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Der Dede Sultan

Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreißigsten Jahre!
Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogne ein Schelm.

Goethe.

1.

Leid und Lust, Weh und Wonne. Zwischen diesen Gegenpolen bewegt sich die große Täuschung, genannt Menschenleben, wenn dieses ein vorwiegend glückliches ist. Denn auch der Glückliche hat seinen reichlich zugemessenen Anteil vom Unheil alles Erdendaseins zu tragen. Diesen Fluch zu leugnen oder gar für Segen auszugeben, ist Taschenspielerei. Die ganze Weltgeschichte ist nur eine Verneinung solcher armseligen Lüge. Zwar steht im Havamal der Edda geschrieben:

»Ganz unglücklich ist keiner,
Ist er gleich nicht gesund:
Einer hat an Söhnen Segen,
Einer an Freunden Freude.
Einer an vielem Gut Gefallen,
Einer an tüchtigem Tun –«

aber es steht auch tausendfältig geschrieben und ist millionenfältig erlebt, daß nie und nirgends ein Ganz-Glücklicher gefunden worden auf Erden. Höchstes Glück ist überhaupt nur traumhafte Ahnung. Mit der scheinbaren Verwirklichung dieser Ahnung beginnt auch die Enttäuschung, welche die Wonne in Wehe wendet. Unvergleichlich schön hat Burns das gedankenschnelle Vorüberzucken des Glücksblitzes geschildert Aber die Lust, sie gleicht dem Mohn:
Berührt kaum, fällt die Blume schon!
Dem Schnee auch, der ins Wasser dort
Weißschimmernd sinkt, doch schmilzt sofort;
Dem Schein des Nordlichts wohl sie gleicht,
Das, eh' du's recht gesehn, erbleicht;
Oder des Regenbogens Pracht,
Hinweggewischt von Sturmesnacht.
.

Mit einem Schmerzensschrei begrüßen wir das Dasein, mit einem Schmerzgestöhn sagen wir ihm Lebewohl. Als das unbehilflichste aller Geschöpfe entwindet man uns dem Mutterschoße, als unnützen Wurmfraß birgt man uns schließlich im Erdenschoß. Alles Glück, welches zwischen diesen beiden Vorkommnissen liegen kann, ist nicht einmal die Pein des Zähnebekommens und Zähneverlierens wert. Das haben die wahrhaften Weisen aller Zeiten wohl gewußt. Von jenem indischen Jogi, welcher im qualvollen Vollbewußtsein des Weltschmerzes zuerst die furchtbare Wahrheit: »Leben ist leiden!« ausgesprochen hat, spannt sich bis auf unsere Tage herab eine ununterbrochene Kette von Denkern und Dichtern, von Sehern und Propheten, welche für diese Wahrheit Zeugnis ablegten. Kein erlauchter Träger des Genius, welcher nicht einen Ring dieser Kette bildete.

Ein Hauch von tiefer Trauer liegt auf den edelsten Schöpfungen des Menschengeistes: auf den Meisterwerken der hellenischen Skulptur wie auf den Domkolossen des Mittelalters. Es ist derselbe »Schmerz der Kreatur«, welcher auf den Brauen von Michelangelos Propheten und Sibyllen wuchtet, die Augen von Raffaels Madonnen umschleiert, aus Beethovens Sinfonien grollt, im Hiob wütet und im Parzival grübelt. Beim Homer wie beim Firdusi und beim Nibelungendichter, beim Äschylus und Sophokles wie beim Alfieri und Schiller lautet der Grundton »Leben ist leiden«. Dantes Zorn über die Pein, Mensch zu sein, rast hinter dem Gitter seiner Terzinen wie ein Leu in seinem Käfig. Als Summe von Shakespeares Poesie ergibt sich eine erhabene Gleichgültigkeit. Das Lachen von Aristophanes, Rabelais, Cervantes und Swift ist nur ein Verzweiflungslachen über das dumme Welträtsel und die Nichtswürdigkeit der Menschen. Jedes sehende Auge erkennt die tiefe Schwermut zwischen den Zeilen von Platons Dialogen, wie zwischen denen von Kants Kritik der reinen Vernunft. Wenn der gramverzerrte Hellene Theognis als der Weisheit letzten Schluß fand: »Gar nicht sein, das wäre dem Erdgeborenen das Beste« – so bekannte Goethe, der Glückliche, der Lebensfreudige vor allen, als das Gesamtresultat des Daseins: »Wir alle leiden am Leben.« Einer der besseren Römer, Lukan, meinte, höchstes Menschenglück sei, mit Anstand zu sterben, und der tiefsinnigste katholische Dichter, Calderon, suchte sich über den Jammer des Daseins dadurch hinwegzuhelfen, daß er die Idee des Buddhismus ins Katholische übersetzte und Welt und Leben für Schatten und Schein, für eine Schaumblase, für ein schlechtes Gedicht und für einen dummen Traum ausgab:

Was ist Leben? Hohler Schaum!
Ein Gedicht, ein Schatten kaum!
Wenig kann das Glück uns geben,
Nur ein Traum ist unser Leben
Und die Träume selbst sind Traum.«

Schon recht. Wäre nur der »Schaum« nicht so kaltnässend, das »Gedicht« nicht so zudringlich wirklich, der »Schatten« nicht so greifbar leibhaft und der »Traum« nicht so alpschwer! Der alte Sallust hat gelegentlich achselzuckend die Bemerkung gemacht: » Facies totius nogotii varia, incerta, foeda atque miserabilis« (das Bild jedes Unternehmens ist schwankend, ungewiß, scheußlich und jämmerlich) – aber das Negotium, die schwere Arbeit des Daseins, will und muß getan sein, weil eben uns armen Teufeln von Menschen allen der »Wille zum Leben« eingeboren ist. Vor Schopenhauer hieß dieser philosophische Begriff einfach der Magen. Der menschliche Witz wird ja bekanntlich nie müde, gemeinen Dingen vornehme Namen zu geben. Am weitesten aber hat es darin doch wohl die Gauner-, Banditen- und Hurenbande des zweiten Empire gebracht, indem sie dem Bartholomäustag von 1851, dem 4. Dezember, allwo sie die große Boulevardschlächterei verübte, die prunkende Etikette »Gesellschaftsrettung« aufklebte. Sie durfte es; denn sie wußte, daß, je größer ihr Frevel, um so größer auch der Beifall von seiten der menschlichen Niedertracht sein würde. Die Bartholomäusnacht von 1572 begrüßte der »Statthalter Christi« mit einer Kanonensalve der Engelsburg, den Bartholomäustag von 1851 begrüßte das ganze offizielle Europa mit jubelnden Beifallssalven. Die kleinen Diebe hängt man jetzt nicht mehr; man füttert sie vielmehr auf Kosten der ehrlichen Leute; aber die größten, so man etwa mal einen in Sedan fängt, ja, die logiert man möglichst bequem und behaglich, möglichst prächtig und üppig auf Wilhelmshöhen ein, damit sie sich fernerweit in kaiserlichem Stil ihres Lebens erfreuen können, während drunten in der Ebene die Weiber, die Witwen und Waisen der braven Einfänger vielleicht am Hungertuche nagen. Gerechtigkeit, dein Wesen ist Wahn und dein Name Wind.

2.

Der Widerspruch gegen die Organisation der Gesellschaft ist bekanntlich so alt wie diese selbst. Der Satan des persisch-jüdisch-christlichen Mythus war der erste Kritiker des Systems patriarchalischen Absolutismus, der Kain der hebräischen Paradiessage eine Art von vorsintflutlichem Babeuf. Wir dürfen mit Bestimmtheit annehmen, daß schon in vorhistorischer Zeit, in fernabliegenden verschollenen Jahrtausenden Zornschreie der Verzweiflung über das grelle Mißverhältnis von Recht und Glück, von Verdienst und Erfolg, von Ideal und Wirklichkeit, kurz über das ganze Elend der Menschheit aus heiß pulsierenden Menschenherzen zum tauben Himmel emporgestiegen seien, wie einen solchen Zornschrei auch der arme Lamartine in besseren Tagen in seiner Seele gefunden und herausgeschleudert hat »La vertu succombant sous l'audace impunie,
L'imposture en honneur, la vérité bannie;
L'errante liberté
Aux dieux vivants du monde offerte en sacrifice;
Et la force partout fondant de l'injustice
Le règne illimité!
La fortune toujours du parti des grands crimes,
Les forfaits couronnés devenus légitimes,
La gloire au prix du sang;
Les enfants héritant l'iniquité des pères,
Et le siècle qui meurt racontant ses misères
Au siècle renaissant.«
. Freilich ist seine Empörung akademisch glatt und niedlich, verglichen mit den Felsbergen von Flüchen, welche König Lear titanisch gen Himmel türmt. In Shakespeares »Timon« vollends rast die wilde Jagd des Pessimismus zügel- und bügellos einher. Kein moderner Poet hat aber, wie mir scheint, den Jammer der Armen und Unterdrückten in ergreifenderen Lauten sprechen oder vielmehr weinen lassen als der Kleinrusse Taras Grigoriewicz Szewczenko Vgl. J. G. Obrist: T. G. Szewczenko, ein kleinruss. Dichter, 1870. S. bes. die beiden Dumken »Die Lilie« (S. 44) und »Die Rusalka« (S. 51). Szewczenko wurde als Leibeigener 1814 geboren und starb nach einem Dasein voll Mißgeschick 1861.. Seine Poesie, in der schwermutsvollen Molltonart der slawischen Volksdichtung gehalten, birgt ein verzehrendes Zornfeuer, wie die Wolke den Blitz …

