »Lakschmi ist mit uns gewesen,« sagte sie – »du brauchst dich nicht in die Gefahr zu stürzen, hier ist sie, die du suchst – um deinetwillen möge sie gerettet werden!«

Durch die gleiche Gestalt und das europäische Gewand unter dem Feredschi getäuscht, begnügte er sich mit der Frage: »Bist du die Mem Sahib?«

»Ich bin Viktoria – rette mich,« erwiderte das Mädchen, das ihre Rolle begriff und das ihre Todesangst Verstellung lehrte. Sie reichte dem Mahoud die weiße Hand und dieser, vollständig überzeugt, daß ein glücklicher Zufall ihm seine Aufgabe erleichtert, führte eilig den Elefanten herbei, hieß ihn niederknien und half dem Mädchen die Haudah erreichen, worauf er selbst seinen Platz auf dem Nacken des Tieres einnahm und dieses zum raschen Lauf aufstachelte.

Mit dem Hohnlächeln eines teuflischen Triumphes schaute Aurunga ihm nach, entschlossen, jeden Weg der Flucht mit ihrem Körper zu versperren.

Mit Erstaunen und ohne sie zu verstehen hatte Leutnant Willougby die Szene aus einiger Entfernung mit angesehen, ohne wagen zu dürfen, sich den Personen zu nähern. Jetzt aber, nachdem der Mahoud verschwunden, schritt er entschlossen auf die Pforte zu.

Aber eine andere Person kam ihm zuvor – es war Irma, das junge Hindumädchen, die ihre, von einer umhertobenden Schar der Meuterer aller Besinnung beraubten Gefährtinnen verlassen hatte, um die geliebte Lehrerin zu retten.

Sie trug den Schlüssel der Tür in Händen, den ihre größere Besonnenheit mitgenommen, und versuchte jetzt, Aurunga mit Bitten und Versprechungen von ihrem Platz zu verdrängen.

»Tochter des Babu – deine Worte betören mich nicht!«

Das Kind stürzte sich auf sie, mit Gewalt sie von dem Platze hinwegzudrängen, als dem jungen Mädchen plötzlich Hilfe kam. Die starke Hand Willougbys erfaßte Aurunga und warf sie zur Seite. »Wo ist die Nonne? wo sind die Frauen?« herrschte seine Stimme der Kleinen zu, von deren Lippen er den Namen Marias gehört hatte. »Fort – führe mich zu ihr!«

Die Tür war bereits von ihm geöffnet und er stürzte in den Garten, denn von dort tönte lautes Hilfegeschrei.

Es war die höchste Zeit, daß die Hilfe erschien, denn die beiden Mädchen schwebten in der höchsten Gefahr. Miß Viktoria hatte sich zuerst von dem Entsetzen erholt, mit dem die furchtbare Explosion sie zu Boden geworfen, und den Dampf und den Schrecken der Menge, die sie bedrohte, sich zunutze machend, entfloh sie mit ihrer Gefährtin nach dem Garten, um den Vorausgeeilten auf alle Gefahr hin zu folgen.

Einige Minuten gelang es ihnen, sich zwischen den dichten Hecken der Gesträuche und Orangenbäume zu verbergen, aber das weiße Gewand Viktorias verriet sie den Blicken der Mörder, und mit wildem Jubel verfolgten diese ihre Beute.

Viktoria – in dem Laufe strauchelnd, fiel etwa hundert Schritt vor der Pforte des Gartens zu Boden, und mit heldenmütiger Ergebung gab die französische Nonne die weitere Flucht auf und sank neben ihr in die Knie.

Die Verfolger und der Retter waren fast gleich weit von den Unglücklichen entfernt, und jene stürmten mit Geschrei und geschwungenen Waffen herbei, als der Vorderste von einer Kugel aus Willougbys Revolver getroffen, zu Boden stürzte. Eine zweite, eine dritte Kugel schlug in den dichtgedrängten Haufen, der bestürzt innehielt. Irma hatte die Miß emporgerichtet, sie streckte ihre Hände nach dem Offizier aus, den ihr geübteres Auge erkannte, »Retten Sie mich vor diesen Mördern, Willougby, und ich bin die Ihre!« Der vierte und fünfte Schuß streckte aufs neue zwei der Verfolger zu Boden, sie stoben erschrocken auseinander und wichen zurück.

In dieser furchtbaren Lage gellte der Ram- und Allahruf von verschiedenen Seiten her, und über die Felder des Gartens stürzten neue Haufen fanatischer Mörder herbei.

Die Augen des jungen Offiziers, den die stolze Tochter des Residenten von Delhi anflehte, schwankten einen Moment lang zwischen den beiden Jungfrauen, dann sprang er vor, umfaßte die Nonne und hob sie auf seinen linken Arm.

»Folgen Sie uns, Miß,« rief er der Bestürzten zu, und eilig sprang er mit seiner Last nach der offenen Pforte in der Mauer. Von dem Instinkt der Lebenshaltung getrieben, folgte ihm die Tochter des Residenten, die Hand auf das Herz gepreßt, gleich als habe ein tiefer Schmerz dies getroffen.

Schon hatten sie die Tür fast erreicht, die Irma, voranfliegend, geöffnet hielt, als sich Aurunga mit wütender Gebärde dem Offizier in den Weg warf und das Messer schwang.

Der Offizier faßte das Pistol am Laufe, und ein Kolbenschlag schmetterte nieder auf das Haupt der Hindu, die zu Boden taumelte. Aber noch im Fallen umklammerte sie ihre Feindin und riß sie mit sich zur Erde.

Der Offizier mit seiner Last sprang durch die Pforte ins Freie, und Irma schlug die schwere Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloß.

Jetzt erst bemerkte Willougby, daß Miß Frazer nicht bei ihnen, und das gellende Triumphgeschrei der Empörer belehrte ihn, daß sie bereits in ihrer Macht war.

»Die Bhawani hat gesprochen,« rief das Kind, »sie will ihr Opfer! Dein Leben gehört dieser, die dich mehr liebt, als die stolze Faringa!«

Trotz der drängenden Not des Augenblicks konnte der Offizier sich nicht enthalten, einen fragenden Blick auf die zarte Gestalt zu werfen, die er auf seinem Arme trug, und zu bemerken, daß das Antlitz der jungen Nonne sich mit tiefem Purpur übergoß. Aber Irma ließ ihm keine Zeit zur Überlegung, denn sie zog ihn eilig weiter.

»Wohin nun – was sollen wir tun?« fragte der Offizier.

»Kennst du das Grabmal der großen Begum im Simreh Bagh?« antwortete mit einer Gegenfrage Irma.

»Ich kenne es – ich war mehrmals dort!«

»So suche es im Schutz der Bäume und Büsche zu erreichen und verbirg dich dort. Niemand wird euch an dem einsamen Ort des Todes suchen, wenn man dich nicht eintreten sieht. Lebe wohl, und Lakschmi sei mit euch! Ich suche den Babu, meinen Vater, er allein vermag euch zu retten.«

Willougby erkannte, daß es das beste sei, dem Rat zu folgen. Dann schlichen beide zwischen den Bäumen und Büschen entlang und indem sie einen günstigen Augenblick erlauerten, gelangten sie in den engen Eingang des Tempels.

Erst hier, auf den Steinsarg der Begum gestützt, wagten sie es Atem zu schöpfen.

Das nächste, was der Offizier vornahm, war, den Ort einer genaueren Besichtigung zu unterwerfen.

Die runde Halle war leer – nur in der Mitte von dem Sarkophag unterbrochen, an dessen Kopfende an der Wand der schwache Strahl einer kleinen Fontäne, wie solche überall in den Palästen zu den Zeremonien der Abwaschung angebracht sind, aus vergoldeter Röhre mit seinem leichten murmelnden Rauschen in ein Marmorbecken fiel.

Zur rechten Seite dieser Fontäne befand sich die Tür zur Treppe des einen Minaretts, die sich spindelförmig mit ihren steinernen Stufen in die Höhe wand.

Der Offizier untersuchte die Tür, sie war unverschlossen.

Auf der anderen Seite des Springbrunnens hätte sich nach den Gesetzen der Symmetrie eine ebensolche Tür nach dem zweiten Minarett öffnen müssen, aber die Mauer war glatt und fest und zeigte keine Spur eines Eingangs.

Das Minarett mußte demnach nur der Gleichförmigkeit wegen erbaut und im Innern leer sein.

Der Eingang des Grabmals war durch eine große eherne Tür verschließbar, aber diese stand so fest eingerostet in ihren Angeln und war von so kolossaler Schwere, daß der junge Offizier vergeblich seine Kraft anstrengte, sie zu bewegen.

Richard Willougby schöpfte in der Höhlung seines Turbans Wasser aus dem Becken der kleinen Fontäne, kniete neben dem jungen Mädchen nieder und benetzte ihre Stirn und ihre Schläfe mit dem erfrischenden Element.

»Marion, teures, liebes Mädchen, erwachen Sie, fassen Sie sich, oder alles ist verloren,« flehte halblaut mit innigem Tone der junge Offizier. »Ich schwöre Ihnen, daß Richard Willougby bereit ist, sein Leben für Ihre Rettung zu opfern!«

Er küßte leidenschaftlich die kleine weiße Hand, die in der seinen lag. Plötzlich überlief dunkle Glut das reizende Gesicht der Nonne und sie zog rasch die Hand aus der seinen, während ihre Augen sich mit dem Ausdruck sanften Vorwurfs zu ihm erhoben.

»Heilige Jungfrau, vergib mir,« flüsterte das junge Mädchen. »Was tun Sie, Sir! O lassen Sie mich nicht bedauern, daß Ihr Edelmut mich vor jenen Gräßlichen errettet hat und erinnern Sie sich, daß ich eine Braut Gottes bin und schon die Berührung eines Mannes eine Sünde für mich ist.« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann zu weinen.

»Hören Sie mich an, Marion,« sagte mit tiefer Erregung der junge Mann. »Die Macht einer furchtbaren, gemeinsamen Gefahr hat die Schranke gebrochen, die Sie bisher umgeben und mich sonst wahrscheinlich auf immer von Ihnen geschieden hätte. Sie sind in diesem Augenblick nicht mehr die Nonne vom Kloster des heiligen Herzens, sondern Marion Lapierre, die Tochter Frankreichs, die Geliebte meiner Seele, die ich mir aus den Flammen und den Schwertern der wilden Feinde gerettet habe!«

Ein heftiges ängstliches Schluchzen hob krampfhaft den Busen der Jungfrau, und der Tränenstrom benetzte durch ihre zarten Finger hindurch den Marmorboden.

