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Aspasia

Die zu Pheidias' Zeit herrschten und liebten …

Hölderlin.

1.

Eines Tages spazierte Sokrates, der Erzschulmeister des Altertums, in der Stoa Poikile am Marktplatz oder auch sonstwo im schönen Athen, begleitet von seinen Schülern und Freunden Apollodoros, Antisthenes und Simmias, welche dankbar jedes Wort auffingen, das von den Lippen des nie ermüdenden Pädagogen fiel. Sein gesprächsweise gehaltener Vortrag mochte sich um ästhetische Probleme gedreht haben. Wenigstens macht diese Voraussetzung es erklärlich, daß einer der drei sogenannten Sokratiker dem Meister die Neuigkeit mitteilte, es befände sich dermalen eine Hetäre namens Theodote – zu deutsch »Gottesgabe« – in der Stadt, deren Schönheit zu schildern die Sprache zu schwach sei.

Der Sohn des Sophroniskos und der Phänarete spitzte die Ohren. Er witterte neuen pädagogischen Stoff, an dem er jene redselige Bemutterung üben könnte, welche, sagt man, die arme Xanthippe eines Tages so zur Verzweiflung brachte, daß sie den Inhalt einer gewissen mißduftenden Vase dem ewigen Schulmeister über die Glatze goß. Diese Frau ist ohne Zweifel besser gewesen als ihr von Schulfüchsen zurechtgemachter Ruf, und wenn sie einen Xenophon gefunden, der ihre »Memorabilien« aufgezeichnet hätte, würden wir es begreiflicher und vielleicht sogar verzeihlicher finden, daß die gelangweilten Athener dem »Sohne der Hebamme« zum Dank für seine redlichen Bemühungen, sie mittels seiner Gedankengeburtshelferei zu Bildungsphilistern zu machen, zuletzt den Schierlingsbecher kredenzen ließen. Denn wenigstens in den Denkwürdigkeiten Xenophons erscheint Sokrates als der Nicolai oder Dinter der griechischen Welt, ja geradezu als das Urbild der Bildungsphilisterei, während ihm Platon in seinen Dialogen die Phantasiefülle, die Gedankentiefe und den Adlerfittichschwung der eigenen Seele geliehen hat.

»Ei« – sagte der Weise – »da müssen wir hingehen; denn was zu schildern die Sprache nicht ausreicht, das muß man sehen, um sich davon eine Vorstellung zu bilden.« Und sie gingen zur Behausung der Theodote, welche Behausung sie reich und prächtig eingerichtet und mit einer Anzahl wohlgehaltener Sklavinnen ausgestattet fanden. Die Besitzerin dieser Herrlichkeiten stand gerade einem Maler Modell und verharrte, den sokratischen Besuchern zur Augenweide, ganz unbefangen in dieser Stellung. Nachdem der Künstler für heute Pinsel und Palette weggelegt hatte, ging sofort das Schulmeistern los, indem Sokrates die Frage aufwarf: »Sind wohl wir der Theodote zum Danke verpflichtet, weil sie uns ihre Schönheit sehen ließ; oder aber ist sie es uns, weil wir ihre Reize in Augenschein genommen haben?« Er bewies dann auf dem Wege dialektischer Hebammerei des breiteren, daß die Verpflichtung auf seiten der Hetäre wäre, weil die Betrachter ihrer Schönheit den Wunsch mit hinwegnähmen, wiederzukommen und nicht allein mit den Augen zu genießen. »Beim Zeus!« – bekräftigte Gottesgabe diese Schlußfolgerung – »wenn dem so ist, bin ich euch in der Tat zum Danke verpflichtet.«

Die breitspurige Katechisation, welche der weise Mann hierauf der Hetäre zuteil werden ließ und welche sich um die Mittel drehte, Liebhaber anzulocken, gehört nicht hierher, wo überhaupt durch Erwähnung dieses sokratischen Abenteuers gleich zum Anfang nur ein drastischer Wink gegeben werden wollte, daß es unpassend, an gewisse Seiten des antiken Lebens den Maßstab der modernen Sitte und Sittlichkeit zu legen. Selbst ein Sokrates konnte angesichts seiner Schüler ganz unbefangen mit einer solchen Person wie Theodote verkehren. Man denke sich aber unsern großen Immanuel Kant in das Boudoir einer zeitgenössischen »Gottesgabe« von dieser Sorte versetzt, und der ungeheure Gegensatz von antik und modern, von griechisch und deutsch wird sofort in die Augen springen.

2.

Die Rasse der halb- oder ganznärrischen Philologen und Antiquare, welche an der Sonne des Griechentums schlechterdings keine Flecken wahrnehmen wollten, ist allmählich ausgestorben. Diese Bombalobombaxe Aristophanes, Thesmophor. 48., deren Verstand nirgends saß, wenn nicht in ihrem Sitzfleisch, haben über eins der schwerstwiegenden, wirkungsreichsten Momente und Motive in der Kulturbewegung der Menschheit, über die Stellung der Frauen, was Griechenland betrifft, entweder ganz hinweggesehen oder aber geleugnet, daß die fraulichen Verhältnisse in der griechischen Welt unwürdige gewesen seien. Und doch kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Unwürdigkeit dieser Verhältnisse zum frühzeitigen Verderben und vorzeitigen Verfall des Hellenismus als eine Hauptursache mitgewirkt hat.

Die Geschichte der griechischen Gesellschaft zeigt in dieser Beziehung höchst merkwürdigerweise einen entschiedenen Rückschritt auf, einen Rückschritt vom Edleren und Besseren zum Gemeineren und Schlechteren. Denn im heroischen Zeitalter, wie es in den Homerischen Gesängen seine soziale Abspiegelung gefunden hat, war die Stellung des Weibes ganz unbestreitbar eine höhere und würdigere als zur historischen Zeit. Wie charakteristisch schon die keusche Anmut, womit Homer von den erotischen Genüssen redet – er nennt sie schamhaft die »Werke der goldenen Aphrodite« – während die späteren griechischen Dichter, Komöden, Idylliker, Humoristen und Novellisten geschlechtliche Dinge bekanntlich mit superlativisch-zügelloser Zotenreißerei behandeln, nicht etwa nur, wie man häufig hat behaupten wollen, in »unbefangener Natürlichkeit«, sondern deutlich genug in raffinierter Absichtlichkeit. Beim Homer findet sich auch die holdeste weibliche Gestalt, welche die hellenische Poesie überhaupt geschaffen hat: die phäakische Prinzessin Nausikaa, der nur noch die Antigone des Sophokles zur Seite zu stellen ist. Nicht, was mädchenhafte Frische und Holdseligkeit betrifft, sondern deshalb, weil in der Sophokleischen Schöpfung die griechische Weiblichkeit ihren höchsten ethischen Ausdruck gefunden hat. Das schöne Wort der Tochter des Ödipus: –

»Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!«

ist unbedingt eine edelste Offenbarung hellenischer Fraulichkeit. Sie fand aber ein würdiges Seitenstück auf geschichtlichem Boden. Denn als nach dem Fehlschlag des gegen Sizilien gerichteten Unternehmens die Athener mittels Volksbeschlusses den Alkibiades vorgeblich wegen Gotteslästerung (»Asebie«) – die »Religionsgefahr«, welche ein so beliebtes Hausmittel des modernen Despotismus ist, wurde auch schon von der attischen Demokratie häufig und gern angewandt – zum Tode verurteilt hatten, ließen sie den klüglicherweise Abwesenden noch obendrein durch sämtliche Priester und Priesterinnen der Stadt verfluchen. Aber Theano, die Tochter des Menon von Agraulos, weigerte sich, diesen frommen Befehl zu vollziehen, indem sie das beste Wort sprach, welches, seitdem die Welt steht, aus priesterlichem Munde gekommen ist: – »Ich bin Priesterin geworden, zu segnen, nicht aber, zu fluchen!«

