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Der Könignarr

Es muß auch solche Käuze geben.

Herr Gemeinplatz.

Wirklich? Und wozu denn?

Dame Skepsis.

Eine merkwürdige Figur, der zwölfte Karl von Schweden! In dem bekannten historischen Roman des »Patriarchen von Ferney« Der Patriarch von Ferney ist bekanntlich Voltaire. Sein Buch über Karl XII. erschien 1731. ein Held, in der Beleuchtung der historischen Kritik dagegen nur ein Narr. Ein heldischer Narr allerdings, aber doch immerhin ein Narr. Eine leibhafte Zeitwidrigkeit, wie aus einem mittelalterlichen Ritterroman heraus auf die moderne Staatsbühne gestellt, um da blindwütig umherzurasseln.

Also hab' ich anderwärts Blücher. Seine Zeit und sein Leben, 4. Aufl., I. Abt., S. 35. den genannten König bündig charakterisiert und, wie ich glaube, auch gerecht. Nun aber gibt es zwischen der Ostsee und den Alpen, zwischen dem Rhein und der Weichsel eine Abart von Menschen, welche Ohrenweh bekommen, wenn sie mitanhören müssen, es sei nicht nur eine Möglichkeit, sondern auch eine Wirklichkeit, daß königliche Majestäten in jenen Zustand von Ekstase versetzt werden, die man im gewöhnlichen Leben Verrücktheit nennt. Einer dieser Virtuosen auf der Strohfiedel deutscher Fürstenfurcht hat sich beeilt, mich sozusagen wegen Majestätsbeleidigung zu verklagen, beweglich winselnd, es sei der Würde der Geschichte unziemlich, von höchsten und allerhöchsten Herrschaften in dem von mir angeschlagenen Tone zu reden.

Weil ich nun der standhaften Überzeugung lebe, die Würde der Geschichte und Geschichtschreibung bestehe nicht im Vertuschen und Verränkeln, sondern in der Wahrhaftigkeit, so will ich der erwähnten Denunziation und Anklage gegenüber den Beweis der Wahrheit antreten, indem ich in nachstehender Studie die Laufbahn Karls XII. in raschesten Zügen dem Leser vorführe, beziehungsweise ins Gedächtnis zurückrufe. Es wird sich, hoffe ich, aus dieser Skizze ein Charakterbild ergeben, das den Wahrspruch: Der Könignarr! vollständig begründet. In den Augen von Urteilsfähigen nämlich.

1.

Am 17. Juni des Jahres 1682 ist im Schlosse zu Stockholm der zwölfte Karl geboren worden, der älteste Sohn Karls XI. und dessen Frau Ulrike Eleonore. Die Natur ließ sich, wie das beim Zurweltkommen von Kraftgenies so der Brauch, bei dieser Gelegenheit etliche Extrabemühungen nicht reuen. Wenigstens sagt die Legende allerhand Wunderbares aus. Es sei genau im Augenblick von des Prinzen Geburt das »Löwenherz« genannte Gestirn am östlichen Horizont emporgestiegen. Zugleich habe ein verheerender Orkan über die schwedische Hauptstadt hingefegt. Der Junge sei mit bluttriefenden Händen aus dem Mutterschoß gekommen, was seine Bestimmung zum großen Kriegshelden klärlich vorbedeutete.

Tatsache ist, daß unter allen Gaben des Prinzen die Phantasie so übermäßig vorschlug, daß er mit jedem Zoll seines Wachstums mehr und mehr zum Phantasten aufwuchs. Die Anlage dazu ist ein Erbteil nicht allein von mütterlicher, sondern auch von väterlicher Seite her gewesen. Karl XI. war zwar ein scharfverständiger Mann – Beweis dafür die schwere Eisenhand, die er auf die Grafen- und Freiherrnkrönlein der schwedischen Junkerei legte – aber dennoch hatte er in seiner Seele eine krankhaft phantastische Falte, woraus zuzeiten Halluzinationsdünste ihm in den Kopf stiegen. In einer solchen Stunde erlebte er in der Nacht zum 17. Dezember 1676 seine berühmte »Vision«, deren Hergang er urkundlich niederschrieb, deren »Wirklichkeit« er mit einem »leiblichen Eide« bekräftigte und durch vier unterfertigte »Augenzeugen« bestätigen ließ, so daß romantische Dämmerer und Tifteler ausreichende Gründe haben, diese königliche Vision für ein historisches Ereignis anzusehen.

Es ist überflüssig, unsern Helden in die Kinderstube und auf die Schulbank zu begleiten. Seine Erziehung war nicht besser und nicht schlechter als andere Prinzenerziehungen von damals. Er wurde viel mit orthodoxem Christentum, will sagen mit steifkragigem Luthertum behelligt, und dadurch ist ihm von frühauf theologischer Tick und Schick angeflogen, der ihn sein Leben lang häufig mit der Bibel hantieren und dilettieren ließ. Daneben lernte er das Latein radebrechen, das Französische notdürftig lesen, das Schwedische sehr schlecht stilisieren und entschieden unorthographisch schreiben. Im übrigen regte sich in ihm die »Heldennatur« frühzeitig genug: vierjährig ritt er seinen Pony; zwölfjährig schoß er seinen ersten Bären. Die Soldaterei war des Knaben Lebensfreude, und es verdroß ihn keine Mühe und Anstrengung, theoretisch und praktisch in das Kriegswesen sich einzuschulen. Nicht zu übersehen ist endlich, daß der Junge schon mitunter Einfälle hatte, mit äußerster Halsstarrigkeit festgehaltene Einfälle, welche befürchten ließen, es möchte in seinem Gehirn eine Schraube losgegangen sein. So, wenn er hartnäckig behauptete, blau wäre eigentlich schwarz, oder, der Hofmaler Behn sei entschieden eine Wasserratte.

Die »Gesalbten des Herrn« besitzen unter anderen Vorrechten bekanntlich auch dieses, viel früher als gewöhnliche Sterbliche zum Amte gelangen zu können und folglich zum Verstand. Während das Privatrecht ein Alter von einundzwanzig bis fünfundzwanzig Jahren vorschreibt, um den Leuten die Verfügung über ihre Privatangelegenheiten zu gestatten, sind infolge der unergründlichen Mysterien und Wunder des monarchischen Staatsrechts halbwüchsige Flegeljahreprinzen vollkommen fähig, die Angelegenheiten von Staaten zu leiten und die Geschicke von Völkern mehr oder weniger zu bestimmen. So geschah es denn, daß noch im Todesjahr seines Vaters (1697) der fünfzehnjährige Karl vom schwedischen Reichstag für mündig erklärt wurde und als Zwölfter seines Namens zu »regieren« begann. Daß er dies in seiner Art wirklich tun wollte, ließ er den Adel, welcher wähnte, seine guten Zeiten, wie sie vor dem elften Karl gewesen, würden unter dem zwölften zurückkehren, sofort empfindlich merken, indem er feudale Gelüste zurückwies und deutlich zu erkennen gab, er fühle sich als Schwedens alleiniger Herr. Denn in dem wunderlichen Mischmasch der Eigenschaften des jungen Königs fehlte auch ein stark vortretender Zug von despotischem Hoch- und Übermut nicht, der freilich von der pietistischen Marotte seltsam genug abstach. Doch nein; wir wissen ja, daß die »Frommen« zu allen Zeiten unduldsam und herrschsüchtig waren und sind.

Am 14. Dezember 1697 fand die Krönung oder vielmehr nur die Salbung des Königs statt. Denn entgegen dem bisher in Schweden üblichen Brauche wollte Karl nicht von der Geistlichkeit gekrönt, sondern nur gesalbt sein, und ritt daher auf einem mit silbernen Hufeisen beschlagenen Schweißfuchs zur Ritterholmkirche, die Krone auf dem Haupte, um jedermann zu zeigen, »daß ihm die wirkliche Herrschergewalt schon von Geburts wegen und ohne Zutun von irgendwem gebühre«. Dieser erste Anlauf à la Louis XIV. lief übrigens nicht sehr glücklich ab. Die Krone fiel nämlich während des Prozessionsritts dem angehenden Selbstherrscher vom Kopfe, und wäre in den Straßenkot gefallen, wenn der Hofmarschall Stenbock sie nicht unterwegs aufgegriffen hätte. Einer anderen Nachricht zufolge fiel das glänzende Ding wirklich zu Boden und schlug sich eine tüchtige Beule.