»Ja, Marion,« fuhr der junge Mann fort, »die nächste Minute schon kann unser Verderben sein, aber vorher darf und will ich Ihnen sagen, daß ich Sie liebe, daß ich Sie geliebt, seit Sie diese Stadt betreten und ich zum erstenmal Ihr sanftes Auge sah.«

Die Nonne entfernte rasch die Hände von ihren weinenden Augen und sah ihn mit einem seelenvollen Blick an, in dem sich Angst und Bangigkeit mit einem Gefühl vereinte, dessen Ausdruck das Herz des jungen Mannes freudig erbeben machte. »O nicht so, Sir,« sagte sie flehend. »Sie sollen, Sie dürfen nicht sterben! Es ist genug – zuviel schon, was Sie getan haben für ein so armes unbedeutendes Wesen, das bis zum Augenblick ihres Todes Sie segnen und Ihrer mit – mit Dankbarkeit gedenken wird. Gehen Sie – lassen Sie mich jetzt, Sir, bei allen Heiligen beschwöre ich Sie darum, und versuchen Sie sich unter dem Schutz des Gewandes zu retten, das Sie tragen!«

»Wie, Marion,« rief der Offizier erstaunt und verletzt, – »Sie können glauben, daß ich Sie hier allein zurücklassen werde?«

Sie sah schüchtern zur Erde. »Warum mußten Sie durch einen Irrtum mich retten, Sir – warum nicht die arme Viktoria, deren Tod ich Ärmste nun verschulde?«

»Ich bedaure das traurige Schicksal Miß Frazers,« entgegnete fest der Offizier, »aber nicht um sie zu retten, verließ ich die Flammen des Arsenals und eilte nach dem Chandy-Choak! nicht Viktoria Frazer war es, sondern die Hand, die diese Blume warf!« und er zog die weiße Rose aus seinen Gewändern und drückte sie an seine Lippen. – – –

Ein gellendes Triumphgeheul, näher als bisher und anscheinend in der nächsten Umgebung des Grabmals der Begum, ersparte der zitternden, erglühenden Nonne die Antwort.

Der Offizier lauschte einen Augenblick nach dem Lärm, dann faßte er ihre Hand, die sie ihm zögernd überließ und zog sie rasch nach der Tür zur Treppe des Minaretts.

»Diese Halle,« sagte er, »ist nicht sicher genug für uns; der Turm bietet ein besseres Versteck. Fassen Sie Mut, Marion, Gott ist mit uns und meiner Liebe!« Er schloß die Tür hinter sich, faßte sie um den Leib und trug die Willenlose, nur leise Widerstrebende, die Stufen des Minaretts hinauf.

Auf der Höhe der steinernen Galerie sperrte eine Falltür von schwerem Holz die Treppe. Der Offizier bat das Mädchen, sich ruhig auf den oberen Stufen niederzusetzen, während er selbst aus dem höheren Teil des schlanken Türmchens mit Vorsicht die Umgebung rekognoszieren und sehen wollte, ob die Gefahr sich nahe.

Die Nonne gehorchte und Willougby trat in die kaum Raum für zwei Menschen bietende Spitze des Minaretts und schaute durch die Öffnung der auf die Galerie mündenden Tür hinaus auf den Platz.

Von den Gärten des Dschehanara-Palastes her wälzte sich eine Volkswoge, die Hände in Blut getaucht, die Augen funkelnd von Mordlust und Rachgier.

In der Mitte dieses Haufens wurde ein bleiches schönes Mädchen in weißem Kleide dahergeschleift. Blonde Haare hingen aufgelöst um das in Todesschrecken erblaßte Gesicht.

Willougbys scharfes Auge erkannte die Unglückliche – es war Viktoria Frazer, die ihn selbst noch vor kaum einer halben Stunde mit dem Geständnis ihrer Liebe um Hilfe und Rettung angefleht.

Das Herz des jungen Offiziers erbebte in seiner Brust. Er machte eine Bewegung, hinabzueilen, aber kraftlos sank er zurück an die Mauer – das Bewußtsein der Unmöglichkeit überkam ihm mit erschütternder Überzeugung.

Von der Seite der Saman-Badsch her sprengte eine Reiterschar, an ihrer Spitze Akhbar Jehan, der Delhi-Prinz.

Der Prinz parierte sein Pferd und erwartete den nahenden Volkshaufen.

»Männer von Delhi! Der Sieg ist unser, die Faringi sind vernichtet oder entflohen. Es lebe der Großmogul von Delhi!« Ein Jubelgeschrei der zahllosen Menge antwortete.

Der Prinz winkte mit der Hand Ruhe.

»Hindostani!« fuhr er mit weithallender Stimme fort – »ob ihr den heiligen Lehren des Korans gehorcht, oder den tausendjährigen Gesetzen Bhuddas – unser aller gemeinschaftlicher Feind ist das verfluchte Geschlecht der Faringi. Nieder mit allem, was dem Volk der Faringi gehört! Selbst das Kind im Leibe der weißen Frau möge eure Rache nicht verschonen, damit der Same der Verfluchten nie wieder sein Haupt erhebe an den Ufern der heiligen Ströme. Schmach und Tod! Schmach und Tod den Faringi!«

Und »Schmach und Tod den Faringi!« heulte der Ruf der fanatischen Menge, und die Hände wilder Mörder zerrten das unglückliche Mädchen herbei und warfen sie vor die Hufe des Pferdes.

»Ein weißes Weib?« fragte der Prinz, der im ersten Augenblick die verstörten Züge des Mädchens nicht erkannte. »Warum tötet ihr sie nicht?«

»Es ist die Tochter des Sahib Residenten, Hoheit,« berichtete eine Stimme aus der Menge. »Wir bringen sie dir, um Gericht über sie zu halten!«

Der Prinz bog sich über den Hals seines Pferdes und betrachtete die Unglückliche. Ein teuflisches Lachen befriedigter Rachgier zuckte über sein sonst schönes Gesicht.

Es war nicht unbekannt in Delhi, daß er vor etwa einem Jahre durch einen Vertrauten dem mächtigen Residenten von Delhi sich zum Gatten seiner schönen Tochter angetragen hatte.

Die Ehre, sein einziges Kind mit einem Sprößling des Blutes Timur des Großen zu vermählen, der nicht einmal der wirkliche Erbe dieses Schattenthrones war, konnte jedoch den Residenten nicht verlocken, und er hatte mit beleidigendem Hohn den Vorschlag zurückgewiesen.

Er zog eine Börse aus seinem Schalgürtel und warf sie den Männern und Weibern zu. »Allah vergelte euch, meine Freunde, ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen!«

Dann wandte er sich, um sein Opfer zu höhnen, zu der Miß.

»Du bist die Tochter Sahib Frazers, des Residenten der Faringi in Delhi und trägst den Namen deiner weißen Königin?« fragte er.

Die Jungfrau hatte ihn in ihrer Angst erkannt. »Prinz, retten Sie mich vor diesen Entsetzlichen! Bringen Sie mich zu dem Residenten, meinem Vater, und er wird Ihnen ewig dankbar sein für den Schutz, den Sie seinem Kinde gewährt haben!«

Der Delhi-Prinz winkte zurück nach seinem Gefolge.

»Laßt den Sahib-Residenten mit eigener Zunge ihr sagen, daß die Macht der Faringi ihr Ende genommen!«

Mit teuflischem Hohngelächter streckte ihr einer der Mörder auf der Spitze seiner Lanze das blutige Haupt ihres Vaters entgegen.

Mit einem gellenden Schrei fiel das Mädchen zu Boden.

»Akhbar Jehan hat dem stolzen Sahib der Faringi geschworen, seinen Namen und sein Gedächtnis zu schänden! Der Hund, der sein Blut zu gut hielt, sich mit dem Samen Timurs zu vermischen, soll im Tode noch sich schämen des eigenen Kindes. Reißt dem Weibe die Gewänder vom Leibe!«

In Fetzen flog jedes Stück ihrer Kleidung, den sich windenden nackten Leib der Jungfrau drückten freche Hände zu Boden – wilde Megären ihres eigenen Geschlechts hielten die zuckenden bäumenden Glieder – – –

Der Prinz war vom Pferde gesprungen – und unter dem teuflischen Hohngelächter, unter dem höllischen Jubel der Menge, die ein Bachanal der Dämonen in wilden Sprüngen zu feiern schien – warf er sich auf die Unglückliche – – –

Zehnmal schon hatte die Hand des Offiziers die Waffe erhoben, und jedesmal sank kraftlos der Arm wieder vor der Überzeugung, daß seine Hilfe vergeblich, daß sein tötendes Geschoß nicht die Hälfte des Raumes durchmessen könne.

Ein Aufschrei, der im Augenblick, als das junge Mädchen zu Boden gerissen wurde, sein Ohr traf, lenkte seinen Blick zur Seite.

Es war Maria, die junge Nonne, die von Angst getrieben zu ihm emporgeklimmt war und jetzt totenbleich mit weitgeöffneten, geisterhaften Augen das furchtbare Schaufpiel anstarrte und die zitternden Hände nach ihm ausstreckte.

»O Sir – wenn es wahr ist –wenn Sie mich lieben – retten Sie, retten Sie die Unglückliche!«

Der junge Mann nahm sie in seine Arme und zog sie an seine Brust, was sie widerstandslos geschehen ließ. »Das ist kein Anblick für Sie, Maria, der selbst das Männerherz vor seinen Schrecken erbeben läßt! – Es ist unmöglich, der Ärmsten Hilfe zu bringen – Gott allein kann Sie retten und rächen.«

Sie lag in Tränen aufgelöst an seiner Brust, während dort unter der greuliche Jubel zum Himmel aufschrie. »O töten Sie mich, Richard, töten Sie mich! Lieber den Tod, als solche Entehrung!«

»Bei dem Gott, der über uns ist,« schwor der Offizier, »diese Hand wird selbst den Stahl in Ihre Brust stoßen, ehe Sie den Händen jener Mörder verfallen sollen.«

Der Knall mehrerer Flintenschüsse wandte seine Blicke wieder nach jener Seite.

Von dem Haus des Kischangar Radscha kräuselte Pulverdampf in die Höhe, – zwei der tanzenden Mörder um die schmachvolle Gruppe hatte das tötende Blei zu Boden gestreckt, andere taumelten und schrien im Schmerz der plötzlichen Verwundung.

»Verrat! die Faringi sind über uns!« ertönte das Geschrei und die feige Menge begann nach allen Seiten zu entfliehen. Eine Anzahl von vierunddreißig Europäern mit Frauen und Kindern, darunter mehrere der geflüchteten älteren Pensionärinnen des Klosters, hatten, als sie sich nicht mehr aus der Stadt zu retten vermocht, sich in das steinerne Haus des Kischangar Radscha geflüchtet und dessen Zugänge verbarrikadiert.

Akhbar Jehan hatte sich erhoben – sein Antlitz strahlte in teuflischem Triumph, als er auf sein halb bewußtloses Opfer höhnisch niedersah.

»Seid ihr feige Parias, daß ihr vor einer Handvoll dieser weißen Hunde entflieht. Schleppt die weißen Weiber, die so stolz auf schwarzes Blut herabzuschauen pflegen, in den Schutz jener Zedern,« befahl er, als von verschiedenen Seiten drei oder vier andere Europäerinnen herbeigeschleift wurden, – »schändet ihr weißes Blut, bevor ihr sie tötet!«

Er stieß die Unglückliche, – den reizenden weißen Leib, den er soeben entehrt – mit dem Fuße den Männern des Pöbels, den wütenden Fanatikern zu. »Nehmt die Hündin, die Tochter eines Hundes und besudelt die Gräber ihrer Väter!«

»Ram! Ram! Mahadeo!« schrie der Prinz – »der Feldruf der Hindostani sei eure Hochzeitsmusik! Thalo Bhai! Die Houris des Paradieses sind für die Kämpfer des Glaubens!«

Unter dem Ram-Geschrei der Krieger stürmte er nach dem Kampfplatz, der jubelnde Zuruf der entfesselten Dämonen begleitete ihn.

