Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Jeanne d'Arc

Eine Jungfrau wird auf den Rücken
eines Bogenschützen herabsteigen und die
jungfräulichen Blumen verdunkeln.

Weissagung des Merlin.

1.

Ich versuche ein Thema zu behandeln, welches, wie ich am Schlusse meiner Skizze kurz erörtern werde, schon vielfältigst, in mannigfachem Sinn und in verschiedenartiger Form behandelt worden ist. Dieses Thema gehört aber zu den historischen Problemen, die immer wieder zu erneuter Betrachtung reizen, weil sie, ihrer unvergänglichen ethischen Bedeutung sicher, ebensosehr der wissenschaftlichen Untersuchung stets neue Seiten darbieten, als sie niemals aufhören werden, das fühlende Gemüt sympathisch zu berühren Eine wissenschaftliche Behandlung der Geschichte des Mädchens von Domremy ist erst möglich geworden, seitdem Jules Quicherat die Resultate seiner Forschungen veröffentlicht hat. Seine Akten- und Zeugnissesammlung: » Procès de condamnation et de réhabilitation de Jeanne d'Arc dite la pucelle. Tom. I – V. Paris 1841-49« … bildet durchweg die Basis meiner Darstellung..

In Wahrheit, die Gestalt, welche Ihnen vorzuführen ich unternehme, Jeanne d'Arc, die vom schlichten Bauernmädchen zur erlauchtesten Heldin ihres Landes, ja Europas, sich erhoben hat, sie gehört ohne Frage zu jenen nicht sehr zahlreichen weltgeschichtlichen Figuren, welche wie marmorschöne Götterbilder von dem dunklen, ach, meist tiefdunklen Hintergrund des menschlichen Entwicklungsprozesses sich abheben – leuchtende Marksteine an der Vorschrittsbahn unseres Geschlechts, groß durch ihr Wollen, größer durch ihr Tun, am größten durch ihr Leiden. Denn das ist ja das sicherste Merkmal, das untrüglichste Kennzeichen der rechten Götterlieblinge, der wahrhaft großen und guten Menschen, daß mit dem Lorbeer der Heldenschaft, der ihre Stirnen beschattet, allzeit der Palmzweig des Martyriums sich verflicht.

Selbstverständlich beabsichtige ich nicht, die Geschichte des Mädchens von Domremy ausführlich hier vorzubringen. Kann doch meines Erachtens das Verfahren bei derartigen Vorträgen überhaupt mehr nur ein andeutendes als ein ausführendes sein Der vorliegende Aufsatz ist die Ausarbeitung eines Vortrages, den der Verfasser am 27. Januar 1870 im Großratssaal in Zürich gehalten hat.. Zudem darf ich ja die Kenntnis der Tatsachen dieser Geschichte getrost voraussetzen und kann mich demnach darauf beschränken, die Bedeutung dieser Tatsachen zu beleuchten und hierbei, falls mir das gelingen sollte, den einen oder anderen neuen Gesichtspunkt aufzutun. Indessen möchte es doch nicht ganz überflüssig sein, zum Abschluß dieser Vorbemerkungen daran zu erinnern, daß und wie die Erscheinung unserer Heldin ihr Grundmotiv hatte in dem feindseligen Verhältnis, das im 14. und 15. Jahrhundert zwischen Frankreich und England obwaltete, veranlaßt durch den Hader der Häuser Valois und Plantagenet um die französische Krone.