Die leibliche Erscheinung Karls zur Zeit, als er ausgewachsen war, ist bekannt. Eine ziemlich hohe, aber magere und schmächtige Gestalt, bräunlichblond behaart, schön blauäugig. Es ist kennzeichnend, daß ihm seine mädchenhaft zarte blühende Gesichtsfarbe als zu wenig mannhaft und heldisch zu nicht geringem Ärger gereichte und daß er alles mögliche tat, um ein wettergebräuntes und rostfarbiges Antlitz zu bekommen. Als Achtzehnjähriger warf er – und das ist vielleicht das Gescheiteste, was er je getan hat – die Perücke weg und erschien nur noch in kurz geschorenem, abenteuerlich aufwärts gekämmtem Haar. Sein Anzug war sein Leben lang sehr einfach und das Hauptstück desselben ein grüner oder blauer Soldatenrock mit kupfernen Knöpfen und ohne alle Verzierung. Aber wiederum bezeichnend ist es gewesen, daß er es liebte, in Wehr und Waffen recht goliathmäßig sich darzustellen. Seine ungeheuren Reitstiefel und Pfundsporen, seine enormen Stulphandschuhe und sein übermäßig langes und schweres Schwert standen in groteskem Mißverhältnis zu seiner Figur. Wie hierin, so lag ein Symptom der späteren Narrheit des jungen Mannes auch in seinem Prunken mit einer spartanischen Lebensführung. Er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne zu zeigen, daß gerösteter Speck seine Lieblingskost und Dünnbier sein Leibtrunk sei.

2.

Von einem sechzehnjährigen Monarchen darf man billig erwarten, daß er sich ordentlich »ausrase«, und diese Erwartung brachte Karl zu vollständigster und glänzendster Erfüllung. Doch ist ihm zu seiner Ehre nachzusagen, daß es nicht nach der Seite der Liederlichkeit hin geschah. Karl ist, wie bekannt, sein Leben lang ein keuscher Mensch gewesen, und die Weiber vermochten ihm nichts anzuhaben. Wie für Schönheit überhaupt, scheint er auch für die weibliche gar kein Organ und Verständnis gehabt zu haben. Innerhalb des Ideals von Heldentum, das er sich zurechtmachte, war für das weibliche Element kein Raum. Überhaupt ist in dem ganzen Gehaben und Gebaren des Schwedenkönigs in seinen reiferen Jahren eine – nicht allein physische – Nüchternheit, eine Trockenheit und eine Verstandsdürre gewesen, welche von seiner aufgedonnerten Herosrolle ganz absonderlich abstachen. Man muß unwillkürlich an den ingeniösen Caballero aus der Mancha denken; denn, wie jedermann weiß, war ja auch Don Quichotte unbeschadet seiner ritterlichen Narrheit ein nüchterner, trockener Geselle.

Der junge Fürst ließ es sich in der Tat sauer werden, zu einem »rechten Königsmann sich zu perfektionieren«. Er schlief in Winternächten auf dem Heuboden der Hofstallung, er stand mitten in der Nacht auf, um sich im bloßen Hemde auf die nackte Diele zu legen. In tollem Reiten, wildem Schlittenfahren und kühnem Jagen leistete er das Menschenmögliche und sozusagen noch mehr. Bei Tafel belustigte er sich, seinen Gästen Kirschkerne ins Gesicht zu schnellen und einem gezähmten Bären Zuckeraufsätze einzuzwängen und Kannen voll Wein einzugießen. Nach Tische machte es ihm Spaß, Stühle zu zerbrechen, Kronleuchter zu zerschlagen und aus Pistolen nach den Marmorstatuen in den Sälen zu schießen.

Diese »in Kinderschuhen« vollbrachten Heldentaten steigerten sich bis zum Gipfel anstößiger Extravaganz, so oft des jungen Königs Vetter und Schwager – er hat Karls Schwester Hedwig geheiratet –, der Herzog Friedrich III. von Holstein-Gottorp, nach Stockholm kam. Die beiden edeln Schwäger führten sich auf, als wären sie soeben einem Tollhause entsprungen. Rasende Wettritte und Wettfahrten wechselten mit Hasenhetzen, deren Schauplatz der Reichstagssaal war. Bei Tage sprengten die Herren mit ihrem Gefolge im bloßem Hemd und mit gezogenen Säbeln durch die Stadt; bei Nacht trieben sie in den Straßen mit Fenstereinschlagen, Türenzerbrechen, Schilderzerschmeißen usw. ärgerlichsten Mutwillen. Mehrere Tage hintereinander erprobte der König auf des Herzogs Anstiften sein Kraftgenie dadurch, daß er in einem Saale des Schlosses Kälber, Schafe und Ziegen je mit einem Säbelhiebe enthauptete. Die abgeschlagenen Köpfe der Tiere aber wurden durch die Spiegelscheiben der Fenster auf die Straße geworfen. Fast zu derselben Zeit übte sich Karls späterer Hauptfeind und Überwinder, Zar Peter von Rußland, ebenfalls im Köpfen, indem er, wie glaubwürdig versichert wird, nahezu einem Hundert gefangener Strelitzen die Köpfe absäbelte.

Aber diese gleichzeitig in Stockholm und in Moskau betriebene hochfürstliche Schlächterei mag fast wie ein sinnbildliches Vorzeichen späterer Weltereignisse erscheinen; denn es ist darin gewissermaßen der gewaltige Unterschied zwischen dem Schwedenkönig und dem Russenzaren und ihren weltgeschichtlichen Rollen angedeutet. Karl köpft Kälber und Schafe: – seine ganze Laufbahn ist eine plan- und ziellose, nicht nur unfruchtbare, sondern entschieden gemeinschädliche Kraftvergeudung. Der Kulturbarbar Peter köpft Strelitzen, um in diesen russischen Janitscharen eins der größten Hindernisse zu beseitigen, die dem mit furchtbarer Energie durchgeführten Riesenplan seines Lebens, Rußland aus dem asiatischen Faulschlaf heraus und in das europäische Völkerleben hereinzureißen, sich entgegenstellten. Karl richtet die Geltung Schwedens als eines europäischen Großstaats auf immer zugrunde, Peter erhebt Rußland zu einer europäischen Großmacht. Der Kampf zwischen den beiden war eine Fehde zwischen gesundem Menschenverstand und Phantasterei, und selbstverständlich mußte jener schließlich den Sieg davontragen …

Man hieß die Tollheiten, welche Karl in Gesellschaft seines Schwagers trieb, in Schweden die »gottorpischen Rasereien«, weil man annahm, der Herzog verleite den jungen König dazu, und zwar aus böswilliger Berechnung. Wenn nämlich Karl gelegentlich den Hals bräche, so hätte der Herr Schwager gute Aussicht, seinen Herzogshut mit der Schwedenkrone zu vertauschen. Und halsbrecherisch genug waren die Experimente, zu denen der König sich verleiten ließ. So ließ er sich eines Tages bereden, auf einen eben eingefangenen Hirsch zu steigen, und brachte von diesem Ritt mit knapper Not das Leben heim. Eines andern Tages trieb der Herzog seinen Schwager an, einen Haufen lose aufgestapelter Bretter hinaufzugaloppieren, was geschehen wäre, falls das entschlossene Dazwischentreten eines schwedischen Magnaten das lebensgefährliche Abenteuer nicht hintertrieben hätte.