Der niederste Pöbel stürzte sich auf die unglücklichen Frauen. Das wimmernde Mädchen wurde an den Haaren hinter den mächtigen Stamm eines Baumes geschleift, der Schutz gab gegen die Kugeln der Faringi. Die Unglückseligen wurden jeder Hülle beraubt zu Boden geworfen, und Lastträger, Soldaten, Männer der niedrigsten Kasten und des scheußlichsten Aussehns warfen sich auf sie und befriedigten an ihren widerstandslosen Leibern – nicht ihre Lüste und Begierden, sondern den wütenden, grimmigen Haß einer Nation! .

Und wenn die Gier und der Hohn dieser Wollust genug gebüßt war, wenn selbst der niedrigste Gesell des Pöbels sich mit Ekel abwandte von dem entwürdigten Körper, dann waren Megären es, die hundertfache Martern für diesen noch vor wenig Stunden so reinen und keuschen Leib erfanden, welche die Busen aufschlitzten und mit den gierigen Händen in dem zuckenden Fleische wühlten; welche einzeln die nach Hilfe umherkrampfenden Finger der Unglücklichen, ihre Nasen, Lippen und Zehen abschnitten, die Augen ihnen ausdrückten und mit den scheußlichsten Grausamkeiten indischer Tortur ihren Todeskampf verlängerten.

Mitleidiger als seine Gefährten, hatte ein Sepoy das Bajonett erhoben, um dem kraftlosen Leibe des schönen Mädchens, das sich einst Viktoria Frazer nannte, den Todesstoß zu geben, als eine jener Megären sich zeternd und schützend über diesen Körper warf und mit dem Ruf, daß die Faringa ihr gehöre, den Soldaten vertrieb.

Sie hob die blutunterlaufenen Augen und ließ sie mit Frohlocken im Kreise umherrollen. Willougby erkannte sie mit Entsetzen – es war Aurunga, die Dienerin, die sich ihm im Garten des Klosters entgegengeworfen und die sein Schlag bewußtlos zu Boden gestreckt, noch im Falle die Feindin mit sich ziehend. – –

Schuß auf Schuß fiel von dem Hause des Kischangar Radscha – die eingeschlossenen Europäer wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung. Drei Stürme der Sepoys und der Pöbelschar waren von ihnen bereits abgeschlagen worden, mehr als dreißig Hinduleichen deckten ringsum den Boden.

»Mem Sahib,« sagte die Hindudienerin voll grimmigen Hohns zu dem leise wimmernden Mädchen – »die Schönheit, auf die du so stolz gewesen bist, hat dich zur Bajadere gemacht, deren Leib jedem Manne sich preisgibt. Es ist Zeit, daß dein Gesicht seine Larve ändert, da du so gut weißt, ins Gesicht einer anderen zu schlagen!«

»Erbarmen, Aurunga!« flehte das unglückliche Mädchen – »Erbarmen für das, was ich dir getan, wenn du selbst auf die Barmherzigkeit des Himmels hoffst!«

Aber die Furie riß das Haupt ihres Opfers zurück, indem sie mit der Rechten ihr Messer schwang. »Seht her, Hindostani,« rief sie, »wie eine Brahminen-Tochter die Schmach vergilt, die eine Faringa ihrem Antlitz angetan!« Und während ein Kreis von menschlichen Ungeheuern den Körper der Unglücklichen festhielt, machte sie mit dem Messer einen tiefen Einschnitt quer über die weiße Stirn der Gefangenen und rund um ihren Kopf mit der Sicherheit eines skalpierenden Wilden.

Dann, während das Geschrei der Gemarterten sich zu einem markdurchdringenden Geheul steigerte, rissen ihre Finger diese so weiße, jetzt blutgetränkte Stirnhaut vom zuckenden Fleisch und von dem ganzen Gesicht, daß dieses nur eine blutige, scheußliche Masse von entblößtem Fleisch und Adern bot.

Nicht genug mit dieser unmenschlichen Grausamkeit, zog die Hand mit kräftigem Ruck die Schädelhaut von dem blutenden Haupt, das jetzt einen wahrhaft entsetzlichen Anblick bot.

Es ist eine ebenso furchtbare als wunderbare Tatsache, daß die Unglückliche diese entsetzliche Marter ertrug, ohne daß der Tod ihre Leiden sofort endete.

Mit dem Jauchzen von der Hölle entstiegener Dämonen rissen diese Teufel in Menschengestalt die Verstümmelte empor und trieben sie unter Hohn und Spott durch die Straßen der Stadt, während die glühende Mittagssonne der heißen Jahreszeit auf das blutende Fleisch brannte.

Vergebens flehte die Unglückliche um den Tod – mit den Spitzen ihrer Spieße und Messer trieben die Teufel sie vorwärts. –

 

Erst gegen Abend ließ das Feuer und der tapfere Widerstand der Europäer in dem zu einer Feste umgeschaffenen, jetzt von den Kanonenkugeln halb zertrümmerten Hause des Kischangar Radscha nach – ihre Munition war zu Ende und damit ihr Mut gebrochen.

Den Sepoys gelang es jetzt, das Holzwerk an einer Stelle in Brand zu stecken, und von den Flammen bedrängt, erhoben die Christen, an einen Flintenlauf gebunden, ein weißes Tuch zum Zeichen, daß sie unterhandeln wollten.

Der Delhi-Prinz versprach ihnen das Leben und sie ungefährdet aus der Stadt zu entlassen, wenn sie ihre Waffen und alle Kostbarkeiten, die sie bei sich führten, ausliefern wollten. Sie verlangten die Anerkennung dieser Bedingung von dem König selbst, den die beiden fremden Leiter der Empörung bereits in den Straßen der Stadt zum Großmogol oder Kaiser von Delhi hatten ausrufen lassen. Man führte den alten schwachen Herrscher in der Haudah seines Elefanten auf den Platz und er gelobte mit der Hand auf dem Koran die Bedingungen des Vertrages.

Jetzt verließen die töricht Vertrauenden den Schutz des Hauses und übergaben ihre Waffen und ihre Habe den Empörern. Aber kaum war dies geschehen, als auf ein Zeichen des wilden Bukthur, der nach der Plünderung des Zollhauses und der Erstürmung der Hauptwache herbeigekommen, die Sepoys sich auf die Unglücklichen warfen und sie trotz des Geschreis und der Gegenbefehle des alten Königs grausam ermordeten.

Die furchtbare Szene des Mittags wiederholte sich; während die Männer, von hundert Wunden bedeckt, fielen, wurden die Frauen geschändet und dann grausam verstümmelt und zu Tode gemarert. Kinder wurden in die Luft geschleudert und mit den Bajonetten aufgefangen oder ihnen die Glieder einzeln vom Leibe gerissen. Eine Offiziersfrau, die ihrer Niederkunft entgegensah, wurde geschändet, mit Dolchen aufgeschlitzt und das aus ihrem Leibe gerissene Kind samt der Mutter in die Flammen des Hauses geschleudert, das die Empörer vollends angezündet hatten. Einer andern jungen und schönen Frau wurde ein mit Pulver geladener Flintenlauf in den Leib gestoßen und losgebrannt – die Mörder schrien jubelnd dazu, das seien die Zimmermannskäfer, mit denen die englischen Steuereinnehmer ihre Weiber und Töchter gepeinigt.

Das war die gräßliche Vergeltung eines wilden, seit einem Jahrhundert von der Nation, welche die Freiheit und die Menschenrechte auf dem Erdball verteidigt, mißhandelten Volkes!

 

Der Tag war vergangen, ohne daß es einer Seele eingefallen war, das Mausoleum der Begum von Somroo zu betreten.

Irma konnte auf dem Wege zu ihrem Vater verunglückt – es konnten Ereignisse eingetreten sein, die den Babu, den angesehensten Kaufmann der Stadt, verhinderten, augenblicklich etwas für sie zu tun.

Es galt also, geduldig dieser Hilfe zu harren.

Er war Abend und Nacht geworden unterdes. Von der Höhe des Minaretts sahen sie die Flammen auflodern, welche die Kantonnements verzehrten. An verschiedenen Orten der Stadt flammten andere Feuer in die dunkle Nacht – Freudenfeuer auf den öffentlichen Plätzen, um die der Pöbel und die Sepoys Dämonen gleich tanzten, oder Häuser verhaßter Faringi, welche die wütende Menge bis auf den Grund vertilgen wollte.

Beide hatten seit dem Morgen, mit Ausnahme der Erfrischung durch das Wasser des Springbrunnens, keine Nahrung zu sich genommen, und das Bedürfnis danach machte sich jetzt geltend. Marion ließ zwar keine Klage laut werden und unterdrückte mutig die Anwandlungen von Schwäche, aber der Offizier bemerkte sie wohl.

»Haben Sie Mut, Marion? haben Sie festes Vertrauen zu mir?« fragte der Offizier mit zärtlichem Ton.

Ein leiser Druck der Hand gab ihm die Antwort. »Wie könnte ich zweifeln an Ihnen, der mein einziger Schützer ist,« flüsterte verschämt das junge Mädchen.

»Es muß ein Entschluß gefaßt werden, uns mit Nahrungsmitteln zu versehen, bis Irma von sich hören läßt,« fuhr der Offizier fort. »Ihre Kräfte sind zu Ende – sie ertragen es nicht länger!«

»O ich –« flüsterte das Mädchen, indem sie die Hand gegen die Brust drückte – »ich fühle mich stark genug –.« Ihr Erbleichen, das Zittern ihrer Stimme verriet das Gegenteil.

»Hören Sie mich an, Marion,« erklärte der junge Mann. »Sie sind vorläufig sicher in diesem Versteck, und damit wir hier bleiben können, bis uns Hilfe von außen wird oder die erste Blutgier und Ausschweifung jener Mörder sich gelegt hat, ist es nötig, daß ich die noch herrschende Verwirrung benutze und mich auf eine Stunde hinaus wage. Ich werde suchen, das Haus des Babu zu erreichen. Bleiben Sie hier im Minarett, dessen Tür Sie hinter mir schließen müssen, und öffnen Sie nur, wenn Sie meine Stimme vernehmen. In einer Stunde bin ich zurück, wenn – ich noch unter den Lebenden bin!«

Der Offizier ordnete seine Kleidung, um sein Aussehen so sehr als möglich einem Eingebornen ähnlich zu machen, Soeur Maria half ihm dabei, indem sie ihr weißes Kopftuch noch dazu verwendete.

Dann geleitete sie ihn die Stufen hinab bis zum Sarkophag der Begum.

»Gehen Sie, Sir,« flüsterte die Nonne. »Gott und mein Gebet werden Sie begleiten.«

Sie sank an dem kalten Steine nieder auf die Knie – seine Lippen berührten wie ein Hauch ihre reine und keusche Stirn, zum ersten – vielleicht zum letzten Mal im Leben – dann verließ er vorsichtig das Mausoleum.