In der Person Heinrichs II., Herzogs der Normandie, Herrn von Anjou und Maine, von Poitou und Guienne, war das Haus Anjou-Plantagenet im Jahre 1154 auf den Thron von England gelangt. Der englische König war also auf französischem Boden kaum weniger mächtig als der französische, da ja das Gebiet der Krone Frankreich dazumal auch die Herzogtümer Bretagne und Burgund noch nicht in sich begriff. Daß diese Stellung der beiden Kronen zueinander eine unhaltbare und friedlose sein mußte, liegt auf der Hand. Jahrhunderte hindurch hat denn auch der Streit und Krieg gewährt. Im 14. Jahrhundert schien er sich so wenden zu wollen, daß Frankreich eine englische Provinz würde. Der letzte Kapetinger, Karl IV., starb sohnlos im Jahre 1328. Ihm folgte sein Vetter Philipp von Valois als König Philipp VI. von Frankreich. Allein Eduard III. von England tat Einspruch gegen diese Königschaft, indem er als Tochtersohn Philipps IV. den Thron Frankreichs ansprach. Ein rechtlich ganz hinfälliger Anspruch, da dem in Frankreich gültigen »salischen« Gesetze zufolge die Krone nur in männlicher Linie vererbbar war. Macht geht aber bekanntlich vor Recht und ging ihm allzeit vor, nicht erst seit dem Tage, wo Herr von Bismarck mit preiswürdiger Offenheit diesen Gedanken, der zugleich eine weltgeschichtliche Tatsache ist, proklamiert haben soll. Eduard III., der im Juni 1340 den Titel eines Könige von Frankreich und England annahm, erwies sich mächtiger als Philipp VI. Der Sohn des englischen Königs, ebenfalls Eduard geheißen, aber bekannter unter seinem Kriegsnamen »der schwarze Prinz«, führte jene glänzenden Feldzüge gegen die Franzosen, welche für die letzteren die furchtbaren Niederlagen bei Crecy und Poitiers mit sich brachten. Das lässige Regiment jedoch, welches Eduard III. in seinen alten Tagen führte, die Erkrankung und der vorzeitige Tod des schwarzen Prinzen, die vielfachen Wirrsale, Volksaufstände und Thronstreitigkeiten, welche während der Regierung Richards II. das englische Staatswesen zerrütteten, alle diese Umstände schafften der Sache der Valois drüben in Frankreich Luft und Raum, was insbesondere durch Karl V. mit Klugheit und Tatkraft benutzt wurde, um die englische Macht auf französischem Boden mehr und mehr einzuschränken. Allein das Blatt wandte sich wieder, als in Frankreich mit der Thronbesteigung des erst halb und bald ganz wahnsinnigen Karl VI. eine chaotische Zerrüttung aller Verhältnisse hereinbrach, während in England mit Beseitigung des schwachen zweiten Richard ein Seitensprößling des Hauses Plantagenet, Heinrich von Lancaster, im Jahre 1399 in den Besitz der Krone kam. Der Sohn und Thronerbe dieses Heinrichs von Lancaster, König Heinrich V., erneuerte die englischen Ansprüche auf Frankreich im weitesten Sinne, führte im Sommer 1415 eine große Expedition an die Küste der Normandie hinüber und gewann im Oktober bei Azincourt über die Franzosen einen Sieg, der an Glanz den Siegen des schwarzen Prinzen bei Crecy und Poitiers gleichkam. Rasch breitete sich jetzt die englische Macht in Frankreich aus; aber selbst diese Gefahr, wobei es sich um Sein oder Nichtsein handelte, vermochte anfänglich weder den wüsten Familienhader im französischen Königshause noch den wilden Parteigrimm in den Reihen des Adels noch auch die blutigen Zwiste im Innern der Städtebürgerschaften zu stillen. Es schien zu Ende zu gehen mit der selbständigen Existenz Frankreichs. Selbst der unerwartet vorzeitige Tod Heinrichs V., welcher im August 1422 zu Vincennes bei Paris starb, schien hieran nichts ändern zu wollen. Sein erst zweijähriger Thronnachfolger, nachmals als Heinrich VI. ein so unglücklicher Mann, wurde wie als König von England so auch als König von Frankreich ausgerufen. Im Namen dieses Kindes regierte in England sein Oheim, der Herzog von Glocester, in Frankreich sein Oheim, der Herzog von Bedford. Dieser war ganz der Mann, das Werk der Eroberung Frankreichs weiterzuführen, und dieses Werk schien um so mehr vollendet werden zu sollen, als nach dem im Oktober 1422 erfolgten Tode des wahnsinnigen sechsten Karl dessen Sohn und Erbe Karl VII., welcher, weil er noch nicht zu Rheims gekrönt war, unter dem Titel eines Dauphin zu regieren versuchte, weder ganz noch auch nur halb der Mann war, seinen Gegnern die Stange zu halten. Schwer zum Guten, leicht zum Schlimmen bestimmbar, schwach und schwankend, schlaff, frivol und genußsüchtig, so war Karl VII. in seinen jungen Jahren. Kein Wunder demnach, daß es mit seiner Sache immer schärfer bergab ging. Gegen das Ende der zwanziger Jahre des Jahrhunderts war der ganze Norden von Frankreich mit der Hauptstadt Paris in den Händen der Engländer, und nur notdürftig hielt sich der Dauphin mit seinem leichtfertigen Hof in den südwärts von der Loire gelegenen Landstrichen. Ein sehr beträchtlicher Teil des französischen Adels, Klerus und Städtebürgertums hatte für die englische Herrschaft Partei genommen, und vor allen übrigen Korporationen tat sich die hochangesehene Pariser Universität durch heftigen Eifer für die englische Sache hervor. Unter solchen günstigen Umständen schickten die Engländer sich an, ihre siegreichen Waffen auch über die Loire zu tragen. Der Schlüssel zur Öffnung dieser von der Natur gezogenen strategischen Schranke war die Stadt Orleans. Im Oktober 1428 schritten die Engländer zur Belagerung derselben. Trotz der heldischen Gegenwehr, welche die Bewohnerschaft leistete, schien das Schicksal der Stadt und damit zugleich das Schicksal Frankreichs besiegelt, da der Dauphin, der zu Chinon in der Touraine Hof hielt, nicht nur untätig blieb, sondern auch, in völliger Entmutigung das Land und sich selber aufgebend, damit umging, in Spanien eine Zuflucht zu suchen oder gar nach Schottland zu flüchten.

Aber gerade jetzt, als der Bogen der englischen Erfolge am höchsten und siegeszuversichtlichsten gespannt war, wurde seine Sehne durchgeschnitten, und zwar von einer französischen Mädchenhand, durchgeschnitten von Johanna der Bognerin, falls es gestattet ist, wortspielend also den Namen Jeanne d'Arc zu verdeutschen.

2.

Sie war eine treue Tochter ihres Landes, sie war aber auch ein ganzes Kind ihrer Zeit.

Wie die Pflanze ist auch der Mensch ein Produkt des Bodens, aus und auf welchem er erwächst. Wenn darum selbst Geister, welche ihren Zeitgenossen um Jahrhunderte vorausgeschritten sind, die unverwischbare Signatur ihrer Zeit tragen, wieviel mehr mußte dies bei einem Landmädchen des 15. Jahrhunderts der Fall sein!

