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Zu glauben,
Daß sich die menschliche Natur, daß sich
Die Liebe, die ein Vater für sein Kind hegt.
Auf ew'ge Zeit vertilgen ließen!
Grabbe.
»Glücklich wie eine Prinzeß!«
»Quält mich doch nicht so mit den nutzlosen Arzeneien und laßt mich ruhig sterben, da ich nicht länger leben mag. Das Dasein liegt zu schwer auf mir!«
Die das sprach am 1. November 1715 im Zarenpalast von Moskau, war eine deutsche Prinzessin, Charlotte Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, und schwer fürwahr hatte das Dasein auf ihr gelegen und gelastet, seit jenem 25. Oktober 1711, wo sie zu Torgau dem Zarewitsch Alexei, des großen Peters erstgebornem Sohn, angetraut worden war.
Damals, zu Anfang des 18. Jahrhunderts, sind russische Heiraten noch nicht der höchste Ehrgeiz und heißeste Wunsch deutscher Fürstenhäuser gewesen. Man wußte in Mittel-, West- und Südeuropa noch wenig von Rußland. Was man aber erfuhr, war der Art, die Leute mit einem aus Verwunderung, Schrecken und Abscheu gemischten Gefühle auf ein Volk blicken zu machen, das aus dem physischen und moralischen Morast asiatischer Barbarei herauszureißen das gewaltige Kraftgenie Peters I. soeben unternommen und begonnen hatte. Er war allerdings in seiner Art ein großer, ein größter Mann, dieser Peter. Eine welthistorische Charakterfigur ersten Ranges, in seinem Walten und Tun als Herrscher ein tüchtiger Arbeiter am Werke menschheitlicher Zivilisation, geradezu der russische Kulturheros, obwohl für seine Person sein Leben lang ein greulicher Barbar, am hellen Tage und vor aller Augen zügellosen Gelüsten und Leidenschaften frönend, deren Befriedigung selbst schamloseste Wüstlinge in Nacht und Einsamkeit zu bergen sich bemühen. Derselbe Mann aber, der eine seiner Lüste darin suchte und fand, allerhöchst eigenhändig den Knutenmeister und Kopfabhacker zu machen, hat mit genialischem Blicke die Zukunft Rußlands erschaut und mit riesenstarkem Arme geschaffen. Er drängte, stieß, peitschte sein Volk in die Großmachtsphäre; er pflanzte die Fahne russischer Eroberung an drei Meeren auf, an der Ostsee, am Schwarzen und Kaspischen Meere; er ließ den von ihm geschaffenen Koloß des Zarismus den einen Fuß auf Europa, den anderen auf Asien setzen, während des Riesen lange Arme unersättlich ausgriffen, da schwedische und polnische, dort türkische, persische und chinesische Provinzen raffend und einheimsend.
Und keineswegs war Peter nur ein asiatischer Eroberer nach der Weise der Timur und Nadir. Nein, er war auch ein europäischer Organisator und Zivilisator. In diesem wundersam gebauten Menschen arbeitete, selbst während er sich im Pfuhl unmeldbarer Ausschweifungen wälzte, der ruhelose Gedanke, etwas zuwege zu zimmern und zurecht zu schmieden auf Erden, arbeitete ein rastloser Schöpfungstrieb, eine frohlockende Kraft, die gewaltige Schulter an die Völkerlawine Rußland zu stemmen und sie vorwärts zu rollen auf der weltgeschichtlichen Bahn. Auch war vom Geiste seines Jahrhunderts ein Funke in dieses Mannes Seele gefallen. Dies erhellt nicht nur daraus, daß der Zar, »frei von allen Vorurteilen« – wie ein zu jener Zeit häufig umgehendes Wort lautete – nicht anstand, eine estnische, finnische oder litauische Leibeigene, die man jetzt glücklich zur livländischen Bürgerstochter hinaufgeschwindelt hat, die gewesene Buhlmagd verschiedener russischer Korporale und Generale, welche nachmals, eine gekrönte Kaiserin, als Katharina I. über Rußland herrschte, als seine Gemahlin neben sich auf den Thron zu setzen, weil sie seine Gedanken verstand und seine Entwürfe fördern half; sondern es erhellt auch noch deutlicher daraus, daß in diesem Kraftmenschen, in diesem Ungetüm von Wüterich und Tyrannen schon eine nicht minder starke Ader vom Staatsdienerbewußtsein pulsierte, als sie später in den zwei aufgeklärten Musterdespoten, in Friedrich II. und Joseph II., sich regte. In Wahrheit, es war etwas von echter Größe in der Art und Weise, wie Peter zu verschiedenen Malen es aussprach und betätigte, daß ihm die Größe Rußlands unendlich viel mehr galt als die seines Hauses. Unter der Gehirndecke dieses Zarenschädels, wie weit immer sie gewölbt war, hatte ein so kleinlich Ding wie dynastische Selbstsucht dennoch keinen Platz.
Allein gesetzt auch, die Prinzessin Charlotte von Braunschweig hätte politischen Sinn und Ehrgeiz genug besessen, um das Los, Peters des Großen Schwiegertochter und voraussichtlich dermaleinst Zarin aller Reußen zu werden, willkommen zu heißen, so mußten jungfräulicher Instinkt und gebildetes Frauengefühl doch schon sich angewidert fühlen von dem Gedanken, in ein Land zu gehen, wo die Barbarei der Sitten oder vielmehr Unsitten auch in den vornehmsten, höchsten und allerhöchsten Kreisen noch in voller und toller Wüstheit rumorte. Wahrscheinlich jedoch hatte die arme Charlotte gar keine Vorstellung, daß sie, das wohlerzogene, sittsame und feinfühlende deutsche Mädchen, an einen Hof versetzt werden solle, wo weibliche Tugend und frauliche Würde schlechterdings unbekannte Dinge waren, wo ein jedes der Hof- und Ehrenfräulein des Morgens eine Kanne Branntwein erhielt, »um sich den Mund auszuspülen«, weshalb »sie auch den ganzen Tag über sehr guter Laune waren«, sagt unser berichterstattender Augenzeuge; an einen Hof, wo die Sauferei in des gemeinen Wortes gemeinster Bedeutung Herren und Knechte, die Pfaffen inbegriffen, tagtäglich, Frauen und Mägde sehr häufig unter das Vieh erniedrigte, und wo es bei großen zarischen Festen für einen Hauptspaß galt, auf der Tafel der Herren eine nackte Zwergin und auf der Tafel der Damen einen nackten Zwerg aus einer Pastete schlüpfen und auf dem Tische Grimassen schneiden zu sehen.