Jahrtausende schon, bevor Rousseau seine hochberedsame, aber, wie heute wohl kein Wissender mehr bestreiten wird, auf dem Treibsande falscher Voraussetzungen aufgebaute Deklamation » Sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes« losließ und damit zu einer unabsehbaren sozialistischen Literatur den Anstoß gab, hat das Übel der Ungleichheit unter den Menschen religiöse Phantasten und philosophische Träumer lebhaft beschäftigt. Von den ältesten Zeiten bis zur gegenwärtigen Stunde hat es nie an feinfühlenden, warmherzigen Menschen gefehlt, welche die traurige Tatsache, daß Glück und Unglück, Arbeit und Genuß ihren Mitmenschen keineswegs immer nach Verdienst zugemessen werden, nicht rasten und ruhen ließ. Die Gesellschaft, so, wie sie war, erschien ihnen nur als ein abscheuliches Zerrbild dessen, was sie eigentlich sein sollte. Nämlich sein sollte dem Ideal zufolge, welches sie in der Brust trugen. Sie wähnten, nur die Selbstsucht der Starken, der Glücklichen, der Reichen, der Bevorrechtigten wäre schuld daran, daß es Schwache, Unglückliche, Arme und Rechtlose gäbe. Sie glaubten die Gleichheit dekretieren zu können, indem sie der eisernen Praxis des Lebens das Spinnengewebe einer wohlwollenden Theorie entgegenstellten. Sie übersahen oder wollten übersehen, daß die Natur selbst mit jener unerbittlich grausamen Logik, welches ihr erstes und ewiges Attribut ist, die Tatsache der Ungleichheit gesetzt hat und festhält. Die Ungleichheit ist ein Naturgesetz so gut wie irgendeins. Die schädlichen Wirkungen von Naturgesetzen vermag man einigermaßen zu mildern, wie man ja z. B. dem Blitze sozusagen seinen Weg vorzeichnen kann; aber die Naturgesetze aufheben kann kein Gott und kein Mensch. Solange die Menschheit existiert, wird es schöne und häßliche, gerade und krumme, starke und schwache, gesunde und kranke, gescheite und dumme, fleißige und faule, sparsame und verschwenderische, ehrbare und liederliche, ehrliche und gaunerische, tugendhafte und frevlerische, reiche und arme, edle und gemeine, großdenkende und kleinrechnende, geistig schaffende und mechanisch hantierende, führende und folgende, gebietende und gehorchende Menschen geben. Eine kommunistische Schablonenmenschheit oder Menschheitschablone ist nur ein Narrenwahn, die menschliche »Bruderschaft« ein nicht einmal im kleinsten Kreise dauerhaft zu verwirklichender Bummelwitz, das Zukunftparadies, das Millennium der Freiheit und Gleichheit, des Friedens und der Freude entweder ein Traum wohlwollender Toren oder ein Kaleidoskop für große Kinder oder endlich ein Köder, welchen Gauner auslegen, um Gimpel damit zu fangen.

Bedürfte es zu den unzähligen Beweisen, die die Geschichte für die Tatsache beibringt, daß die Menschenbruderliebe allzeit nur eine Lügenphrase war und demnach auch allzeit nur eine solche sein wird, noch weiterer, das Jahr 1870 würde sie liefern. Im Sankt Peter arbeitete die »ökumenische« Flüchespritze, um all die lieben »Menschenbrüder«, welche nicht an den alleinseligmachenden Humbug der »Unfehlbarkeit« glauben wollen, mit giftiger Jauche zu überschütten, und die, ihrem kläglich dummen Dünkel zufolge, »stets an der Spitze der Zivilisation marschierende grande nation« ließ sich wie ein wohldressierter Bluthund auf ihre Nachbarin hetzen, damit auf den blutdampfenden Walstätten des Deutsch-Französischen Krieges wieder einmal recht handgreiflich-entsetzlich offenbar würde, wes Wesens die vielgepriesene moderne Zivilisation eigentlich wäre. Falls Vorhersagungen über das Endschicksal der Menschheit nicht überhaupt müßige Spielereien wären, so hätte man vollauf Grund, zu meinen, das Ende aller Dinge werde keineswegs ein Geßnersches Idyll sein, sondern vielmehr ein Byronsches Nachtstück, wie solches der große Dichterlord in seiner furchtbaren Vision » Darkness« mit Höllenfarben gemalt hat …

Die praktischen Versuche, das Übel der naturgesetzlichen Ungleichheit unter den Menschen mittels kommunistischer Gesetzgebungen oder Einrichtungen aufzuheben, sind von ältester Zeit bis auf die jüngste entweder kläglich gescheitert, oder sie haben beklagenswerte, geradezu bestialisierende Wirkungen gehabt. Wo sie einen zeitweiligen Schein von Erfolg erzielten, waren sie nicht etwa auf Vernunftschlüsse und Humanität, sondern vielmehr auf den albernsten religiösen Fanatismus basiert. So haben z. B. die »Rappisten« in der kommunistischen Kolonie Harmony in den Vereinigten Staaten allerdings ein ungeheures Gemeinvermögen angehamstert, aber um welchen Preis? Um diesen, daß sie auf Befehl ihres Papstes Rapp zur Naturwidrigkeit der Möncherei zurückkehrten, der Ehe entsagten und Manustupranten wurden. Das Ende der ganzen Herrlichkeit war, daß zuletzt nur noch etliche halb oder ganz blödsinnige Greise durch die öden Gassen von Harmony wankten.

Der Kommunismus muß vermöge der ihm innewohnenden zwingenden Logik überall und allzeit zur Vernichtung der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung, wie zur Vernichtung der Ehe und folglich zur Zerstörung der Familie schreiten. Er kann sich dieser Konsequenz gar nicht entziehen: darum ist er geradeso wesentlich antisozial, kulturfeindlich, mittelmäßigkeitsüchtig und tyrannisch, wie das Christentum in der Jugendfrische seines Fanatismus gewesen und, wo immer es ernstlich-dogmatisch genommen wird, bis zur Stunde geblieben ist. Vernichtet die Persönlichkeit, entwurzelt den Trieb und Drang des menschlichen Ich, sich auf sich selbst zu stellen, sich Bahn zu brechen mittels eigener Kraft in dem ruhelosen Kampf ums Dasein, sich so oder so hervorzutun vor seinen Mitkämpfern und sein Glück selber zu schmieden, drückt die Individualitäten platt unter der bleierndummen Gleichheitwalze, zerreißt durch Aufhebung der Ehe und Vernichtung der Familie die innigsten Bande, welche die Menschen aneinanderknüpfen und dem Unsinn des Lebens wenigstens einen Schein von Sinn verleihen, verwandelt die Gesellschaft in die Staatszwangsarbeiterkaserne, wie sie euer Feist Lasal – die humanitären Phrasen und jesuitischen Mentalreservationen abgerechnet – euch vorgeschwindelt hat, und

»Gebt nur erst acht, die Bestialität
Wird sich gar herrlich offenbaren.«

Sie wird sich offenbaren. Denn wo und wann hätte es jemals einen höheren oder tieferen, einen höchsten oder tiefsten Blödsinn gegeben, welcher nicht seinen Verlauf haben wollte und nicht wirklich hatte? Dem Aberwitz wohnt eine dämonische Macht und Gewalt inne, gegen welche mit Vernunftgründen geradesowenig an- und aufzukommen ist, wie mit papierenen »Menschenrechten« gegen wohlbediente Kanonen und rücksichtslos gehandhabte Bajonette.

3.