Es war eine gärende, tastende, verworren ringende Periode, von den Vorwehen großer Veränderungen und Umwälzungen durchzogen und erregt. Die Zerbröckelung der Weltanschauung und der Institutionen des Mittelalters hatte begonnen. In die romantische Nacht der Unwissenheit herein leuchtete hell das Morgenrot der wiedererwachenden klassischen Studien. Der Genius der Renaissance schickte sich an, seine lichtblitzenden Schwingen zu lüften. Wer immer auf der Höhe der Zeitbildung von damals stand, fühlte sich unheimisch, fühlte sich bedrängt und bedrückt in dem engen Gehäuse des mittelalterlichen Dogmas. Die Gesellschaft rang wenigstens in ihren Spitzen nach allseitiger Durchbrechung dieses Gehäuses. In der Kirche selbst regte sich, wie die großen Kirchenversammlungen von Pisa, Konstanz und Basel bezeugen, der reformatorische Gedanke; freilich noch viel zu schwach, um das hierarchische Joch brechen zu können, und verdammt, nach unzulänglichem Aufbäumen scheinbar völlig besiegt diesem Joche wiederum sich zu beugen. In die Massen drangen kaum Ahnungen vom Vorhandensein solcher Vorzeichen eines sozialen Erneuerungsprozesses. Wohl aber gab sich in ihnen das Bedürfnis kund, den kirchlichen Formalismus, dessen Hohlheit augenscheinlich geworden, mit der Substanz einer mehr gemütlichen Erfassung der Glaubenslehren zu füllen und dem starren und kalten Dogmenleibe die Seele religiöser Innigkeit einzuhauchen – ein Wollen und Wünschen, welches sich ja auch in dem Reden und Tun von zwei hochgepriesenen neueren Heiligen der Kirche ausgeprägt hatte, in dem Reden und Tun des Franz von Assisi im 13. und der Katharina von Siena im 14. Jahrhundert. Diese Vertiefung des religiösen Gefühls im Volke wurde mit veranlaßt und ganz außerordentlich gesteigert durch die ungeheuren Trübsale, welche im 14. Jahrhundert über einen großen Teil von Europa hereingebrochen waren, durch die furchtbaren Verheerungen, welche die physischen und moralischen Pestilenzen: der schwarze Tod, die Geißlerfahrten und die Judenschlachten angerichtet hatten. In solchen Epochen, wo unerhörte Ereignisse mit der Unwiderstehlichkeit elementarer Gewalten wirken, wächst auch der Mensch gleichsam über sich hinaus, im Guten wie im Bösen. Die Stimmung steigert sich zur Ekstase. Es hängt ein Etwas, ein moralisches Fluidum in der Luft, dessen Einatmung je nach der Mischung desselben entweder das politische Fieber oder aber die religiöse Verzückung erzeugt, jene bis zur visionären Potenz hinaufgespannte religiöse Verzückung, welche auch in unserer Heldin gewaltet hat.

Der ganze Wandel Johannas, all ihr Dichten und Trachten, Wollen und Vollbringen hat hierin seine Wurzel.

Will man den Gegensatz von Mittelalter und moderner Zeit in eine bündige Formel bringen, so dürfte diese etwa also lauten: In der mittelalterlichen Welt war die erste Lebensmacht der Glaube, in der modernen ist es die Wissenschaft. Dort wurde alles bedingt und bestimmt durch das gläubige Vorstellen, hier wird, wenigstens in der Theorie, alles bedingt und bestimmt durch das begreifende Wissen. Deshalb vollbrachte der Glaube damals Großes, Größtes, Wunderähnliches, während er zu unserer Zeit ganz notwendig meist nur Karikaturen zuwegebringen kann, was ja auch die Riesenkarikatur bezeugt, welche gerade in diesen Tagen Januar 1870. drunten in Rom Mittelalter spielt und weit mehr lächerlich als bedrohlich sich breitmacht.

In der Hirtin von Domremy offenbarte sich der Glaube des Mittelalters noch einmal in seiner ganzen Innigkeit, Größe und Kraft. Aber es gesellte sich ihm eine Gehilfin von kaum weniger großer Mächtigkeit – die Vaterlandsliebe.

Die schärfere Scheidung der Nationalitäten und die bestimmtere Herausbildung der verschiedenen Völkerbesonderheiten, sie waren ja auch ein Charaktermerkmal jener Zeit, und zwar ein sehr vortretendes. Dabei ist mit Beziehung auf unsere Heldin zu betonen, daß diese schärferen Völkerscheidungen und diese bestimmten, d. h. meist sehr feindselig sich gestaltenden nationalen Gegensätze viel entschiedener in den unteren als in den oberen Gesellschaftschichten hervortraten, weil die letzteren noch unter dem Bann und Zauber der Formen und Formeln des Rittertums standen, das bekanntlich keinen nationalen, sondern vielmehr einen universalen Charakter hatte. Hieraus erklärte es sich, wie in der Bäuerin Johanna ein so feuriger Patriotismus glühen, ein so enthusiastisches Franzosentum leben und weben konnte, daß die Herren und Damen der französischen Hof- und Ritterwelt sich anfänglich in diese Erscheinung gar nicht hineinzufinden vermochten. Die französisch-englischen Kriege hatten sich bislang innerhalb der Vorstellungen und Formen der ritterlichen Konvenienz bewegt. Erst die gewaltige Anregung, welche von Johanna ausging, brachte die Reaktion des bis dahin höchstens instinktiv tätig gewesenen Nationalgefühls der Franzosen gegen die englische Fremdherrschaft zum Bewußtsein und erhob den Ritterkrieg zu einem Volkskrieg oder doch zu einem nationalen Kampf.