Zur heroischen Zeit war in Hellas das Weib dem Manne ganz entschieden viel mehr als in der historischen. Dafür zeugt, daß in der Welt Homers der später unter den Griechen grassierende Greuel Sodoms ganz unbekannt gewesen. Diese Affenschande der »Knabenliebe«, welche eine Affenschande bleibt, mag Bombalobombax sich noch so sehr bemühen, sokratisierend oder platonisierend darum herumzunebeln, hat das spätere Hellenentum geradezu verpestet. Von der Höherstellung der Frauen in früherer Zeit gibt sodann weiter Zeugnis, daß bei Homer der Freiwerber seine Erwählte durch Entrichtung von Geschenken dem Vater gleichsam abkaufte, während später umgekehrt die Väter ihre Töchter, um sie an den Mann zu bringen, möglichst reich ausstatten mußten. Freilich, auch in jener Vorzeit krankte die griechische Ehe an einem fressenden Krebsschaden, an der Kebsenwirtschaft, welche mit Notwendigkeit aus dem Institut der Sklaverei hervorging. Es mutet uns doch ganz eigen an oder vielmehr es stößt uns widerwärtig ab, wenn wir beim Euripides die Andromache sagen hören:

»O teurer Hektor, dir zulieb' ertrug ich es
Mit heiterm Sinn, wenn Kypris dich verleitete,
Und deiner Kebsen Kindern hab' ich oft die Brust
Gereicht, dir zu ersparen jed' Gefühl von Bitterkeit«.

Gewiß sind diese Worte aus einer Frauenseele voll inniger Liebe und zartester Rücksichtnahme gequollen; aber daß sie trotzdem dem sittlichen Gedanken der Ehe schnurstracks widersprechen, bedarf keines Nachweises. Eine Lebensgefährtin und die »andere Hälfte« des Mannes, eine Hausfrau in unserem Sinne, war die griechische »Oikodespoina«, die rechtmäßige und ebenbürtige Gemahlin, auch zur Homerischen Zeit keineswegs. Die Frauen hatten auch damals zu den Männern hinaufzublicken als zu Wesen höherer Art. Was mußten sich die Gattinnen von den Gatten, die Mütter von den Söhnen sagen und gefallen lassen! Man sehe beispielshalber nur, wie der Prinz von Ithaka mit seiner Mutter Penelopeia umspringt. Auf eine ganz verständige, im Männersaale von ihr gemachte Bemerkung hin kanzelt der »besonnene Jüngling« Telemachos die Mutter also ab:

»Du doch geh' ins Weibergemach, zu besorgen deine Geschäfte,
Spindel und Webstuhl, und den dienenden Weibern gebiete,
Frisch ihre Arbeit zu tun. Das Wort gebührt nur den Männern,
Allen und mir zumeist, weil mein im Hause die Macht ist«. Odyssee I, 356.

Penelopeia gehorcht auf der Stelle und findet das barsche Wort ihres Sohnes noch dazu »sinnig«. Hier haben wir also ganz die orientalisch-rohe, ja brutale Redeweise der Männer gegenüber den Frauen, welche auch in dem christlichen Mythenkreis eingehalten ist. Beim »sanften« Johannes fährt Jesus seine Mutter, welche ihm einfach die Tatsache mitteilt, daß den Hochzeitsgästen zu Kana der Wein ausgegangen sei, mit den Worten an: »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen?« und im Bereiche der christlichen Moral hat der Apostel Paulus den Befehl ausgehen lassen: »Das Weib schweige in der Gesellschaft!« – ein Befehl, welcher den ohnehin schon sattsam zahlreichen Unmöglichkeiten des Christentums noch eine weitere hinzufügte. Im übrigen steht die Art und Weise, wie im Homerischen Zeitalter von und mit den Frauen gesprochen wurde, immerhin turmhoch über der kolossalen Schamlosigkeit und Wegwerfung, womit dies später geschah. Vor alters hatte selbst der Hypochonder Hesiod anerkannt –

»Daß nichts Besseres wahrlich vermag sich der Mann zu erwerben
Als ein tugendlich Weib« …

jetzt aber schrieb der Tragiker Euripides eine ganze Reihe von Stücken wie eigens zu dem Zwecke, die Weiber schlechtzumachen, und schütteten die Komiker einen Wolkenbruch von Schimpf und Zoten über sie aus. Menander, welcher doch gewiß kein Griesgram gewesen, gab geradezu den Rat: –

»Heirate nicht, willst leben du beschwerdelos!«

welche Grobheit freilich schon zum voraus beim Aristophanes witzig abgetrumpft worden war, indem die Chorführerin der »Thesmophoriazusen« die neckischen Anapäste flattern ließ: –

»Wenn ein Weh wir sind, was freit ihr uns denn? Warum, wenn wirklich ein Weh wir?«

Man hat mit Recht bemerkt, daß sich aus den griechischen Dichtern gerade so viele Zeugnisse für wie wider die Frauen sammeln ließen. Aber das ist nichts Entscheidendes; denn solche sich gegenseitig aufhebende Blumenlesen bieten so ziemlich alle Literaturen. Entscheidend dagegen für die sehr untergeordnete Stellung der griechischen Frauen zur historischen Zeit sind Tatsachen, welche selbst der gewandteste Kommentator nicht wegtaschenspielen kann. Von den Spartanerinnen reden wir gar nicht, weil Sparta in Hellas überhaupt niemals die Kultur, sondern stets nur die Barbarei repräsentiert hat, so daß man sich höchlich verwundern müßte, wie die dumme Bewunderung dieser Barbarei jahrhundertelang auf den Schulbänken platzbehalten konnte, wüßte man nicht, daß daselbst auch anderer Nonsens in Hülle und Fülle jahrhundertelang platzbehielt und behält. Schon die lykurgisch-brutale Vorschrift, daß in Sparta die Jungfrauen, gerade wie die Jünglinge, bei festlichen Aufzügen nackt erscheinen, singen, springen und ringen sollten, empört jedes gebildete Gefühl. Die spartanische Frau war rein nur ein Kindererzeugungsinstrument, das eheliche Verhältnis geradezu bestialisch; denn die Bestimmungen Lykurgs machten die Ehe zu einer rationell betriebenen Stuterei.

Aber auch bei den ionischen Griechen, ja selbst im hochgebildeten Athen war das eheliche Verhältnis dem Wesen nach nicht viel anders und besser, obzwar die Formen feiner gewesen sind. Selbst die genialsten Denker von Hellas sahen in dem Weibe ein dem Manne unendlich weit nachstehendes Geschöpf, dessen unbedingte Unterwerfung unter den männlichen Willen ganz naturgemäß, notwendig und gerecht wäre. So der große Idealist Platon, wie der große Realist Aristoteles. Jener dachte sogar vom Weibe ganz entschieden geringer als dieser; denn das Platonische Frauenideal verstieg sich kaum über das Aschenbrödeltum, indem er die Vollkommenheit (»Arete«) einer Gattin mit der eines treuen und anstelligen Sklaven auf die gleiche Linie stellte. Die Aristotelische Ansicht über die Ehe und folglich auch über die Frauen war eine viel würdigere, war überhaupt die edelste, zu welcher der Hellenismus es gebracht hat. »Die Gemeinschaft der anderen Tiere – hat der Stageirit gesagt – hat nur die Fortpflanzung zum Zwecke! Die Menschen dagegen leben mitsammen nicht allein der Erzeugung von Kindern, sondern auch anderer Verhältnisse wegen. Die Aufgaben von Mann und Weib sind verschieden; sie fördern aber einander gegenseitig, indem jedes das ihm Eigentümliche zu einem Gemeinsamen macht, und darum ist in einer solchen Verbindung dem Nützlichen das Angenehme zugesellt«. Hier wäre das Bild einer Ehe gezeichnet, wie sie einem zivilisierten Volke zu- und ansteht. Schade nur, daß es solche Ehen in der griechischen Wirklichkeit gar nicht oder doch nur ausnahmsweise gegeben hat.