Und nun vollends der Bräutigam, dem hingegeben zu werden die Prinzessin das »Glück« hatte! Alexei Petrowitsch war im Jahr 1690 dem Zaren von seiner ersten Frau geboren worden, von einer Awdotja (Eudoxia) Lapuchin, welche Peter im Jahre 1698 verstieß und zwang im Kloster Ssusdal als Nonne sich einkleiden zu lassen, was die Verstoßene jedoch nicht hinderte, mit allerhand Weltlichem, unter anderem auch mit ihrem Liebhaber Stephan Glebow, sich zu befassen. Denn Awdotja ist keineswegs der fleckenlose Tugendspiegel gewesen, zu welchem gemütliche Poeten das Bild der Verstoßenen zugeschlissen haben. Sehr begreiflich zwar, daß sie den Zaren von ganzer Seele haßte; nicht weniger begreiflich aber auch, daß Peter die rastlosen Ränke und Zettelungen, die die Exzarin von Ssusdal aus spann, um das Werk seines Lebens, die Europäisierung und Machtentfaltung Rußlands zu hindern, zu hemmen oder wieder zu zerstören, mit eisernem Fuße zertrat.
Der Knabe Alexei wurde der Erbe des mütterlichen Hasses gegen den Vater, der seinerseits in dem Kinde von früh auf eben auch nur oder wenigstens allzusehr bloß den Sprößling der verhaßten Awdotja gesehen zu haben scheint. Es war ein schlimmes Verhältnis vom Anfang an. Die Erziehung des körperschwachen und geistesarmen, trägen, dabei frühzeitig auf den Abweg geschlechtlicher Sünden geratenen Prinzen ist arg vernachlässigt worden. Die oberste Aufsicht darüber führte oder sollte führen der Emporkömmling und Günstling Mentschikow, der seine Sklavin Katharina an den Zaren abgetreten hatte. In dem Grade nun, in welchem diese immer bedeutender und mächtiger wurde, und ganz im Verhältnis zu der Raschheit und Entschiedenheit, womit sie dazu gelangte, von Peter erst zur Gossudarina, dann zu seiner rechtmäßigen Gemahlin erklärt zu werden – welche »Rechtmäßigkeit« übrigens niemals aktenmäßig hat festgestellt werden können – in demselben Grade und Verhältnis vernachlässigte Mentschikow seine Pflicht in betreff des Zarewitsch, und dieser fiel gerade in der gefährlichen Epoche des Übergangs vom Knaben- zum Jünglingsalter Leuten von allrussischer Anschauung anheim, stupiden Popen und sonstigem Hofungeziefer der dümmsten und schlimmsten Sorte.
Dieses Gesindel stopfte die enge Gehirnhöhle des Prinzen mit orthodoxem Wust voll, bildete ihm ein, er wäre berufen, dereinst die »gottlosen Neuerungen« seines Vaters zunichte zu machen, das altgläubige Zaren- und Russentum der guten alten frommen Zeit wiederherzustellen und die Nachkommenschaft der Zarin Katharina auszutilgen. Selbstverständlich beeiferte das Ungeziefer sich auch, den Prinzen im Laster zu steifen und insbesondere seinen Hang zur Trunksucht zu stacheln, auf daß der also Herangezogene dereinst ein Zar wäre, wie ihn derartige treue Diener des Thrones und Altars wollten und wünschten. Den Augen Peters, obgleich sie unendlich viel anderes zu überwachen hatten, konnte es nicht entgehen, daß in dem eigenen Sohne ihm ein Zerstörer seines Riesenwerks heranwuchs. Wenn ein bitterer Unmut über die körperliche und geistige Nullität Alexeis, über des Prinzen gänzlichen Mangel an politischem Verständnis und kriegerischem Sinn, über dessen Trägheit und Verpfaffung zum Explodieren kam, wetterte er von Zeit zu Zeit in seiner wilden Weise darein, fuhr auch wohl mit Stock und Kantschu dazwischen, schien sich dann aber wieder jahrelang gar nicht um den Sohn zu kümmern und verdarb natürlich mit dieser Pädagogik vollends, was überhaupt noch zu verderben war.
Daß dennoch der Zar seiner väterlichen Pflicht keineswegs ganz uneingedenk gewesen, beweist sein Versuch, den rohen und liederlichen Jungen mittels einer gebildeten, sittsamen und liebenswürdigen Frau zu bessern. Die arme Charlotte von Braunschweig wurde das Opfer dieses Experiments. Ihre Ehe mit dem Zarewitsch war vom Anfang an bis zuletzt ein Martyrium. Der bildungslose Schwachkopf Alexei haßte seine junge Frau schon darum, daß sie eine Lutheranerin war; denn man hatte die Prinzessin bei ihrem väterlichen Glauben gelassen, weil die Politik damals noch nicht die Wunder zu wirken wußte, deutsche Prinzessinnen im Handumdrehen von der lutherischen »Ketzerei« zur griechisch-katholischen Rechtgläubigkeit zu bekehren. Der Zarewitsch lebte auch nach seiner Verheiratung mit seiner Magd Affrassja, einer hörigen Finnin, und das mochte für seine Frau mehr eine Erleichterung als ein Leid sein. Denn das Zusammensein mit dem wüsten Trunkenbold war für Charlotte eine Qual. Der Elende soll auch, was sehr glaubhaft ist, die Arme gelegentlich mit Schlägen und Fußtritten mißhandelt haben. Sie gebar ihm eine Tochter, Natalie, im Juli 1714 und sodann am 23. Oktober 1715 einen Sohn, den nachmaligen Zaren Peter II., der seiner Stiefgroßmutter Katharina auf dem Throne folgte, aber nur als ein kurzatmiger Schemen über die russische Staatsbühne ging. Dann legte sich die Unglückliche hin, sagte noch: »Das Dasein liegt zu schwer auf mir!« und wurde von dem Allerbarmer und Allerlöser Tod zur Ruhe gebracht. Der Zar, der sich seiner Schwiegertochter stets rechtschaffen gegen den verwilderten Sohn angenommen hatte, hatte an ihrem Sterbebett gestanden und hatte der darum Flehenden versprochen, ihrer Kinder väterlich sich anzunehmen. Er traf auch persönlich die Anordnungen zum Leichenbegängnis, das am 7. November mit feierlichem Gepränge stattgefunden hat.