Willougby trat in den Schatten der hohen Mauern, ließ sich an der Seite des Plateaus hinabgleiten und schlich unter dem Schutz der großen Oleander, Geraniums und Myrtenbüsche, nach der Pforte der Mauer. Es gelang ihm, sie wiederzufinden – sie stand offen – und er schlüpfte hinaus auf den Platz.

Vorsichtig ging er weiter im Schutz der hohen Bäume. Plötzlich stockte sein Fuß – seine Nerven schauderten – der Strahl des Mondes fiel auf zwei greulich verstümmelte weibliche Leichen, – er befand sich auf der Stelle, wo die Entehrung und Ermordung der unglücklichen Geschöpfe geschehen war.

Erst nachdem er seine Fassung wieder gewonnen, vermochte er seinen Weg fortzusetzen.

Er erinnerte sich, daß das Haus des Babu Durjan Saul in Jehan Abad unweit der Dschumna-Moschee lag, und um dasselbe zu erreichen, mußte er den Chandy-Choak oder den offenen Platz vor dem Palast kreuzen. – Es gehörte der verzweifelte Mut des jungen Engländers dazu, um das Wagestück zu unternehmen.

Den Turban tief in das noch immer von Blut, Pulverdampf und Staub geschwärzte Gesicht gedrückt, die Tschoga um sich geschlagen und die Hand am Griff seines Pistols schritt er vorwärts und befand sich bald mitten in dem Gewühl der Straßen.

Ohne erkannt zu werden, ohne ein Abenteuer war der Leutnant glücklich über den Silbermarkt bis in die Gegend der großen Moschee vorgedrungen. Obschon er das Hindostani nur unvollkommen verstand, konnte er aus den um ihn her geführten Gesprächen doch entnehmen, daß die Weißen aus Delhi vertrieben worden, die eingeborenen Truppen sämtlich sich den Empörern angeschlossen hatten und daß von sachkundiger Hand alle Anstalten getroffen wurden, die Stadt des Großmoguls in Verteidigungszustand zu setzen und zum Mittelpunkt der großen Empörung zu machen. Die Tore waren gesperrt, die Wälle und Bastionen mit Schildwachen besetzt, und er sah keine Möglichkeit, mit seinem Schützling die Stadt zu verlassen.

Eine tiefe Entmutigung, ein herber Schreck überfiel ihn, als er sich dem Hause des Babu Durjan Saul nahte und sah, daß dieses von dem Pöbel, wie viele andere Häuser und Paläste, in denen Engländer oder solche gewohnt hatten, die für Freunde der weißen Männer galten, – geplündert und halb zerstört worden war. Mit Bedauern gedachte der Offizier des mutigen jungen Hindumädchens, das so aufopfernd ihm beigestanden, die Geliebte zu retten.

Es blieb ihm jetzt nichts übrig, als zurückzukehren zu seinem Versteck und zu versuchen, unterwegs sich einiger Lebensmittel mit List oder Gewalt zu bemächtigen.

Indem er sich dem westlichen Ende des Chandy-Choak und der dort belegenen schwarzen Moschee nahte, trat er in einer Seitenstraße zu dem offenen Laden eines Bäckers, legte ein Geldstück hin und nahm zwei Brote. Da in diesem Augenblick ein Fackelträger vorbeilief, erkannte jener im Schein dieser Fackel die weiße Hand des Käufers und einen Teil seiner europäischen Bekleidung, der durch die Bewegung des Kaftans sichtbar geworden war.

Mit dem Ruf: »Ein Faringi! Tötet den Kaffir!« eilte er dem Flüchtling nach, und ehe einige Minuten vergangen waren, hefteten sich hundert fanatische Verfolger an die Fersen des Flüchtigen.

Zu kämpfen wäre hier Torheit gewesen – Flucht war das einzige, was retten konnte. Aber das Gewirr dieser so engen Gassen war ihm gänzlich unbekannt und er mußte sich auf sein gutes Glück verlassen, während bei jedem Schritt ihm neue Verfolger zu erwachsen schienen.

Plötzlich sah er in dem matten Dämmerschein der Nacht, daß er in eine Sackgasse geraten war und vor ihm eine Mauer von Mannshöhe seinen Weg versperrte.

Schon hörte er das Geschrei, die Tritte seiner Verfolger dicht hinter sich.

Der Offizier, der bis jetzt die Brote trotz seiner eiligen Flucht mit sich getragen, ließ diese jetzt fallen, legte die Hände auf die Mauer und schwang sich mit einer verzweifelten Anstrengung seiner Muskeln in die Höhe und über die Mauer hinweg, – als seine Verfolger herbeistürmten, war er bereits aus ihrem Bereich, und bei der geringen Sehnenkraft der Hindus vermochte keiner ihm das Kraftstück nachzumachen.

Während sie in das Haus stürzten und einen Eingang zu dem Garten oder Hof suchten, den die Mauer umgab, flog der Offizier über diesen Raum hinweg und schwang sich mit gleicher Kraft und Gewandtheit über die Wand auf der entgegengesetzten Seite. Er befand sich jetzt in einer ziemlich einsamen Gegend, wohin der Lärm der Verfolgung noch nicht gedrungen war, und indem er vorsichtig vorwärts eilte, tonnte er bald sich als der Gefahr glücklich entgangen ansehen, und einen Augenblick ausruhen, um von der gewaltigen Anstrengung zu verschnaufen.

Indem er nach kurzer Erholung seinen Weg fortsetzte, fand er sich zu seiner Freude auf einem der großen Friedhöfe, die sich im Innern der Stadt an beiden Ufern des Kanals bis in die Nähe des Simreh-Palastes hinziehen. Er folgte der Richtung, die er jetzt einzuschlagen hatte, als das Vorüberstreifen einiger menschlichen Schatten zwischen den Bäumen und Gräbern, und das Geheul der Hunde ihm den Zweck in das Gedächtnis rief, zu welchem die Ausgestoßenen des Menschengeschlechts und die herrenlosen Tiere zur Nacht die Stätte der Gestorbenen durchziehen.

Es ist ein Jahrtausende alter religiöser Gebrauch der Hindu, auf den Gräbern ihrer Lieben Speisen und Nahrungsmittel auszusetzen für die Geister, die in der Zwischenzeit der Wandlungen durch das Weltall schweifen.

Die Vorsehung ließ ihn an zwei oder drei Stellen eine Anzahl Kuchen aus Weizenmehl, an einer anderen ein Säckchen mit Reis und verschiedene Früchte finden. Er war glücklicher, als hätte er einen großen Schatz aufgetan – in diesem Augenblick war das Brot mehr für ihn wert, als alle Diamanten Golkondas.

Mit seinen Schätzen beladen, die er sorgfältig sammelte und in das Tuch der Nonne einknotete, machte er sich jetzt auf den Weg, die Verlassene und ihr gemeinsames Asyl wieder zu erreichen. Schon hatte er glücklich die ihn von dem Platz des Simreh Bagh trennenden Straßen durchschritten, als aus dem dunklen Schatten vom Fuß einer der mächtigen Bäume her ein klägliches Stöhnen sein Ohr traf.

Der Gedanke, daß einer seiner unglücklichen Landsleute hier hilflos liegen könne, durchfuhr seine Seele, und er näherte sich entschlossen dem Ort und fragte mit leiser Stimme in schlechtem Hindostani, wer dort sei.

Ein erneuertes Stöhnen antwortete ihm, dann vernahm er zwischen schmerzlichem Wimmern die Worte in englischer Sprache: »Wer du auch seist – Christ oder Hindu! Wenn du auf die Barmherzigkeit deines Gottes hoffst, so ende meine Leiden und töte mich!«

Jede Rücksicht auf seine eigne Sicherheit aus den Augen setzend sprang er auf die Stelle zu, wo die wimmernde Gestalt lag, hob sie empor und trug sie an das Licht des Mondes.

Entsetzlicher Anblick! – diese mit Schmutz und Blut bedeckte Gestalt war ein nacktes Weib – dieser scheußliche, nicht mehr menschenähnliche, der Haut und des Haares beraubte Kopf, es mußte der Viktorias – des schönen, glänzenden Mädchens sein, dessen Rang und Reize noch vor wenig Stunden ihr alle Freuden, allen Glanz des Lebens versprachen.

»Richard! Richard Willougby,« flüsterte die heisere Stimme der Geschändeten, »dich habe ich geliebt, so erbarme du dich mein, da Gott kein Erbarmen für mich hatte. Gib mir das einzige, was du noch geben kannst, den Tod!«

Er weinte laut.

»O wie es brennt – wie heiß – wie glühend! Flammen verzehren mein Gehirn und der Frost bebt durch meine Glieder!« wimmerte das Mädchen. »Barmherziger Himmel – Wasser, Wasser! – Kühlung für diese Glut!«

Der Mann sprang empor – er dachte nicht mehr an sich selbst – nicht an die Geliebte. Er riß den Kaftan von seinen Schultern und hüllte den verstümmelten Leib darein, hob die Unglückliche auf seine Arme und rannte mit ihr quer über den Platz durch Schatten und Mondschein nach der Pforte des Hofes um den Palast der Begum.

Wenige Augenblicke darauf stand der Offizier, ohne daß der Blick eines Spähers oder eines zufälligen Verräters ihn belauscht, atemlos am Eingang des Grabmals, lauschte vorsichtig nach dem Innern und betrat dann mit seiner Bürde die Rotunde.

Er klopfte dreimal an und nannte den Namen der Nonne. Sogleich wurde der Riegel zurückgeschoben und die zierliche Gestalt der Französin erschien in dem dunklen Rahmen.

»Den Heiligen sei Dank, die Sie glücklich zurückgeführt,« sagte das Mädchen. »Ich habe mich fast zu Tode geängstigt über Ihr langes Fortbleiben, Sir, und nur das Gebet war mein Trost!«

An der Wärme ihrer Worte hätte der junge Offizier zu seiner Freude das Gefühl beurteilen können, was ihr Herz erregte, wenn das seine nicht in diesem Augenblick von anderen Empfindungen zu sehr erfüllt gewesen wäre.

»Noch einmal, Marion, muß ich Sie fragen, haben Sie Mut – Mut, etwas Schreckliches zu ertragen?«

Sie erbebte, faßte sich aber bald. »Mit der heiligen Jungfrau Hilfe und – wenn Sie mich nicht verlassen, will ich alles ertragen, was Gott über uns verhängt.«

»Dann bereiten Sie sich auf ein Werk der Barmherzigkeit vor, auf einen erschütternden Anblick – auf ein Leiden ohne Namen! – ich bin nicht allein zurückgekehrt!«

Ein schweres Seufzen vom Sarkophag her bestätigte seine Worte, dann folgten von dem Stöhnen des Schmerzes unterbrochen die Worte: »Wasser! Wasser! Richard Willougby, verlasse mich nicht noch einmal!«

Die Nonne drängte den Offizier zur Seite. »Heilige Ursula! – das ist Viktorias Stimme!«

»Viktoria! liebe, teure Viktoria!« rief die Nonne, – »Gott der Allmächtige hat Ihre Leiden gesehen – seine Gnade wird mit Ihnen sein!« Sie bemühte sich, die Unglückliche in den vom Mondlicht erhellten Raum zu ziehen, als sie plötzlich entsetzt zurückbebte.

Das hautlose Antlitz mit dem blutigen Fleisch, das infolge der Sonnenhitze des Tages bereits an vielen Stellen zu schwären begonnen, starrte ihr gleich einem Medusenhaupt entgegen.