Erleuchtetste Geister wie unklarste Schwärmer haben sich von jeher abgemüht, das unselige Sphinxrätsel, das »soziale Problem«, zu lösen. Der älteste historisch bekannte Versuch, eine theoretische Lösung in die Praxis des Lebens zu übertragen, ist, wie jedermann weiß, die mosaische Gesetzgebung gewesen. Vom kommunistischen Prinzip ausgehend und es streng durchführend, hat sie das mit kannibalischer Grausamkeit seinen rechtlichen Besitzern geraubte Kanaan unter die zwölf Stämme Israel so verteilt, daß jedem Stamme und jeder Familie ein bestimmter Teil des Bodens in gleichen Losen zugewiesen wurde. Der jüdische Gesetzgeber wußte freilich sehr wohl, daß diese Gleichheit des Besitzes unmöglich eine dauernde sein könnte; aber er traf Vorsorge, die im Verlaufe der Zeit naturgemäß einreißende Ungleichheit immer wieder aufzuheben. Zu diesem Zwecke setzte er das sogenannte Jubeljahr (»Schenat Hajjobel«) ein, das von fünfzig zu fünfzig Jahren wiederkehrte und am »Versöhnungstage« (am 10. des 7. Monats) unter Posaunenschall feierlich durch das ganze Land ausgerufen wurde. Beim Propheten Ezechiel (46, 17) heißt das Jubeljahr das Jahr der Freiheit, der Befreiung. Mit Fug. Denn mit der Wiederkehr desselben wurden alle Sklaven und Sklavinnen israelitischer Herkunft ohne alle Entschädigung der Besitzer frei, die veräußerten Grundstücke fielen an den ursprünglichen Besitzer oder dessen rechtmäßige Erben zurück, alle Schuldtitel erloschen, und sogar die Erde sollte an dieser Erneuerung und Wiedergeburt der Gesellschaft teilhaben, indem ja während des Jubeljahres alle Feldarbeit ruhen mußte.

Wie weit haben es nun die Juden mit dieser kommunistischen Gesellschaftsverfassung gebracht? Dazu, daß ihre Geschichte eine der grausigsten ist, welche gedacht werden können, und daß sie, den energischen Ausdruck des römischen Historikers zu gebrauchen, »zum Abscheu des Menschengeschlechts« wurden.

Einen Staatskommunismus zu gründen und aufrechtzuerhalten, unternahm auch die der kretischen nachgebildete und um 810 v. Chr. eingeführte lykurgisch-spartanische Verfassung, welche aber, wohlverstanden! zu gründen und aufrechtzuerhalten nur möglich war auf der Grundlage des Helotentums, d. h. der grausamen Sklaverei der Mehrheit der Bevölkerung. Was hat aber dieser von gelehrten Dummköpfen vielgepriesene Kommunismus, welcher das Institut der Ehe zu einer bloßen Beschälungsanstalt verbestialisierte, aus den Spartanern gemacht? Gewissenlose Egoisten, brutale Tyrannen, deren Roheit, Falschheit und Tücke der Fluch von Hellas geworden sind und zum Untergange griechischer Freiheit und Kultur sehr viel beigetragen haben.

Der Begründer einer philosophischen Theorie des Kommunismus soll einer Bemerkung des Aristoteles (Politik II, 4) zufolge ein gewisser Phaleas aus Chalkedon gewesen sein. Ihn verdunkelte jedoch vollständig der große Platon, welcher in seiner Schrift »Vom Staat« den Idealstaat mit Gütergemeinschaft konstruierte – eine der kolossalsten, buntestschillernden Seifenblasen, welche jemals die menschliche Phantasie aus dem Tonpfeifenrohr des Theorieschwindels geblasen hat. Bemerkenswert ist daran insbesondere zweierlei: erstens, daß der Republikaner Platon keineswegs eine demokratische Gleichheit und Brüderlichkeit aller Staatsbürger will, indem er nur dem Lehr- und Wehrstand, nicht aber dem Nährstand das Vollbürgerrecht zuteilt; und zweitens, daß der superlativische Idealist Platon in seinen Vorschriften über das Verhältnis der beiden Geschlechter völlig auf den Standpunkt spartanischer Stuterei sich stellt. Auch im platonischen Idealstaat gibt es weder Ehe noch Familie. Später freilich scheint dem guten Philosophen der kommunistische Dusel verflogen zu sein. Wenigstens ließ er in seinem Buch »Von den Gesetzen« die kommunistischen Postulate großenteils fallen, wehmütig bemerkend, daß »die Gütergemeinschaft nur für Götter und Göttersöhne sich eigne«, d. h. daß sie für die Menschen, wie diese nun einmal sind und der Hauptsache nach allzeit sein werden, eine Unmöglichkeit sei. Platons Zeitgenosse, der Erzschalk Aristophanes, einer der gescheitesten Menschen, welche je gelebt, hat bekanntlich in seiner Komödie »Die Weibervolksversammlung« den platonischen Idealstaat und dessen Güter- und Weibergemeinschaft mit unsterblichem Gelächter überschüttet. Seine Satire paßt auch auf die modernen und modernsten Apostel des Kommunismus wie angemessen, und wenn man seiner Klubrednerin Praxagora zuhört, glaubt man die Flunkereien der sogenannten Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen unserer eigenen Tage zu hören.

Wenn etliche Häuptlinge der modernen Kommunisten mit den kommunistischen Tendenzen des Urchristentums Parade machten, so muß das der bekannten Unwissenheit und Oberflächlichkeit dieser Lügenpropheten zugute gehalten werden. Es war mit diesen kommunistischen, aus dem Essenertum herübergenommenen Tendenzen des Urchristentums nicht weit her, und jedenfalls sind sie nur da und dort zu kurzdärmiger Verwirklichung gelangt. Sobald das Christentum auch unter den besitzenden und gebildeten Klassen Mode geworden, waren die vielbesungenen kommunistischen Bruder- und Liebesmahle (»Agapen«) weiter nichts mehr als modische Picknicks, von den Tonangebern und Tonangeberinnen feiner Lebensart wie andere Zeitvertreibe veranstaltet. Die bezüglichen Schilderungen, die ein gewiß unverdächtiger und glaubhafter Zeuge, Sankt Hieronymus, in seinen Briefen entwirft, die sich über seine Erlebnisse in Rom während der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts verbreiten, lassen hierüber keinen Zweifel aufkommen. Im 13. und 14. Jahrhundert sodann suchten christliche Sekten, insbesondere die »Geschwister des freien Geistes« und die »Apostelbrüder«, die essenisch-urchristlich-kommunistischen Anläufe weiterzuführen. Worauf liefen aber ihre Bestrebungen hinaus? Auf Faulenzerei, Diebstahl und greuliche Unzucht. Das christliche Institut der Möncherei ist allerdings ein kommunistisches und hat sich – je dümmer, desto dauerhafter – seit fünfzehn Jahrhunderten erhalten. Aber man wird uns doch diese gemeinschaftliche Natur-, Vernunft- und Zeitwidrigkeit nicht für ein verwirklichtes Gesellschaftideal ausgeben wollen? Haben denn die Doktrinäre des Kommunismus, die Prediger der Fourierschen Phalanstèreherrlichkeit, haben sie nie davon läuten gehört, daß die klösterliche Sklaverei die härteste von allen ist?