Aber aus dem Grabe, in welchem dieses junge, so vorzeitig gebrochene Leben verschwunden war, ließ die Dichtung, die es ja allzeit geliebt hat, über die herben Tatsachen der Geschichte mildernde Schatten zu breiten oder auch verklärende Lichter hinzustreuen, ein wunderlich Sagengebilde herauswachsen, an welches viele Menschen lange geglaubt haben als an eine Wahrheit. Der Tod der armen Charlotte – so lautete die Sage – sei nur ein Scheintod gewesen, und es sei statt ihrer ein Holzblock begraben worden. Die Totgeglaubte aber sei von treuen Freunden und Freundinnen, unter denen seltsamerweise die berühmte Buhlkünstlerin Aurora von Königsmark eine vortretende Stelle eingenommen habe, aus Rußland nach Paris und von dort nach Louisiana in Amerika gerettet worden. Da habe ihr ein ritterlicher Franzose, der Chevalier d'Aubant, viele Freundschaftsdienste zu erweisen Gelegenheit gehabt und er habe sich auch erboten, die Prinzessin nach Eintreffen der Nachricht von dem Untergang und Tod ihres Gemahls nach Rußland zurückzugeleiten. Sie jedoch, nach dem Glanz und der Barbarei des zarischen Hofes keineswegs sehnsüchtig zurückblickend, zog es vor, zu bleiben, wo sie war, gab eine Weile später der Werbung des wackern Chevalier Gehör, reichte ihm ihre Hand und lebte lange Jahre mit ihm in Glück und Zufriedenheit … Man sieht, die Poesie hat sich bemüht, das arme Opfer der Politik für die am Ufer der Newa erduldeten Leiden am Ufer des Mississippi zu entschädigen. Schade nur, daß die Poesie in diesem Falle, wie in unzähligen anderen, nur ein schöner Traum war, die Geschichte dagegen eine wüste Wirklichkeit!
Vater und Sohn.
Es hat heiß in dem Zaren gekocht, während er am schon genannten 7. November 1715 dem Sarge, der die erlöste Charlotte barg, zur Gruft nachschritt. Mit der Trauer um die tote Schwiegertochter rang der Zorn über den lebenden Sohn; aber die weiche Stimmung war doch so vorwiegend, daß keine der gewohnten Peterschen Explosionen stattfand. Er gab nur dem Bedürfnisse nach, zwischen sich und dem Sohne einmal reine Bahn zu schaffen, und so hat er sich unmittelbar nach der Bestattungszeremonie hingesetzt und an den Zarewitsch einen Brief geschrieben, worin da und dort ein nicht verhaltener Zorn grollt, im ganzen aber aus den Vorwürfen, Ermahnungen und Warnungen des Herrschers die Stimme des Vaters deutlich heraustönt. Zu wahrhafter Ehre gereicht es dem Zaren, daß er seine Epistel mit den Worten beschloß: »Ich will noch einige Zeit warten, ob du dich nicht aufrichtig bessern werdest. Sollte dies aber nicht geschehen, so sei hiermit versichert, daß ich dich als ein brandiges Glied von der Nachfolge trenne. Denke nicht, daß ich solches bloß zum Schrecken schreibe, und steife dich nicht darauf, daß ich ja keinen anderen Sohn habe. Es soll wahrlich, so Gott will, erfüllt werden! Da ich mein Leben für Vaterland und Volk nicht geschont habe und noch nicht schone, wie sollte ich dich als Unwürdigen schonen? Lieber ein würdiger Fremder, als ein unwürdiger Eigener« – (soll, wollte der Zar sagen, mein Thronnachfolger sein).
Der Zarewitsch beantwortete diese Zuschrift noch an demselben Tage, unter demütigen Selbstanklagen seinen Trotz nur schlecht oder gar nicht verbergend. »Wofern ich nicht fähig sein sollte, die russische Krone zu tragen, so möge mir geschehen nach deinem Willen. Ich bitte dringend darum, indem ich mich zu solchen Geschäften ungeschickt und untauglich fühle, auch mein Gedächtnis fast hin ist und ich, an geistigen und körperlichen Kräften durch mancherlei Krankheiten geschwächt, untüchtig bin, ein solches Volk zu beherrschen, das keinen so verfaulten Menschen verlangt, wie ich bin. Ich mache daher keine Ansprüche auf die Thronfolge.« Der Zar hatte guten Grund, mit einer in diesem Tone gehaltenen Antwort des Sohnes unzufrieden zu sein, und schrieb zurück, er fürchte sehr, die »Bartleute« (die altrussisch Gesinnten) möchten, so er tot, den Zarewitsch leicht dahin bringen, sein ganzes Werk wieder zu vernichten. Er sagte daher schließlich kategorisch: »Bessere dich, bereite dich vor, ein würdiger Nachfolger zu werden, oder aber geh' ins Kloster!«
Gerade an diesem Tage gebar Katharina dem Zaren einen Sohn, der jedoch nur wenige Jahre am Leben blieb. Man tut der Zarin wohl kaum unrecht, wenn man annimmt, daß sie von der Geburt dieses Prinzen an darauf hingearbeitet habe, ihm auf Kosten ihres Stiefsohns die Thronfolge zuzuwenden. Allein es ist mit Bestimmtheit zu behaupten, daß ihre derartigen Bemühungen ohne die Verkehrtheit und Verbohrtheit des Alexei fruchtlos gewesen wären. Denn der Zar war überhaupt über dynastische Engherzigkeit so erhaben, daß er zu derselben Zeit zu einem der fremden Gesandten an seinem Hofe sagte: »Man nennt es Grausamkeit, wenn ein Fürst, um sein Reich, das ihm lieber sein soll als alles Blut seiner Adern, zu erretten und zu erhalten, die Erbfolge der Blutsverwandtschaft ändert. Ich dagegen nenne es die größte aller Grausamkeiten, das Wohl des Staates dem bloßen Rechte einer herkömmlichen Erbfolge zu opfern.«
Der Zarewitsch nahm die Geburt seines Stiefbruders zur Veranlassung, seinem Vater abermals zu erklären, daß er sich zur Nachfolge für untüchtig halte und demnach dem Thron entsage. Worauf der Zar in einem Schreiben vom 19. Januar 1716: »Über die Thronfolge habe ich allein zu entscheiden. Aber warum gehst du nicht in dich? Bessere dich und werde tätig und tüchtig! In nichts stehst du meinen Bemühungen und Sorgen bei. Statt dessen verleumdest und verfluchst du alles, was ich aus Liebe zu meinen Untertanen Gutes gestiftet, und ich habe alle Ursache zu glauben, daß du, wenn du mich überlebst, alles wieder über den Haufen werfen werdest. Ich darf dich fürder nicht nach deinem Gefallen hinleben lassen, als wenn du weder Fisch noch Fleisch wärest. Bemühe dich entweder, der Thronfolge würdig zu werden, oder geh' in ein Kloster.« … Jeder unbefangene Urteiler wird zugeben müssen, daß Peter bislang gegenüber dem Zarewitsch ganz verständig und pflichtgemäß gehandelt habe. Er gab den widerspenstigen Sohn auch jetzt noch nicht auf; aber Alexei rannte töricht und blind in sein Verderben.