Man glaubte, eine Frau würde ein helfendes Mittel gegen alle die knabenhaften Berserkereien sein, und bemühte sich daher, den König zum Heiraten zu bestimmen, um so mehr, da es den Anschein hatte, als hegte der jugendliche Stürmer und Dränger gerade zu dieser Zeit (1698) zärtliche Gefühle für das Hoffräulein Lewenhaupt. Es war aber nichts damit. Karls Großmutter Hedwig Eleonore gab sich große Mühe, unter den Prinzessinnen in der Nähe und Ferne ihrem Enkel eine passende Braut zu wählen. Es wurde nach und nach ein ganzes Schock heiratsfähiger Fürstentöchter in Vorschlag gebracht, allein umsonst: der junge König war und blieb ehescheu. »Axel«, sagte er eines Tages zu seinem Günstling Axel Wachtmeister, der in ihn drang, sich zu vermählen, »wenn du mich liebhast, so sprich mir nie mehr davon«.

Sein Sinn war auf ganz anderes gestellt, und er hatte zum Heiraten weder Lust noch Zeit. Zwar die Regierungsgeschäfte tat er in lässig-autokratischer Manier nur so nebenbei ab, indem er sich in seinem Schlafzimmer durch die Quasiminister Polus und Oxenstierna über die auswärtigen und durch Piper über die inneren Angelegenheiten Vortrag halten ließ und seine Entscheidungen gab. Dagegen waren seine Tage und teilweise auch seine Nächte hinlänglich ausgefüllt mit kraftgenialischen Übungen und Strapazierungen, mit nimrodischen und soldatischen Zeitvertreiben aller Art. Wenn noch eine Stunde übrigblieb, sah man den König über einen Folianten von hundert Druckbogen sitzen, den er zu seinem Leib- und Lieblingsbuch gemacht hatte. Das war der »Gideon von Maxibrander«, ein alter Ritterroman, aus dessen Lesung Karl ganz denselben Nutzen zog, wie der Liebhaber Dulzineas von Toboso aus der Lesung des »Amadis von Gallien« und des »Palmerin von England«. In allem Ernste, der König studierte in dem genannten romantischen Wälzer Politik, Regierungsweisheit und Kriegskunst, und sein Dichten und Trachten ging dahin, dem hochedeln Gideon von Maxibrander möglichst ähnlich oder gar gleich zu werden. Kein Wunder daher, daß Karl XII. der Don Quichotte der Weltgeschichte wurde, der in der Person seines Landsmanns Fryxell nicht zwar seinen Cervantes, wohl aber einen höchst fleißigen Biographen gefunden hat.

3.

Inzwischen war jene Konstellation der europäischen Politik zur Reife gediehen, welche den sogenannten »Nordischen« Krieg herbeiführte und den achtzehnjährigen Schwedenkönig seine Rolle als historischer Maxibrander zu spielen anheben ließ. Schweden war damals im Besitze von Finnland, Ingermanland, Estland und Livland, von Rügen, Vorpommern und Stettin, von Wismar, von Bremen und Verden. Es zählte mit unter den Staaten ersten Ranges. Da es aber gewaltsam auf diese Machtstufe gelangt, da es seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts fortwährend durch Kriegsraub gewachsen war, so war es ganz natürlich, daß sämtliche Nachbarn mit Neid und Haß auf das Land blickten. Der Hingang Karls XI. schien ihnen die langersehnte Möglichkeit zu eröffnen, an dem von einem Knaben regierten Schweden für manche empfangene Unbill Rache zu üben und nun ihrerseits vorteilhafte Kriegsraubgeschäfte zu machen. An Vorwänden hierzu fehlte es nicht, und hätte es auch daran gefehlt, so kümmerte das die durchaus gewissenlose Kabinettspolitik, die ganz und gar skrupelfreie Staatspolitik von damals, die nur eine organisierte, im großen betriebene Land- und Seeräuberei war, blutwenig oder gar nicht. Von den Völkern, ihren Rechten, Bedürfnissen, Leiden und Wünschen war ohnehin gar keine Rede. Die Könige von damals würden, so man ihnen davon gesprochen hätte, ebenso verwundert aufgeschaut haben, wie heutzutage ein Schachspieler täte, den man überreden wollte, er dürfte nicht eine beliebige Anzahl von Figuren opfern, um dahin zu gelangen, dem Gegner ein vielversprechendes Schach zu bieten.

Ihre widerschwedischen Interessen und Absichten führten den vierten Friedrich von Dänemark und den körperstarken, aber geistes- und charakterschwachen Bruder Liederlich, Kurfürst August von Sachsen und König von Polen, mit Zar Peter von Rußland leicht zu einer Koalition zusammen. Später trat auch Preußen der Kompanie gekrönter Räuber bei. Die Operationen des gemeinsamen »Geschäfts« sollten darauf gerichtet sein, Schweden also zu berauben, daß Dänemark die Herzogtümer Schleswig-Holstein dem Gottorper, dem schwedischen Schützling, entrisse, daß ferner Kexholm, Ingermanland und ein möglichst großes Stück Finnland an Rußland, Livland und Estland an Polen, Stettin und etwa ein Stück Vorpommern an Preußen gebracht würde. Alle diese Raubgedanken sind seither bekanntlich verwirklicht worden, und zwar in noch größerem Umfange, wenn auch ziemlich abweichend von der ursprünglich geplanten Weise.

Nun aber hatten sich Schwedens Feinde in dem Knaben Karl zunächst bitterlich verrechnet. Er verblüffte die Gegner durch sein erstes Auftreten auf der Weltgeschichtsbühne nicht weniger, als er noch lange nachher die Historiker verblüfft hat, gerade so lange nämlich, als die Geschichtschreibung von dem »göttlichen Recht« monarchischer Willkür ebenso fest überzeugt war wie die Monarchen selbst. Ein unsäglich beelendendes Gefühl überkommt einen, wenn man durch die dicken Quartanten sich durcharbeiten muß, in denen klägliche Pedanten mit gelahrter Niedertracht und niederträchtiger Gelahrtheit die Ereignisse jener Zeit verzeichneten. Man muß die deutschen Historienbücher von damals kennen, um so recht zu wissen, in welche Kloake von Barbarei und Gemeinheit der deutsche Geist zu Anfang des 18. Jahrhunderts versunken war. Was für eine Zeit, wo ein solches Lasterbündel von Landverderber, wie August der Starke war, nicht nur in allen Tonarten der Schmeichelei als »der Große« angedudelt wurde, sondern allen Ernstes für einen großen Mann und Musterfürsten galt, selbst in den Augen seines eigenen, von ihm bis aufs Blut geschundenen Sachsenvolkes! Die deutsche Knechtschaffenheit jener Periode hat sich in den Gedichten des Mannes, der lange Jahre den »deutschen Parnaß gouvernierte«, ein Denkmal von Kot errichtet. Denn in Wahrheit, es dürfte in den verdorbensten Zeiten von Rom und Byzanz schwerlich ein Afterpoet geschweifwedelt und gespeichelleckt haben, der es an Bedientenhaftigkeit mit dem Herrn Professor Gottsched hätte aufnehmen können Das Tollste ist, daß, nachdem er sich in seinen Versen seitenlang vor August dem Starken förmlich im Staub gewälzt, der schamlose Pedant die Frechheit hatte, auszurufen:
»Du strenge Wahrheit(!), laß dies Blatt
In deinem Tempel ewig währen!
Mein Mund ist kein erkaufter Mund,
Er hat nicht schmeichlerisch gesungen.
Und doch sollte Gottsched noch übergottschedet werden, von einem gewissen Hanken nämlich, welcher edle Hofrat in seinem Trauergedicht auf den Tod Augusts des Starken (1733) also lobposaunte:
»Kein König hat gelebt, kein König ist gestorben,
Der soviel wahren Ruhm gleich dem August erworben;
Schweig', prahlerhaftes Rom, vom Titus und Trajan!
August hat mehreren als jene wohlgetan.
Es wird ganz Sachsenland und alle Welt bekennen,
Er sei ein Vater mehr als König zu benennen.
Wie man mit Klugheit herrscht, mit Gütigkeit regiert,
Das Volk bei Friedenszeit zur Kriegesschule führt,
Wie man durch Wissenschaft so Pracht als Kunst verbindet,
Die stolzen Feinde schlägt, ja selbst sich überwindet,
Der Rache Süßigkeit ganz aus den Augen setzt,
Des Landes Wohlfahrt mehr als eitle Ruhmsucht schätzt,
Dies alles hat August, ja noch viel mehr erwiesen,
Was uns das Altertum vom Herkules gepriesen.
Der gute Mann hatte gar keine Ahnung, daß er, da jede Zeile seiner Lobsalbaderei eine Lüge, eigentlich eine scharfe Satire geschrieben habe. Die sogenannten Historiker wetteiferten mit den sogenannten Poeten um den Preis der Gemeinheit. Man durchblättere, um sich davon zu überzeugen, die »Heldengeschichten« der Faßmann, Gundling und Konsorten.
. Welche glorreiche Riesenarbeit haben unsere Helden, Heiligen und Märtyrer getan, unsere Aufklärer und Klassiker, unsere Denker und Dichter, alle die unsterblichen Lichtbringer von Thomasius bis Kant, von Klopstock bis Schiller, indem sie eine so entsetzlich versumpfte Nation wieder zum Bewußtsein der Menschenwürde erhoben! …