Daß und wie zur Reformationszeit, welche die Gemüter in ihren Tiefen aufwühlte, der kommunistische Gedanke in der Form der Wiedertäuferei hervortrat und eine Menge fanatischer Anhänger gewann, ist bekannt. Ebenso daß die wiedertäuferische Kommunisterei unter Führung des Schneiderkönigs Jan Bockelsohn zu Münster zeitweilig (1534-35) staatliche Gestaltung gewann und folgerichtig in die zwei Spitzen molochistischen Wahnwitzes auslief, in Wollust und Grausamkeit. Endlich ist auch bekannt, daß innerhalb des Kreises christlicher Sektiererei bis auf den heutigen Tag herab kommunistische Gelüste sich kundgegeben haben und daß, wiederum ganz folgerichtig, in dem heiligen Dämmer und Dunkel frommer Konventikel und muckerischer Tabernakel der kommunistische Unzuchtkitzel der Weibergemeinschaft frech sich regt. Weniger bekannt dagegen ist, daß auch im Schoße des Islam vorzeiten eine kommunistische Bewegung stattgefunden hat, welche wohl verdient, etwas näher angesehen zu werden Hauptquelle für das Folgende ist die » Historia Byzantina« des Johannes Michael Dukas. (Ich gebrauche und zitiere die Ausgabe von Bekker, Bonn 1834, in dem bekannten Corpus scriptorum histor. byzant.) Dukas war in seinen jüngeren Jahren Zeitgenosse der denkwürdigen Ereignisse auf dem Gebirge Stylarios: er hat noch um oder nach 1462 auf der Insel Lesbos gelebt. Was die Angabe von Tatsachen betrifft, verdient er Vertrauen. Dagegen ist er der Geistverlassenheit, welche den byzantinischen Historikern eigen, durchweg teilhaft. Von einer Darlegung der psychologischen und sozialen Motive der Begebenheiten ist bei ihm keine Rede. Seine Geschichtschreibung ist nur eine Aneinanderreihung trockener Notizen, eine Fläche ohne Perspektive, ohne Licht- und Schattengebung. Hammer (Gesch. d. osman. Reiches, I, 375 fg.) und Zinkeisen (Gesch. d. osman. Reiches in Europa, I, 473 fg.) haben aus Neschri und Seadeddin einiges Wesentliche zu Ergänzung der Erzählung von Dukas beigebracht. Ein deutscher Dichter, Leopold Schefer, wurde durch den in Rede stehenden Stoff lebhaft angemutet und schuf daraus seine schöne Novelle »Der Gekreuzigte oder nichts Altes unter der Sonne« (Ausgew. Werke, IV, 1). Darin tritt der kommunistische Heiland vom Berge Stylarios als eine jener »indischen Blumenseelen« vor uns hin, von welchen es in Schefers Werken bekanntlich wimmelt..

4.

Der Insel Chios gegenüber springt das kleinasiatische Festland in eine bizarr gestaltete Landzunge aus, welche sich südwärts und nordwärts gabelt. Der nördliche Zinken, wie ein kolossales Ei geformt, bildet mit seinem Ostrande die westliche Einfassung des Golfes von Smyrna und treibt aus der Mitte seiner Masse den Karaburun empor, den schwarzen Berg, wie die Türken ihn nennen, oder den Stylarios, wie die Griechen des 15. Jahrhunderts das felszackige, schluchtenreiche Waldgebirge ihrerseits nannten.

Diese Berglandschaft war der Schauplatz, auf welchem eine der denkwürdigsten Episoden der türkischen Geschichte sich abspielte – eine Episode, die, kulturgeschichtlich angesehen, von weit größerer Bedeutung war als gar manche der berühmtesten Haupt- und Staatsaktionen in dem langen Greuelspiel des Osmanentums.

Aus den dunklen Waldkuppen des Karaburun schlug um das Jahr 1418 – die Zeitrechnung ist in jener Periode der Türkengeschichte ziemlich unsicher und verworren – eine Flamme auf, welche für das Reich Osmans zu einem vernichtenden Brande zu werden drohte. Auf dem Stylarios nämlich erhob sich ein Prophet, ein Heiland, welcher, Worte der Liebe auf den Lippen und das Schwert in der Rechten, den kühnen Versuch machte, die Bekenner des Alten und des Neuen Testaments mit denen des Korans zu versöhnen und zu verbünden und Moslemin, Juden und Christen unter dem Banner einer neuen Heilslehre zu sammeln, welche Glaubens- und Gütergemeinschaft verkündigte.

Die Zeit mußte solchem Unternehmen günstig sein, denn sie war ja voll Trübsal. Timurs entsetzliche Tatarenflut war über Asien hingerollt und hatte in ihrem Gewoge auch den »Blitz« Bajesid ausgelöscht (in der Schlacht auf der Ebene Tschibükabad unweit Angoras im Juli 1402). Viele Jahre hindurch hatten dann Bajesids Söhne auf asiatischem und europäischem Boden in mörderischen Bruderkriegen um den Besitz des Osmanenthrones gerungen, bis endlich Prinz Mohammed den letzten seiner Mitbewerber, seinen älteren Bruder Musa, auf der Ebene von Tschamurli besiegte und den Gefangenen mittels einer Bogensehne erdrosseln ließ, worauf der Sieger als Sultan und Padischah Mohammed I. triumphierend in Adrianopel einzog (1413). Vierzig Jahre danach hielt sein Enkel, Sultan Mohammed II., nachdem der letzte Kaiser von Byzanz, Konstantin Dragosos, auf der Bresche beim Romanostor heldisch gefallen, seinen Triumpheinzug in die erstürmte Konstantinopolis, und sah mit grimmigem Lächeln, wie das große Kruzifix vom Hauptaltar der Aja Sofia herabgerissen, mit einer Janitscharenmütze bekrönt und unter dem Spottjubel: »Seht, das ist der Gott der Christen!« umhergetragen wurde. Dann sprang er auf einen der Altäre, auf welchem seine im Siegesorgiasmus rasenden Krieger gefangene Edelfrauen und Nonnen geschändet hatten, stimmte das Symbolum des Islam an: »Außer Allah kein Gott« und verlieh der Stadt, die jetzt seine Hauptstadt war, den Namen Istambol (29. Mai 1453).

Die Regierungszeit Mohammeds I. war von den Nachwehen der mongolischen Invasion wie der inneren Kämpfe, zu welchen Bajesids Fall und Tod das Signal gegeben, schwer gedrückt und getrübt; die Stimmung nicht allein der unterjochten Slawen und Semiten in Asien und Europa, sondern auch der herrschenden Kaste, der Türken, war vielfach eine verzweifelnde. Materielle Not und moralische Anarchie an allen Ecken und Enden. Die Autorität des Sultans eine keineswegs vollständig durchgeführte und gesicherte, weil insbesondere sein unglücklicher Bruder Musa einen starken Anhang hinter sich zurückgelassen hatte. In allen Adern des Reichskörpers pulsierte Unzufriedenheit, den ganzen Staatsorganismus durchzuckten rebellische Regungen. Wie in solchen Lagen allzeit und überall zu geschehen pflegte, so gab sich auch damals unter der Bevölkerung des Osmanenreiches das Gefühl kund: Schlechter kann es nicht mehr gehen, es muß also besser werden! Der uralte und ewigjunge Wiegensingsang, womit Menschen und Völker sich einlullen. Die grüne Hoffnungsfeder, welche die Leute aufblasen in die Luft und der sie dann mit kindischer Zuversicht nachlaufen, bis sie unversehens in ihre Gräber hinabtorkeln.

Je wuchtiger aber der Druck der Wirklichkeit, um so energischer der Gegendruck des Hoffnungswahnes. Aus dem Extrem der Not springt, sozusagen, der Mensch mit gleichen Füßen in das Extrem der Illusion hinüber, und so geschah es auch dazumal auf dem Karaburun. Man machte einen sozialen Salto mortale, man stellte die Gesellschaft, um sie zu reformieren, auf den Kopf.

Das Unterfangen war übrigens nicht so originell, wie es beim ersten Anblick aussah. Auch in der islamischen Welt trat von jeher der Orthodoxie die Ketzerei auf die Fersen. Namentlich von der Zeit an, wo der Islam nach seinem Vordringen nach Iran und Hindostan mit parsischen und brahmanischen Anschauungen sich verquickt hatte. Schon im 2. Jahrhundert der mohammedanischen Zeitrechnung erhoben in Khorossan zwei Ketzer die Aufruhrfahne gegen das religiöse und soziale Dogma, Rawendi und Mokannaa. Jener »verunreinigte« den Islam durch Einführung der brahmanischen Seelenwanderungslehre, dieser (der »verschleierte Prophet«) predigte und praktizierte eine ganz willkürlich aus dem Parsismus gezogene zuchtlose Freigeisterei. Unlange nachher kam die Sekte der Churremije, d. i. der »Fröhlichen« auf, gestiftet von einem gewissen Babek, einem persischen Jan Bockelsohn, welcher lehrte, die Bestimmung des Menschen sei, fröhlich zu sein und zu genießen, was das Leben Genießbares böte; die Erde mit allem, was darauf, die Weiber natürlich inbegriffen, sei Gemeingut der »Fröhlichen«.

Der türkische Heiland vom Stylarios faßte aber die Sache viel ernster und tiefer an, auch mit etwas reineren Händen. Er hieß Böreklüdsche Mustafa oder wohl auch nur kurzweg Böre und war von Stand ein einfacher Bauer. Eine auserwählte Natur sicherlich, eine bedeutende Persönlichkeit, ein Schwärmer, der an seine Schwärmerei aufrichtig glaubte bis zu seinem letzten Atemzug – welche Gläubigkeit und Überzeugungstreue bekanntlich einer Schwärmerei, die wirksam sein will, nie fehlen darf. Die Illusion muß schlechterdings an sich selber glauben, so sie an anderen Glaubenswunder wirken soll.