Im Begriffe, zur Badekur nach Pyrmont und von da zur Betreibung des schwedischen Krieges nach Kopenhagen zu gehen (1716), wollte der Zar den Zarewitsch noch besuchen, um ihm persönlich Ermahnungen zu geben; allein Alexei stellte sich krank, um den Vater nicht sehen zu müssen. Kaum war dieser abgereist, so stand der Zarewitsch von seinem angeblichen Krankenlager auf und wohnte einem Zechgelage in allrussischem Stile bei. Im August des genannten Jahres schrieb der Zar noch einmal mahnend und warnend an den Sohn. Er wollte ihm sechs Monate Bedenkzeit geben, um den Entschluß einer anderen Lebensführung zu fassen. In dem bisherigen Geleise der Aftergläubigkeit, Unwissenheit und Faulheit dürfe er sich nicht fortschleppen. So er einst den Thron besteigen wollte, müßte er dem Vater einen tatsächlichen Beweis der Sinnesänderung geben, und dieser bestände darin, daß Alexei sich sofort aufmachte und zum Heere käme.
In der Tat, der Zarewitsch machte sofort sich auf, aber nicht ins Feldlager, sondern ins Weite. Des Vaters Rat und Wunsch war ihm nichts. Er hörte auf Ratgeber wie Alexander Kikin und Nikiphon Wäsemski, welche der Hoffnung lebten, sie würden sich eines Tages des Zaren Alexei als eines leicht handlichen Werkzeugs bedienen können, um die Bojarenbarbarei wieder herzustellen im heiligen Rußland. Sie rieten dem Betörten Schlimmstes.
Flucht und Rückkehr.
In welche Wut der Zar geriet, als ihm aus St. Petersburg die Kunde zuging, der Zarewitsch sei mit seiner Konkubine Affrassja geheimnisvoll aus der Hauptstadt verschwunden, kann man sich unschwer vorstellen. Oder vielmehr, besser gesagt, nur sehr schwer. Denn gebildete Leute haben sicherlich Mühe, sich eine echt Petersche Grimm- und Grollentladung zu veraugenscheinlichen. In jener Stunde, als der Kurier aus Petersburg anlangte, hat sich im Zelt oder Kabinett des Zaren gewiß ein furchtbares Donnerwetter mit Gebrüll und Flüchen, Stockschlägen und Fußtritten entladen. In solchen Augenblicken höchsten Zornes war der große Zar nur noch eine rasende Bestie, die den Erdball, so sie es vermocht hätte, wütend in Stücke gestampft hätte.
Es ist mit Grund zu vermuten, daß seine Günstlinge dem Zarewitsch eingeredet hatten, der Zar habe ihn bloß deshalb zu sich ins Feldlager berufen, um sich mittels einer feindlichen oder auch wohl mittels einer absichtlich irregehenden russischen Kugel seiner zu entledigen, damit die Thronfolge dem Sprößlinge Katharinas zugewendet werden könne. Daß der einfältige Prinz einer solchen Einflüsterung Glauben schenkte, war ganz in der Ordnung, und da er ebenso feig wie albern war, läßt sich seine Flucht leicht begreifen. Wir haben aber gesehen, daß Peter der Mann war und offen erklärte, der Mann zu sein, der das Recht habe und sich des Rechtes bewußt sei, über die Nachfolge im Reich souverän zu verfügen. Er hat auch nachher gezeigt, daß er der Mann war, angesichts aller Welt das »brandige Glied« abzuhauen, und darum ist es nur törichter Schwatz und Klatsch gewesen, wenn man nach Art der Kikin und Konsorten dem Zaren meuchelmörderische Absichten gegen den Sohn unterschieben wollte. Es ist wahr, im Dienst und Bann der großen Idee, für die er lebte, hat Peter, wenn diese Idee, die Größe Rußlands, es forderte oder zu fordern schien, nie gezaudert, zu töten, nach Umständen einzelne oder auch ganze Massen; aber ihn zum Meuchler stempeln zu wollen, heißt dem Unhold von großem Zaren schweres Unrecht antun.
Der Zarewitsch war mit seiner Affrassja – die den Unglücklichen nachmals verriet, vorgebend, sie sei zum » commerce d'amour« (Liebesverkehr) mit ihm stets nur durch Androhung des Todes gezwungen worden – über Königsberg nach Wien entflohen. Dem letzten Habsburger, dem vorsichtigen Kaiser Karl VI., kam der moskowitische Gast nicht sehr gelegen. Indessen weigerte er ihm das erbetene Asyl nicht und wies dem Flüchtling, der selbstverständlich in Verborgenheit zu leben wünschte, zuerst das Schloß Ehrenberg in Tirol und dann das Kastell San Elmo in Neapel zum Aufenthalt an. Aber schon waren die Verfolger, die der Zar ausgesandt hatte, der Diplomat Peter Tolstoi und der Gardehauptmann Alexei Romanzow, auf der Fährte des Prinzen. Sie spürten seinen Zufluchtsort auf, und der letzte Habsburger war keineswegs der Mann, der nötigenfalls einen Bruch mit dem Zaren riskiert hätte, um die Heiligkeit des Gastrechts unverletzt zu erhalten. Tolstoi und Romanzow sollten, so bestimmte Kaiser Karl, »versuchen dürfen, den flüchtigen Prinzen zur Heimkehr zu bewegen«.
Die beiden erhielten demnach Zutritt in San Elmo und überbrachten dem Zarewitsch einen vom 10. Juli 1717 datierten Brief seines Vaters, worin dieser dem Sohne Verzeihung zusicherte, falls er zurückkehren und sich gehorsam erweisen würde. Sein ferneres Schicksal würde ganz von ihm selber, von seiner Führung und seinem Gebaren abhängen. Alexei, der sich infolge seiner Unwissenheit, Unbehilflichkeit und Trägheit in der Fremde ganz unbehaglich und unglücklich fühlen mußte, schrieb am 15. Oktober an den Zaren, daß er die angebotene Verzeihung dankbar annehme und unverzüglich heimkehren werde.
So geschah es in der Tat, und am 3. Februar 1718 langte der Zarewitsch, von Tolstoi und Romanzow begleitet, d. h. bewacht, in Moskau an. Allein hier hatten sich inzwischen mancherlei Fäden zu dem Gewebe der großen russischen Haus-, Hof- und Staatstragödie durcheinandergeschlungen, deren Held Peter und deren Opfer Alexei war. Die Flucht des Sohnes und was damit zusammenhing, hatte dem Zaren die traurige Überzeugung beigebracht, daß Alexei nicht zur Regierung gelangen dürfe, falls nicht Peters Schöpfung wieder zugrunde gehen sollte. Und das sollte sie nicht. Der Entschluß des Zaren war unwiderruflich gefaßt: der Zarewitsch mußte von der Thronfolge ausgeschlossen werden.
Die Entsagung.