Das Debüt des achtzehnjährigen Schwedenkönigs hatte etwas wirklich überraschendes, so daß die Verwunderung Europas sich leicht erklärte. Wie eines flammenden Nordlichts Aufleuchten war der Aufschritt des Jünglings, der Phantasie des Menschen sich bemeisternd und ihnen ein mit Schrecken gemischtes Staunen abnötigend. Es schien eine Weile, daß im Norden ein moderner mazedonischer Alexander aufgestanden und daß es Schwedens Geschick wäre, die vorherrschende Macht des Erdteils zu werden. Die blitzschnell sich folgenden, glanzfunkelnden Erstlingserfolge des jugendlichen Heldenkönigs, wie er alsbald genannt wurde, ließen selbst nüchtern gestimmte Beobachter nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb Schwedens darüber hinwegsehen, daß der schwedische Staat schon um seiner übel bestellten Finanzen willen – Karl hatte die sämtlichen Ersparnisse seines klugen Vaters binnen drei Jahren kraftgenialisch vertan – gar nicht imstande sei, der Durchführung einer Helden- und Erobererrolle zur Grundlage zu dienen. Daß aber Karl, durch seine ersten wundersamen Erfolge völlig in die Region donquichottischer Phantasiewillkür und maxibranderischer Romantik hineingeschwindelt, diese Rolle sich aneignete, unterliegt keinem Zweifel. Sie machte ihn, mehr und mehr in seinem Gehirn zu einer fixen Idee sich verknöchernd, erst zu einem glänzenden, dann zu einem verwilderten Abenteurer und schließlich zu einem ganzen Narren, dessen lichte Augenblicke immer seltener wurden.

4.

Die Zettelungen und Zurüstungen der Feinde Schwedens waren gerade mit dem Jahrhundert so weit gediehen, daß man die Koalitionsmine explodieren lassen konnte. Zuerst brach Dänemark los, und zwar gegen Karls Schwager und Schützling, den Herzog von Schleswig-Holstein, während Rußland und Polen sich anschickten, Livland und Estland anzufallen.

Karl hatte außerordentliche Mühe, die zu seinen Rüstungen nötigen Gelder aufzubringen, und er erkaufte sie nur durch schwere Zugeständnisse an die schwedische Aristokratie. Am Abend des 13. April 1700 verließ er die Hauptstadt, um seine Maxibranderlaufbahn anzutreten, und er hat Stockholm nie wieder gesehen. Am 25. Juli legte die schwedische Flotte am Toberuper Felde zwischen Kopenhagen und Helsingör auf Seeland an und bewerkstelligte Karl unter lebhafter Gegenwehr der Dänen die Landung seiner Armee. Mitten im Wirrwarr des Landungskampfes soll der König einen alten Soldaten gefragt haben: »Was ist das für ein Sausen in der Luft?« – »Das Pfeifen der Kugeln, Majestät.« – »Wohl, das soll künftig meine Leibmusik sein.« Diese Anekdote ist, wie viele von Karl erzählte, nicht Geschichte, sondern Wachtstubenpoesie. Der dänische Feldzug nahm übrigens ein rasches Ende. Denn bevor Karl zu seinem beabsichtigten Sturm auf Kopenhagen schreiten konnte, beseitigte der am 8. August zu Traventhal zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein geschlossene Friede die Ursache des Krieges. Der Schwedenkönig benahm sich, vor der dänischen Hauptstadt lagernd, mit der Großmut eines irrenden Ritters, indem er von Dänemark als Friedensbedingung nur das Versprechen forderte, den Feinden Schwedens keinen Vorschub, zu leisten. Dann zog er ab und heim nach Schonen und von da nach Bleckingen, wo gegen den Russenzaren Peter und den Polenkönig August, die inzwischen ebenfalls den Krieg begonnen hatten, gerüstet wurde.

Am 1. Oktober stach Karl mit einer Flotte von zweihundert Schiffen und achttausend Mann Truppen von Karlskrona und Karlshamen aus in die Ostsee, landete nach einer stürmischen Überfahrt in Pernau und wollte zunächst auf Riga marschieren, weil er dort das Heer Augusts des Starken vermutete. Nachdem er aber erfahren, daß die Sachsen bereits in die Winterquartiere gegangen seien, brach er, ohne weitere Verstärkungen abzuwarten, mit seinem kleinen Heer gen Narwa auf, das Zar Peter mit achtzigtausend Russen belagerte. Wie glänzend Karl am 20. November 1700 bei Narwa mit seinen acht- bis neuntausend Schweden die nahezu zehnfache russische Übermacht besiegte, ist bekannt. Der Zar, der den Tag von Narwa nicht mitgemacht hatte, war in seiner Art Philosoph genug, die Nachricht der furchtbaren Niederlage seiner Truppen mit den Worten zu beantworten: »Ich weiß recht wohl, daß die Schweden uns noch manches Mal schlagen werden; allmählich werden wir aber von ihnen lernen, sie wieder zu schlagen.« Das hieß wie ein Staatsmann sprechen. Der Schwedenkönig sagte, über die ersiegte Walstatt reitend: »Es ist gar kein Vergnügen, mit den Russen sich zu schlagen; denn sie halten nicht stand, sondern laufen davon.« Das hieß wie ein Maxibrander sprechen.

Dem raschen Erfolg auf Seeland und dem Glanzsieg bei Narwa reihte sich als dritte große Schicksalsgunst der zermalmende Schlag an, womit Karl am 9. Juli 1701 an der Düna bei Riga ein sächsisch-russisches Heer vernichtete. Wenn jetzt der Sieger als Politiker handelte, mußten ihm die großartigsten Vorteile zufallen. Allein statt Politik trieb der Schwedenkönig nur Donquichotterie, und zwar mit einem Starrsinn, der schon jetzt häufig den anhebenden Wahnsinn durchblicken ließ.

Er hatte sich's in den Kopf gesetzt, alle seine Macht und Stärke gegen den allerungefährlichsten seiner Gegner zu wenden, gegen August, den leibstarken Schwächling, den er vom polnischen Throne stoßen wollte. Es half nichts, daß August um Frieden bat. Es half nichts, daß alle denkenden Männer in Karls Umgebung ihm eindringlich vorstellten, der Rachezug gegen den Kurfürsten von Sachsen würde das Gebiet der Republik Polen berühren und demnach auch diese, welche bislang ihren König seinen Streit allein hatte ausfechten lassen, gegen Schweden in Harnisch bringen. Es half endlich auch nichts, daß man dem Könige zeigte, sein weitaus gefährlichster Gegner sei der Zar Peter, und gerade diesem würden ja die schwedischen Ostseeprovinzen preisgegeben sein, während Karl in Polen und Sachsen dem Phantom einer romantischen Rache nachjagte. Es half alles nichts, der Unsinn mußte seinen Lauf haben, und damit ist denn auch der große Wendepunkt in Karls Weltstellung und Geschicken eingetreten. Aus dem heldischen König wurde ein blind ins Blaue fahrender Kriegsspektakeler, dessen Rassel und Getobe man lächerlich nennen könnte, wenn es nicht für Länder und Völker so unheilvoll und verderblich gewesen wäre. Vorab auch für sein eigenes. Karl hatte von den Pflichten eines Regenten gar keine Vorstellung und ist trotz der schweinsledernen Bibel, welche er immer mit sich herumschleppte, ein ganz und gar gewissenloser Mensch gewesen, der alles seinen Grillen und Launen, mit einem Wort, seiner Narrheit opferte und sein Vaterland zugrunde gerichtet hat.