Schade, daß unser zundertrockener Dukas vom Werden und Wachsen des Heilands gar nichts berichtet. Er läßt den fertigen plötzlich wie vom Himmel herabfallen. Fassen wir aber die damaligen Zustände und Stimmungen im Osmanenreich und insbesondere in Kleinasien zusammen, so finden wir, daß neben dem Elend der Zeit ein Wirrsal von islamisch-persischer, jüdischer und christlicher Mystik den Anstoß zu einem jedenfalls denkwürdigen religiösen und sozialen Revolutionsversuch gegeben habe.

Böreklüdsche verkündigte den Bewohnern des Karaburun dieses Evangelium: »Freiwillige Armut! Was mein, ist dein; was dein, ist mein. Alles ist gemeinsames Gut, mit Ausnahme der Weiber; gemeinsam ist der Ertrag des Feldes, das Feld selbst, gemeinsam sind Kleider und Geräte. Du betrachtest und brauchst mein Haus als das deinige, ich bediene mich deines Hauses als des meinigen, immer den Harem ausgenommen«.

Neben diesem Kommunismus, welcher sich vor dem lykurgischen, platonischen und Saint-Simonistischen durch Heilighaltung der Ehe sehr vorteilhaft auszeichnete, hatte die frohe Botschaft Böres zu ihrem wesentlichen Inhalt auch noch eine kosmopolitische Toleranz, welche sich namentlich den Christen gegenüber sehr nachdrucksam aussprach. Der Prophet orakelte: »Jeder Moslem, welcher sagt, die Christen seien keine rechten Gottesverehrer, der ist selber ein Gottloser« – und dieses Toleranzedikt hatte zur Folge, daß die Bekenner der frohen Botschaft von Karaburun sich außerordentlich zuvorkommend gegen die Bekenner der Kreuzreligion benahmen. Wo sie – wird uns gesagt – einem Christen begegneten, umhalsten sie ihn liebevoll und ehrten ihn wie einen Engel Gottes. Der neue Heiland suchte dieses Verhältnis für seine Pläne nutzbar zu machen, indem er darauf ausging, zwischen den Moslemin und den Christen Kleinasiens und des Archipels eine enge Verbindung zu stiften. Demzufolge ließ er insbesondere den Primaten und Prälaten der Insel Chios wiederholt entbieten, er sei fest überzeugt, das gemeinsame Heil beruhe auf einer festen Glaubensbruderschaft zwischen den Anhängern Mohammeds und Christi.

Es lebte damals im Kloster Turlotas auf Chios ein aus Kreta gekommener Anachoret, von welchem ein starker Geruch der Heiligkeit ausging. Böre erkannte mit jener Schlauheit, welche Fanatikern selten abgeht, daß er diesen christlichen Heiligen zu seinem Werkzeug machen müßte. Zwei seiner Sendboten, Derwische, erschienen in Turlotas, wie christliche Bettelmönche ausstaffiert, d. h. barfüßig, geschorenen Kopfes, nur mit einem Tierfell bekleidet, und meldeten dem Einsiedler: »Also spricht unser Meister: – Ich lebe wie du ein Leben der Askese; ich verehre denselben Gott, den du verehrst, und ich werde nächtlicherweile stillheimlich auf meinen Füßen meerüber zu dir kommen.« Und siehe, der christliche Schwärmer glaubte dem islamischen, glaubte ihm so frommlich, daß er alles Ernstes aussagte, Böreklüdsche käme allnächtlich zu ihm über das Meer herübergewandelt und sie sprächen und beteten dann mitsammen Unser Gewährsmann Dukas erklärt, er habe diese und andere derartige Wunder aus des heiligen Mannes eigenem Munde vernommen.. Das Ansehen des türkischen Heilands wuchs dadurch unter den Christen sehr bedeutend.

In Sachen des Glaubens wie der Politik ist das Dümmste immer das Mächtigste: es wirkt auf den großen Haufen mit dämonischer Gewalt. Man muß, so man die Menge an- und aufregen will, nie an ihre Vernunft appellieren, denn das hieße bekanntlich auf ein Nichtseiendes sich berufen, sondern man muß auf ihre Phantasie abstellen, und dieser darf man das Ungeheuerlichste, Absurdeste und Groteskeste zumuten. Nur zugelogen! Recht dumm und plump und schamlos zugelogen! Wollt ihr den süßen und den sauren, den vornehmen und den geringen Pöbel für euch haben, so lügt wie der Gallier im allgemeinen und lügt im besonderen, wie Napoleon-Verhuell, Ollivier, Gramont, Thiers, Gambetta, Favre, Mermillod, Chaudordy usw. bis X, Y, Z im Jahre 1870-71 gelogen haben.

Auch mit den Juden suchte Böre Beziehungen zu knüpfen, und hierbei brauchte er als Anschicksmann den Rabbi Torlak Hudbin Kemal, welcher, sozusagen, den Koran mit der Thora Hochzeit machen ließ, auf die Anschauungen des Heilands vom Karaburun mit Eifer einging und dem neuen Evangelium insbesondere unter den Derwischen Kleinasiens zahlreiche Anhänger warb. Ein nicht sehr schwieriges Geschäft, diese Werbung für das kommunistische Heil unter Leuten, welche die heilige Faulenzerei als ihren Beruf betrachteten. Torlak brachte etliche Tausende dieser Lumpe zusammen, welche es sehr leicht und eilig hatten zu sagen: »Was dein, ist mein!«, da der Zusatz: »Was mein, ist dein!« ein wahrer Spaß und Spott im Munde von Kerlen war, die rein nichts besaßen als ihren Bettelsack und einen vortrefflichen Appetit.

Überhaupt lockte die frohe Botschaft von der Gütergemeinschaft eine sehr gemischte Gesellschaft in die Täler des Stylarios. Zweifelsohne waren darunter Hunderte, sogar Tausende schlichtgläubiger Seelen, welche das neue Evangelium gedankenlos hinnahmen, der Möglichkeit einer dauernden Verwirklichung desselben nicht nachfragten und in den Tag hineinlebten mit der Überzeugung, der »Dede Sultan« (Vater Sultan), wie sie ihren Heiland nannten, werde schon alles wohl und recht machen. Daneben gab es aber sicherlich auch Hunderte, Tausende von Tagedieben, Taugenichtsen und verzweifelten Gesellen, welchen es außerordentlich bequem und behaglich vorkam, daß sich Narren genug fänden, welche für sie arbeiteten. Leider sind wir über die Einzelheiten der Lebensführung von Böres Sekte nicht unterrichtet. Wir wissen nicht einmal genau, wie lange die kommunistische Herrlichkeit in den Tälern und an den Waldhängen des Schwarzen Berges gewährt habe. Das aber wissen wir, daß der Dede Sultan gewillt war, nicht allein mittels des Wortes, sondern auch mittels des Schwertes das neue Heil zu predigen und daß er, solche Schwertpredigt ins Werk zu setzen, nach und nach eine stattliche Streitmacht von Fußvolk und Reiterei zusammenbrachte. Die Zahlenangaben schwanken zwischen 3000 und 10 000 Mann; fest steht aber, daß die Zahl der bewaffneten Scharen Böres jedenfalls in die Tausende ging.

5.

Der Heiland von Karaburun war aber doch nur ein Strohmann, eine Marionette, wie das noch gar mancher Heiland gewesen sein mag, ohne daß man es weiß. Schade um dieses Nichtwissen! Denn die Geschichte der Religion könnte nur gewinnen, so sie aus dem »heiligen« Dunkel der Mystik und Phantastik vollständig und allseitig in die »freche« Tageshelle der menschlichen Interessen und Leidenschaften herübergerückt würde.