3.

Zwischen Neufchateau und Vaucouleurs streckt sich am linken Ufer der Maas ein triftenreiches Tal hin, dessen Reben hügelwände zu Bergwäldern emporsteigen. Die Talwandung zur Rechten bildete im 15. Jahrhundert einen Teil der Westgrenze des deutschen Reichslandes Lothringen. Das Tal selbst gehörte zu Frankreich und war sogar seit Karl V. ein unmittelbares Hausgut der französischen Krone. Mitten im Tale lag und liegt das Dorf Domremy, und hier, also hart an der deutschen Grenze, wurde dem Bauer Jacques d'Arc von seiner Ehefrau Isabelle Romée eine Tochter geboren, welche in der Taufe den Namen Jeanne erhielt, in der Familie aber und im Dorfe vertraulich Jeannette gerufen ward. Das Jahr der Geburt ist nicht mit voller Bestimmtheit anzugeben. Frühestens kann es das Jahr 1408, spätestens muß es das Jahr 1412 gewesen sein; das letztere ist das wahrscheinlichere.

Jacques d'Arc hatte drei Söhne und neben Johanna noch eine Tochter. Er war ein französischer Bauer von damals, d. h. er gewann nur mit Anstrengung seinen und seiner Familie Lebensunterhalt. Die Kinder mußten frühzeitig bei ackerbaulichen und häuslichen Verrichtungen mit Hand anlegen. Aus Johannas Kinder- und Mädchenjahren wird ihre Arbeitsamkeit durch eine ganze Reihe von Zeugen aus ihrem Dorfe gerühmt. Nicht minder ihr sittsamer Wandel, ihre innige Frömmigkeit, ihre Herzensgüte und Hilfsbereitschaft, von welcher getrieben sie sich lieber Entbehrungen auferlegte, als dem Almosengeben entsagte. Im übrigen erschien sie als ein Bauernmädchen wie ein anderes, d. h. ihr Bildungsgrad war kein höherer. Von Schulunterricht war gar keine Rede. Im Christentum unterrichtete, wie in den Akten steht, Frau Isabelle ihre Tochter, d. h. sie lehrte sie, das Kredo, das Paternoster und Ave Maria hersagen. Dennoch muß in der jungen Johanna schon frühzeitig etwas gelegen sein, was sie vor ihren Gespielinnen auszeichnete. Daraufhin weist die Bezeugung, daß sie der Liebling des Dorfes gewesen; daraufhin deutet auch die Legende, die Vögel des Feldes und Waldes hätten vor Johanna keine Furcht gehabt und ihr die Brosamen aus den Händen gepickt.

Ein reiches Gemütsleben, ein sehr reizbares Nervensystem und eine ungemein lebhafte Phantasietätigkeit müssen jedenfalls bei dem jungen Mädchen vorausgesetzt werden, das unter den Einflüssen eines Glaubens heranwuchs, der mit den heimatlich-volksmäßigen Erinnerungen an keltisch-druidisches Heidentum stark versetzt war. Neben der von Johanna allwöchentlich besuchten Marienkapelle an der Bergwaldhalde ob dem Dorfe stand eine alte »Feenbuche«, und nahebei sprudelte eine altheilige Quelle. Alljährlich am Sonntag Lätare feierte dort die Dorfjugend ein aus der heidnischen Zeit überkommenes Frühlingsfest. Doch muß bemerkt werden, daß die Visionen Johannas durchaus den römisch-katholischen Stempel trugen. Sehr begreiflich. Wenn noch heute der Masse des Volkes überall das Ideale ausschließlich oder doch zumeist einzig und allein in der Form der Religion vermittelt wird, wie hätte ein Bauernmädchen des 15. Jahrhunderts auf anderem Wege eine Beziehung dazu gewinnen können? Zu der tiefreligiösen Anschauung und Stimmung Johannas kam dann die patriotische Trauer des Mädchens. Die Sorge um Frankreich machte ihr das junge Herz in der Brust quillen und schwellen; um so schmerzlicher, als der Krieg sein Getöse und sein Elend im Jahre 1424 auch in das abgelegene Maastal trug. Physische Motive endlich haben zweifelsohne auch bedeutsam mitgewirkt, um Jeanne aus dem Geleise des Gewöhnlichen herauszutreiben: auf der Schwelle zur Mannbarkeit wurde sie zuerst von ihren visionären Zuständen angewandelt.