Unzugänglich allen Gründen der Vernunft und allen Regeln und Forderungen der Kriegs- und Staatskunst zum Trotze drang, die russische Macht in seinem Rücken lassend, der »nordische Alexander«, wie der Unverstand ihn nannte, in Polen ein, überzog das Land und zwang den Reichstag, die Absetzung des leibstarken Augustus zu dekretieren und eine neue Königswahl anzuordnen, die dann auch statthatte und dahin ausschlug, daß die widersächsische Partei den Kandidaten Karls, den Stanislaus Lescinski, ein Mitglied der polnischen Schlachta (niederer Adel), zum König erkor. Dieser nationalpolnische Gegenkönig des sächsischen Augustus war übrigens nicht mehr wert als dieser. Zwar lange nicht so liederlich wie der Leibstarke, aber ein schlaffer Tabakschmaucher, ein Nichtkönig jeder Zoll. Einstweilen hielt Karls langer Degen diese Königspuppe auf ihrem Throne aufrecht, während der »löwenmutige« Augustus das Hasenpanier ergriff und nach Sachsen entwich.

Bevor dies geschah und während der Krieg noch in Polen spielte, hat sich in Karls Laufbahn eine Episode hineingeschoben, die unzweifelhaft als ein »lichter Moment« bezeichnet werden darf. Der sächsische Augustus nämlich, der Vater von dreihundert und etlichen Bankerten, dem man, wie vormals dem Papst Alexander VI., nachsagte, daß er der Liebhaber einer seiner eigenen Töchter, der sogenannten Gräfin Orzelska, sei – also der sächsische Augustus glaubte, während er noch in Warschau saß, ein neunzehnjähriger Berserker von Schwedenkönig müßte doch wohl auch seine schwache Seite haben und, wenn nicht für Diplomaten in Perücken, so doch gewiß für Diplomaten in Schnürleibern und Unterröcken zugänglich sein. Demzufolge suchte er einen sehr willkommenen Besuch, womit ihn eine seiner abgelegten Mätressen, die bekannte schwedische Gräfin Aurora von Königsmark, die er zur Koadjutorin der Abtei Quedlinburg gemacht hatte, in Warschau überraschte, zugunsten seiner Angelegenheiten auszunutzen, indem er die allbereits dreiunddreißigjährige Schöne (sie war 1668 geboren), welche aber immer noch eine Schöne war, mit einer Friedensmission ins schwedische Hauptquartier betraute … Aurora, ihren Reizen und ihrer Klugheit vertrauend, machte sich also nach Würzau in Kurland auf und langte zur Neujahrszeit von 1702 glücklich dort an. Allein die Unterrocksdiplomatik scheiterte völlig und kläglich. Der königliche Gideon von Maxibrander, kalt wie Schnee und keusch wie Eis, ließ die vornehme Exbuhlerin gar nicht vor sich. Vergeblich ließ sie alle Künste ihres ehemaligen Gewerbes spielen; umsonst verlegte sie sich auf allerhand Listen, um eine Begegnung mit Karl zu erzwingen; vergeblich bombardierte sie ihn mit zierlichsten Billetts; umsonst reimte sie ihn französisch an, freilich in sehr ordinären Perückenstilversen. Er wollte sie schlechterdings nicht sehen und ließ sie gänzlich unverrichteter Dinge, was man so nennt, abfahren. Dessenungeachtet hat die nicht eben sehr zartfühlende Dame später es noch einmal versucht, sich dem Schwedenkönig zu nähern. Nämlich als dieser nach dem Abschlüsse des Friedens von Altranstädt (September 1706) in Leipzig Hof hielt. Sein Minister Piper machte dort mit Festen und Gastereien großen Aufwand, und eines Tages beabsichtigte er zur Hochzeit seiner Schwägerin auch die in der Stadt anwesende Gräfin von Königsmark einzuladen. »Darf ich?« fragt er seinen Gebieter, welcher ebenfalls zu kommen versprochen hat. »Habe nichts dagegen.« – »Aber, Majestät, ich bin in Verlegenheit, welche Ehrenbezeigungen der Gräfin erwiesen werden sollen, ohne die Rangansprüche der übrigen Damen zu beeinträchtigen.« – »Ehrenbezeigungen? Was? sie ist ja 'ne Hure.« – »Aber, Majestät, Gräfin Aurora gehört einer großen Familie an, und man kann ihr doch eigentlich nur vorwerfen, die Geliebte eines Königs gewesen zu sein.« – »Ei was, König oder Bauer! Sie ist und bleibt eine Hure und soll wegbleiben!« … Das stimmte nun freilich nicht sehr zu dem herrschenden Ton im »galanten« Sachsen, überhaupt nicht zum vornehmen Lotter- und Luderton der Zeit, war aber nur um so richtiger und braver gesprochen.

Also nach Sachsen hatte Karl in Verfolgung Augusts des Starken den Krieg getragen, am 22. August 1706 mit zwanzigtausend Mann bei Hernstadt in Schlesien den deutschen Boden betretend, auf welchem Erinnerungen an die Schwedengreuel des Dreißigjährigen Krieges wachzurufen die schwedische Soldateska eifrig und erfolgreich sich bemühte. Das arme Sachsenland, das der polnisch-schwedische Streithandel seines starken Landesvaters gar nichts anging, hatte in diesem Streite schon sechsunddreißigtausend Soldaten, achthundert Geschütze und achtundachtzig Millionen Taler aufgewendet und geopfert, und jetzt hatte es noch die schwedischen Presser auf dem Halse, ein ganzes Jahr lang.

Der jämmerliche August mußte sich zu dem bereits erwähnten Altranstädter Friedensschluß bequemen, der ihn zum Kurfürsten von Sachsen degradierte. Der »Große« scheute nicht einmal vor der Schmach zurück, den livländischen Patrioten und widerschwedischen Diplomaten Patkull, welcher grell-völkerrechtswidrig als Gefangener auf dem Königsteine saß, an Karl auszuliefern, der auf seinem im Herbst 1707 angetretenen Zuge von Sachsen nach Polen den Unglücklichen in so infernalisch-grausamer Weise hinrichten ließ, daß diese eine Brutalität schon ausreicht, all das dumme Gerede von Karls Großmut richtig zu werten. Der ritterliche Narr konnte unter Umständen ein sehr grausamer Narr sein.