Nicht die Frauen trugen die Schuld. Gesetz und Sitte verhinderten sie, irgendwelche soziale Gleichberechtigung mit den Männern zu erlangen. Sie waren all ihr Leben lang rechtlich unmündig, und wie hätten sie auch mündig werden können? Ihre Erziehung war elend, ihre Geistesbildung gleich Null, hauptsächlich infolge der Ausschließung ehrbarer Mädchen und Frauen aus den Gesellschaften der Männer. Das Leben im griechischen, von den übrigen Räumen des Hauses möglichst abgesonderten Weibergemach (»Gynäkonitis«) hatte mit dem in morgenländischen Harems bräuchlichen die bedenklichste Ähnlichkeit. Die Mädchen waren bis zu ihrer Verheiratung vollständig ab- und eingesperrt. Die Heiraten aber wurden von den Vätern der Vermählenden in ganz geschäftsmäßig-prosaischer Weise zurechtgemacht, und in der Regel erblickte der Bräutigam das Antlitz seiner Braut erst in der Hochzeitskammer zum erstenmal unverschleiert. Die Neuvermählte ihrerseits hatte nur die Gynäkonitis des elterlichen Hauses mit der im Hause des Gatten vertauscht, und innerhalb dieses Raumes verfloß fortan ihr Dasein, in dessen Einförmigkeit die Beteiligung an religiösen Feierlichkeiten nur eine spärliche Abwechselung brachte. Möglich, wahrscheinlich sogar, daß dann und wann die engen, geisttötenden Schranken dieser Lebensführung auch von ehrbaren Frauen durchbrochen wurden; aber wo es geschah, blieb die derbe Zurückweisung gewiß nicht aus. Als z. B. im Spätherbst von 431 v. Chr. die Schwester des großen Kimon, Elpenike, sich herausnahm, den Perikles, als er im Kerameikos von der Rednertribüne herabstieg, wo er die schönste aller jemals gehörten Grabreden gehalten hatte, scheltend anzutreten, bedachte sich das Muster eines attischen Gentleman keinen Augenblick, das »versalbte alte Weib« mit einem herben Zitat aus dem Archilochos abzufertigen.

3.

Und doch gab es in Hellas »emanzipierte« Frauenzimmer in Menge, Frauenzimmer, welche die »Emanzipation« ihres Geschlechts auf die äußerste Spitze trieben und, über die Schranken der Sitte und Sittlichkeit lachend hinwegspringend, die freche Botschaft von der Freiheit des Fleisches zu orgiastischer Wirklichkeit machten. Diese außerhalb des Kreises der ehrbaren Mädchen- und Frauenwelt stehenden Damen repräsentierten in der griechischen »Gesellschaft« das weibliche Geschlecht, – eine Tatsache, die schlagend dartut, daß der hellenische Sitten- und Sittlichkeitsbegriff ein wesentlich von dem modernen verschiedener gewesen ist. Freilich darf nicht übersehen werden, daß die moderne »Gesellschaft«, in Wahrheit und Wirklichkeit und alle christlichen Katechismus- und Kanzelphrasen beiseitegelassen, nicht eben viel Ursache hat, mit sittlicher Entrüstung auf die antike herabzusehen. Es mag gar nicht in Anschlag gebracht werden, daß unter »Leuten von Welt« heute wie im Altertum der Maßstab der Duldung und Verachtung, womit Buhlweiber gemessen werden, sich gar sehr nach dem Stand und Rang derselben reguliert. Aber daß die Sünderin Athen in den namenlosen Raffiniertheiten der Ausschweifungskünste im Vergleich mit den Sünderinnen London, Paris, Venedig, Neapel, Neuyork, Berlin und Wien fast nur noch eine Stümperin war, wird kaum zu bestreiten sein. Allerdings, die christliche Heuchelkunst hat gelernt, selbst um Abscheulichstes her einen anständigen Schleier oder gar »Lustre« zu breiten, während die heidnische Fleischeslust offen einhertrat.

Wie jedermann weiß, ist in den Griechen das sinnliche Element so mächtig gewesen, daß selbst ein hochidealischer Platon es für schlechthin unmöglich erklärt hat, den Verkehr von Mann und Weib auf die Ehe einzuschränken. In Athen war die Prostitution eine Staatseinrichtung, welche auf den großen Gesetzgeber Solon, einen der »Sieben Weisen Griechenlands«, als auf ihren Urheber zurückgeführt wurde. Wenn der attische Komöde Philemon dieses Institut ein »volkstümliches und heilbringendes« nannte, so war das keineswegs ironisch gemeint; denn wir wissen, daß in Hellas die Prostitution nicht allein eine polizeiliche, sondern auch – in vollem Ernste gesagt – eine religiöse, eine gottesdienstliche Veranstaltung gewesen ist. Das klingt freilich seltsam in modernen Ohren, ist aber trotzdem eine gar nicht anzuzweifelnde Tatsache, welche sich leicht daraus erklärt, daß die alten Religionen wesentlich Naturreligionen waren.

Der babylonisch-syrische Mylitta-Aschera-Kybele-Kult, der Dienst der großen Naturgöttin, fand seine verblaßte Abschattung in dem griechischen Dienst der Venus Allgemein oder Venus Buhlin. Seine verblaßte Abschattung, weil in Hellas an die Stelle des in Asien von sämtlichen Mädchen und Frauen der großen Göttin dargebrachten Keuschheitsopfers was beweist, daß der »Daker der Geschichte«, wie ein Romantiker sagen würde, schon nicht mehr Naivität genug besaß, den ursprünglichen »tiefreligiösen« Sinn dieser babylonischen Muckerei zu verstehen. Vgl. über den unzüchtigen Aschera-Kybele-Dienst auch zzzttyyyJustinus, histor.zzz/ttyyy XVIII, 5. die Preisgebung der »Hierodulen« getreten war, welche bei jedem Tempel der Liebesgöttin gehalten wurden. Daß die Stellung dieser Tempelsklavinnen durchaus nicht für entehrend galt -- wenigstens noch am Eingange des 5. Jahrhunderts vor Christus nicht -- dafür zeugt, daß der hochernste Pindaros, der Erhabene, es nicht verschmäht hat, in einem anmutigen Skolion den Hierodulen von Korinth seine Huldigung darzubringen und sie anzureden als die »gastlich heiteren Mädchen, welche, des Dienstes der Aphrodite waltend, aufwärts streben im Gemüt zur ewigen Mutter der Liebe«.

Von der Göttin, welcher dieser Kult gestiftet war, von der Aphrodite Hetära, hießen die Venuspriesterinnen im weitesten Sinne des Wortes »Hetären«. Man kann Hetäre übersetzen mit Freundin oder Buhlin – (und zwar das letztere Wort in dem unschuldigeren Sinne genommen, welchen es noch im 16. Jahrhundert hatte) – man darf aber, ohne sich einer Unbilligkeit schuldig zu machen, Hetäre auch kecklich mit einem zwar weniger klassisch, jedoch nicht weniger voll klingenden und noch dazu ebenfalls mit einem Hauchlaute beginnenden Worte verdeutschen … Unter den profanen Buhlinnen nun waren die gemeineren die »Pornä«, welche, weitaus der Mehrzahl nach Sklavinnen, in den Anstalten gehalten wurden, die im Mittelalter »Frauenhäuser«, in Griechenland aber »Porneia« hießen, zu unterscheiden von den – falls das Wort gestattet ist – anständigeren, welche, Freie von Geburt oder Freigelassene, auf eigene Hand mit ihren Reizen und Fertigkeiten wucherten. Auch das singende, klingende und springende Laster, d. h. die Zitherspielerinnen (Kitharistriä), die Flötenbläserinnen (Auletrides) und die Tänzerinnen (Orchestrides) waren in dieser Klasse inbegriffen, deren Mitglieder vorzugsweise, »Hetärä« genannt wurden. Von der Anschauungs- und Denkweise, von dem Tun und Treiben in diesen Kreisen geben eine belebteste Vorstellung die »Hetären-Gespräche«, welche Lukianos geschrieben hat, der geistvolle Humorist, der treffliche Sittenmaler der späteren griechischen Welt. Häufig führt er uns in diesen Dialogen Mütter vor, welche ihre Töchter zur Preisgebung förmlich ermuntern und abrichten, und wir erfahren von ihm auch, daß in den meisten Fällen Armut und Verlassenheit die unglücklichen Geschöpfe ins Verderben trieb – tout comme chez nous. Die Sittengeschichte spielt sich mit derselben Eintönigkeit im ganzen und mit derselben unendlichen Mannigfaltigkeit im einzelnen ab wie die Naturgeschichte, und es dürfte eine Zeit kommen, wo die Geschichtswissenschaft dahin gelangt sein wird, von der Warte höherer Erkenntnis herab die Einheit der Grundgesetze der Natur und der Geschichte, welche wir bislang nur zu ahnen vermögen, klar aufzuzeigen. Bisherige Findungsversuche dieser Einheit sind freilich nicht eben glücklich ausgefallen, weil sie in ihren Berechnungen zwei zusammen eine ungeheure Summe von Kräften darstellende Ziffern übersehen haben: die menschliche Narrheit und die menschliche Leidenschaftlichkeit.