Eines Sommertags – das Jahr ist nicht sicher zu ermitteln, wahrscheinlich aber war es dasselbe Jahr 1424, das den Kriegssturm in die unmittelbare Nähe von Domremy geführt hatte – eines Sommertags vernahm Johanna im Garten ihres elterlichen Hauses am hellen Mittag zum ersten Male die himmlischen Ruf- und Weckstimmen, die sie zur Retterin ihres Landes beriefen. Ihr war, eine Licht- und Glanzwolke breitete sich um sie her, und in dieser leuchtenden Helle erschien ihr der Erzengel Michael und erschienen ihr die heilige Katharina und die heilige Margareta. Diese drei Erscheinungen sah sie fortan am häufigsten; viel weniger häufig die des Erzengels Gabriel und anderer Engel. Sie war bis in die innerste Falte ihrer Seele hinein von der Wirklichkeit dieser Gesichte überzeugt. In ihrem Prozesse hat sie im dritten Verhör ihren Richtern auf die Frage, ob sie den heiligen Michael und die übrigen Engel und Heiligen denn körperlich und wirklich ( corporaliter et realiter) gesehen, zur Antwort gegeben: »Ich sah sie mit meinen leiblichen Augen, so deutlich, wie ich euch sehe; und wenn sie von mir gingen, weinte ich, und ich wollte wohl, sie hätten mich mitgenommen.« In einem andern Verhör gab sie an, daß sie der heiligen Katharina und der heiligen Margareta die Hände gedrückt, daß sie die beiden heiligen Frauen umarmt und geküßt habe; es sei auch Wohlgeruch von ihnen ausgegangen, woraus ein Spötter wie Voltaire hätte schließen können, daß es im Himmel nicht an einem Parfümerieladen fehlte. Gegenüber dem Michael aber und den übrigen Engeln blieb sie in den Grenzen demütigster Ehrfurcht. Sie empfing die Erscheinung derselben kniend, und nach ihrem Verschwinden küßte sie den Boden, worüber die Himmelssöhne gewandelt. Als einer der Richter die verfängliche Frage an sie richtete, ob ihr der Erzengel Michael nackt erschienen sei, tat sie aus der Lauterkeit ihres Bewußtseins hervor die Gegenfrage: »Meint ihr, Gott habe keine Kleider für ihn?«

So hatte sich denn die fieberhafte An- und Aufspannung des Mädchens bis zum Eintreten von Halluzinationen hinaufgesteigert. Was in Johannas junger Seele von phantastisch-gläubigen Vorstellungen und Hoffnungen, von patriotischen Ängsten und Wünschen durcheinander wogte und gärte, trat in Gestalt scheinbar objektiver Visionen vor ihre Augen hin. Die Traumbilder ihres Fieberschlafs verließen auch die Wachende nicht mehr. Die innere Stimme, die ihr unablässig zurief: Geh und rette dein Land! erschien dem naiven Glauben des Mädchens als eine ihr von außen her zurufende Stimme von Engeln und Heiligen. Der große Gedanke, Frankreich zu retten und ihr Volk vor Fremdherrschaft zu wahren, dieser Gedanke, der Johanna erfüllte, der, von Tag zu Tag bestimmtere Gestalt gewinnend, sie nicht mehr rasten noch ruhen ließ, er trug die Tracht und Farbe der Zeit, d. h. er stellte sich seiner Trägerin als ein himmelab gekommener Blitz der Erleuchtung dar, als eine göttliche Offenbarung, als eine ihr von Engeln verkündigte und von Heiligen auferlegte Mission. Wir dürfen und müssen uns hierbei wohl jenes tiefsinnigen Wortes des Römers Seneka erinnern, daß jeder außerordentlichen Seelengröße eine Dosis Wahnsinn beigemischt sei; aber mit dem Beifügen, daß, wenn ich das Richtige treffe, unter Wahnsinn hier nichts anderes zu verstehen ist als jenes völlig selbstlose Hinwegsehen und Hinweggehen über persönliche Bedenken, jenes Aufgehen des menschlichen Ich und Selbst in einer Idee, das allerdings den Menschen gewöhnlichen Schlages als wahnsinnig Vorkommen mag und muß.

4.

Jeanne nahm die ihr gewordene Mission mit kindlicher Gläubigkeit an, und dieselbe Glaubenskraft, womit sie an ihre himmlische Sendung glaubte, machte die Menschen an die wunderbare Jungfrau glauben. Mythische Vorstellungen, vor denen der mittelalterliche Christ mit höchster Ehrfurcht sich beugte, verschmolzen hier mit einer Tatsache, die von dem ganzen Zauber des Phantastisch-Romantischen umflossen war, d. h. mit dem heldischen Auftreten des Mädchens von Domremy. War denn nicht dem christlichen Dogma zufolge auch dereinst das Heil durch eine Jungfrau in die Welt gebracht, die Erlösung der Menschheit ermöglicht worden? Warum sollte Gottes Ratschluß nicht ebenfalls eine Jungfrau auserwählt haben, um Frankreich Heil zu bringen und das französische Volk von den Engländern zu erlösen?

Johanna glaubte an ihre Berufung, ging auf in ihrer Idee, folglich glaubten die Menschen an Johanna, und in diesem Glauben und Geglaubtwerden vollbrachte sie ihr Werk, das allerdings den geblendeten Augen der Zeitgenossen wie ein Wunder erscheinen mußte, und zwar Freunden und Feinden gleichmäßig wie ein Wunder, nur mit dem Unterschied, daß das Wunder jenen als ein himmlisches, diesen als ein höllisches erschien. Oder mit andern Worten: ihre befreiten Landsleute sahen in Jeanne eine Heilige, die geschlagenen Engländer dagegen und ihr französischer Anhang eine Hexe, welch letztere Auffassung sogar am Hofe des Dauphins Karl, den die Jungfrau zu retten kam, anfänglich ebenfalls sich geltend machte, obzwar der frivole, aber keineswegs einfältige Prinz und seine nächste Umgebung in Johanna bei ihrem ersten Auftreten weniger eine Teufelsbesessene als vielmehr eine Betrügerin zu erblicken geneigt waren.