Der Aufbruch aus Sachsen nach Polen war erfolgt, weil, während der Schwedenkönig jahrelang in Polen und Sachsen maxibranderisch umhergerasselt war, um gänzlich unfruchtbare Lorbeeren zu gewinnen, der Russenzar in den schwedischen Ostseeprovinzen solide Eroberungsgeschäfte gemacht und Petersburg gegründet hatte. Karl bildete sich ein, mit dem Peter ebenso schnell fertig zu werden, wie er es mit den ökonomisch und moralisch verlumpten polnischen Magnaten und ihrem ebenbürtigen König August geworden war. Taub für alle Warnungen, zog er mit seinen Schweden, für welche Sachsen, wie man sich gelehrt ausdrückte, zu einem Kapua geworden war, durch Schlesien nach Litauen, von dort nach Großpolen und Masovien und von da immer weiter und mitten nach Rußland hinein, bis nach – Poltawa. Unterwegs auf dem Marsche von Smorgoni gen Borissow, erhaschen wir, mit Hilfe der Memoiren des russifizierten Polen Bulgarin, den letzten lichten Moment, den letzten wahrhaft menschlichguten Schimmer in Karls Leben Bulgarin (Mem. I, 75 fg.) teilt aus dem Munde seiner Urgroßtante, der Panna Onjuchowfka, welche ein Alter von einhundertundfünfzehn Jahren erreichte, mit, was sie von der Einkehr des Schwedenkönigs in ihrem Vaterhause im Jahre 1708, zur Zeit, wo sie ein halbwüchsiges Mädchen von zwölf Jahren war, ihrem Urgroßneffen erzählt hat. Es war bei ihrem Vater für den König Quartier angesagt, und die ganze Schlachtitzfamilie rüstete und putzte sich aufs beste, den hohen Gast zu empfangen. Gegen Mittag ritten zwei Offiziere, von einem Soldaten begleitet, in den Hof. »Ob das wirklich Adjutanten des Schwedenkönigs sein mögen? So ärmlich gekleidet!« Die Offiziere stiegen ab, und der Marschall (Hausmeister) empfing sie in dem Vorsaal. Sie fragten nach dem Hausherrn, der sich mit der ganzen Familie hinauf begab. »Sind Sie der Herr vom Hause?« fragte der jüngere der beiden Offiziere höflich in deutscher Sprache. »Zu dienen. Was ist Ihnen gefällig?« – »Das königliche Quartier ist hier. Haben Sie die Güte, uns die für den König bestimmten Zimmer zu zeigen.« – »Mein ganzes Haus steht zur Verfügung Sr. Majestät.« – »Ihm genügt ein Zimmer, zwei andere aber erbitte ich für die Kanzlei und Adjutantur.« – »Richten Sie alles nach Ihrem Wohlgefallen ein. Aber sagen Sie mir, wird der König bald vorfahren, damit wir uns anschicken können, ihn gebührend zu empfangen?« – »Sie haben ihn bereits empfangen. Ich bin der König« … Karl benahm sich sehr freundlich gegen seine Quartiergeber. Er aß am Familientisch und war äußerst genügsam und erkenntlich. »Mir ist,« erzählt Panna (Herrin) Onjuchowska, »als sehe ich ihn noch vor mir, diesen schrecklichen König, über den so viele Bücher geschrieben sind. Drei Tage lang hatte ich Gelegenheit, mich nach Herzenslust an ihm satt zu sehen. Er, welcher die Welt in Schrecken setzte, war sanft wie ein Lamm und verschämt wie eine Nonne. Von ziemlich langem, schlankem und schmächtigem Wuchse, hatte er ein Gesicht, das im Verhältnis zum Rumpfe und selbst zum Gesicht auch nicht häßlich finden. Seine dunkelblauen Augen glänzten wie Brillanten. Er trug keine Perücke. Sein blondliches Haar war leicht gepudert, kurzgeschoren, nach oben hinausgekämmt und im Nacken zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Er sah sehr jugendlich aus, stets trug er eine blaue Uniform mit gelbem Futter und rotem Kragen, gelblederne Beinkleider und ungeheuer große Stiefel mit gar gewaltigen Sporen. Sein Schwert, seine fast bis zum Ellenbogen reichenden Lederhandschuhe, seine Stiefel samt den Sporen standen in so ungünstigem Verhältnis zu seiner Gestalt, daß wir Mädchen seine Goliathsrüstung bespöttelten.«.

Hundertundvier Jahre später ist an der Spitze der gewaltigsten und stolzesten Armada, die die Welt bis dahin gesehen hatte, ein anderer Eroberer denselben Weg gezogen, um in Moskau die Nemesis zu finden, den Anfang vom Ende, den Beginn der Strafe für den beispiellosen Mißbrauch eines beispiellosen Genies und Glücks. Karl XII. richtete seinen Marsch nicht soweit nach Osten, sondern bog in südöstlicher Richtung rechtshin ab, nach der Ukraine, indem er sich, verführt von den überstiegenen Hoffnungen, welche er auf das von dem Kosakenhetman Iwan Stephanowicz Maseppa ihm angetragene Bündnis, sowie auf die Hilfeverheißung der Türken setzte, mit gewohnter Tolldreistigkeit in die Unermeßlichkeit der südrussischen Steppen warf. Ein recht und schlecht donquichottisches Unternehmen von Anfang an und so recht und schlecht maxibranderisch geführt! Die unglücklichen, dem Verderben entgegengeschleppten Schweden hätten von Rechts wegen den Narrenkönig in ein Zwangshemd verpacken und ins Tollhaus nach Stockholm heimschicken sollen. Kennzeichnet es doch die ganze Lage, daß Karl eine närrische Freude empfand, als ihm Maseppa – der bekanntlich ein anderer in Byrons Prachtgedicht und ein anderer in der Geschichte – zu Kalomak vorgeflunkert hatte, »es seien von hier nur noch acht Meilen bis zur asiatischen Grenze, soweit also seien Sr. Majestät unwiderstehliche Waffen bereits vorgedrungen«. Der König nahm diesen Humbug für bare Münze, wie sich denn solche Starrköpfe am leichtesten durch Lügen gängeln lassen, und sagte eifrigst: »Dahin müssen wir, um sagen zu können, daß wir auch in Asien gewesen.«

Inzwischen hatte Zar Peter sich bemüht, seine nach der Niederlage bei Narwa getane Prophezeiung in Erfüllung zu bringen, das heißt seine Russen von den Schweden lernen zu lassen, wie man die Schweden besiegte. Er sorgte auch dafür, daß am Entscheidungstage die Russen ihren bis auf wenige Tausende herabgeschmolzenen, abgehetzten, schlecht mit Munition versehenen Gegnern sehr beträchtlich an Zahl überlegen waren. Dieser Entscheidungstag bei Poltawa, bis wohin aller flehentlichen Bitten seiner Getreuesten ungeachtet, allen Warnungen des schlauen Maseppa zum Trotz Karl vorgedrungen, der 9. Juli 1709 machte dann der ritterlich-romantisch-sinnlosen Irrfahrt desselben ein Ende mit Schrecken. Das ganze schwedische Heer wurde vernichtet oder gefangen. Ein verwundeter Flüchtling, entging der König nur mit Mühe den Verfolgern. In der Nacht zum 11. Juli setzte er mit seinen Fluchtgenossen über den Dnjepr, floh weiter zum Bug und von diesem bis nach Bender, die Gastfreundschaft der Türken ansprechend.

»Nun stehen Petersburgs Grundmauern unerschütterlich fest!« schrieb vom Siegesfelde bei Poltawa triumphierend der Zar.

5.

Unter allen den abenteuerlichen Kapiteln der Geschichte Karls XII. bildet die Zeit, wo er, um mit Tegnér zu reden, »in Bender lag«, sicherlich das abenteuerlichste. Ein hilfloser Flüchtling wird von der Regierung eines ihm wildfremden Volkes, das nicht die geringste Verpflichtung gegen ihn hat, mit großmütigster Gastlichkeit aufgenommen, in freigebigster Weise jahrelang bewirtet – das Gefolge des Königs, ab und zu an Zahl wechselnd, betrug durchschnittlich vierhundert Personen, zuletzt aber siebenhundert, und zum Unterhalt desselben gab die Pforte außer den Lebensmitteln und der Fourage täglich noch fünfhundert Taler her –, der Gast dagegen bietet alles auf, um in seine tollen Händel auch seinen großmütigen Wirt zu verwickeln, er verstrickt ihn in einen Krieg, zettelt Ränke aller Art unter seines Wirtes Untergebenen an, wird dadurch nachgerade diesen und jenem im höchsten Grade überlästig, steigert aber nur in demselben Maße seine unverschämten Ansprüche noch und endigt damit, das unbestreitbare Recht des hundertfach beleidigten und gemißbrauchten Wirtes, den tollen Gast zum Hause hinauszuweisen, mit der blanken Waffe zu bestreiten. Und das alles, während sein heimisches Land, in Todesnöten ringend, umsonst des Königs Heimkehr erbittet und erfleht! War dies nicht das Gebaren eines Narren, so hat es ein solches nie gegeben.