Am Morgen des 4. Februar 1718 ging im Kreml, dem alten Nationalheiligtum Rußlands, wo vierundneunzig Jahre später der Glück- und Glanzstern Napoleons in Brandrauchwolken versank, eine Haupt- und Staatsaktion vor sich.
Im Innern des bunten Durcheinanders von Palästen, Tempeln, Arsenalen, Hallen und Höfen stand die probreaschenskische Garde unter den Waffen. Andere Regimenter hielten die Umgebungen und Zugänge der weiten Zarenburg besetzt. Die höchsten Würdenträger des Reiches, Senatoren, Prälaten, Generale und Admirale waren im Konferenzsaal versammelt. Umgeben von einer Wolke von Hofbeamten erschien der Zar. Die Flügeltüren des Prunkaudienzsaals sprangen auf. Peter schritt, von der ganzen Versammlung gefolgt, hinein und setzte sich auf den Thron. Es verdient Erwähnung, daß in dem glänzenden Kreise von Reichsmagnaten, der ihn umgab, auch eine Abordnung der Bürgerschaft von Moskau in ihren langen, dunkeln Röcken Platz gefunden hatte.
Auf einen Wink des Herrschers trat der Zarewitsch ein, gefolgt von Peter Tolstoi. Der Prinz ging zum Throne, kniete auf den Stufen desselben nieder und überreichte seinem Vater ein Papier, dessen Inhalt der Zar durch einen Staatsschreiber vor der Versammlung verlesen ließ. Es enthielt das Bekenntnis der Verfehlungen Alexeis und dessen Bitte um Gnade.
Der Zar, auf dessen Stirn eine schwere Zornwolke lag, entlud seinen Kummer und Groll in einer langen Strafrede, deren Schluß der Ausruf bildete, daß die Verschuldungen eines so unkindlichen Sohnes eigentlich von Rechts wegen durch die Todesstrafe gesühnt werden müßten.
Der Zarewitsch warf sich dem Vater zu Füßen. »Ich flehe um keine andere Gnade als nur um das Leben!«
»Das sei dir gesichert. Aber es ist notwendig und es ist mein unabänderlicher Wille, daß du dem Throne entsagst. Willst du?«
»Ja.«
»So sei es, und ich weise dir von heute ab ein Jahreseinkommen von vierzigtausend Rubeln an.«
Dies gesprochen, erhob sich der Zar und begab sich an der Spitze der ganzen Versammlung in feierlicher Prozession nach der uspenkischen Kirche. Hier mußte der Zarewitsch die geschehene Verzichtleistung mit einem Eidschwur bekräftigen, und es wurde hierüber eine Urkunde aufgesetzt, die die sämtlichen zur Versammlung Geladenen mit unterfertigten.
Das Strafgericht.
Was bis dahin der Zar in dieser Sache getan hatte, muß ein unbefangenes Urteil vom Gesichtspunkte begründeter Sorge um das Staatswohl aus begreiflich und gerechtfertigt finden. Nun aber nahm die mißliche Angelegenheit eine Wendung, vor der europäische Nerven zurückbeben, weil diese Wendung alle Greuel asiatischer Despotie mit sich brachte.
Es untersteht wohl keinem Zweifel, daß während der Fluchtreise des Zarewitsch schlimme Zettelungen den Zaren umsponnen hatten, Zettelungen, welche darauf hinausliefen, den unglücklichen Prinzen nicht allein um die Thronfolge, sondern auch um das Leben zu bringen. Der Mittelpunkt dieses Ränkespiels, dessen Betreiber sehr geschickt auf die wilde Leidenschaftlichkeit Peters spekulierten, ist sicherlich die Zarin Katharina gewesen, obwohl ihre persönliche Beteiligung an dem gräßlichen Spiele nicht mit völliger Sicherheit aufgedeckt werden kann. Es handelte sich darum, auch nach dem Tode des Zaren Rußland auf der Bahn, auf welche es Peter geworfen hatte, festzuhalten; denn nur in diesem Falle sahen alle die Werkzeuge und Günstlinge des Zaren, Katharina voran, ihre Zukunft gesichert. Solange aber der legitime Thronnachfolger lebte, war der dereinstige Wiederhereinbruch des Altrussentums und somit ein über alle Förderer und Anhänger von Peters Reformwerk ergehendes Rachegericht nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Wahrscheinlichkeit, ja sogar eine Gewißheit. Demgemäß mischten die, die schon um ihrer eigenen künftigen Sicherheit willen den Zarewitsch gänzlich beseitigen und der Katharina die Thronfolge zuwenden wollten, die Karten, von denen sie den Zaren eben nur solche sehen ließen, die er ihren Absichten gemäß sehen sollte. Das ganze Spiel hat er nicht durchschaut oder wenigstens erst dann, als es zu spät war. Denn es muß ihm zugestanden werden, daß er es mit der gewährten Begnadigung des Sohnes ernstlich gemeint hatte. Aber umgarnt, wie er war, ließ er sich von den Ränkemachern weiter und weiter fortziehen, und seine zügellosen Leidenschaften taten das übrige.
Der Hauptkartenmischer scheint allem nach der Senator und Staatsrat Tolstoi gewesen zu sein. Auch ein Fürst Dolgoruki tritt unter den Regisseuren des Trauerspiels zeitweilig in den Vordergrund, und zwar zweideutig genug. Er soll dem Zarewitsch im Auftrag des Zaren zugeredet haben, die Mönchskutte zu nehmen, aber mit dem Beifügen: »Sie brauchen sich darob keine grauen Haare wachsen zu lassen. Nach dem Tode Ihres Vaters verlassen Sie das Kloster wieder und besteigen den Thron!« Für die Hände solcher Intrigenkünstler mußte der Körper- und Geistesschwächling Alexei ein leicht herzurichtendes Opfer sein. Dieses eine Opfer genügte aber der neurussisch-katharinischen Partei nicht, es galt vielmehr, mit dem Schlage, womit der unbequeme Zarewitsch getroffen werden sollte, zugleich auch die altrussische Partei, wenigstens in ihren Spitzen, niederzuschmettern und wegzusäubern.
Noch am Tage der Haupt- und Staatsaktion vom 4. Februar wurde der Prinz einem Verhör unterzogen, damit seine Mitschuldigen, d. h. alle diejenigen, die ihn zu seinen Verkehrtheiten ermuntert und angeleitet hätten, bekannt würden. Wir müssen annehmen, daß sich der geängstigte, arg in die Enge getriebene Unglückliche Aussagen entpressen ließ, wie man sie wünschte; Aussagen, die für eine Menge von Personen sehr erschwerend waren. Daß Alexei schon jetzt mittels der Knute oder sonstiger Qualwerkzeuge gefoltert worden, ist unerwiesen und auch unwahrscheinlich. Seine Angst war wohl eine ausreichende Folter, der Kern seiner Geständnisse aber dieser, daß ihm von seiten der allrussischen Partei der Rat zugekommen sei, sich zu verstellen, alles stillschweigend geschehen zu lassen, nötigenfalls auch in ein Kloster zu gehen, aber nach dem Tode des Vaters die Maske abzutun und die altmoskowitische Herrlichkeit wieder aufzurichten.