4.

Aus den Reihen der freien Buhlkünstlerinnen sind die »berühmten« Hetären hervorgegangen, Damen, welche in ihrer Erscheinung und in ihren Geschicken die Quintessenz der Hetärie darstellten. Etliche derselben haben es schließlich dazu gebracht, die Gemahlinnen von Königen zu werden; andere dazu, daß ihnen auf öffentliche Kosten Ehrensäulen aufgerichtet wurden. Um das letztere weniger befremdend zu finden, ist es nötig, sich zu erinnern, daß die Griechen vom ionischen Stamme sozusagen ein Volk von Künstlern gewesen sind, in der guten und schlimmen Bedeutung des Wortes. Die griechische Religion war ein Kultus der schönen Form. Sie statuierte die Verehrung alles vollendet Schönen. Die Schönheit war heilig und anbetungswürdig, weil sie die Erscheinungsform der Idee des Göttlichen. Es war – so absonderlich, ja blasphemisch das dem christlichen Mystizismus vorkommen mag und muß – nicht eine Szene der Schamlosigkeit, sondern ein religiöser Akt, als das wandelnde Schönheitswunder, die Hetäre Phryne, eines sonnenhellen Tages beim Poseidonsfest zu Eleusis angesichts des am Meeresufer versammelten Volkes sich entkleidete, ihre gelösten Haare auf Schultern und Hüften niederrollen ließ, und zum Baden in die Flut stieg. Fromme unserer Tage mögen sich darob entsetzen, aber es ist doch so: beim Anblick der badenden Phryne, welche den schönheitsdurstigen Augen der Griechen die Erscheinung der Aphrodite Anadyomene gewährte, hat gewiß viele der Wallfahrer, die zum Poseidonsfest nach Eleusis gekommen, ein nicht weniger inniges Gefühl der Andacht überschauert, als christliche Pilger und Pilgerinnen empfinden, wenn sie nach mühseliger Wallfahrt endlich vor dem Altar stehen, aus dessen Glasschrank ihnen der Totenkopf irgend eines hochverehrten »heiligen Leibes« entgegengrinst. Wie die Sage will, hat die Schönheit der Phryne zu den Aphroditebildern des Malers Apelles und des Bildhauers Praxiteles sowohl die Inspiration als das Muster geliehen. Auch haben die Griechen der Hetäre für ihre Reize vollwichtigen Dank gezollt. Zu Thespiä, ihrer Vaterstadt, ward ihre von Praxiteles geschaffene Porträtstatue aufgestellt; zu Delphi, dem heiligsten Orte Griechenlands, ward ihr gar auf einem Piedestal von pentelischem Marmor eine goldene Statue errichtet. Philosophische Murrköpfe von der Sekte der Kyniker haben sich allerdings über diese Dankbezeigungen nicht wenig aufgeregt.

Aber wie dachten sich denn die Hellenen ein musterschönes Weib? Wir erhaschen davon eine flüchtige Vorstellung in einem Fragment der sittengeschichtlich wichtigen »Hetären-Briefe« des Alkiphron, welcher Schilderer freilich erst zu Anfang des 3. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung geschrieben hat. Alkiphron nämlich preist an der jüngeren (?) Lais, welche der große Maler Apelles zur Buhlkunst erzogen haben soll, »die weder zu magere noch zu üppige, sondern gesundsaftig-schlanke Wohlgestalt: die von Natur gekräuselten, blonden weich und voll auf die Schultern herabfließenden Haare; die schön gerundeten Augen, deren tiefschwarze Sterne im reinsten Weiß schwammen« – und ein Nachtreter Alkiphrons, Aristänetos, weiß zur Ergänzung noch zu sprechen von einer »Brust, welche, kydonischen Äpfeln gleich, im Schwellen das Busenband sprengte und den Malern zum Modell für Helena-Büsten diente«. Einer Überlieferung zufolge war diese jüngere Lais – (oder aber die sogenannte ältere korinthische?) – eine Tochter der Timandra, welche als letzte Geliebte des Alkibiades diesem hellenischen Muster-Roué bis über den Tod hinaus eine rührende Treue bewahrte. Als der genialste, glänzendste und leichtfertigste Athener in dem phrygischen Dorfe, wo er zuletzt mit der Timandra im Exil gelebt hatte, den persischen Meuchelmördern, welche der unversöhnliche Haß der Spartaner auf ihn gehetzt, erlegen war, bis zuletzt eine elegante Heldenfigur, da spendete die Hetäre dem Toten die letzten Liebesdienste. Sie wusch und salbte den Leichnam, hüllte ihn in ihr eigenes bestes Gewand und bestattete ihn »mit liebevollem Eifer«, so feierlich, wie es die Umstände nur immer erlaubten.

Als die älteste der berufenen emanzipierten Schönen von Hellas dürfte aus dem 6. Jahrhundert v. Ehr. namhaft zu machen sein die Rhodopis, von Geburt eine Thrakierin, welche von ihrem Herrn, dem Samier Xanthos, als Buhlsklavin nach Ägypten gebracht, hier aber von Charaxos aus Mitylene, dem Bruder der Dichterin Sappho, freigekauft wurde und große Reichtümer erwarb, da sie, wie der alte Herodot meldet, »voll Liebreiz war«.

Der Boden aber, worauf die berühmtesten Hetären gediehen, war Athen, die schöne »Stadt der Veilchen«, von wo ja überhaupt der höchste Glanz und feinste Duft des Hellenismus ausgegangen ist. Hier hatte die Hetäre Leäna ein Ehrendenkmal in Gestalt einer ehernen Löwin, weil sie, welche die Geliebte des Aristogeiton, des Verschwörers gegen die Tyrannis der Peisistratiden, gewesen, von dem Hippias zu Tode gemartert worden war. Hier »blühten« die aus Sizilien (?) stammende Lais, sowie die um ihrer pikanten Drolligkeit willen gesuchte Myrrhina aus Samos und die bereits erwähnte, der ganzen Zunft für alle Zeit den Charakternamen leihende Phryne aus Thespiä, mit welcher, als sie, der Ketzerei angeklagt, vor dem Schwurgerichte stand, ihr Advokat Hyperides die allbekannte wirksame Busenschleierlüftungsszene aufgeführt hat. Hier auch hörte die Hetäre Lastheneia aus Arkadien die Vorträge Platons und die Leontion die Unterweisungen Epikurs, dessen Lehre sie in einer polemischen Abhandlung voll Geist und logischer Schärfe verteidigt haben soll. Spätere Hetären von Ruf waren geborene Athenerinnen. So Thais, die Buhlin Alexanders des Großen, und Lamia, die Buhlin des Demetrios Poliorketes.