Volle fünf Jahre und etliche Monate lang lungerte Karl in Bender. Es gelang ihm, die Türken zum Kriege gegen Rußland zu stacheln, zu jenem Kriege, im Verlaufe dessen die Größe und das Glück des Zaren Peter im Lager bei Husch am Pruth zu Staub zerrieben worden wären, wenn der Großwesir Baltadschi Mohammed nicht entweder ein Esel oder ein Schuft oder auch beides zugleich gewesen wäre. Es wurde auch gemunkelt, daß er den Zaren am Pruth habe laufen lassen, um dem ihm verhaßten Einlagerer von Schwedenkönig einen Possen zu spielen (Juli 1711). Sicher ist, daß es diesem nicht glücken wollte, die Türken zum zweiten Male gegen die Russen zu hetzen. Obwohl er aber einsehen mußte, sein Gewerbe in der Türkei sei zu Ende und er sei den Türken im höchsten Grade lästig und unwert, blieb er doch in Bender liegen und ließ das arme Schweden gegen die Angriffe von seiten Peters und des wieder nach Polen zurückgegangenen sächsischen August, sowie von seiten Dänemarks, Preußens und Hannovers, sich abzappeln bis zur völligen Erschöpfung, bis zur Atemlosigkeit. Kamen mitunter gar zu bewegliche Klagen von daheim nach Bender, so zuckte der »fromme Heldenkönig« die Schultern und schrieb in sein Notizbuch den Reim:

»Was zaget ihr doch?
Gott und Ich leben ja noch –«

worin sich, urteilt der gesunde Menschenverstand, bei weitem weniger wirkliche Frömmigkeit als aberwitziger Dünkel kundgab.

Allerhand Wirbelwindpläne fuhren dem königlichen Abenteurer durch den Kopf. Einer darunter ist bemerkenswert, eine Reminiszenz gustav-adolfischer Betreibungen: das Projekt, ein Bündnis protestantischer Fürsten in Deutschland unter Karls Protektion zustande zu bringen. Natürlich ging der Einfall so rasch, wie er gekommen war, vorüber. Inzwischen waren die Türken, selbstverständlich durch russische Agenten, in dieser Richtung bearbeitet, des unholden, lästigen und gefährlichen Gastes bis zum äußersten Überdruß müde geworden, und nachdem der Padischah im April 1712 seinen Frieden mit dem Zaren erneuert hatte, forderte er den Schwedenkönig mit entschiedenen Worten auf, die osmanischen Staaten endlich zu verlassen. Zwar schienen Karls Fürsprecher die Politik der Pforte nochmals zu einer feindseligen Wendung gegen Rußland bestimmen zu können; allein das erwies sich bald als ein flüchtiger Schein. Und selbst die türkische Geduld war endlich zu Ende. »Eide theik, Giaur! (Mach' dich fort, Ungläubiger!)« hieß es jetzt. »Ich brauche sechshunderttausend Taler zur Bezahlung meiner Schulden und zum Reisegeld«, sagt Maxibrander. Der Sultan gibt das Geld, legt sogar noch zweihundert Chize (Beutel Goldes) zu, schenkt Wagen und Pferde zur Reise. Der tolle Gast verschleudert das Geld, bleibt und fordert tausend weitere Beutel. Das ist dem Großherrn denn doch zu schwedisch. Dem Giaur und vollends einem so undankbaren Giaur darf nicht nur, sondern muß die Gastfreundschaft aufgekündigt und versagt werden, lautet das vom Mufti auf Befragen abgegebene Fetwa. »Wohl, so laßt meinen Serasker und den Khan der Tataren, so es nötig, das Kalabalik (Löwenjagd) bei Bender veranstalten«, sagt der Padischah. »Sie sollen nur kommen, ich fürchte mich nicht und werde Gewalt mit Gewalt vertreiben«, sagt Maxibrander.

Und so geschah es im Februar 1713. Sie kamen, der Tatarkhan und der Serasker, mit fünfzehntausend oder mehr Janitscharen und Tataren und vierzehn Geschützen und schritten, nachdem alle gütlichen Versuche der beiden türkischen Magnaten, den schwedischen Eisenkopf zur Abreise zu bewegen, mißlungen waren, zum Sturm auf das befestigte Lager der siebenhundert Schweden Karls. Das war die weltberühmte Löwenjagd bei Bender. Denn es mag in Liebe angenommen werden, daß der also Gejagte ein Löwe war; aber unbedingt war er ein närrisch gewordener Löwe, zu welchem einer seiner treuesten Getreuen in diesen Tagen sagte: »Wenn denn Eure Majestät sich schlechterdings an nichts kehren und halten will, was Gottesfurcht, Vernunft und Ehre fordern, so habe ich hier nichts mehr zu schaffen.«

Die Janitscharen, die einen großen Respekt vor dem tapferen Sonderling hatten, schickten zum letzten Versuch einer Verständigung eine Abordnung aus ihrer Mitte an Karl. Er wollte sie nicht hören. »Jetzt«, maxibranderte er, »ist nicht Zeit zum Schwatzen, sondern zum Fechten. Wenn die Kerle sich nicht fortmachen, lass' ich ihnen die Bärte absengen …« »Der schwedische Karl ist toll geworden!« schrien die beschimpften Janitscharen bei ihrer Rückkehr ihren Kameraden zu. »Der Eisenkopf! Der Eisenkopf!« kopfschüttelten diese.

Der Sturm hob an, und der König begnügte sich nicht, ihm zu trotzen, sondern fiel heraus, den Degen in der Rechten, ein Pistol in der Linken, seine so verrückterweise dem Verderben preisgegebene Handvoll Schweden mit seinem alten Schlachtruf befeuernd: »Frisch drauf los, ihr blauen Burschen!« Daß der Narr bei dieser Gelegenheit zugrunde gegangen wäre, wenn die Türken ihn nicht auch jetzt noch, mitten im Kampfgewühl, geschont hätten, unterliegt keinem Zweifel, und es ist zu vermuten, daß sie sich dabei nicht allein von politischen Rücksichten, sondern auch und vielleicht am meisten von dem bekannten orientalischen Respekt vor dem Wahnsinn leiten ließen. Sie begnügten sich, den tollgewordenen Löwen zu fangen, und taten ihm nichts zuleide. Wer aber in dieser noch dazu ziemlich lächerlich zu Ende gegangenen Kampfszene – denn Karls Gefangennahme wurde dadurch erleichtert, daß er mit seinen Riesensporen an etwas hängen geblieben und zu Boden gekollert war – etwas Heldisches sehen wollte, unter dessen Gehirndecke müßte es gerade so aussehen, wie es unter der des Schwedenkönigs aussah.

6.

Mit zerrissenen und blutbefleckten Kleidern, mit einer Wunde an der linken Hand, mit geschundener Nase und pulverrauchschwarzem Gesicht wurde der Gefangene vor den Serasker geführt, der ihn höchst anständig behandelte. Auf sanfte Vorstellungen von seiten seiner Getreuen über den begangenen Unsinn gab Karl zur Antwort: »Ich will lieber für einen Rasenden als für einen Poltron angesehen sein.« Als Zar Peter die unerhörte Neuigkeit vom Kalabalik bei Bender vernommen hatte, sagte er: »Nun sehe ich klar, daß mein Herr Bruder Karl ein gottverlassener Mann, da er die Tollheit beging, gegen seinen einzigen Freund und Bundesgenossen, gegen den Sultan, dermaßen sich aufzuführen.«

Der gefangene Schwedenkönig wurde nach dem jenseits des Balkan bei Demitoka gelegenen großherrlichen Lustschloß Demürtasch gebracht, der Eisenkopf auf den Eisenstein; denn das bedeutet jener türkische Schloßname. Er und sein Gefolge sind dort anfangs mit allen Ehren und höchst liberaler Gastfreundschaft behandelt worden, allerdings in der Hoffnung, daß der Einlieger nun doch endlich Anstalten machen würde, die Türkei von seiner Gegenwart zu befreien. Der Einlieger – was jetzt im wörtlichen Sinne zu nehmen ist, denn Karl gefiel sich in Demürtasch darin, bei gesunden Gliedern volle dreiundvierzig Wochen das Bett zu hüten – der Einlieger aber blieb hartnäckig, wo er war, und wäre freiwillig nie wieder von dort weggegangen, wenn nicht von daheim Nachrichten gekommen wären, die ihn doch aus seinem Bette aufstörten. Man ging nämlich in dem bedrängten Schweden im Frühjahr 1714 ernstlich mit allerlei Plänen um, den halsstarrig abwesenden Könignarren so oder so zu ersetzen. Das schlug durch. Karl, dessen autokratisches Gottesgnadenbewußtsein ein ganz ungeheuerliches, beschloß jetzt, heimzukehren, und führte in seiner Art diesen Entschluß aus, nachdem ihn der französische Gesandte in Konstantinopel mit spärlichem Reisegeld versehen hatte. Seine in der Türkei massenhaft gemachten Schulden ließ er natürlich in vornehmster Manier unbezahlt.