Daraufhin wurden in Moskau allein siebzig Verhaftungen vorgenommen, und Fahndungsbefehle gingen in alle Teile des Reiches, so daß die Prozedur rasch riesige Verhältnisse annahm. An die Klosterpforte von Ssusdal klopften ebenfalls Haftboten: die verstoßene Zarin Awdotja wurde als Gefangene nach Moskau abgeführt. Auch des Zaren ränkesüchtige Schwester Maria wurde verhaftet, sowie die Fürstin Galizyn, eine abgefeimte Kreatur, die ihre alten Tage zwischen Ausschweifungen und Verschwörungsversuchen teilte. Hinter den verschworenen Frauen stand als Antreiber ein Pfaffe, der Erzbischof Dosithei von Rostow, – was ganz in der Ordnung; denn wo und wann hätten in lichtscheuen Geschäften die »Diener des Herrn« nicht mitagiert? Zar Peter war freilich der Mann, auch solche Diener des Herrn sehr unsanft bei ihren ehrwürdigen Bärten zu packen. Nicht als Mann aber, sondern als Unmensch und rechter Greuelpeter erwies er sich, als er seiner Wut so sehr Zaum und Zügel schießen ließ, daß er nicht nur der alten Galizyn, sondern auch der Mutter seines Sohnes, der verstoßenen Awdotja, eigenhändig die Knute gab. Allerdings war die Exzarin schwer belastet, wenigstens in den Augen des Zaren wirklich und schwer belastet. Unter ihren Papieren hatte man nämlich die Beweise ihrer unlauteren Vertraulichkeit mit Stephan Glebow aufgefunden, sowie einen förmlichen Plan, den Zaren vom Throne zu stoßen. Waren aber diese Dokumente echt? Oder waren sie von der Sorte, wie sie auch zu unsern Zeiten in verschiedenen Ländern aus gesellschaftsretterlichen Fabriken hervorgegangen sind? Der Forscher muß der Wahrheit gemäß eingestehen, daß er nicht imstande sei, die eine oder die andere dieser Fragen mit Bestimmtheit zu bejahen oder zu verneinen.
Das Blut begann zu strömen. Schon am 25. März 1718 wurde über Dosithei, Kikin, Wäsemski und Glebow das Todesurteil gefällt. Die drei ersteren wurden gerädert, der letzte asiatisch-barbarisch gepfählt. Glebow ist wie ein Held gestorben. Die raffinierteste Folterpein hatte ihn nicht dazu bringen können, gegen die Zarin Awdotja zu zeugen, und selbst auf dem schrecklichen Pfahle behauptete er bis zum letzten Atemzug seine Standhaftigkeit. Dieser muß es gedankt werden, daß gegen Awdotja nicht weiter verfahren werden konnte. Im übrigen aber war das Unheil einmal im Schwung und Zug und mußte seinen Fortgang haben. Nachdem noch in Moskau eine große Anzahl von Beschuldigten, darunter an fünfzig Popen und Mönche, hingerichtet worden, befahl der Zar, daß die Fortführung der Prozedur in Petersburg statthaben sollte, wohin er selber ging und wohin er auch den gefangenen Zarewitsch bringen ließ.
Zum Unheil für Alexei kehrte die Finnin Affrassja, die er ins Ausland mitgenommen hatte, gerade jetzt von dort zurück, und sei es, daß sie wirklich nur gezwungen mit dem Prinzen gelebt hatte und ihn deshalb haßte, sei es, was wahrscheinlicher, daß Alexeis Feinde in ihr ein förderndes Werkzeug erkannten und zu gewinnen wußten: genug, dieses Weib, das der unglückliche Zarewitsch wirklich geliebt hat – denn er bat nach seiner Verurteilung seine Wächter weinend, sie möchten ihm die Erlaubnis auswirken, Affrassja nur noch einmal zu umarmen – dieses Weib ward an ihm zur Verräterin und Anklägerin. Sie gab an, der Prinz habe allezeit den entschiedensten Widerwillen gegen das ganze Wesen und Walten seines Vaters gehegt und geäußert. Er habe kein Hehl daraus gemacht, daß er sofort nach seiner Thronbesteigung dem Peterschen System ein Ende bereiten würde, und er habe mit der altrussischen Partei in engen Beziehungen gestanden, mit der Partei, die geplant habe, daß nach Peters Tode seine Haupthelfer und Günstlinge, wie Mentschikow, Jaguschinsky, Scheremetew, Schaffirow und andere, gespießt und sämtliche Deutsche im Reiche niedergehauen werden sollten. Dann wollte man Petersburg zerstören, das stehende Heer auflösen und im Kreml zu Moskau unter Zar Alexei auf gut altmoskowitisch residieren und regieren.
Niemand hat in des Zaren Seele geblickt und uns gesagt, was alles in ihr durcheinander und übereinander wogte und wallte, als er erkennen mußte oder erkennen zu müssen glaubte, daß er zwischen dem Sohn und der Zukunft Rußlands zu wählen hätte. Über das Vatergefühl hinauszukommen gehört ohne Frage zu dem Schwersten, was einem Menschen auferlegt werden kann, und nichts berechtigt uns anzunehmen, daß dieses Schwere und Schwerste zu vollbringen dem großen Zaren nicht harten Kampf und bitteres Leid gekostet habe. Den Kampf zu enden mag dann die weitere Anklage, daß die um den Zarewitsch her tätigen, obzwar bislang nur mit Worten tätigen Umtriebler auch im Sinne gehabt, ihr Reaktionswerk dadurch zu beschleunigen, daß sie dem Zaren nach dem Leben trachteten, bedeutend mitgewirkt haben. Peter war jetzt entschlossen, zum Äußersten zu schreiten.
Am 6. Juni berief er eine Versammlung von zwanzig Prälaten und einhundertvierundzwanzig hohen Staatsbeamten. Jene sollten begutachten, ob es auf Grund der Bibel zulässig, den Zarewitsch zu strafen; diese sollten sich als Tribunal konstituieren, um den Prinzen und seine Mitschuldigen zu richten. Die Priester sagten nicht ja und nicht nein, sondern wickelten salbungsvoll ihr Gutachten, das weder warm noch kalt, in ein Konvolut von Bibelstellen, aus denen der Zar entnehmen konnte, was ihm beliebte. Der Gerichtshof konstituierte sich; allein seine Zusammensetzung war so, daß das ganze Verfahren nur eine düstere Komödie sein konnte. Die Richter nannten sich selbst die Sklaven des Zaren, und sie sind in Wahrheit nichts gewesen als ja sagende Marionetten an den Drähten, die die Matadore der katharinischen Partei in Händen hielten. Es war ein politischer Parteiprozeß, und die Besiegten wurden von den Siegern gerichtet; damit ist alles gesagt.