Wie die Jungfrau nur nach langen und peinlichen Seelenkämpfen an ihre Bestimmung hatte glauben gelernt, so kam auch der Glaube an sie den Menschen keineswegs plötzlich. Am schwierigsten war es, ihre eigene Familie und ihre Dorfgenossen zu diesem Glauben zu bekehren. Wie der Prophet, so gilt eben auch die Prophetin daheim nichts, bis ihr Ruhm seinen verklärenden Glanz von fernher auf die Heimat zurückwirft. Vater Jacques d'Arc selber schüttelte ganz entschieden ungläubig seinen praktischen Bauernkopf und meinte, das Gescheiteste dürfte sein, das überspannte Ding von Tochter zu verheiraten: das würde ihr wohl die Grillen vertreiben. Jeanne sträubte sich energisch gegen diese Kur. Allen auf uns gekommenen Zeugnissen zufolge müssen wir bestimmt annehmen, daß ihr Herz die Liebe zum Manne entweder nie gekannt oder aber daß die Glut ihrer auf ein großes Ziel gerichteten Begeisterung jedes derartige Gefühl schon bei seinem Entstehen aufgesogen und verzehrt habe. Auch dieses ihr streng und herb jungfräuliches Verhalten hatte übrigens eine religiöse Färbung. In ihrem Prozesse hat sie zu Protokoll gegeben, daß sie, als die himmlischen Stimmen zum ersten Male zu ihr gesprochen, das Gelübde der Keuschheit getan und später für die Wahrung dieses Gelübdes von der heiligen Katharina und der heiligen Margareta die Einführung ins Paradies zugesichert erhalten habe. Johannas Vater mochte sich um so mehr über das Gebaren und Vorhaben seiner Tochter beunruhigen, als sozusagen ein Reflex ihrer Visionen in seine eigenen Träume fiel. Er träumte nämlich, daß er seine Tochter mit Kriegsleuten davongehen sähe, und der Traum hatte die Wirkung, daß er gemeinsam mit seiner Frau die junge Jeannette streng überwachte und seine Absicht, sie unter die Haube zu bringen, durchzusetzen suchte. Sicherlich rührte von ihm auch die bäuerische List her, daß ein junger Dörfler behaupten mußte, Johanna hätte ihm die Ehe versprochen. Weil sie aber nichts davon wissen wollte, verklagte sie der nichterhörte Freiwerber beim geistlichen Gerichte in Toul. Allein auch das half nicht: Johanna reinigte sich in Toul durch einen Eid von der falschen Bezichtigung, obzwar die Eltern wollten, sie möchte sie sich gefallen lassen, d. h. den Bezichtiger heiraten.

Endlich siegte die edle Begeisterung des Mädchens über die praktischen Bedenken bäuerischer Lebensführung. Gerade zur Zeit, als mit dem Beginn des Jahres 1429 die Eroberung der Stadt Orleans durch die Engländer täglich befürchtet wurde und demnach die Not der Nationalsache aufs höchste gestiegen war, sind die Visionen Johannas immer häufiger geworden und lautete der an sie ergehende Ruf immer dringender. Der Erzengel Michael sprach zu ihr: »Das französische Volk erbarmt unsern Herrn und Gott. Du bist sein liebes Kind. Geh, mache dich auf, deinem Könige zu Hilfe!« Auch die ihr erscheinenden beiden heiligen Frauen erhoben diese Forderung und wiesen die Einwendung Johannas: »Ich bin nur ein armes Mädchen und verstehe nichts vom Kriegführen« – zurück. Nun war die Jungfrau nicht mehr zu halten. Die Kraft ihres begeisterten Wollens durchschlug alle Hindernisse, und sie begann ihr großes Unternehmen.

5.

Die Anfänge desselben, die Schwierigkeiten, sowie die Beharrlichkeit, womit Johanna diese Schwierigkeiten besiegte, kennt jedermann. Im Januar oder Februar 1429 gelang es ihr, den Ritter Baudricourt, Kastellan des unweit von Domremy gelegenen königlichen Burgfleckens Vaucouleurs, halb und halb von ihrer Sendung zu überzeugen. Der Kastellan gab ihr Rüstung und Schwert, die Bürger des Fleckens schenkten ihr ein Pferd und, geleitet von zwei Rittern, einem königlichen Herold und etlichen Dienstleuten, brach die Begeisterte von Vaucouleurs auf, durchzog eine weite von Feinden besetzte Landstrecke und gelangte am 5. März zu Chinon in der Touraine an, wo der Dauphin Hof hielt, zur Zeit, wie wir wissen, in zaghaftester Stimmung und nur noch mit Fluchtgedanken sich tragend.