Aber wäre dieser wissenschaftliche Gewinst auch ein wirklicher, d. h. ein menschlicher? Sind die Wahrheitsucher, deren Augen so beschaffen, daß sie das Brett, welches religiöser und politischer Afterglaube den Nichtdenkenden und Nichtwissenden vor die Stirn bindet, durchdringen können, sind sie glücklicher als die kenntnislose Menge? Glücklicher als die Phantasten und Illusionäre? Glücklicher als die orthodoxen Bekenner der heiligen Dreifaltigkeit Kirche, Krone und Kanone? Mitnichten! Und was ist am Ende aller Enden Wahrheit? Nichts mehr und nichts weniger als das, worüber man zeitweilig übereingekommen ist, übereinkommt und übereinkommen wird, es dafür zu halten. Ein Jahrtausend lang galt der gesamten Christenheit und gilt noch heute etlichen hundert Millionen »vernunftbegabter« Wesen für eine hochheilige »Wahrheit« das vom Sankt Ambrosius psallierte Dogma:

»Zur Pforte Christi ward die Maid
Voll aller Gnaden Süßigkeit;
Der König schritt hindurch, und doch
Blieb sie und bleibt verschlossen noch.
Des höchsten Gottes Sproß erbrach
Und ließ das keusche Brautgemach,
Erlöser, Gründer, Bräutigam
Der Kirche, der ihr Riese kam.«

Und es untersteht gar keinem Zweifel, daß Leute, welche diese und andere dergleichen »Wahrheiten« gläubig hinnehmen und demnach von ihrem Denkapparat, falls sie einen solchen überhaupt besitzen, nie und nimmer, nicht für zehn, nicht für fünf Minuten lang Gebrauch machen, entschieden ruhiger und zufriedener, folglich glücklicher sind als solche, welche, vom Dämon des Zweifelns, des Suchens und Forschens besessen, rast- und ruhelos der Wahrheit nachjagen – der Wahrheit, die, wie gesagt, am Ende auch nur eine » fable convenue«, eine vereinbarte Narretei ist, Spielzeug für grauhaarige Kinder in frostigen Dachstuben. Die redlichen Wahrheitsucher, solche wie Lessing, wußten und wissen das wohl. Darum hatten und haben sie nur am Suchen ihre Freude, nicht am Finden. Sie bildeten und bilden sich auch gar nicht ein, einen wirklichen Fund gemacht, die absolute Wahrheit erjagt zu haben. Redliche Wahrheitsucher wissen und bekennen, daß sie auf Fragen, welche allen Denkenden die höchstfragwürdigen sein müssen, keine Antwort zu geben vermögen. Woher, warum, wozu, wohin der Mensch? Alle Antworten, welche die Religionen oder die Philosopheme, die exakten oder die humanistischen Wissenschaften auf die furchtbare Hiob-Prometheus-Faust-Manfredfrage herzustottern pflegen, sind purer pueriler Firlefanz, und wenn Kanzelgaukler und Kathederseiltänzer den aus ihren aufgeblasenen Orakelbacken entlassenen Wortwind für eine Lösung des unseligen Welt- und Menschenrätsels ausgeben, so kennzeichnen sie sich selber als die, als welche sie schon der alte Gottfried von Straßburg gekennzeichnet hat, als Hanswurste,

»Die gern in Märchen wildern
Und wilde Märchen bildern,
Mit Riegel und Ketten klirren,
Kurze Sinne verwirren,
Die Büchsen schwingen und rütteln,
Statt Perlen Staub draus schütteln,
Und Gold aus schlechten Sachen
Den Kindern können machen.«

Den leitenden Draht, woran der Messias vom Stylarios tanzte, hielt die rechte Hand des Mahmud Bedreddin und hielt ihn so geschickt, daß nicht allein die gläubige Menge nichts davon merkte, sondern auch der geleitete Böre selber sich einbilden konnte, ein solcher Leitdraht sei gar nicht vorhanden. Bedreddin war ein gelehrter Mann und ein gerieben praktischer Politiker, dem man nicht zu sagen brauchte: »Ein Puppenspieler zeige nicht die Hände!« Er wußte auch, daß der wirksamste Hebel, die Massen in Bewegung zu bringen, Schwindel hieße, und er zögerte keinen Augenblick, diesen Hebel zur Förderung seiner Absichten in Tätigkeit zu setzen, d. h. seinen Einfluß auf Böreklüdsche zu benutzen, um diesen die frohe Botschaft von der Gütergemeinschaft predigen zu machen. Die Verkündigung dieses Evangeliums und die dadurch bezweckte Ansammlung streitbarer Scharen in Kleinasien gehörte nämlich mit in den Aufstandsplan, welchen Bedreddin gegen den Padischah Mohammed I. ins Werk setzen wollte.

Der Mann war hochstrebend, vom Ehrgeize verzehrt und wohl auch von einer besseren Leidenschaft gestachelt. Von der Leidenschaft nämlich, den bei Tschamurli so kläglich vernichteten Musa an dessen siegreichem Bruder und Mörder zu rächen. Er hatte sein Glück an das des genannten unglücklichen Prinzen geheftet und war, mit der hochangesehenen, ja fast für heilig geachteten Würde des obersten Heeresrichters bekleidet, der vertrauteste Ratgeber und Minister Musas gewesen. Der Untergang desselben hatte ihn als Gefangenen in die Hände Mohammeds gegeben. Aber so überaus groß war das Ansehen und die Verehrung, welche Bedreddin als Rechtsgelehrter im ganzen Umfange der osmanischen Welt genoß, daß der Sultan geraten fand, das Leben des Gefangenen zu schonen. Sogar die Freiheit gab er ihm wieder, nahm ihn zu Gnaden an und setzte ihn mit reichlichem Gehalt als Richter nach Nikäa.

Kaum hier angelangt, begann Bedreddin seinen Plan, den Thron des Padischah umzustürzen, auszuhecken, allseitig zu entwickeln und der Verwirklichung entgegenzuführen. Was er in letzter Linie wollte, ist nicht mit Bestimmtheit anzugeben, weil die Quellen hierüber unklar sind oder ganz schweigen. Möglich, daß er sich mit dem Gedanken schmeichelte, er, der beste Ausleger des Korans, würde keinen schlechten Sultan vorstellen. Gewiß ist, daß er alle die zahlreichen Fäden seiner Verbindung in Asien und Europa anzog, um eine Schilderhebung gegen das Sultanat Mohammeds I. zu ermöglichen, vorzubereiten und zum Ausbruch zu treiben. Sein Hauptwerkzeug auf der asiatischen Seite des Bosporus wurde Böre, mit dem er ja schon von früher her genau bekannt und engbefreundet war. Es konnte für den schlauen Gelehrten kein schweres Geschäft sein, den bildungslosen, aber ehrlichen und energischen Schwärmer vom Karaburun zu seiner Rolle anzuleiten.

Daß und wie Böres Schwärmerei Erfolg und zwar, wie schon angegeben worden, bedeutenden Erfolg hatte, war ganz natürlich und in der Ordnung. Hätte der kommunistische Heiland noch Verrückteres gepredigt, als er wirklich predigte, er würde zweifelsohne noch größeren Zulauf gehabt haben. Man muß in der Tat dem sozialistischen Evangelium vom Stylarios eine gewisse Nüchternheit und Mäßigung nachrühmen. Der gute Böre verstieg sich nicht bis zu der Höhe des Unsinns, von welcher herab vier Jahrhunderte später Saint-Simon die »Rehabilitation« des Fleisches verkündigte, ein Dogma, das sodann die Saint-Simonisten also kommentierten: »Jeder ist für jede und jede für jeden da. Mann und Weib laufen zusammen und voneinander, wie es ihnen gerade gefällt.« Von solchem Saint-Simonistischen » mariage libre« hatte der arme Dede Sultan keine Ahnung. Er phantasierte auch nicht, wie vierhundert Jahre nach ihm ein anderer Hauptmessias des modernen Sozialismus phantasierte, Fourier, welcher zur Geschichte der menschlichen Narrheit einen der kostbarsten Beiträge lieferte, indem er bekanntlich behauptete, wann einmal die von ihm theoretisierte sozialistische Harmonie und Herrlichkeit aufgetan und hergestellt wäre, würden die wunderbaren Wirkungen davon nicht allein auf die menschliche Gesellschaft, sondern auch auf das Pflanzen- und Tierreich, auf den ganzen Erdball, auf die gesamte Natur, auf das Weltall sich erstrecken. Was würde man nicht alles sehen, erleben und genießen, wann erst unser armer Planet mit Fourieristischen »Phalanstères« bedeckt, ja in ein kolossales Phalanstère umgewandelt, die unselige Kruste, womit eine falsche Philosophie ihn bedeckte, gesprengt hätte. Denn dann würde sich die Lage der Erdachse so glücklich verändern, daß alle Teile der Erde gleich angenehm zu bewohnen wären, Kamtschatka ein sizilisches Klima hätte und die Lappinnen so gut Orangen von den Bäumen pflücken könnten wie die Andalusierinnen. An die Stelle unseres erbärmlichen Dinges von Mond würden nicht weniger als sechs prachtvolle Monde treten, und ein unvergänglich herrliches Nordlicht würde in Gestalt einer riesigen Krone vom Pole herleuchten. Die mit frischer Schöpferkraft ausgestattete Erde würde eine Reihe neuer und wohltätiger Zeugungen bewerkstelligen: Löwen und Tiger oder vielmehr Antilöwen und Antitiger, welche sich eine Ehre daraus machen würden, den Menschen als windschnelle Reitpferde zu dienen; ebenso Antiwalfische und Antihaifische, welche sich aus freien Stücken beeiferten, den Menschen ihre Schiffe über den Ozean zu ziehen, der seinerseits nicht mehr aus gemeinem Salzwasser, sondern aus vortrefflicher Limonade bestehen würde. In demselben Verhältnisse würden sich natürlich auch die Menschen vervollkommnen. Ihr Wuchs würde eine Durchschnittshöhe von 80 Fuß, ihr Dasein eine Durchschnittsdauer von 144 Jahren erreichen. Flügel zwar würden ihnen nicht wachsen, wohl aber eine Art von Schwanz, welcher ihnen sowohl zur Waffe wie zum Fortbewegungsmittel dienen könnte … Wie schade, daß Fourier noch nicht lebte und orakelte, als Erasmus von Rotterdam sein » Encomium moriae« oder als Swift seinen »Gulliver« schrieb. Die Komik von Fouriers sozialistischem Millennarium wirkt um so drastischer, wenn man bedenkt, daß diese saftigen Narreteien ein Mensch ausgehen ließ, welcher sonst der trockenste Buchhalter gewesen, der je Buch gehalten hat – ein so absolut und mathematisch trockener Gesell, daß er, falls er überhaupt jemals schwitzte, jedenfalls Zündhölzchen geschwitzt haben muß.