Die Verwundete stieß sie heftig zurück. »Fort, Schlange! Zu all meinem Elend auch deinen Anblick noch! – Du bist es, die er gerettet, um mich den Mördern zu überlassen. Deine Rose! Deine Rose! – Fluch dir und allem, was den Namen Mensch trägt!« Dann sank sie zurück, von den Schmerzen überwältigt. »Hilfe! Hilfe! Ich verbrenne!«

»Hören Sie nicht die Worte der Unglücklichen!« stammelte vernichtet der Offizier. »Der Todesschmerz beraubt sie ihrer Sinne und läßt sie einem Engel fluchen.«

Im nächsten Augenblick schon kniete sie neben der Frau, deren wahnsinniger Schmerz noch soeben den Fluch auf ihr unschuldiges Haupt herabgerufen hatte, und benetzte die entsetzlichen Wunden mit dem klaren Wasser. Das Gefühl der Frische tat der Unglücklichen offenbar wohl und sie ließ alles geduldig mit sich vornehmen, was die Nonne für zweckmäßig hielt, um ihre Leiden zu erleichtern.

Soeur Marie winkte dem Offizier jetzt, sie einige Augenblicke mit der Kranken allein zu lassen. Willougby begriff, daß sie eine Pflicht der Weiblichkeit, der edlen Schamhaftigkeit an ihr zu erfüllen hatte, und er benutzte die Gelegenheit, um die erbeuteten Lebensmittel in dem Minarett in Sicherheit zu bringen und von der Höhe desselben sich zu überzeugen, daß auch kein Verfolger ihre Zufluchtsstätte entdeckt habe und sie bedrohe.

Während der Zeit setzte die junge Nonne ihr Werk der Barmherzigkeit fort.

Plötzlich stürzte Willougby die Treppe des Minaretts herunter – sein ganzes Wesen zeigte die höchste Aufregung, den Schrecken vor einer drohenden Gefahr.

»Um Gottes willen schnell fort von hier, Miß,« flüsterte er, »geschwind in den Turm – Fremde sind vor dem Mausoleum, ich fürchte, sie kommen hierher!« Er sprang auf die Leidende zu, hob sie in seinen Armen auf und eilte mit ihr in das Innere des Minaretts. Marion, mit Geistesgegenwart alles zusammenraffend, was sie verraten konnte, folgte ihm.

Durch die Öffnungen der Galerie konnten sie genügend den Platz vor dem Grabmal übersehen.

Eine Anzahl Sowars hielt zu Pferde vor den Stufen des Mausoleums, die nach außen auf den Platz führten. Der Schein der Fackeln, die fünf oder sechs Fackelträger zwischen ihnen erhoben, erhellte in Verbindung mit dem Mondlicht die Umgebung.

In der Mitte des Halbkreises, den die Krieger bildeten, hielten zwei Reiter.

Es waren der Derwisch Sofi und Tukallah oder Tantia Topi, der Mahratten-Häuptling, der Gumru der Thugs.

Der Sirdar wandte sich um zu den Kriegern.

»Der heilige Mann von den Ufern des Vaters der Ströme, der die Kaaba von Mekka gesehen, den heiligen Stein geküßt hat und von dem Großherrn aller Moslems gesendet ist, damit er unsere Brüder und uns, die wir von Bhudda stammen, von der Herrschaft der Kaffir befreien helfe, er wird mit mir in das Grabmal der Begum eintreten, unser Gebet für das Heil Indiens dort zu verrichten. Daß niemand es wage, der Stätte zu nahen das Gelübde, das wir erfüllen, zu stören! Bei eurem Leben!«

Die beiden Männer schritten die Marmorstufen hinauf zu dem Plateau, das freistehend auf allen Seiten das Mausoleum trug, nachdem jeder von ihnen eine Fackel genommen. – –

Der britische Offizier hatte alle ihre Bewegungen mit den Augen verfolgt. »Kein Laut – keine Regung!« flüsterte er, »die Gefahr ist da – Marion, denken Sie an Ihren Schwur!«

Er glitt, jedes Geräusch vermeidend, die Wendelstiege hinunter und befand sich in einem Augenblick an der inneren Seite der verschlossenen Tür.

Zu gleicher Zeit erschienen der Derwisch und der Mahrattenhäuptling im Eingange des Mausoleums. Der Schein ihrer Fackeln erhellte die Rotunde und spiegelte sich an dem grünen Marmor des Sarkophags.

Willougby konnte deutlich durch die kleine Gitteröffnung der Tür jeden Vorgang im Innern des Mausoleums sehen und die beiden Fremden beobachten.

Der Mahratte steckte seine Fackel in einen Ring an der Mauer und durchforschte mit einem Blick den Raum. Dann ging er geradeswegs auf die Tür des Minaretts zu und legte die Hand auf das Schloß.

Hinter der Tür kauerte der Engländer, die Hand am Drücker seines Revolvers, entschlossen, mit seinem Leben die beiden Frauen zu verteidigen.

Tantiah Topi rüttelte an der Tür und legte das Auge an die Öffnung derselben. Das tiefe Dunkel, welches das Innere des Minaretts erfüllte, und der Widerstand der Tür überzeugten ihn jedoch, daß diese verschlossen und ein Lauscher von dieser Seite nicht zu fürchten sei. Er kehrte zurück nach dem Eingang des Mausoleums. Besser vertraut mit solchen Einrichtungen, als der junge Offizier, beseitigte er leicht das Hindernis, das ihre Schließung verhindert hatte, indem er die Ketten öffnete.

Das Tor drehte sich jetzt leicht in seinen Angeln und wurde von der Hand des Mahratten verschlossen.

Willougby hatte bereits sich überzeugt, daß der geheimnisvolle Besuch des Grabmals durch die beiden Fremden nicht seiner Verfolgung und Entdeckung gelten konnte, sondern einen anderen Zweck haben mußte.

Der Mahratte war zu dem Derwisch zurückgekehrt, der, die Arme übereinandergeschlagen, vor dem Sarkophag stand und diesen in trüben Gedanken versunken betrachtete.

»Es ist Zeit!« sagte der Sirdar.

Der Derwisch fuhr aus seinen Träumen empor. »Einen Augenblick noch, Tukallah,« sprach er. »Bei dem Anblick dieses Grabes, das die Gebeine einer merkwürdigen Frau umschließt, tauchen so manche Gedanken in der Erinnerung auf. Welche seltsame Verbindung von Personen und Namen hat unser Schicksal hier vereint. Der Glaube der Moslem, deren Gewand ich trage, an das Kismet, er ist das einzig Wahre!«

Der Mahratte antwortete nicht, sein Äußeres bewahrte die finstere Gleichgültigkeit, die ihm eigen war.

»Sie war die Freundin,« fuhr der Derwisch fort, – »eine Tradition sagt: eine Zeitlang selbst die Geliebte meines Großoheims, des Generals Ochterlony, dessen Name noch in ganz Indien lebt, dessen Denkmäler seinen Ruhm verkündigen. Seltsames Verhängnis,« fuhr er fort, »das mich zu dem Sarge der Frau führt, deren Enkelin diese Hand getötet haben soll – diese Hand, die so oft in Liebe und Leidenschaft um jenen weißen und schönen Hals geschlungen war, den sie erdrosselt haben soll! Noch liegt der Schleier jener geheimnisvollen und furchtbaren Tat auf meiner Seele. Fluch der Hand, die den Mord vollbracht, der den Namen Ochterlony den Mördern und Empörern zugesellt!«

Der Mahratte sah ihn mit funkelndem Blick an. »So bewahrt Ihr die Rache für den, welcher Lady Savelli, Eure Feindin, getötet?«

»Sie war einst meine Freundin! – Bei diesem Kreuze – Wehe dem Mörder, wenn die Hand Gottes je den Schleier seines Geheimnisses lichtet!«

Der Mahratte wandte sich ab. »Es ist Zeit, daß wir an unser Geschäft gehen. Du hast das Dokument aus der Kiste der Begum?«

»Hier ist es.«

»Und hier ist der Sarkophag, von dem es spricht! Laß uns beginnen.«

»Seltsame Frau,« sagte der Derwisch, indem er ein Stemmeisen und einen Hammer aus seinem Gewande zog. »Lange Jahre die Freundin und Bundesgenossin der Engländer, hat sie den Tag vorausgesehen, an dem Indien sich gegen die Herrschaft der Fremden erheben würde.«

Sein Schlag löste den Mörtel, – nach der Arbeit von etwa einer Viertelstunde, deren Geräusch der Mahratte durch das laute Hersagen von Gebeten übertönte, war die Verbindung gesprengt. Die beiden Männer faßten den Steindeckel des Sarkophags, ein Ruck, – er löste sich und sie hoben ihn ab.

Eine Decke von Asbest verhüllte die Stätte des Moders.

Der Mahratte schlug mit jener Ruhe, welche die Orientalen den Schauern des Grabes gegenüber auszeichnet, das unvergängliche Linnen auseinander – der Schein der beiden Fackeln fiel auf die Leiche.

»Lies das Pergament jetzt noch einmal,« sagte der Mahratte, »es ist nötig, daß wir auf alle Zeichen achten.«

Der Derwisch trocknete seine bleiche Stirn. Dann nahm er ein Pergament aus dem Busen, öffnete es und las es.

»Im Namen des allmächtigen Gottes der Christen, im Namen Allahs, im Namen Brahmas, Wischnus und Schiwas. Ich, Zeeb al Rissah,Zierde ihres Geschlechts, der Beiname, den die Begum von Schah Aulam erhalten hat genannt Sumrih, die Begum von Scherdhana, habe dieses geschrieben am sechsten Tage des Monats Zilkaddé im Jahre 1237 des Hegira und dem 1822sten Jahre nach der Zeitrechnung der Faringi. Da ich fühle, daß ich in die Wandlungen des Paradieses eingehen werde, gedenke ich an das Volk, dem ich angehöre. In fünfmal fünf Jahren nach meinem Tode wird etwas Weißes von den Ufern der heiligen Ströme verschwinden! Wenn der Mann, dem Gott mein Erbe gegeben, dann ein Herz für sein Volk hat, möge er meinen Sarg öffnen. Er wird in meiner linken Hand finden, was helfen mag, Indien seinen eingeborenen Fürsten zurückzugeben; denn es ist nicht gut, daß die Kinder der heißen und der kalten Sonne zusammenwohnen. Möge der Gott der Christen mir verzeihen, was ich für die Söhne des Propheten und Bhuddas, meine Brüder, tue. Betet für die Begum von Sumrih, ihr, die ihr diese Schrift lesen werdet!«

Der Derwisch überwand seinen Widerwillen und löste die Hand der Toten von dem Kruzifix. Ein kleiner goldener Gegenstand fiel heraus.