An den Namen der Thais knüpfte sich, falls dem Plutarch zu glauben ist, eine vielbeschriebene und vielbesungene Episode des tatsächlichen Heldengedichtes der Laufbahn des Makedoniers, so recht ein flammendes Stück Romantik mitten im antiken Dasein. Es war eine schwüle Schwelgenacht, als Alexander unter dem goldenen Baldachin des Prachtthrons der Achämeniden zu Persepolis einer Orgie seiner Vertrauten vorsaß. Des Weines lustige Geister waren entfesselt und rumorten gewaltig. Auch unter der Schädeldecke der Thais; denn die geleerte Goldschale niedersetzend, rief sie mit hochglühenden Wangen und funkelnden Augen in das Getöse des Bacchanals hinein und zu ihrem königlichen Liebhaber empor die geflügelten Worte: »Viel fürwahr hab' ich ausgestanden auf dieser langen Fahrt durch Asien. Doch für alles entschädigt mich, daß ich heute mitschwelgen darf in Persias stolzer Königsburg. Freilich, größere Wonne noch wär' es mir, nach diesem Gelage die Brandfackel zu schleudern in den Palast des Xerxes, welcher dereinst meine geliebte Vaterstadt Athen verbrannt hat, zur Rache für Athen, zur Rache für Hellas!« Auftaumelt der trunkene Held, daß ihm der Kranz von Rosen und Eppich vom Haupt auf die Schulter niedergleitet, und auftaumelt die ganze berauschte Tafelrunde. Die tollschöne Buhlerin drückt dem König die brennende Fackel in die Hand. Er stürmt hinaus, alle ihm nach, sprühende Fackeln schwingend, und unter wildem Gejauchze wirft er und werfen sie alle die Glut in das Zederngebälk der Galerien des Schlosses, an dessen Erbauung und Ausschmückung die persischen Großkönige die Schätze Asiens verschwendet hatten.

5.

»Perikles, des Xanthippos Sohn, zu seiner Zeit der Erste unter den Athenern, ein Mann, ebenso redemächtig wie tatengewaltig«. Also hat Thukydides in seiner mit ehernem Griffel auf Granit schreibenden Weise den herrlichen Demagogen bündig gekennzeichnet. Der große Bürger, dessen Mission es war, die attische Demokratie zu ihrer Sonnenhöhe emporzuführen, stammte bekanntlich aus einem der edelsten Geschlechter seiner Vaterstadt. Seine Mutter Agariste, eine Enkelin des Kleisthenes, welcher die Tyrannis der Peisistratiden gebrochen hatte, träumte, als sie schwanger ging, sie würde einen Löwen gebären, und wenige Tage darauf gebar sie den Perikles. Einen rechten Mannlöwen also, welcher das Griechentum vollendete, indem er in seiner Persönlichkeit das hellenische Menschenideal verwirklichte.

Das hellenische, wohlverstanden! Denn selbst ein vollkommener Grieche blieb immer Grieche oder vielmehr Athener, Thebaner, Spartaner. Zur Erfassung der Idee der Menschheit, zum Gedanken des Weltbürgertums hat der Hellenismus niemals sich erhoben. Nur in des makedonischen Alexanders Seele dämmerte ein Ahnungsstrahl von der universalen Tendenz des Menschengeschlechts auf, zu verwirklichen mittels Ausgießung des hellenischen Geistes über alle Welt. Aber in der mazedonischen Epoche war das echte Griechentum schon im Welken. Als es in seinem Vollsaft und in seiner Hochblüte stand, also in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus, da hatte es nicht einmal einen nationalen, geschweige einen universalen Charakter, sondern ganz wesentlich einen lokalen.

Freilich, der Lokalpatriotismus, womit ein Perikles, der Freund des Anaxagoras und des Pheidias, sein geliebtes Athen zur Perle der alten Welt machte, war ein anderer als der eines Premierministers von Flachsenfingen oder eines Bürgermeisters von Krähwinkel oder eines Stadtverordneten von Kuhschnappel. Der Hellenismus oder vielmehr Attizismus ist weit genug gewesen, daß innerhalb seiner Schranken der Perikleische Genius die demokratische Staatsidee zu einem hohen, lichten, harmonisch schönen Bau zu gestalten vermochte, in dessen Hallen die Athener als ein empfängliches und strebsames Künstlervolk des heiteren Daseins sich erfreuen sollten. Von Dauer allerdings konnte dieser Bau nicht sein. Denn Edles und Schönes hat der gemeine Sinn der Menschen allzeit nicht lange ertragen; aber mit Dummem, Häßlichem und Schlechtem schleppen sie sich geduldig jahrhunderte- und jahrtausendelang. Darum heißt groß denken, begeistert fühlen, die Wahrheit suchen und sagen, die Gerechtigkeit lieben und das Unrecht hassen unglücklich sein. Wehe dem, der kein Brett vor der Stirne hat, wie es, so oder anders angestrichen, die ungeheure Mehrzahl der »Ebenbilder Gottes« trägt. Wehe dem, der um eines Hauptes Länge über das Maß der » aurea mediocritas« wegragt und nicht beizeiten die Heuchelkunst gelernt hat, mittels Biegsam- und Beugsamkeit des Rückgrats in den ordinären Schwarm sich niederzuducken. Jede Ausnahme ist eine Beleidigung für die Regel: die Regel aber beherrscht die Welt. Seid gewöhnlich oder tut wenigstens so! lautet der erste und – einzige Grundsatz, welchen Väter, denen das »gute Fortkommen« ihrer Söhne und Töchter am Herzen liegt, denselben einprägen sollten …

Perikles war kein glücklicher Mann und konnte kein solcher sein. Denn er war groß, und sein edler Stolz verschmähte es, das drückende Gefühl seiner Größe aus neidischen Pöbelseelen fortzuschmeicheln. Der unvergleichliche Volksführer, dessen vorschauende Genialität erst nach seinem Tode recht erkannt wurde, ist weit davon entfernt gewesen, ein Volkshöfling zu sein. Thukydides, sein Zeitgenosse, welcher bekanntlich kein Demokrat war, hat diese Tugend dem Meister der Demokratie ausdrücklich zuerkannt. Er nennt den Perikles »mächtig durch Weisheit und Charakterwürde, ganz unzweifelhaft aller Bestechlichkeit unzugänglich, mit Freimut die Menge in Schranken haltend, nicht vom Volke geleitet, sondern dasselbe leitend, weil nicht durch schlechte Mittel die Gewalt erbuhlend.« Der Historiker rundet dann das Charakterbild, welches er von dem größten Bürger und Staatsmann Athens entwirft, mit den Worten ab: »Also hatte dem Namen nach eine Volksherrschaft statt, in der Tat aber die Herrschaft des ersten Mannes«. So war es und so wird es immer sein. Eine rousseausche Demokratie existiert bloß in Büchern und in Hohlschädeln. Das Unglück ist nur, daß »erste« Männer von perikleischem Metall seltenste Naturwunder sind.

Der große Athener war nicht glücklich in seinen vier Pfählen, falls dieser deutsch-schneckenhäusliche Begriff überhaupt auf einen Hellenen von damals Anwendung finden kann. Dem Manne, welcher von der Rednerbühne der Pnyx herab mit dem souveränen Herrscherstab seines Wortes die Wogen der Demokratie schwellen machte oder sänftigte, dem Politiker, welchem Platon, der sonst nicht eben sein Freund war, eine »majestätische Intelligenz« zuschreibt, dem Admiral und General, welcher die attischen Flotten und Heere siegreich befehligte, dem Patrioten mit der Künstlerseele, welcher seiner geliebten Veilchenstadt das Prachtgewand edelster Kunstschöpfungen antat, ihm war nicht gelungen, was der deutsche Dichter den »großen Wurf« des Daseins genannt hat. Allerdings im griechischen Sinne war die Ehe das nicht; allein reinmenschlichen Verhältnissen wohnt eine Macht inne, welche über Gesetz, Brauch und Gewohnheit weit hinwegreicht und immer wieder Geltung sich verschafft.