6.

Mohammed I. war nun aber nicht der Mann, sich nur so mir nichts dir nichts entthronen zu lassen, weder von einem Mahmud Bedreddin, noch von einem Rabbi Torlak, noch auch sogar von einem Dede Sultan. Er weilte gerade in der Gegend von Thessalonich, als ihm die Kunde von Bedreddins ehrgeizigen Ränken und Böres weltverbesserlichen Schwänken zuging. Der Sohn Bajesids war scharfblickend genug, zu sehen, daß aus der vom Schwarzen Berge auflodernden Flamme eine große und gefährliche Feuersbrunst werden könnte; aber er wähnte, die Flamme würde sich leichter niederschlagen und austreten lassen, als es in Wahrheit der Fall war. Vermutlich hat er seine Brandlöschmaßregeln überstürzt, weil er in Erfahrung gebracht, daß Böreklüdsche vorhätte, an der Spitze seiner Scharen aus dem Karaburun hervorzubrechen, das Feuer seiner Schwärmerei in die Landschaften Soghla und Aidin zu tragen und seinem Apostel Torlak, welcher in der Umgebung von Magnesia eine starke Rotte bewaffneter Derwische gesammelt hatte, die Hand zu reichen. Der Sultan wollte solchem Unterfangen sofort die Spitze abbrechen und ließ deshalb an den Statthalter der Provinz Aidin den Befehl ergehen, mit rasch gesammelter Heeresmacht in das Schwarze Gebirge einzurücken, um den Aufruhr in seiner Wiege zu erdrücken.

Statthalter von Aidin war zur Zeit der Renegat Susman, ein serbischer Prinz, und zwar, wie es scheint, ein sehr gewöhnlicher Prinz. Wenigstens faßte er die Ausführung des an ihn ergangenen sultanischen Befehls möglichst unvorsichtig an. Er raffte zusammen, was ihm gerade von Wehrleuten zur Hand war, drang damit sorglos in die unausgekundschafteten Engpässe des Stylarios ein, wurde in einer unwegsamen Waldschlucht von dem Dede Sultan, welcher gar kein verächtlicher Kriegsmann gewesen sein muß, umstellt, überfallen und mit seinem ganzen Heerhaufen bis auf den letzten Mann, die eigene statthalterliche Person inbegriffen, niedergehauen.

Wie leicht begreiflich, schwoll ob diesem glänzenden kriegerischen Erstlingserfolg den Stylariern der Kamm gewaltig. Sie würden auch, so sie jetzt sofort als ein tosender Bergstrom mit aller Macht in die Ebene hervorgebrochen wären, Aussicht gehabt haben, einen großen Teil der Bevölkerung von Kleinasien mit sich fortzureißen. Allein dieser Hervorbruch unterblieb, und der Heiland vom Karaburun vertrödelte die günstige Zeit, sein Unternehmen einer sozialen Revolution in großem Stile zu betreiben, mit allerhand Lappalien. Statt zu handeln predigte er, und das Resultat seines Predigens war zunächst, daß die Kommunisten vom Stylarios den Beschluß faßten, der Stifter des Islam sei nur ein kleiner Prophet, verglichen mit ihrem großen, größeren, größten, dem Dede Sultan Böre. Item, als richtige Bekenner der alleinwahren und alleinseligmachenden Heilslehre wollten sie fürder nicht mehr in Häuserwänden, sondern nur noch unter freiem Himmel leben, stets barhäuptig gehen und nur ein einziges Kleidungsstück antun Darum nennt Dukas die Stylarier gelegentlich auch die Einröckler oder Einhemdler (μονοχίτωες).. Mit solchen Alfanzereien stürzt man keinen Sultansthron um, macht man keine weitreichende Revolution, gründet man keinen Staat; abgesehen sogar davon, daß dem Kommunismus die staatenbildende Potenz überhaupt abgeht. Er freilich leugnet das, weil er Staat oder Gesellschaft mit Tyrannis verwechselt. Eine solche kann er nicht nur, sondern muß er begründen! Das ist seine Natur. Daher schrien und schreien alle Kommunisten nach der Diktatur, und zwar nach der schlimmsten aller Diktaturen, nach der Tyrannis des rohen Haufens, wobei allerdings auf seiten der Führer der geheime Vorbehalt nicht ausgeschlossen ist, nach den eigenen höchstpersönlichen Gelüsten den rohen Haufen zu gängeln und zu nasführen. Man weiß ja, daß die kommunistischen Feist Lasal, gerade wie die verflossenen restaurativen Judas-Gentze, vor allem darauf aus sind, »rasend gut zu leben«. Heine hat einmal von den Bonzen im allgemeinen gesagt: »Sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser.« Von den Bonzen der Kommunisterei unserer Tage könnte man sagen: Sie predigen öffentlich das Evangelium der Arbeit, praktizieren aber heimlich den Grundsatz, faulenzen sei besser als arbeiten und letzteres auch gar nicht nötig für Leute, welche pfiffig genug, mittels Herleierung der Freiheits-, Gleichheits- und Bruderschaftsphrasen arme dumme Teufel für sich arbeiten zu machen …

Derweil lächelte dem Dede Sultan und seinen Einröcklern trotz ihrer mangelhaften Strategie noch einmal das Glück und brachte ihnen ihre gegen Susman befolgte Taktik einen zweiten kriegerischen Erfolg. Der Padischah traf zum zweitenmal eine schlechte Generalswahl, indem er den Alibeg, des serbischen Renegaten Nachfolger in der Statthalterschaft von Aidin, mit der Exekution gegen die Rebellen vom Karaburun beauftragte. Alibeg manövrierte gerade so dumm wie Susman oder wie der Herzog Leopold im Jahre 1315 beim Morgarten. Er ließ sich, in den Stylarios eingedrungen, mit seinen gesamten Truppen in einen Hinterhalt locken und erlag einem plötzlichen, wohlgeführten und massenhaften Angriff der barhäuptigen Fanatiker. Mit Not rettete er auf drangvoller Flucht sein Leben.

Jetzt endlich erkannte Sultan Mohammed den ganzen Ernst der Sachlage und ging mit größerer Umsicht an die Bewältigung der Gefahr. Es sollte, wo nötig, die ganze osmanische Streitmacht in Asien und Europa gegen den Dede Sultan und seinen Anhang aufgeboten werden. Den nominellen Oberbefehl gab der Padischah an seinen zwölfjährigen Sohn Murad, den tatsächlichen an Bajesid-Pascha, Beglerbeg von Rumili (d. i. Europa). Die sultanische Instruktion lautete: Spurlose Vertilgung der Rebellion.

Bajesid-Pascha verwirklichte diesen Befehl in echt türkischer Manier, schonungslos, unerbittlich. Mit gewaltiger Heeresmasse zog er gegen die Halbinsel des Stylarios heran, sperrte sie vollständig vom Festland ab, drang dann in das Waldgebirge hinein, Schritt für Schritt den Boden gewinnend und behauptend, alles Lebendige, Männer und Greise, Weiber und Kinder, sogar das Vieh, auf seinem Marsche niedertretend und vernichtend, so daß bald ein schwerer Blutdampf über den Kuppen des Karaburun hing. Der Dede Sultan leistete mannhaften Widerstand, allein was vermochten seine Tausende gegen die Hunderttausende des Gegners? Nichts als scharenweise zu fallen.