Wir besitzen keine völlig zuverlässige Berichterstattung weder über die Einzelheiten der Prozedur noch über die der Katastrophe. Die vorhandenen Relationen widersprechen sich, sogar in Hauptsachen. Die Trübheit vollends der offiziellen Quellen ist ganz augenscheinlich, wie ja das in solchen Fällen naturgemäß. Aber auch in den nicht offiziellrussischen, in den Berichten, die die auswärtigen Gesandten an ihre Höfe abstatteten, ist alles voll Dunkel, Verworrenheit und Widerspruch. So wußte der sächsische Geschäftsträger zu berichten, Alexei habe sich vor seinen Richtern keineswegs als Schwächling und Feigling benommen, sondern sei vielmehr sehr mannhaft und kühn aufgetreten, seinem Vater ins Angesicht trotzend. »Er wisse sehr wohl«, habe er geäußert, »daß der Zar ihn nicht liebe, und deshalb hätte auch er sich von der Liebespflicht, welche gegenseitig sein müsse, entbunden geglaubt. Er hätte es also für kein Unrecht gehalten, seinen Haß gegen die Neuerungen und gegen die Günstlinge seines Vaters kundzugeben, unter deren Druck das gequälte russische Volk seufze.« Das stimmt nun aber gar nicht mit dem ganzen Wesen und Gebaren des Prinzen. Wahr mag sein, daß er, das wenige, was von Kraft noch in ihm war, zusammenraffend, anfänglich versuchte, seinen Richtern stolz gegenüberzutreten; aber nicht minder wahr mag sein, daß er, wie der preußische Gesandte heimschrieb, zuletzt zu allem sich bekannte, was er wußte, und wohl auch zu solchem, was er nicht wußte. Daraufhin habe der Gerichtshof über den Unglücklichen das Todesurteil gesprochen, und dieses wurde ihm am 7. Juli 1718 in feierlicher Sitzung des Senats kundgemacht. Die Verkündigung des Todesspruchs am genannten Tage steht unzweifelhaft fest.
Nun aber läßt sich ein österreichischer Berichterstatter aus Petersburg vernehmen, der von einem Eingeständnis und Sündenbekenntnis des Zarewitsch nichts, dagegen folgendes Schreckliche zu melden weiß: »Die Todessentenz konnte vermöge der russischen Gesetze nicht zur Exekution gebracht werden, bevor der Prinz durch sein eigenes Geständnis seines Verbrechens überzeugt worden wäre, und weil er alles leugnete und sich niemand wollte finden lassen, der die Hand an seinen Kronprinzen, um solchen zu torquieren, hätte legen wollen, so nahm der Zar solches Amt selbsten über sich. Da er aber dieses Amt noch nicht so meisterlich als der ordinäre Büttelknecht verstehen mochte, versetzte er seinem Sohn mit der Knutenpeitsche einen solchen unglücklichen Streich, daß Alexei gleich sprachlos zur Erde sank und die anwesenden Minister nicht anders meinten, als daß der Prinz sogleich verscheiden würde. Der Vater hörete zwar auf zu schlagen, ließ aber im Weggehen diese häßlichen Worte verlauten: ›Der Teufel wird ihn noch nicht holen!‹«
Falls diese Szene geschichtlich wahr wäre, so würde sie uns den Zaren als einen Wilden, als einen rasenden Barbaren und vollendeten Tyrannen vorführen. Und unmöglich ist der Greuel keineswegs; erinnern wir uns, daß Peter auch seine rechtmäßige Frau Awdotja eigenhändig geknutet hat. Der Jähzorn dieses Mannes hat häufig genug seine menschlichen Züge in bestialische verzerrt. Mag er aber auch von der Beschuldigung, des Sohnes Knutung selber vollzogen zu haben, vielleicht freizusprechen sein: daß der Prinz nachdem Todesspruch wirklich noch »torquiert«, d. h. geknutet wurde, ist nicht zu bestreiten. Der bis zur Raserei erhitzte Argwohn des Zaren war mit den erlangten Resultaten der Prozedur nicht zufrieden, und es sollten dem unglücklichen Alexei noch mehr Geständnisse, noch mehr Namen von Mitschuldigen entrissen, d. h. entknutet werden.
Am Abend des 8. Juli, also einen Tag nach Fällung des Todesurteils, starb der Zarewitsch an einem – Schlagfluß, der ja, wie weltbekannt, in russischen Zarenpalästen als ein gar häufig angerufener und allzeit dienstgefälliger Nothelfer zu erscheinen pflegte. Die amtliche Hofchronik läßt dem Tode des Prinzen noch eine rührende Szene vollständiger Aussöhnung mit seinem Vater vorangehen, wie das ja einer wohlbeflissenen Hofhistoriographie Pflicht und Schuldigkeit. Die nichtamtlichen Berichte über Alexeis Tod geben von dem »Schlagfluß« verschiedene Erklärungen. Einer sagt aus, ein Schlagfluß habe allerdings stattgehabt, aber infolge eines von dem Apotheker Bär bereiteten und dem Prinzen gewaltsam eingenötigten Gifttrankes. Ein zweiter will, der Schlagfluß wäre eigentlich ein Beil gewesen, das Beil, womit der General Adam Weide auf Befehl und im Beisein des Zaren dem Zarewitsch im Gefängnis heimlich den Kopf abgeschlagen habe. Ein dritter vergräßlicht das Gräßliche, indem er das Richtbeil dem Vater des damit Gerichteten in die eigenen Hände legt.
Es ist aber zur Ehre der menschlichen Natur und zur Steuer geschichtlicher Wahrheit zu sagen, daß eine heimliche Hinrichtung des Prinzen gar nicht stattgefunden hat und daß eine öffentliche – welche zu veranstalten Peter, der ja den Sohn auch öffentlich hatte richten und verurteilen lassen, nicht sich gescheut hätte – nicht stattzufinden brauchte, weil Alexei, schon durch den über ihn ergangenen Todesspruch furchtbar erschüttert, an der am 8. Juli dreimal an ihm vollzogenen Knutungstortur gestorben ist. Mit diesem Ergebnis einer vorsichtigen Ausschöpfung aller zugänglichen Quellen stimmt auch die Ansicht solcher Russen überein, welche, wie z. B. der Fürst Peter Dolgorukow, von der nichtoffiziellen, d. h. wirklichen Geschichte ihres Landes am meisten zu wissen behaupten.