Perikles hatte als junger Mann eine jener Konvenienzehen eingegangen, wie sie unter den besitzenden und gebildeten Klassen seiner Vaterstadt üblich waren. Seine Gattin war eine nahe Verwandte von ihm und entweder die Witwe oder die geschiedene Frau eines gewissen Hipponikos. Sie gebar dem späteren Lenker des attischen Staats zwei Söhne, Xanthippos und Paralos. Beide haben ihrem Vater großen Kummer gemacht: der ältere, welcher ein Verschwender und Wüstling war, durch sein Leben; der jüngere, geliebtere, durch seinen Tod. Das Verhältnis der beiden Gatten scheint in keiner Weise über die Richtschnur kalter Konvenienz hinausgegangen zu sein. Frostig hatten sie sich zusammengetan, frostig trennten sie sich, als, wie unsere Quelle charakteristisch sich ausdrückt, ihr Zusammenleben nicht mehr »behaglich« war Τῆς συμβιώσεως οὐκ οὐσης αὐτοτς ἀρεστῆς Plutarch, Perikles, 24. Dieses Kapitel der Plutarchischen Biographie ist die Hauptquelle unseres Wissens von den häuslichen Verhältnissen des Perikles und von seinem Verhältnis zur Aspasia. Ich brauche nicht zu sagen, daß wir das ganze Kapitel Plutarchs gerne hingäben, so es dem Thukydides beliebt hätte, etliche Worte über dieses Thema zu sprechen.. Gesetzliche Ehescheidungen machten sich im damaligen Athen kaum weniger leicht als zur Direktorialzeit in Paris, und die von Perikles Geschiedene – ihr Name wird uns nicht genannt – nahm sofort wieder einen anderen Mann oder wurde vielmehr, genauer gesprochen, von ihrem bisherigen Eheherrn »mit ihrer Zustimmung« einem anderen übergeben, während Perikles seinerseits »die Aspasia nahm, welcher er mit größter Zärtlichkeit zugetan war.« Und um diese Liebe als etwas ganz Außerordentliches zu kennzeichnen, fügt Plutarch hinzu, der große Staatsmann sei nie nach der Agora (d. h. an seine Geschäfte) gegangen und niemals von dort nach Hause gekommen, ohne der Aspasia zum Abschied und Willkomm einen Kuß zu geben … Keine Frage demnach, der Keil, welcher die erste Ehe des Perikles getrennt hatte, hieß Aspasia; aber ebensowenig kann es einem Zweifel unterstellt werden, daß einem Perikles eine so innige und dauernde Leidenschaft einflößen, kein gewöhnliches Weib sein hieß.

6.

Woher nun und wer war diese Aspasia, deren Name wohl als der berühmteste Frauenname uns aus der antiken Welt überliefert ist? Sie war aus Milet und sie war eine Hetäre. Schon der Umstand, daß sie eine Milesierin, gab ihr ein bedenkliches Relief; denn die kleinasiatisch-ionische Stadt Milet galt damals mit Fug für die Hochschule der Ausschweifung, gerade wie Rom im 1., 2., 3. und 4., Byzanz im 6., Venedig im 17., Paris im 18. und London im 19. Jahrhundert dafür galten und gelten. In Milet, der Stadt der Wollüste par excellence, dem Obergymnasium der Buhlkunst, der Heimat tribadischer Greuel, dem Lieblingsschauplatz auch einer lasziven Novellistik, war die schöne »Willkommene«, »Begrüßte«, »Umarmte«, »Geküßte«, »Liebe« oder »Geliebte« – das alles bedeutet der Name Aspasia – geboren und ausgewachsen. Die schöne Willkommene, denn daß sie schön gewesen, muß als selbstverständlich angenommen werden, obzwar eine Schilderung ihrer Schönheit nicht auf uns gekommen ist.

Als ihr Vater wird ein gewisser Achioxos genannt, als ihr Vorbild und ihre Lehrerin in den Künsten der Hetärie ihre Landsmännin Thargelia, welche voll Schönheit, Grazie und Wohlredenheit war und eine »Diplomatin im Unterrock« heißen müßte, falls die Ionierinnen Unterröcke getragen hätten. Sie machte nämlich mittels ihrer Reize und Gunsterweisungen unter den kleinasiatischen Griechen Propaganda für den Perserkönig. Auch als Philosophin wird sie namhaft gemacht, und zwar zugleich mit der Diotima und der Aspasia. Wenigstens in der Philosophie des Heiratens scheint sie sehr beschlagen gewesen zu sein; denn sie hatte, die Liebhaber nicht mitgezählt, nach und nach vierzehn Männer und heiratete zuletzt noch – Ende gut, alles gut – den König Antiochus von Thessalien. Vom hetärischen Standpunkt angesehen, war demnach diese Lehrmeisterin sicherlich eine vortreffliche, und ihre Schülerin hat dann auch den genossenen Unterricht ausgezeichnet zu verwerten gewußt.

Wann und unter welchen Umständen Aspasia nach Athen gekommen, hierüber ist Genaueres nicht bekannt. Falls dem Plutarch zu trauen – und es ist nicht abzusehen, warum ihm gerade hier nicht zu trauen sein sollte, während man doch anderwärts sein Zeugnis gelten läßt – hielt Aspasia in der Veilchenstadt ein öffentliches Haus, eine Hetärenschule, was selbst der genannte griechische Zeuge ein »nicht gerade anständiges und würdiges Gewerbe« zu nennen sich gedrungen fühlt. Trotzdem verkehrten die feinsten Gentlemen Athens, die angesehensten Philosophen, die erlauchtesten Künstler, die einflußreichsten Staatsmänner viel und gern im Hause Aspasias. So Sokrates, so Perikles. Jener hat sich geradezu als einen Schüler der schönen und genialischen Frau bekannt in der Kunst, zu lieben, und in der Kunst, zu reden. Sie scheint im Kreise ihrer Freunde förmliche Musterreden gehalten zu haben. Wenigstens läßt, wie bekannt, Platon in einem seiner Dialoge den Sokrates sagen, er habe die Aspasia eine Preisgrabrede auf die in der Schlacht gefallenen Athener halten gehört, und an derselben Stelle bemerkt »der Menschen Weisester«, man »dürfe sich nicht wundern, wenn er in der Redekunst etwas zu leisten sich getraue, da er ja in dieser Kunst den Unterricht einer trefflichen Lehrerin genossen, welche viele ausgezeichnete Redner gebildet habe und unter diesen den ausgezeichnetsten, den Perikles«. Allerdings wird dies in scherzhaftem Tone gesagt; aber es ist ganz jener »sokratische« Scherzton, welcher es liebte, auch das Ernsteste ironisch anzuhauchen.

Aspasias Gebaren und Gespräch muß von unwiderstehlicher Anmut gewesen sein, und nicht nur auf die Männer, sondern auch auf die Frauen gewirkt haben. Denn wenn wir aus dem Plutarch erfahren, daß die Freunde der hochgebildeten und graziösen Emanzipierten in die Gesellschaft derselben ihre rechtmäßigen Ehefrauen mitnahmen, so darf daraus mit Sicherheit geschlossen werden, daß die guten Athenerinnen in dieser Gesellschaft sich behagt haben müssen, weil sie sich sonst gewiß nicht dahin hätten mitnehmen, mitzwingen lassen; denn

»Von allem das Unbezwinglichste ist das Weib –«

hat Euripides gesagt, des Geschlechtes genauer Kenner, und Grazienschweinigel Aristophanes bezeugt uns schon durch den einen Vers:

»Sie drillen noch die Männer, gerade wie allzeit –«

daß seine Landsmänninnen es trotz alledem nicht übel verstanden haben müssen, ihre Eheherren unter dem Pantoffel, will sagen unter der Sandale, zu halten.