Also neigte sich der Stern des kommunistischen Messias rasch zum Untergange. Mit den letzten Resten seiner Streitmacht mußte Böre kämpfend dorthin zurückweichen, wo am nordwestlichen Ende der Halbinsel der Stylarios in Vorgebirgsform zum Meer abfällt. Hier, wo ihnen der weitere Rückzug abgeschnitten war, stellten sich die Barhäuptigen zum letzten Verzweiflungskampf. Obzwar halb verhungert, hielten sie der Übermacht stand mit jener ausdauernden Raserei, wie nur der Fanatismus sie verleiht. Sie ließen sich schlachten und schlachteten selber, bis ihnen die Schwerter aus den vor Überanstrengung versteiften Händen fielen. Dann erst ergaben sich Böre und der karge Rest seiner noch atmenden Getreuen dem Sieger.

Die Gefangenen wurden nach Ephesus geschleppt, wo Murad und Bajesid-Pascha dazu schritten, den Ketzer- und Rebellenhäuptling mittels Aufbietung aller türkischen Folterkünste zum Bekenntnis des Islam zurückmartern zu lassen. Allein die Büttel erschöpften umsonst ihren Folterwitz an dem armen Körper des Unglücklichen. Man weiß ja, welche dämonische Kraft und Stärke wie zum Tun so auch zum Leiden der religiöse Wahnwitz verleiht. Hat man doch erlebt, daß sich zu allen Zeiten Menschen eifrigst zum Martyrium drängten, daß sie sich um der barocksten Einfälle willen und für die märchenhaftesten Torheiten henken, spießen, verbrennen, köpfen und ans Kreuz schlagen ließen. Auch Böreklüdsche wurde, nachdem seine Henker sich vergeblich abgemüht hatten, einen Widerruf aus ihm herauszufoltern, schließlich gekreuzigt. »Sie nagelten ihn – meldet Dukas – mit in Kreuzesform ausgestreckten Händen und Beinen auf ein Brett, luden dieses auf ein Kamel und führten ihn so durch die Stadt.« Während dieses Umzugs wurden seine Mitgefangenen, so sie ihre Ketzerei nicht abschwören wollten, vor den brechenden Augen des sterbenden Messias zusammengehauen. Sie ließen sich zusammenhauen, ihre Blicke auf den Gekreuzigten geheftet und sprechend: »Dede Sultan, laß uns zukommen dein Reich!«

So starb der Heiland, so die Jünger. Rabbi Torlak wurde dann mit seinen Derwischen durch Bajesid-Pascha bei Magnesia rasch und leicht überwältigt. Doch begnügte sich hier der Sieger, den gefangenen Rabbi und dessen vertrauteste Anhänger strangulieren zu lassen. Die wenigen Einröckler, welche den Untergang der Sekte überlebten, waren übrigens des Glaubens, Böre sei nicht gestorben und könne überhaupt nicht sterben; er habe sich in wunderbarer Weise nach Samos gerettet und lebe dort im Verborgenen ein Leben der Beschaulichkeit. Auch der christliche Anachoret im Kloster Turlotas auf Chios glaubte das, wie er unserem Gewährsmann Dukas mitzuteilen geruhte. Man sieht, Lügnerin Legende ließ, wie anderen Heilanden, so auch dem vom Karaburun ihre Mühewaltung zugute kommen. Es ist im Grunde immer derselbe kleine Kreis von Vorstellungen, in welchem sich die religiöse Phantasterei allzeit und überall herumtreibt …

Wo aber war, während in Kleinasien das kommunistische Heil vertilgt, bis zur Spurlosigkeit vertilgt wurde, der Einfädeler, Anzetteler und Drähtelenker des ganzen Schwindels geblieben? Weit vom Schuß, sozusagen. Wenigstens auf der asiatischen Seite des Bosporus hatte Mahmud Bedreddin sich wohl gehütet, an der Entscheidung durch die Waffen teilzunehmen. Als es mit den Stylariern schon scharf bergab ging, wußte sich der Schlaue nach Europa hinüberzuschlängeln, wo er bei dem ihm von früher her befreundeten Hospodar der Walachei Aufnahme und Unterstützung fand. So konnte er versuchen, den drüben in Asien schon niedergestampften und im Blut erstickten Aufruhr hüben in Europa neu zu beleben. Und er versuchte das. Eine Weile mit Glück, da er noch von der Zeit seiner Heeresrichterei her in der Gegend von Silistria und in den Tälern des Balkan großen Einfluß besaß. So gelang es ihm, dortherum eine Streitmacht ins Feld zu bringen. Aber der gelehrte Ränkekünstler war kein General, und Sultan Mohammed ließ ihm auch keine Zeit, allenfalls einer zu werden. Der Padischah selber führte ein Heer von Thessalonich aus gen Seres, um die Insurgenten anzugreifen, und gab zugleich dem aus Asien zurückgekehrten Bajesid-Pascha den Befehl, von Adrianopel her gegen den Balkan vorzugehen. Die Entscheidung – ungewiß, ob noch im Jahre 1418 oder erst 1420 – vollzog sich ohne große Schlächterei; denn Bedreddins Freischärler liefen nach Freischärlermode auseinander, als von zwei Seiten her die sultanischen Truppen gegen sie heranrückten und unter ihnen zugleich kund wurde, daß und wie der Dede Sultan zugrunde gegangen. Bedreddin selbst rettete sich in die Wildnisse des Balkan, ward wie ein Jagdtier umhergehetzt und zuletzt von seinen eigenen Leuten, soviele deren noch bei ihm ausgehalten hatten, verraten, in Fesseln geschlagen und dem Padischah überliefert. Dieser ließ den Gefangenen zu Seres mit großer Feierlichkeit verurteilen, und der große Gelehrte und größere Intrigant ist dann »mit Umständen« gehenkt, d. h. mit allen den zeremoniellen Rücksichten, welche seinem hohen Rang und Rufe gebührten, an den Galgen befördert worden.

So endigte der denkwürdige Versuch, den kommunistischen Menschenbruderschaftshumbug im türkischen Reiche aufzutun. Er wird an seiner Grundverlogenheit, d. h. an seiner Unnatur und Widernatur schließlich immer und allerorten scheitern. Allein er wird, ein zwar unfreiwilliger, jedoch sehr wirksamer Bundesgenosse oder Förderer pfäffischer Bevormundung und soldatischer Despotie, immer wieder versucht werden.

Dafür sorgt ja der Dämon der Lumpagogie, welcher alle angebrannten, abgebrannten, ausgebrannten, durchgebrannten, hirnverbrannten Existenzen, das ganze wanzenhaft wuchernde Katilinariat unter seine Fahne sammelt, um den großen Feldzug gegen die Familie, das Eigentum und die Gesittung zu führen. Das gemeinsame Merkmal dieser katilinarischen Apostelschaft ist die niederträchtige Volksschmeichelei, welche allzeit von Volksrechten und niemals von Volkspflichten redet, nicht an die besseren Instinkte der Massen sich wendet, sondern an die schlechtesten, nicht das Ehr- und Rechtsgefühl derselben zu wecken sucht, sondern nur die gemeinen und törichten Gelüste zu stacheln weiß. So streuen diese verblendeten, meist an der Klippe der Halbbildung gescheiterten Menschen eine Unheilssaat, für deren Gedeihen nur allzuviel Boden und Dünger vorhanden ist. Boden und Dünger liefern ihr der bornierte Protzenhochmut, welcher die Errungenschaften des Börsenschwindels in prahlendem Prunke zur Schau stellt, sowie die zappelnde Philisterangst, welche, statt dem »roten Gespenst« mutig ins Gesicht zu sehen und es kräftig in sein Nichts zurückzustoßen, sich vielmehr von ihm zu den Füßen des Militarismus zurückschrecken läßt; weiterhin der grobmaterialistische Ungeist der Vergnügungssucht und Genußwut und endlich die Ungeheuerlichkeit einer Finanzwirtschaft, welche es, beispielsweise zu reden, den Prinzen einer jüdischen Dynastie möglich macht, in ihren Kassen den Schweiß ganzer Nationen anzuwuchern, nicht mehr nach Millionen, sondern nur noch nach Milliarden zu zählen.

Laßt nur alle diese Motive noch eine Weile ungestört fortarbeiten und gebt acht, ihr füttert damit den Kommunismus so groß, daß ihr eines wüsten Tages vollauf Ursache haben werdet, verzweiflungsvoll aufzuschreien: »Unsinn, du siegst!«


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