Dem sorglosen und leichtfertigen Karl kam das begeisterte Bauernmädchen wie eine wunderliche Spielart entweder von Narrheit oder von Schwindelei vor, als sie vor ihn trat mit der Behauptung, Gott habe sie gesandt, Orleans zu befreien und ihn, den Dauphin, nach Reims zu führen, damit er, wie es Recht und Brauch, in der dortigen Kathedrale zum König von Frankreich gesalbt und gekrönt würde. Was die Hofleute angeht, so war Johannas Erscheinen und Gebaren den einen ein Spaß, den andern ein Ärgernis. Weil die damalige Zoologie beim Ordo Homo und beim Genus Mulier die Spezies Femina emancipata noch nicht aufzählte, mußte schon Jeannettes Auftreten in Männertracht höchst skandalhaft wirken, so sehr, daß sie sich einer unser Gefühl unzart berührenden Ausforschung durch zwei würdige Damen, Frau von Gaucourt und Frau von Trèves, unterziehen mußte, um ihr Geschlecht und ihr Magdtum festzustellen Zeugnisaussage des Augustinermönchs Jean Paquerel im Rehabilitationsprozess: Johanna sei von Frauen untersucht worden, und diese hätten festgestellt, daß sie eine Jungfrau sei. Ein zweiter Zeuge im Rehabilitationsprozeß, und zwar ein sehr gewichtiger, der Ritter d'Aulnon, bestätigte diese Angabe, nur mit der Abweichung, daß er die Untersuchung Johannas durch Damen erst nach ihrer Prüfung durch die Theologen zu Portiers stattfinden läßt, und zwar in Gegenwart der Schwiegermutter des Dauphins.. Das Resultat dieser Untersuchung befreite sie zugleich von dem Verdacht, eine Hexe zu sein; denn bekanntlich hatte der Teufel über reine Jungfrauen keine Gewalt. Doch fand man für gut, ihre Rechtgläubigkeit noch einer strengen Prüfung durch die Professoren und Doktoren der Universität Poitiers zu unterstellen. Die gelehrten Herren nahmen Johanna scharf ins Verhör, erfanden sie aber als gute Katholikin und kamen zu dem Schlusse, es läge kein Grund vor, der den König verhindern könnte, in der gegenwärtigen Not des Reiches des Beistandes der wundersamen Jungfrau sich zu bedienen. Die ganze Haltung und Ausdrucksweise des Mädchens hatte auf ihre Examinatoren einen bedeutenden Eindruck gemacht. Während ihres Aufenthalts in Poitiers hat auch Johanna ihre Annahme der männlichen Tracht vor Edeldamen und Bürgerfrauen praktisch verständig dahin gerechtfertigt, daß sie, weil für den König zu Felde ziehend, aus Gründen sowohl der Zweckmäßigkeit als auch der Ehrbarkeit die Frauenkleider hätte abtun müssen.

Das Mädchen von Domremy hatte sich demnach am Hoflager zu Chinon beglaubigt, indem sie erwies, daß sie weder eine zuchtlose Dirne noch eine Schwindlerin noch eine Hexe sei. Die Proben, die sie zu bestehen gehabt, waren ganz im Sinn und Glauben der Zeit angeordnet. Allein zweifelsohne hat mehr noch als die Bestehung dieser Proben für sie gezeugt jenes unbestimmbare Etwas, das auserwählten Wesen innewohnt und von ihnen ausgeht, jenes unbestimmbare Etwas, das den Helden im Hochsinn des Wortes macht, wie den Tondichter die Melodie, jenes Göttliche, was seinen Trägern Macht gibt über Menschen und zuzeiten gleichsam das Herz einer ganzen Nation in der Brust eines einzigen auserwählten Mannes oder Weibes, Sehers oder Heros schlagen läßt.

Johannas erster Erfolg war dieser, daß sie an die Stelle der zwischen Leichtsinn und Verzweiflung schwankenden Entmutigung, die über dem Hoflager zu Chinon brütete, wieder Gefaßtheit, Mut und Hoffnung setzte, daß sie belebende Funken des heiligen Feuers, das in ihrer Seele brannte, auch in das verzagte Gemüt Karls VII. oder wenigstens in die Seelen seiner Räte und Ritter zu werfen wußte. Auch hier, wie so oft in der Geschichte, wurde offenbar, daß große Menschen, welche mächtig auf ihre Zeitgenossen wirken, nur die Verkörperung der besten Instinkte und edelsten Triebe der Mitlebenden sind. Ich möchte sagen, in solchen bestimmenden, begeisternden und führenden Menschen schafft jeweils die Seele einer Zeit sich ihren Leib. In Jeanne d'Arc verkörperte sich der Genius Frankreichs. Der Hauch dieses Genius atmete in dem begeisterten Gebaren und Reden der Jungfrau, gewann ihr die Herzen und waffnete die Arme für die Sache, welche sie vertrat. Dazu kam noch die romantische Magie, welche auf die leichtentzündliche Phantasie der französischen Ritterwelt der Umstand üben mußte, daß ein schönes junges Mädchen ihr das Banner vorantrug zum Kampfe für den heimatlichen Boden und die nationale Ehre.