Fassen wir den Inhalt der leider sehr dünnen und dürftigen Nachrichten zusammen, welche über Aspasia aus dem Altertum uns überkommen sind und für authentisch gelten dürfen, so ergibt sich als Summe, daß in der glänzendsten Kulturperiode Athens die Symposien im Hause dieser Frau die schönste Geselligkeitsblüte des Griechentums dargestellt haben. An dieser Tafelrunde – die Tafel war freilich nicht rund, sondern dreischenklig – lagen Perikles, Anaxagoras, Sokrates, Pheidias, Dämon, Iktinos, Koroibos und Mnesikles. Hier gesellte sich der attischen Philosophie die Erinnerung an die Lyrik des Alkäos und des Anakreon. Hier mögen die Gäste, ihre Stirnen mit Violen, Myrten und Rosen bekränzt, aus heiteren Gesprächen über Dichter- und Künstlerwerke zur Betrachtung der ernstesten Staatssachen übergegangen sein und dann in patriotischem Aufschwunge wohl nicht selten zu den Klängen der Phorminx das heroische Skolion des Kallistratos:

»Tragen will ich in Myrtengrün mein Schlachtschwert
Gleich Harmodios und Aristogeiton« –

angestimmt haben. Hier hat wohl der junge Alkibiades, ein Bacchus an Jugendschöne, die mit funkelndem Chier gefüllte Kylix erhebend, dem gegenüberliegenden Sohne des Sophroniskos schalkhaft den Vers des Bakchylides zugerufen:

»O süße Macht, die steigt aus dem Becher herauf!«

und hier flügelten die »Pädisken« Aspasias auf einen Wink der Herrin unter Begleitung lydischen Flötengetöns gewiß manchmal den Gebethymnus Sapphos zur Aphrodite empor:

»Thronumprangte, göttliche Kythereia,
Kind des Zeus, Listkundige, dich beschwör' ich,
Beuge nicht mit quälender Angst und Trauer,
Hehre, das Herz mir!«

7.

Aber, wie das immer und überall menschliches Los, das Dasein kehrte nicht allein seine Helle, sondern auch und noch häufiger seine dunkle Seite dem Dache zu, unter welches der Vollender des attischen Staatsbaus die geliebte Milesierin als seine Hausgenossin führte. Denn als die Folge einer innigen Herzensneigung faßten schon die Alten dieses Verhältnis. Da jedoch zwischen dem attischen Vollbürger Perikles und der Nichtathenerin Aspasia ein ebenbürtiges Ehebündnis nicht statthaben konnte, so ließ sich – in unserer Weise zu reden – der große Staatsmann die anmutige, an Sinn und Geist ihm wahlverwandte Frau zur linken Hand antrauen. Aspasia lebte also in seinem Hause nicht etwa in der Stellung einer » femme entretenue«, sondern als tatsächliche Hausherrin. Sie gebar dem Perikles einen Sohn, sie verstand und pflegte seinen Genius, sie wußte seine Entwürfe zu werten und teilte seine Sorgen, sie war seine Zuflucht und sein Trost, und es ist wohl anzunehmen, das Zusammenleben dieses gleichgenialen Menschenpaares habe den höchsten Höhepunkt des Verhältnisses von Mann und Weib dargestellt, zu welchem das Griechentum überhaupt es gebracht hat.

Der Ruf der Milesierin, welcher unter anderen Vorzügen auch ein bei Frauen seltenster nachgerühmt wurde: politischer Sinn und Verstand – flog weit in die Welt und fand selbst im Palast des Großkönigs zu Susa anerkennenden Widerhall. Während jedoch, wie erzählt wird, dort der jüngere Kyros aus Achtung vor der Geliebten des attischen Staatslenkers seiner Favoritodaliske den Namen Aspasia beilegte, war die Eigentümerin dieses Namens daheim in Athen ein Gegenstand, an welchem die attische Rede-, Schreib- und Bühnefreiheit die ganze Zügellosigkeit ihrer Spottsucht und Lästerwut ausließ. Pöbelgemeinheit und Parteihaß schossen ihre giftigsten Pfeile auf Aspasia, wohl wissend, daß sie damit dem großen Staatsmann, der mit ruhiger Würde das Geziefer und Gewürm, welches seine Bahn besudelte und seine Schritte hemmen wollte, unter die Füße trat, schmerzende Wunden beibrachten. Weil seine Feinde ihm die Spottnamen Zeus und Herakles gaben, wurde die Frau, welche er liebte und achtete, als eine Hera, Omphale und Dejanira verhöhnt. Und es blieb nicht etwa bei solchen Anspielungen. Schalt doch der Lustspieldichter Kratinos von der Bühne herab Aspasia »die geilbrünstige Metze mit dem Hundeblick« – vielleicht dem Perikles ins Angesicht, ob welcher superlativischen Oppositionsmacherei uns von Kindheit auf kläglich zusammenregierten Menschen des 19. Jahrhunderts die Haare zu Berge stehen oder wenigstens von Rechts wegen zu Berge stehen sollten.

Die Heftigkeit des Hasses, welchen Aspasia erregte, bezeugt unwiderlegbar, wie sehr sie an Geist und Charakter unter ihren Zeitgenossen vorragte. Ihre Gegner verschmähten selbst die tollsten Erfindungen und abgeschmacktesten Lügen nicht, um sie beim Volke anzuschwärzen und verhaßt zu machen. So beschuldigte man sie, den Samischen sowohl als den Peloponnesischen Krieg angezettelt zu haben. Aristophanes, welcher sich bekanntlich den Anschein gab, als Kämpe für die »konservativen Interessen«, als Verherrlicher der »guten alten frommen« Zeit aufzutreten, während ihm in Wahrheit die gute alte fromme Zeit und die konservativen Interessen, wie alles, aber auch gar alles andere, Himmel und Erde, Kirche und Staat, Mann und Weib, nur Gegenstände einer geistreichen Eulenspiegelei und graziösen Schweinigelei gewesen sind, – Aristophanes hat dem Kitzel nicht widerstehen mögen, noch in seiner Komödie »Die Acharner«, welche zuerst im Jahre 425 v. Chr., also vier Jahre nach dem Tode des Perikles, aufgeführt wurde, das Andenken des größten Atheners zu beschmutzen, indem er nach dessen Grabhügel am Kerameikos den Lügenkotwurf tat:

»Es stahlen junge Kerle, die zu stark
Gebechert, die Simaitha weg, die Metze
Aus Megara; in brünstigem Knoblauchschmerz
Entführten drauf die Megarer zwei H–etären
Aspasias. So brach das Kriegsgewitter
In Hellas los um dreier Metzen willen.
Denn zornvoll schmiß Olympier Perikles
Mit Blitz und Donner Hellas durcheinander« Aristophanes, Acharn. 524 ff..

Der Ernst des Thukydides hat es selbstverständlich verschmäht, da, wo er von den Ursachen des unseligen Peloponnesischen Krieges redet, von dieser aristophanisch-poetischen Lizenz, von diesem feindseligen Klatsch auch nur als von Klatsch Notiz zu nehmen. Nicht weniger selbstverständlich ist jedoch, daß ein in dem angegebenen Stile beharrlich betriebenes Klatschen, Verlästern und Verleumden dem Lenker des attischen Staatshaushalts bedeutenden Schaden zufügen mußte, indem dadurch sein Ansehen bei seinen Mitbürgern – und darin bestand seine Macht – zeitweilig bedrohlichst untergraben wurde. Daß dies geschah und geschehen konnte, ist ganz in der Ordnung gewesen; denn allzeit wollte und will das Volk belogen und wollte und will die Menschheit betrogen sein.