»Das ist ein Schlüssel – aber wozu führt er, welches Geheimnis soll er uns öffnen?«

»Du hast die Pergamente alle geprüft, die sich in dem Kasten fanden, den der Nena für Dyce Sombre, meinen unglücklichen Mayadar, als Erbe bewahrt hatte?«

»Der Nena selbst, Doktor Walding und ich haben auf das Genaueste die Dokumente gelesen. Außer den Juwelen und den Urkunden der Güter enthielt er nur diese Handschrift der Begum.«

»So müssen wir weiter suchen.« Er prüfte den Schlüssel genau. »Sieh hier!« Er zog aus der Höhlung desselben einen fein gerollten Pergamentstreifen. »Lies!«

»Das Blatt enthält nichts als eine rote Zeichnung. Wenn ich mich nicht täusche, soll es den Umriß dieses Steinsarges darstellen.«

Der Mahratte besah genau das Blatt. »Da ist eine Hand, die nach einer Richtung zeigt. Auf dieser Stelle befindet sich ein Punkt, – laß uns suchen an dem Stein, ob wir ihn finden!«

Mit Hilfe der Fackeln untersuchten beide Männer auf das Genaueste das Grabmal.

»Very well!« rief der Derwisch, »hier ist eine Öffnung, in die der Schlüssel passen muß.«

Es war der erste Ausruf in englischer Sprache, der dem Begleiter Tantiah Topis entschlüpfte, denn bisher hatten beide sich im Gespräch des Hindostani bedient.

Der Sirdar probierte den Schlüssel, er paßte. Nach einigen Versuchen hörte man ein Klappen von Federn, das aus dem Innern des Grabmals zu kommen schien, aber es zeigte sich keinerlei Öffnung, wie die Männer erwartet hatten.

Willougby hielt das Auge an das Gitter gedrückt, damit keine Bewegung ihm entgehen möge, – er war fast ebenso gespannt auf die Entwicklung, wie die Interessierten selber.

Der Derwisch hatte noch einmal die Zeichnung zur Hand genommen und sie geprüft. Plötzlich schien ihm ein Gedanke zu kommen. »Hier ist ein Kreis gezeichnet – das ist's! Laß uns von dieser Seite unsere Kräfte probieren.« Die beiden Männer stemmten ihre Schultern gegen die Seite des oblongen, etwa vier Fuß hohen Piedestals, das den Sarg trug, – ein schnarrendes Geräusch ließ sich hören, der mächtige Steinblock begann sich zu bewegen, drehte sich wie auf einem Zapfen und ließ eine eiserne Falltür zwischen den Stufen des Unterbaues zum Vorschein kommen. Der Mahratte zog den Ring und hob sie in die Höhe. Ein trockener, dumpfer Luftzug strömte aus der Öffnung und drohte einige Augenblicke die Fackeln zu verlöschen.

»Hast du die Lampe bei dir, Tukallah?«

Der Mahratte zog eine kleine eherne Lampe von antiker Form aus seinem Gürtel, öffnete sie und zündete sie an dem Licht der Fackeln an. »Laß uns hinuntersteigen, das Erbe der Begum zu beschauen,« sagte er. »Der Weg ist geöffnet.«

Beide Männer nahmen ihre Handjars zur Hand, dann stieg der Mahratte, die Leuchte hochhaltend, voran die Stufen hinab, welche in die gähnende Öffnung führten; der Derwisch folgte ihm. Der britische Offizier mußte an sich halten, um nicht die Tür seines Verstecks zu öffnen und zu folgen, so groß war die Macht der Versuchung, der Neugier.

Er entschloß sich, zu warten.

Es verging eine Viertelstunde – durch kein Geräusch unterbrochen, als das seiner eigenen Atemzüge.

Dann stahl sich der erste matte Schein der Lampe aus der Tiefe auf die obersten Stufen der geheimen Treppe.

Zugleich fühlte er leise seinen Arm berührt und hörte ängstliche Atemzüge dicht an seinem Ohr.

Er wandte sich um – der schmale, dämmernde Lichtstrahl, der durch die vergitterte Öffnung der Tür fiel, ließ ihn das bleiche Gesicht der Nonne erkennen.

»Um der Heiligen willen – was geht vor, Sir! warum kehren Sie nicht zurück? – ich ängstige mich zu Tode mit ihr allein!«

Er preßte die kleine Hand. »Still, Marion – keinen Laut! Sehen Sie selbst!«

Aus der Tiefe stiegen zuerst der Derwisch, ihm folgend der Mahratte. Jeder von ihnen trug einen anscheinend schweren Beutel von Ziegenleder.

»Laß uns zuerst alles in Ordnung setzen,« sagte der Mahratte, indem er sich gegen den Stein stützte und diesen wieder in seine Fugen drehte – »dann müssen wir beschließen, wie wir den Schatz in Sicherheit bringen.«

»Wir haben hier zwei Lack Rupien in goldenen Mohurs,« meinte der Derwisch, »das wird für die Kosten der Befestigung und andere Ausgaben genügen, während die Babus den Sold der Truppen bezahlen müssen. Laß uns sogleich dem Nena Botschaft senden von dem, was wir gefunden. Der Schatz muß in Sicherheit gebracht werden, um den Zweck zu erfüllen, zu dem die Begum ihn gesammelt. Der Araber mit seiner Praua, der Dhulip Singh befreien half, möge seine Segel nach Delhi spannen, er ist ein Mann, dem man vertrauen kann und er kann unbemerkt das Gold nach Bithoor schaffen; denn ehe der Mond wächst, werden wir die Faringi und ihre Sklaven rings um Delhi haben, und die Habsucht des Königs und seiner Söhne ist groß genug, um dem Besitz dieses Goldes die Freiheit Indiens zu opfern.«

»Du hast recht,« sagte der Mahratte, »das Gold muß in Sicherheit gebracht werden. Tod jedem, dessen unberufenes Späherauge in das Geheimnis dringt.«

»Ich kenne Männer,« sagte finster der Gumru, »die auf einen Wink von mir auf der Schwelle der Tür schlafen werden, und wehe dem Unberufenen, der ihr naht. Es wird sich ein Vorwand finden, einen Posten Tag und Nacht an die Pforte dieses Ortes zu stellen – und der Schlüssel bleibt in unseren Händen.«

Sie schlossen den Mechanismus und legten den Schlüssel wieder in den Sarg: dann hoben sie dessen Steindeckel auf, schoben den abgesprengten Mörtel zur Seite und stellten die Lampe in einen Winkel.

Die Fackeln waren fast niedergebrannt, als sie die schweren Goldbeutel in ihre weiten Gewänder verbargen und sich dem Ausgang nahten.

Willougby hatte von der Unterredung genug begriffen, um die Gefahr zu erkennen, die sie aufs neue bedrohte. Noch war er zu keinem Entschluß gekommen, als die Pforte bereits in ihren Angeln knarrte – ein Augenblick, und sie schloß sich hinter den beiden Männern und man hörte das Knirschen des Schlosses, das seine Riegel vorschob.

»Der heiligen Jungfrau sei Dank,« sprach schwer aufatmend das Mädchen, – »die Gefahr ist vorüber, wir sind gerettet!«

»Unglückliche, du irrst! nur ein Wunder kann uns retten – wir sind lebendig begraben!«


Von allen Seiten strömten jetzt die bewaffneten Horden und Scharen meuterischer Sepoys nach Delhi, sobald der Ruf der Erhebung durch das Land erscholl. Die Umsicht und Tätigkeit des Mannes, der unter dem Namen des Derwisch Sofi bekannt war, unterstützt durch das Ansehen Tantiah Topis, richtete sich hauptsächlich darauf, die Stadt zum Widerstand gegen den täglich erwarteten Angriff der europäischen Truppen fähig zu machen. Indes General Hevitt, anstatt mit den englischen Regimentern von Mirut und den Umballah-Truppen, die größtenteils aus Sikhs und Ghurkas bestanden und daher treu geblieben waren, die Rebellen zu verfolgen und einen Angriff auf Delhi zu unternehmen, sandte erst Botschaft an die Generale Barnard und Anson, den Kommandeur der Armee von Bengalen, und die Zögerung des letzteren, welcher erst wochenlang bemüht war, Truppen bei Kurnaul zusammenzuziehen, ließ den günstigen Augenblick verstreichen und schon nach wenigen Tagen war die Zahl der Aufständischen in Delhi auf zehntausend Mann gestiegen, so daß die Empörung nicht mehr durch einen tapferen Handstreich, sondern nur durch einen Feldzug und eine Belagerung besiegt werden konnte.

Den sämtlichen Truppen wurde ein zweimonatlicher Sold ausgezahlt und die Tagesrationen wurden festgesetzt. Man hatte Überfluß an Geschütz und Munition, da die Arsenale und Magazine, mit Ausnahme des in die Luft gesprengten, mit all ihren Vorräten in die Hände der Empörer gefallen waren. Einen Mangel an Lebensmitteln und Fourage brauchte man gleichfalls nicht zu befürchten, da für jetzt alle Zugänge frei waren, und selbst beim Heranrücken der Briten ihre Macht nicht so stark sein konnte, um die Zufuhr abzuschneiden.

Während auf diese Weise im Innern für die Verteidigung der Stadt gesorgt wurde, durchzogen Abteilungen der Reiter die Gegend, wiegelten die Garnisonen der benachbarten Städte auf, zündeten die Häuser der Europäer an, ermordeten die Steuereinnehmer und raubten aus dem Schatze in Gurgohe 784( )000 Rupien, die sie nach dem Königspalast in Delhi brachten, in dem man bald über 2 Millionen Rupien angehäuft hatte.

Im Innern der Stadt war jetzt eine größere Ordnung und Sicherheit hergestellt, so daß die reichen Kaufleute und Babus, von denen sich viele geflüchtet und verborgen hatten, wieder zum Vorschein kamen und mit ihren Mitteln die Verbreitung der Erhebung unterstützten. Am elften Tage nach der Vertreibung der Engländer aus Delhi versammelte der König die Babus und sie verstanden sich dazu, jedem Soldaten täglich 4 Annahs1 Annah = 12/5 Silbergroschen; der sechzehnte Teil einer Rupie an Sold zu zahlen. Es war jetzt kein Haufen von Empörern mehr, der den Engländern gegenüber stand, es war eine geregelte Armee. – – – – – –

Tantiah Topi und der Derwisch Sofi hatten, um das Geheimnis des Sarkophags sorgfältiger zu bewahren, ihre Wohnung im alten Palast der Begum selbst aufgeschlagen. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hatten sie das Grabmal nicht wieder betreten, aber ein Posten aus der Schar der Thugs hielt Tag und Nacht Wache vor dem verschlossenen Tor des Mausoleums.

Wllougby hatte wohl recht, als er mit der Sperrung der Tür sich und die Seinen lebendig begraben wähnte. Nur im Dunkel der Nacht durften sie wagen, auf der Galerie des Minarett frische Luft zu schöpfen. Die Lebensmittel reichten bei der größten Sparsamkeit nur für etwa acht Tage. Noch immer hofften die Unglücklichen auf ein glückliches Ereignis, auf eine Hilfe von außen – auf Irma und ihren Vater! Die Hitze in dem engen Raum des Minaretts war in dieser Jahreszeit unerträglich, die Luft dumpf und schwül und das Leiden der drei Personen wahrhaft entsetzlich.

Die Leiden der jungen Engländerin überstiegen jede Beschreibung. Infolge der glühenden Hitze begann das seiner Bedeckung entblößte Fleisch zu faulen. Am fünften Tage trat der Brand in die Wunden; der Anblick, den die Kranke bot, war ebenso grauenhaft für das Auge, wie ihre Nähe für die anderen Sinne.