Am 1. Oktober 1714 stieg er zu Demitoka zu Pferde, um – »Geh mit Allah!« schrien die Türken – seinen vielgerühmten Kraftgenieritt anzutreten, welcher ihn binnen einundzwanzig Tagen durch die Bulgarei und Walachei, durch Siebenbürgen, Ungarn und Deutschland nach Schwedisch-Pommern brachte. In der Nacht zum 22. Oktober begehrte der Heimgekehrte Einlaß am Tore seiner Stadt Stralsund, von welcher aus er dann im gewohnten Stile wieder zu regieren begann, das heißt Lebenswandel und Laufbahn eines gekrönten Abenteurers fortsetzte.

Dies war die Antwort auf die bei der Kunde von Karls Heimkunft allwärts in Europa getane Frage: »Was wird jetzt aus diesem Könige werden?« Es wurde aus dem Romantiker kein Verständiger, aus dem Toren kein Kluger, und daß er im Unglück nichts gelernt hatte, bewies er schon dadurch, daß er zu seinem Leibpolitikus und ersten Minister den holstein-gottorpischen Grafen Görtz machte, einen der größten Schwindler und Plusmacher in einer an gewissenlosen politischen Schwindlern und Plusmachern überreichen Zeit. Freilich muß man ihr zugestehen, daß sie, ungleich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nicht unlöbliche Gewohnheit hatte, besagte Schwindler und Plusmacher in der Regel schließlich das Defizit mit ihren Köpfen bezahlen zu lassen. Um Karl, wie dieser nun einmal war, erwarb sich aber Görtz ein wirkliches Verdienst, insofern er durch seine skrupellosen Finanzkünste dem König die Mittel verschaffte, weiter »für seinen Ruhm zu arbeiten«, das heißt weiter zu maxibrandern und noch vier Jahre lang den Kriegshelden zu spielen auf Kosten seines unglücklichen Landes. Wie weit es mit der Erschöpfung desselben im Jahre 1718 gekommen war, erkennt man, so man in einer gleichzeitigen schwedischen Reimchronik, wo von dem Jammer der fortgesetzten gewaltsamen Soldatenaushebung die Rede ist, die Worte liest: –

»An Männern fehlt es uns, drum nimmt man kleine Knaben.
Der König hat's gesagt, der König will sie haben.
Von zehn bis fünfzehn Jahr, kleiner nimmt man sie nicht.
Das war 'ne böse Jagd, bis man sie hat gekriegt …«

So kam der Einfall in Norwegen im Herbste 1718 und damit der Untergang des tollen Meteors, das nun seit achtzehn Jahren den Zeithimmel durchtaumelt und durchrast hatte. Das dänische Norwegen sollte mittels einer in zwei Kolonnen geführten Invasion erobert werden. Die nördliche, in der Richtung auf Drontheim über das Gebirge hineinbrechende befehligte Armfelt, die südliche der König, der die Festung Fredrikshall am Idefjord auf seinem Wege fand und trotz des bereits begonnenen Winters sofort zu der schwierigen Belagerung derselben schritt. Wie auf allen seinen früheren Feldzügen gefiel sich Karl auch jetzt wieder weit mehr in der Rolle eines irrenden Ritters als in der eines verständigen Feldherrn und ließ daher keinen Tag verstreichen, ohne in närrischer Weise überflüssigen Gefahren zu trotzen oder irgendeinen Kraftstreich auszuführen. Die Phantasiewillkür hat ihn als einen echten Romantiker bis zuletzt unbedingt bestimmt und beherrscht, und so war auch sein Tod ein romantisches Phantasiestück in Callot-Hoffmannscher Manier.

Am Abend des 30. Novembers begab sich der König, nachdem er um acht Uhr zur Nacht gespeist, in die Laufgräben vor dem Fort Fredrikstein. Es war sehr dunkel, aber die Belagerten hängten brennende Pechkränze aus und warfen Leuchtkugeln, um ihr Feuer sicherer auf die Belagerungsarbeiter abgeben zu können. Mitten in diesem Feuer stieg Karl aus der Tiefe eines Laufgrabens heraus und schaute, mit den Armen auf die innere Böschung der Brustwehr gestützt, zu der Festung hinüber, Kopf und Brust den Kugeln derselben preisgebend. »Majestät«, sagt aus dem Laufgraben herauf einer seiner Genieoffiziere, der Franzose Maigret, zu dem König, »das ist kein Platz für Sie. Kanonen- und Musketenkugeln haben vor einem Monarchen nicht mehr Respekt als vor einem Soldaten.« – »Bah, sei unbesorgt!« – »Ich bin nicht für mich besorgt, wohl aber um Eure Majestät.« – »Seht nach den Arbeitern in den Laufgräben, daß sie sich eilen.« Maigret will dem Halsstarrigen noch einmal die Gefahr vorstellen, der er sich so recht maxibranderisch-zwecklos bloßstellte, allein andere Offiziere flüstern dem Franzosen zu: »Lassen Sie ihn doch! Je mehr man ihn warnt, desto mehr gefällt er sich darin, die Gefahr zu bravieren.« Das Wort war kaum gesprochen – es ging gegen neun Uhr zu und der Mond war herauf – da …

»Ha! ein Blitz! und dann
Die Todeskugel! Grade durchs Gehirn
Des Stolzen fährt sie; ach, und alles, was
Von dem gewaltigen Krieger übrigbleibt,
Der weit und breit Europa hat erschüttert
Und bis nach Asia hin die Wüstenei
Mit seinen Donnern aufgeschreckt: – ein Name!«

Die Todeskugel, eine dänische Kartätschenkugel, nicht, wie man lange gefabelt hat, eine schwedisch- oder französisch-meuchelmörderische Pistolenkugel, war dem König in die linke Schläfe gefahren und durch das rechte Auge wieder herausgegangen … Er ruht in einem Sarkophag von schwarzem Marmor im karolinischen Grabchor der Ritterholmkirche zu Stockholm. Man darf sich nicht wundern, daß das Andenken des Königs, nachdem die furchtbaren Leiden, die er über Schweden gebracht, überwunden waren, über alle Maßen glorifiziert worden ist Soweit dies von der urteilslosen Menge geschah, war es ganz in der Ordnung. Aber unbegreiflich und unverzeihlich erscheint es, wenn E. G. Geijer den Historiker also vergessen konnte, daß er als Poet dem König eine ganz überschwengliche Apotheose bereitete. Am Schlusse seines Gedichts »Karl der Zwölfte« hat er seinem Helden gar die Worte in den Mund gelegt: »An der Seite von Gustav Adolf und Karl dem Großen (eine absonderliche Zusammenstellung!) sitze ich da. Auf meinem Arme ruht, strahlend und lächelnd wie eine Braut, die Siegesgöttin, und dem Sternengewölbe dient zum Schmucke meiner Krone.«. Es liegt ja in der Knechtseligkeit der Menschennatur, Spektakelmacher um so mehr zu preisen, je ärger sie die Menschheit gequält haben. Daß Karls XII. meteorische Laufbahn viel die Phantasie Bestechendes hat, ist gewiß. Aber ebenso gewiß ist, daß von dem Richterstuhl der Geschichte das Endurteil ergeht: Ein in Purpur geborener Abenteurer, ein Romantiker weltgeschichtlichen Stils – Summa: Der Könignarr!


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