»O Absalom! Mein Sohn Absalom!«
Schon am 9. Juli war der Leichnam des Zarewitsch in der Dreifaltigkeitskirche öffentlich ausgestellt. Zwei Tage darauf ging mit gebührendem Pompe die Bestattung vor sich. Der Zar wohnte als erster Leidtragender der Zeremonie bei. Die Grabrede hatte zum Text die Stelle aus dem zweiten Buch Samuels: »Da ward der König David traurig und ging hinauf in den Saal über dem Tore und weinte und sprach im Gehen: ›Oh, Absalom! mein Sohn Absalom, wäre ich doch statt deiner gestorben!‹« Als diese Worte verleben wurden, brach der Zar in Schluchzen aus, und sein Antlitz schwamm in Tränen.
Wer wird den Mut, wer wird die Frechheit haben, diese Tränen erheuchelte zu schelten? Der Orkan hatte ausgetobt, das Gewitter hatte sich entladen, und aus dem in Berserkerwut rasenden Zaren war ein armer, schwacher, leidender Mensch geworden, dem sich wie ein glühendes Eisen das Gefühl in die Seele bohrte: »Der dem Verderben geweihte war doch dein Kind, war doch Blut von deinem Blute und Fleisch von deinem Fleische!« … Es gibt Ewigmenschliches, an welchem als an einem Felsen von Diamant alle scheinbaren nicht nur, sondern auch alle wirklichen Gründe und Nötigungen der »Staatsräson« wie Glas zersplittern.
Fast sollte man meinen, Peter habe seinen Vaterschmerz im Blut ertränken wollen. Denn auch nach dem Tode des Zarewitsch ging das Strafgericht weiter. Als Mitschuldige Alexeis wurden enthauptet sein Haushofmeister Iwan Affanassjew, ferner Fedor Dubrowski, Jakow Pustinoi und Abraham Lapuchin, der Bruder Awdotjas. Der Fürst Scherbatow erhielt die Knute, und es wurden ihm Nase und Zunge ab- und ausgeschnitten. Andere Verurteilte gingen in die Verbannung. Nie hat Peter zugestanden, daß er dem Sohn unrecht getan habe. Noch im Jahre 1722 sprach er in einem öffentlichen Erlasse von »der absalomischen Bosheit seines Sohnes Alexei«. In demselben Edikt tat er in Beziehung auf die Thronnachfolge die sehr richtige Äußerung: »Das Erstgeburtsrecht ist eine absurde Gewohnheit.« Seinem Enkel Peter war er zugetan; aber er wagte nicht recht, diese Zuneigung sehen zu lassen, sei es aus Besorgnis für das Kind, sei es aus Besorgnis für sich selber.
Denn die letzten Jahre des gewaltigen Mannes waren durch finsteres und nicht grundloses Mißtrauen gegen die Menschen verdüstert, auf die er sich doch hauptsächlich stützen und verlassen mußte, gegen Katharina und ihren Anhang. Zwar ließ er im Mai 1724 Katharina feierlich in Moskau als Zarin krönen; allein er argwohnte doch, und zwar nicht ohne Grund, daß die also von der niedersten Sprosse der sozialen Leiter durch ihn zur höchsten Erhobene ihm nicht einmal als Frau getreu sei. Freilich seine eigene brutale und unzählige Male wiederholte Untreue konnte die ihrige wohl herausfordern und, seltsam zu sagen, der grimme Zar scheint zuletzt die ehemalige Leibeigene ordentlich gefürchtet oder wenigstens für ganz unentbehrlich gehalten zu haben. Sonst ließe sich sein Verhalten und Verfahren in der Monsschen Sache kaum erklären.
Das war auch wieder so eine echtrussische Hof- und Staatsaktion von damals. Es ging ein sehr hörbares Geraune und Gezische! um, daß Herr Mons de la Croix, erster Kammerherr Katharinas, seiner Herrin etwas näher gekommen wäre, als der Respekt vor einer gekrönten Zarin gestattete, und seine Schwester, die verwitwete Generalin von Balk, sei die Gelegenheitsmacherin. Peter soll dann seine Frau mit Herrn Mons nachts in einer Laube überrascht und die Zarin auf der Stelle abgestraft, d. h. tüchtig durchgeprügelt haben. Wahrscheinlicher ist, daß er, wie erzählt wird, als Katharina, die natürlich alles leugnete, für Mons und dessen Schwester eine Fürbitte einlegte, die Zarin vor einen prachtvollen venezianischen Spiegel führte und bedeutsam sagte: »Sieh, das war früher nur ein verächtlicher Stoff. Das Feuer hat ihn veredelt, und jetzt ist er ein Schmuck des Palastes; aber ein Schlag mit meiner Hand kann ihn seinem ursprünglichen Zustande wieder nahe bringen.« Damit zerschlug er den Spiegel. Aber Katharina sagte gefaßt und ruhig: »War diese Zerstörung eine Ihrer würdige Tat, und ist Ihr Palast dadurch schöner geworden?« Der Kammerherr und seine Schwester wurden verhaftet und »wegen Bestechlichkeit und Veruntreuung zarischer Gelder« prozessiert. Die Generalin erhielt die Knute und wurde nach Tobolsk verbannt, Mons aber wurde enthauptet und sein Leichnam aufs Rad geflochten. Etliche Tage nach der Hinrichtung sei der Zar mit der Zarin absichtlich dicht am Hochgericht vorübergefahren, Katharina habe die grausen Überreste des hingerichteten Lieblings angesehen und mit vollkommener Selbstbeherrschung gesagt: »Es ist doch ein Jammer, daß unter den Hofleuten so viele Bestechlichkeit herrscht!«
Sie hatte nach dieser schrecklichen Probe nicht mehr lange zu warten, bis sie regierende Zarin und Selbstherrscherin wurde. Am 8. Februar 1725 starb der große Zar, und zwar, wie nicht vertuscht werden soll, infolge seiner unbezähmbaren Sinnlichkeit eines sehr unsauberen Todes … Karl Immermann, der einzige Dichter, der dem Manne poetisch gerecht zu werden verstand, weil er ihn (in seiner Trilogie »Alexis«) mit Shakespeareschem Maßstab zu messen wußte, hat der Bitterkeit, welche Peters letzte Tage und Stunden erfüllte, kräftigen Ausdruck verliehen, indem er dem Sterbenden die Worte in den Mund legte:
»Nicht sterben können! Endige! Schon klingt Geräusch
Arbeitenden Verwesens. Bei dem Werke sind
Geschäftig-laut die Würmer. Meine Zunge quält
Ein salzig-fauliger Geschmack, als läge drauf
Der Welt Gemeinheit …«