Dennoch verließ die Nonne sie fast keinen Augenblick. – Willougby trug ihr fortwährend Wasser aus der Fontäne des Mausoleums zu. Jedes irgend entbehrliche Stück ihrer Unterkleider hatten beide verwendet, um Kompressen und Binden für die Kranke zu machen.

Der Offizier hatte sich entschlossen, das Geheimnis jener beiden Männer zu verfolgen, in der Hoffnung, dabei vielleicht einen Ausweg aus dem Gefängnis oder irgendeine Hilfe zu entdecken. In einer Nacht, während die Nonne den fieberhaften Schlaf der Kranken bewachte, zündete er mit Pulver die Lampe an, welche der Mahratte in dem Gebäude zurückgelassen.

Obschon er nur unvollkommen hatte beobachten können, gelang es ihm, die Öffnung des Schlosses zwischen den vergoldeten Metallverzierungen zu finden. Zwar fehlte ihm der Schlüssel, als er aber einige kleine Schlüssel, die er bei sich führte, probierte, paßte der eine, und er hörte bei dem Umdrehen dasselbe Geräusch im Innern des Grabmals. Indem er seine Kraft gegen den Stein anwandte, gelang es ihm, diesen in seinen Angeln zu drehen und den unterirdischen Zugang zu öffnen.

Willougby begann die Stufen hinabzuschreiten und zählte deren fünfundvierzig. Die letzte schloß sich an einen Gang, der in gerader Richtung etwa zwanzig Schritte fortführte. An seinem Ende befand sich eine eherne Tür. Der Offizier fand sie unverschlossen und stieß sie auf; er trat in ein rundes kellerartiges Gewölbe, dessen Quaderwände leider keinen anderen Ausgang zeigten.

Rund umher an den Wänden standen offene Kisten, bis an den Rand mit Silbermünzen, silbernen und goldenen Gerätschaften aller Art, oder Beuteln, die nach dem Klange Gold enthielten. Auf einem Steinsitz am anderen Ende des Gewölbes befand sich ein kleiner Koffer, dessen Deckel geöffnet war. Indem er näher trat, blitzte ihm der hundertfache Farbenglanz prächtiger Edelsteine und Geschmeide entgegen.

Inmitten dieser Schätze, deren Wert mindestens vier bis fünf Kronen betragen mußte, glaubte er sich in die Zauberhöhle Aladins versetzt und betrachtete mit einem gewissen Bangen diese Haufen von Gold und Silber, die dazu dienen sollten, das Blut seiner Landsleute zu vergießen.

Nachdem er sich auf das Genaueste an den Wänden überzeugt hatte, daß kein Ausgang weiter vorhanden, beschloß er, umzukehren.

Er füllte seine Taschen mit goldenen Mohurs und indem sein Blick nochmals auf den Juwelenkasten fiel, nahm er eine Agraffe und ein Band von Diamanten und Rubinen, die er für die kostbarsten der Schmucksachen hielt, und steckte sie zu sich.

Hierauf stieg er die Treppe wieder hinauf, drehte den Sarkophag wieder an seine Stelle und vertilgte sorgfältig jede Spur seines Eindringens. –

Er konnte den Frauen die Nutzlosigkeit seines Besuches nicht verhehlen – mit jeder Stunde schwand ihre Hoffnung immer mehr, wurde ihre Lage immer furchtbarer.

Am siebenten Tage ihrer Leiden nahte für die Tochter des Residenten die Erlösung. Seit mehreren Stunden schon war der Schmerz verschwunden – das stete Zeichen des herannahenden Todes nach dem Eintritt des Brandes.

Es war bei dem Scheiden des Tages von der Nacht, als sie flüsternd Schwester Maria bat, den Offizier zu rufen. Beide trugen auf jede Gefahr hin die Sterbende in den Raum der Rotunde und betteten sie auf die harten Stufen des Sarkophags.

»Ich fühle es,« sagte die Kranke, »meine Stunde ist gekommen. Maria, können Sie der Unglücklichen, so unerhört über Menschenkräfte Geprüften, verzeihen, daß sie an Ihnen gefrevelt.«

»Arme, liebe, unglückliche Viktoria,« flüsterte die Nonne, – »dieses Herz hat nur Liebe für Sie, und Gott weiß es, mein Leben wollte ich willig hingeben, wenn ich Ihre Leiden mildern könnte!«

»Richtet mich auf,« bat die Sterbende. »Die Nacht kommt – die furchtbare Nacht! Richard Willougby, liebe sie, liebe sie mit allen Kräften deiner Seele! Möge mein Tod euch die Freiheit und das Glück erkaufen – flieht! flieht dieses Land, das doppelt verflucht ist! – Deine Hand, Richard Willougby, den mein junges böses Herz liebte! – Deine Hand, Maria – die ich so tief unter mir dünkte.« – – –

Sie faßte mit krampfhaftem Zucken um sich – Beide reichten ihr die Hände, die sie zusammenzog und festhielt.

»Seid im Tode gesegnet – – ewig – ewig –«

»Sie hat vollendet – wohl ihr!«

Nur das leise Weinen der jungen Nonne antwortete ihm. Die bis zum letzten Augenblick in gewaltsamer Spannung erhaltenen Nerven fanden Beruhigung in dem so lange unterdrückten Tränenstrom. – – –


Die Tote hatte überstanden – die furchtbarste Prüfung der Überlebenden sollte jetzt erst beginnen!

Am neunten Tage waren die Lebensmittel zu Ende, auch die letzte Krume der Chuppaties war verzehrt. –

An der Leiche der jungen Engländerin, im Angesicht dieses grausigen und entsetzlichen Schicksals hatte der Offizier das junge Mädchen an sein Herz gedrückt und sich selbst und ihr gelobt, mit ihr zu leben oder zu sterben.

Dieser Liebe, diesem Entschluß gegenüber fand die Nonne nicht mehr die Kraft des kalten Widerstrebens, die Erinnerung an das Gelübde, das sie von der Liebe schied.

Sie liebten einander, sie lebten mit einander und waren bereit, mit einander zu sterben.

Dann kam der körperliche Schmerz – der Hunger!

Die Kräfte des jungen Mädchens schwanden, ihr sanftes Auge war bereits matt und unstät.

Sie waren übereingekommen, bis zum nächstfolgenden Abend die Qualen zu ertragen, und wenn bis dahin kein günstiger Zufall eingetreten, mit einander zu sterben. Marion hatte jetzt selbst von ihrem Geliebten verlangt, daß seine Hand ihr den Tod geben solle, um sie der Schmach zu entziehen.

Im Laufe des Tages hatten sie häufig vermehrte Bewegung in der Stadt wahrgenommen, das sachverständige Auge des jungen Soldaten erkannte, daß mit Eifer an den Maßregeln der Verteidigung gearbeitet werde.

Es war an dem Tage eine erdrückende Hitze gewesen, 109 Grad, eine schwüle Luft, welche die Brust belastete und kaum das Atmen den beiden Europäern gestattete. Gegen Abend türmten sich Wolkenberge an der Dschumna herauf und feurige Blitze zischten wie züngelnde Schlangen durch das Dunkel.

Eines jener heftigen Gewitter, wie sie nur die Tropen kennen, zog herauf. Etwa eine Stunde vor seinem Ausbruch, gleich einer dreisten Herausforderung der Donner Gottes, schmetterten Trompeten, Fanfaren und der scharfe Klang der Metallbecken durch die Abendluft, eine Schar von 50 Reitern in reichen orientalischen Gewändern und Waffen kam in Galopp von der Brücke her über den Platz und ritt vor dem Palast der Begum auf. Der Offizier, der trotz seiner verzweifelten Lage und seiner körperlichen Leiden jedes militärische Schauspiel auf das Lebhafteste interessierte, bewunderte die außergewöhnlich gute Haltung dieser Krieger, an deren Spitze sich ein stattlicher, kostbar gekleideter Reiter von soldatischem Aussehen befand. An seiner Seite stand ein Mann in der Tracht eines arabischen Schiffers.

Der Derwisch und der Mahrattenfürst, die am ersten Abend das Mausoleum betreten und den Palast der Begum zu ihrem Wohnsitz genommen, kamen den Fremden am Tor des Palastes entgegen und bewillkommten sie. Dann lagerten sich die Reiter auf dem Hof und im Schutz der großen Hallen, während die Führer sich in das Innere des Gebäudes zurückzogen.

Bei dem Rollen dieser Donnerschläge hatte sich die junge Nonne fest an ihren Gefährten geschmiegt und das junge Paar sich vor dem tobenden Ungewitter in das Innere des Mausoleums geflüchtet.

Plötzlich dünkte es dem geübten Ohr des jungen Soldaten, sich nähernde Stimmen und Schritte zu hören.

Das Schloß der ehernen Pforte des Grabmals rasselte, der Schlüssel drehte sich in demselben und die schweren Flügel öffneten sich.

Der Offizier hatte kaum Zeit gehabt, die Geliebte zu erfassen und mit sich fortzureißen nach dem Innern des Minaretts, wo sie die Treppe hinauf flüchteten.

Es war keine Zeit mehr, die Tür zu verschließen und zu verriegeln, denn schon traten drei Männer in das Innere des Grabmals, und jedes Geräusch hätte ihre Anwesenheit verraten.

Willougby war, nachdem er das Mädchen in Sicherheit gebracht, zu der Tür des Minaretts zurückgekehrt, um zu beobachten. Das Innere des Mausoleums war jetzt erhellt, er konnte die Eingetretenen deutlich erkennen, es waren der Derwisch, der Mahratte und der fremde Krieger, der Anführer der vor kaum einer Stunde eingetroffenen Reiterschar.

Als dieser Mann jetzt im vollen Licht der Fackel erschien, konnte der Engländer keinen Augenblick daran zweifeln, daß jener trotz der orientalischen Kleidung ein Europäer war.