Nachdem, wie die Feinde des Perikles rechneten, Lüge und Spott den Boden gehörig zubereitet hatten, schritten sie weiter gegen ihn vor. Jedoch immer noch auf Umwegen, wie das eben die Kriegsweise der Niedertracht überall war, ist und sein wird. Man wollte ihn zunächst in seinen Freunden, dann in seiner Frau treffen, um den hierdurch Geschwächten schließlich leichter fällen zu können. Der erste Stoß richtete sich gegen den Kunstheros Pheidias, welchen die Athener, wenn die Völker nicht noch undankbarer wären als die Fürsten, hätten auf den Händen tragen müssen. Beschuldigt, einen Teil des Goldes, welches ihm zur Schaffung des Mantels der Pallas Parthenos geliefert worden, unterschlagen zu haben, erwies er augenfälligst die freche Nichtigkeit der Beschuldigung. Nun mußte die Pfafferei aushelfen, welche ja, vom Urbeginn der menschlichen Dummheit an, der menschlichen Bosheit stets die wirksamsten Waffen geliefert hat. Unter den Schildfiguren derselben Pheidiasschen Pallas entdeckte nämlich der Späherblick des Hasses zwei, deren eine die Züge des Perikles, deren andere die des Pheidias trug oder zu tragen schien. »Tempelschändung! Gotteslästerung! Religionsgefahr!« Der herrliche Künstler ward ins Gefängnis geworfen und starb, bevor der Prozeß zu Ende, am Herzeleid. Dieser Ring war also aus der Kette Perikleischen Daseins glücklich gesprengt. Man versuchte es mit einem zweiten und dritten. Ein schlauer und galliger Pfäffling, Diopeithes, welcher auf dem Kalbsfell des Köhlerglaubens den Religionsgefahrwirbel vortrefflich zu trommeln verstand, setzte in der Volksversammlung den Beschluß durch, daß von der Staatsreligion abweichende Meinungen als »Staatsverbrechen« verfolgt werden sollten. Man sieht, die Pfaffen waren, sind und werden sein allzeit und überall dieselben; sowie, daß es nur ein von überstiegenen Philhellenen verbreiteter und aufrechterhaltener Irrtum ist, die Inquisition sei eine spezifisch christliche Erfindung. Die Griechen und insbesondere die Athener betätigten ihren religiösen Eifer sehr gern mittels Ketzerprozeduren. Die Erfindung, die Ketzer » ad majorem dei gloriam« lebendig zu verbrennen, blieb jedoch den Priestern der »Religion der Liebe« vorbehalten …

Auf Grund des erwähnten, vom souveränen Volksunverstand bewilligten Ketzergesetzes wurden zunächst zwei der vertrautesten Freunde des großen Staatsmannes, der Musiker Damon und der Philosoph Anaxagoras, als »Atheisten« verklagt. Der erstere kam mit Verbannung davon; aber dem greisen Denker vermochte Perikles nur mit äußerster Anstrengung das Leben zu retten, ohne ihm das Exil ersparen zu können.

Nach diesen Vorübungen ging die Partei, für welche perikleische Genialität und Hoheit ein Ärgernis und Hindernis war – eine aus verstockten Junkern, giftigen Pfaffen und übelriechenden Maultrommeldemokraten bestehende Partei – keck daran, den verhaßten Mann ins Herz zu treffen. Ein obskurer Komödienschreiber, Hermippos, belangte, sekundiert von dem schon genannten Diopeithes, die Aspasia vor dem Geschworenengericht, und zwar lautete die Anklage auf Ketzerei (»Asebeia«) und auf Verkuppelung ehrbarer Frauen an den Perikles. Der letztere Anklagepunkt war sehr schlau aus den geselligen Zusammenkünften herauskalkuliert, welche im Perikleischen Hause stattfanden, wobei Aspasia die Honneurs machte und woran, wie wir sahen, dem attischen Brauch entgegen auch nichthetärische Frauen teilnahmen. Die Milesierin oder vielmehr Perikles hatte einen harten Stand. Er, der Schöpfer von Athens Größe, Macht und Pracht, er, der von einem ebenso starken als gerechten Selbstgefühl getragen war, mußte sich, um die teure Frau zu retten, dazu erniedrigen, die Geschworenen mit flehentlichen Bitten, mit heißen Tränen zu bestürmen, um einen auf Freisprechung lautenden Wahrspruch zu erlangen. Wie muß er also dieses Weib geliebt haben!

Jetzt trieb man die gegen ihn angelegte Mine bis zu seinen Füßen vor und ließ sie springen, indem man ihn, welchen Thukydides einen »Unbestechlichen« genannt hat, mit gewundenen Worten einer Veruntreuung der massenhaft durch seine Hände gegangenen Staatsgelder anklagte. Er wies die Frechheit siegreich zurück; aber alle diese gegen ihn gebohrten und gesprengten Minen hatten seine Stellung doch so erschüttert, daß er gewiß nicht ungern sah, wie gerade zur Zeit der gegen ihn betriebenen Verfolgungen das attische Staatsschiff rasch und immer rascher dem Kriege mit Sparta zutrieb, einem Krieg auf Leben und Tod. Damit, durfte er hoffen, würden Zustände eintreten, welche die Athener erkennen lassen müßten, was sie eigentlich an ihm hätten, und würden Aufgaben zu bewältigen sein, durch deren Größe die Mittelmäßigkeit und das Lumpentum einstweilen in ihre Schlupfwinkel zurückgeschreckt werden könnten. Diese Hoffnung täuschte den Trefflichen nicht. Denn obzwar der Wankelmut der Menge später seinen Feinden noch einmal zu einem nicht ganz erfolglosen Angriffe Raum gab, so wurde er doch von seinen Mitbürgern immer wieder als der zur Führung des Staatsruders »tüchtigste Mann« anerkannt.

Bald jedoch trat den in die sechziger Jahre Eingetretenen der Tod an, da er den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges nur um zwei Jahre und sechs Monate überlebte. Seine letzten Tage sind sehr trübe und kummervoll gewesen. Im Sommer von 430 v. Chr. brach in Athen jene Pest aus, die mit zu den furchtbarsten Erscheinungen in der Krankheitsgeschichte des Menschengeschlechts gehört. Sie wütete auch in der Familie des Perikles, indem sie zuvörderst seinen ältesten Sohn, dann seine Schwester wegraffte, der er, wie es scheint, sehr zugetan gewesen. Auch liebste und anhänglichste Freunde starben um ihn her. Noch trug er aufrechten Hauptes die schwere Last der Zeit, als Staatsmann und Strateg die Hand fest am Steuerruder. Da raffte die Seuche ihm auch seinen inniggeliebten Sohn Paralos weg, und dieser Schlag drang ihm ins innerste Mark. Als er, der, wie Plutarch bezeugt, die edle Fassung eines hohen Geistes und die stille Würde einer großen Seele niemals verlor, dem toten Paralos den Kranz von Zypressenzweigen um die bleichen Schläfen legte, da ist dem unglücklichen Vater das Herz in der Brust gequollen, und ein Strom von Tränen entstürzte seinen Augen. Kurz darauf hat er sich selbst zum Sterben hingelegt (429). Freunden, welche ihn besuchen kamen, wies er mit wehmütig-ironischem Lächeln ein Zauberamulett, welches wohlmeinende Frauen aus seiner Verwandtschaft ihm umgehängt hätten. So sei er herabgekommen, er, der frei, klar und hoch Denkende. Als aber, während er zu schlummern schien, die Freunde seine glänzenden Verdienste und Erfolge priesen, sagte er plötzlich: »Ihr rühmt mir Dinge nach, die anderen auch gelungen sind und an welchen das Glück einen großen Anteil hat. Aber von dem Größten und Schönsten, was ich getan, sagt ihr nichts. Es ist dies: – niemals mußte durch meine Schuld ein Athener Trauer tragen.«

Also starb er, edelstes Selbstlob auf den Lippen, und als er tot war, da merkten alsbald seine Mitbürger, was sie an ihm gehabt und verloren … Eines solchen Mannes, eines in seiner Art geradezu einzigen Mannes Witwe – denn das war Aspasia im Sinne des Hingegangenen – hätte es wohl geziemt, durch Treue das Andenken des großen Toten zu ehren, und es ist nach unserm Gefühl der häßlichste Makel an der Gestalt der Milesierin, daß sie nach dem Tode des größten Atheners mit dem Schafhändler Lysikles gelebt hat. Zwar wird uns gesagt, sie habe diesen Mann zu einem bedeutendsten herangebildet; aber ein Perikles und ein Schafhändler – welcher Kontrast! Möglich freilich, daß Aspasia arm war, und gewiß, daß nach griechischer Anschauung die Lebenden nicht dem Tode, sondern dem Leben angehörten.


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