»In diesem Augenblick,« berichtete der Fremde seinen Gefährten in englischer Sprache, »muß Cawnpur bereits in den Händen der Unseren sein und der Nena vor Lucknow stehen.«

»Und warum nicht in Lucknow selbst?« fragte ungestüm der Mahratte. »Die Zahl der Faringi in Audh ist nur gering. Ich hätte mehr von der Tätigkeit des Prinzen erwartet.«

»Das Beispiel Murad Khans hat böse Folgen getragen, die Sikhregimenter erklären sich überall gegen uns. In Benares, Firospur, Agra, Heiderabad und Allahabad werden sie nicht mit uns, sondern gegen uns kämpfen.«

»Der Verräter!« murmelte der Sirdar – »warum hat die Bhawani nicht seine schwarze Seele getroffen!«

Der Derwisch maß mit finsteren Blicken seinen Gefährten. »Es liegt unter diesem Verrat mir ein Geheimnis verborgen, das ich nicht zu enträtseln vermag. Dein eigener Bericht, Tukallah, hat den jungen Mann früher als einen der eifrigsten und kühnsten Anhänger der Sache der Freiheit dargestellt.«

»Ein persönlicher Haß gegen den Nena scheint ihn von uns abwendig zu machen,« meinte der Fremde. »Der Tod oder das Verschwinden seiner Braut, der Tochter der Königin von Lahore, hat seine Gesinnung geändert und uns seinen Arm entzogen.«

»Der Tor glaubt, daß sie Akhbar Jehan, seinem Nebenbuhler, gegeben worden ist, während Schiwa, der große Vernichter, sie aus den Reihen der Lebenden genommen.«

Der Apostat seiner Nation schüttelte besorgt das Haupt. »Indien wäre unser, ehe ein Monat vergangen ist, wenn dieses Unglück nicht geschehen. Ohne die Shiks und Gurkas konnten die Engländer sich nirgends halten. Auch Mahe-Tschund ist seitdem von uns abgefallen.«

»Ich biete dir eine andere, bessere, die rechtmäßige Herrscherin des Audh,« sagte ungestüm der Mahratte. »Die Krieger des Scindia und des Holkar erheben die Waffen gegen die Tyrannen.«

»Ich bürge für sie. Die Rani versammelt bereits die Soldaten von Gwalior unter ihren Fahnen.«

»Und warum,« fragte der Derwisch ernst, »ist Major Maldigri, der Paladin der Rani, in diesem Augenblick nicht an ihrer Seite? Glaubt er uns nicht allein kräftig genug, Delhi zu behaupten?«

Der Ionier, denn dieser war der Fremde, errötete. »Ich bin mit dem Willen des Nena und auf den Befehl der Rani hier,« sagte er stolz, »um die Kriegerschar den Verteidigern Delhis zuzuführen. Der Nena selbst verlangte, daß ich die Krieger begleitete auf die Botschaft, die Ihr ihm gesendet.«

»Wozu der Streit,« rief der Mahratte – »dieser Mann ist uns willkommen, obschon er ein Franke ist. Er wird das, was die Götter uns zum Beistand gegeben, dem Nena sicher zuführen. Laß uns den Eingang öffnen, damit wir ihm zeigen das Erbe der Begum.«

Er trat zu dem Sarkophag und winkte dem Derwisch, ihm zu helfen, den Steindeckel abzuheben.

Der Offizier hinter der Tür des Minaretts erbebte bei dieser Bewegung.

Die beiden Männer hoben den Oberteil des Sarges.

In das Krachen des Donners mischte sich ein schwerer, dröhnender Fall, ein Klang von Stein auf Stein, ein Ausruf des Entsetzens.

Der Sargdeckel war den Händen der Männer bei dem Anblick, der sich ihren Augen bot, entfallen und zerschellte auf den Stufen des Sarkophags.

Ihnen entgegen starrte nicht die vertrocknete Mumie der einstigen Herrin des Palastes, sondern der gräßliche Anblick des Körpers der unglücklichen Tochter des ermordeten Residenten von Delhi.

»Verrat!« schrie der Mahratte – »Fremde sind an diesem Orte gewesen, sie kennen unser Geheimnis! Der Schatz ist gestohlen!«

»Ruhe, Freunde,« klang die Stimme des Irländers – »laßt uns genau untersuchen.« Er hob die Fackel und warf das Auge umher.

»Dort! dort!« schrie er – »die Tür ist offen. Tod dem Spion!«

Ein Schuß blitzte – der Derwisch öffnete die Arme und fiel rücklings über zu Boden.

Der britische Offizier warf die Tür in das Schloß und drehte den Schlüssel. »Wer sich naht, ist des Todes! Nur unsere Leichen sollt ihr haben!«

Eine zweite Kugel pfiff an dem Mahratten vorbei, der nach der Pforte des Mausoleums gesprungen und sie zu öffnen bemüht war.

»Das sind Flüchtlinge – Faringi! Wache herbei!« übertönte seine mächtige Stimme das Brausen des Sturmes und das Rollen des Donners.

Grimaldi, nicht achtend der Gefahr, war zu dem Gefallenen gestürzt, hob ihn empor und schleppte ihn aus der Rotunde. Bei dem Leuchten der Blitze erkannte er, daß der Getroffene die Augen aufschlug – der Wind und der Regen, die in sein Gesicht peitschten, gaben ihm die Besinnung zurück.

»Bist du gefährlich verwundet, Freund?« fragte der Grieche, »das Unglück, das uns in deinem Verlust treffen würde am Beginn des großen Kampfes, wöge schwer!«

Der Sofi tat einen tiefen Atemzug und fuhr mit der Hand nach der Mitte der Brust. »Hier – hier – aber ich hoffe – es geht vorüber – der Panzer hat die Kraft der Kugel gebrochen.«

In der Tat hatte ein Panzerhemd, das er unter den Lumpen des Fakirs auf der Brust trug, ihn geschützt, und nur die Kraft der Kugel, in solcher Nähe abgeschossen, ihn betäubt und zu Boden geworfen.

»Tod den Faringi!« heulte der Sirdar – »stürmt – stürmt! tötet sie!« Mit geschwungenem Handjar trieb er die schaudernden, in ihrem abergläubischen Schrecken widerwilligen Krieger in das Innere des Mausoleums, gegen die Tür des Minaretts.

Hinter derselben – zum äußersten entschlossen – mit der britischen Kaltblütigkeit in der Todesgefahr, stand der junge Offizier und die Kugeln seines Revolvers, von fester Hand gezielt, warfen die beiden vordersten Sepoys nieder.

Der anstürmende Haufe wich bestürzt zurück – ein dritter fiel unter dem Schuß des Offiziers.

Dieser sprang zurück und reichte der Nonne, die hinter dem Steinpfeiler der Wendeltreppe geschützt, ihm nahe war, das abgeschossene Pistol.

»Mut, Maria – nicht ungerächt wollen wir sterben! Versuchen Sie! die Waffe zu laden – hier ist Munition!«

»Geben Sie her, Sir,« sagte das Mädchen, »diese Hand soll nicht zittern in dem Werk – nicht um Menschen zu töten, sondern um Sie zu verteidigen, so lange es Gott gestattet!«

Hätten seine Augen in diesem Augenblick die steinerne Schranke der Mauer, das Dunkel der Nacht durchdringen können, er würde gesehen haben, daß kaum hundert Schritt von der Stelle entfernt, wo er sich mit dem Mut der Verzweiflung schlug, das junge Hindumädchen, an die er soeben gedacht, in Anleitung eines Mannes und einer hohen Frau, die in dichte Schleier gehüllt war, am Fuß einer der riesigen Zedern des Platzes stand und die drei sich eifrig berieten.

Dann, als ob sie einen Entschluß gefaßt, trennte sich der Mann von ihnen und eilte durch den strömenden Regen dem Eingang des Palastes zu. –

Ein vierter Sepoy, durch die Schläfe geschossen, stürzte vor der Tür des Minaretts zusammen, die seine Hand bereits berührt hatte.

Wieder ein Schuß – keine Kugel vergeblich – die Leichen und Verwundeten häuften sich auf den Steinfliesen des Mausoleums – die Tür des Minaretts schien Tod und Verderben zu sprühen.

Tantia Topi heulte vor Wut und trieb mit grimmen Flüchen die Krieger immer auf's neue zum Angriff.

Der Sirdar ließ jetzt ein scharfes Flintenfeuer auf die Öffnung der Tür unterhalten, während zwei starke Krieger, mit Beilen bewaffnet, an den Wänden entlang von diesen geschützt zur Tür drangen und mit gewaltigen Schlägen sie aufzusprengen versuchten.

Der tapfere Engländer mußte die Verteidigung des Eingangs aufgeben, ein Streifschuß hatte ihm bereits die Wange verletzt – es war unmöglich, sich länger hier zu halten – er drängte die Nonne die Stufen der Wendeltreppe hinauf, sorgfältig wachend, daß der Steinpfeiler sie schütze.

Unter den Schlägen der Äxte brach die Tür in Stücke – über sie hinweg drangen die durch den Tod der Ihren entflammten Krieger in den Turm.

Aber den ersten, der die Treppe betrat, warf aus dem Dunkel der Höhe die Kugel des Engländers zu Boden – der zweite fiel auf der dritten Stufe, die er erreicht.

Ein Sepoy, durch den Leib geschossen, wurde von seinen Kameraden aus dem Turm nach dem Ausgang getragen und in der Nähe des Sofi niedergelegt.

»Die bösen Geister sind mit den Kaffirs,« stöhnte der Sterbende – »nur das Feuer ihrer Geschosse sieht man. Eine Zauberin oder ein Weib ist unter ihnen – ich sah ihr weißes Gewand flattern hinter dem Stein!«

Maldigri ließ seinen Gefährten los – ein Gedanke zuckte durch seine Seele.

»Ein Weib, sagst du?« – Haltet ein! haltet ein! – Laßt mich voran!«

Er stürzte durch die Rotunde nach dem Eingang des Minaretts.

»Zurück, Mörder! es ist ein Weib unter ihnen – gebt Pardon!« Er warf die Nächststehenden zur Seite und drang in den Turm, die Stufen hinauf. »Ergebt euch, – ich bin ein Europäer wie ihr, und bürge für euer Leben!«

Das fahle Licht eines Blitzes zeigte ihm in der Tat ein weißes Gewand, aber in demselben Augenblick, streckte sich ein dunkler Arm gegen ihn aus und eine Stimme dröhnte in seine Ohren: »Fluch dem Abtrünnigen! Fluch dem Feinde seiner Landsleute!« und mit dem krachenden Donner vereinte sich der Knall des Schusses.

Der Grieche stürzte rücklings über die blutgetränkten Stufen hinab.

Willougby drängte die Nonne auf die Galerie des Minaretts und sprang ihr nach – hinter ihm fiel die schwere Falltür dröhnend in ihre Fugen. – – –

Durch die Menge vor dem Grabmal stürzte wehklagend ein Mann, der arabische Mantel wehte um seine Schultern. »Einen Hakim! einen Arzt – schafft einen Arzt! zu Hilfe! Kapitän Grimaldi stirbt!«

Ein einziger Aufschrei antwortete ihm – dann flog eine Frau durch die Menge – die Stufen des Grabmals hinauf. »Wo? – wo?« Der Schein der angezündeten Fackel zeigte ihr unter der Säulenhalle einen Mann am Boden ein bleiches Gesicht – brechende Augen – einen Strom von Blut aus der Brust –

»Markos Grimaldi! Ewiger Gott – er stirbt!«

Der Verwundete, das Haupt im Schoß der Frau, schlug die Augen empor – ein Schauer der Freude ging durch seine Glieder, seine Lippen erbebten in dem zitternden Laut:

»Adelaide

»Der Engel von Delhi!« murmelten die Krieger und ihr Kreis wich zurück von der Gruppe. – –

Der Sirdar selbst mit den kühnsten der Ihansi-Reiter, die den Fall ihres Führers rächen wollten, drang in den Turm, den Silberschild, den er einem von ihnen entrissen, schützend über dem Haupt.

Aber kein Schuß fiel mehr – über die Leichen, in dem Blut ihrer Gefährten flogen ihre Füße die Stufen hinauf. Ein Beilhieb sprengte die Falltür, die kräftige Faust des Mahratten warf sie in die Höhe, wutflammend sprang er auf die Plattform der Galerie. –

Die Galerie war leer – kein Raum, daß sich ein Kind darin hätte verbergen können – und dennoch von den Verteidigern des Minaretts keine Spur!

Sie waren verschwunden! – – –


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