An dieser Stelle nun ist gerade noch als höchst denkwürdig zu betonen, daß in dem Verkehr der sonst so galanten französischen Ritterwelt mit dem Mädchen von Domremy keine Spur von Galanterie im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes sich findet. Es steht aktenmäßig fest, daß ihre Kriegsgefährten in der heldischen Jungfrau etwas Unnahbares und geradezu Heiliges sahen und ehrten. Selbst in den heikeln und bedenklichen Situationen, welche das Lagerleben unumgänglich mit sich bringen mußte, ist, wie der Duc d'Alençon, einer der hervorragendsten Kampfgenossen Johannas, zu Protokoll erklärt hat, der jungfräulichen Heldin niemals, und wäre es auch nur durch einen stillen Wunsch gewesen, zu nahe getreten worden. Das schönste Zeugnis hat für sie abgelegt der erste Kriegsmann ihres Landes, wohl überhaupt der beste Mann des damaligen Frankreichs, der berühmte Bastard von Orleans, Graf Dunois. Im Rehabilitationsprozeß Johannas als Zeuge vernommen, ließ er sich, über das Betragen und den Verkehr Johannas unter den Kriegsleuten befragt, wörtlich also aus: »Die Jungfrau ist an Mäßigkeit von keinem lebenden Menschen übertroffen worden. Der Herr Jean d'Aulnon, den als einen verständigen und ehrbaren Ritter der König Karl Johannen gleichsam zum Leibwächter bestellt hatte, hat mir oftmals gesagt, er glaube nicht, daß es jemals ein keuscheres Mädchen gegeben habe als dieses. Mir selbst und andern ist, wann und wie oft wir mit Johanna verkehrten, nie der Gedanke oder Wunsch gekommen, daß sie ein Weib sei ( dum eramus in societate ipsius Puellae, nullam habebamus voluntatem seu desiderium communicandi seu habendi societatem mulieris). Mir scheint, sie war etwas Heiliges ( quod erat res divina).«

Da ich vorhin das junge Mädchen ein schönes genannt habe, so muß ich die Parenthese beifügen, daß ein authentisches Porträt Johannas uns nicht überliefert worden ist, und daß wir demnach das Bild ihrer leiblichen Erscheinung aus den zerstreuten und flüchtigen Zügen zusammensetzen müssen, die die Akten und Urkunden ihrer Geschichte darbieten. So wissen wir, daß sie von mittlerer Größe war, schlank von Wuchs, wohlgebildet von Formen, kräftig und behend. Ausdrücklich wird die Schönheit ihrer Büste gerühmt; ebenso hervorgehoben, daß sie es liebte, ein feuriges Streitroß zu reiten, und es wohl verstand, dasselbe zu tummeln und zu zügeln. Starke Eindrücke brachten sie leicht zu Tränen. In Momenten hochfliegender Begeisterung lag ein seelenvolles Lächeln auf ihren Zügen. Urkundlich wird auch erwähnt der ungemein sanfte Klang ihres Sprachorgans, ihre kindliche Stimme vox infantilis«). Ich will nicht unterlassen, anzumerken, daß Jeanne d'Arc diese Eigenheit mit einer späteren glorreichen Heldin ihres Landes teilte, mit Charlotte Corday, der Töterin Marats. In den Akten von Charlottes Prozeß wird ihrer » voix enfantine« besondere Erwähnung getan, und auch der deutsche Maler Hauer, der sie bekanntlich in der letzten Stunde porträtierte, bevor sie den Todeskarren bestieg, hat diese »kindliche Stimme« auffallend gefunden. Aber nicht allein im Klang ihrer Stimmen glichen sich die beiden heldischen Mädchen. Denn, obzwar durch Jahrhunderte voneinander getrennt, waren sie Zwillingsschwestern im Sinn und Geist. Beide lebten sie für einen großen Gedanken, beide waren sie erlauchte Blutzeuginnen dafür – Jeanne für die Erlösung ihres Landes vom Joche fremder Zwingherrschaft, Charlotte für die Befreiung ihres Landes vom Terrorismus der Blutraserei. Und auch das noch ist ihnen gemeinsam, daß ihre Gestalten ein durch die Jahrhunderte hinableuchtender Glanzduft makellos mädchenhafter Reinheit umfließt.

6.

Ihre Laufbahn als Kriegerin und Führerin begann Johanna am 27. April 1429, an welchem Tage sie an der Spitze von 6000-7000 Mann von Blois aufbrach, um der hartbedrängten, aber durch ihre Bürgerschaft unter der Führung des Grafen Dunois Genau genommen, hieß er damals noch nicht so, sondern schlichtweg der Bastard von Orleans; erst im Jahre 1439 wurde er zum Grafen von Dunois erhoben. noch immer mutig gehaltenen Stadt Orleans Entsatz zu bringen. Sie brachte ihn, indem ihre Landsleute, von ihr geführt, die belagernden Engländer in einer Reihe glänzender Gefechte schlugen, zur Aufhebung der Belagerung und zum Abzuge zwangen. Triumphierend zog die »Jungfrau von Orleans«, wie sie von da ab hieß, in die befreite Stadt ein, von Mann und Weib, groß und klein mit solchem Jubel und Dank empfangen, als wäre sie, wie ein Augenzeuge dieses Einzugs sich ausdrückt, »ein Engel Gottes«.

Auf die Engländer und ihre französischen Parteigänger wirkte das Ereignis wie ein lähmender Blitz, während die Botschaft von dem Wunderbaren wie ein weckender Donner durch Frankreich rollte. Den Engländern erschien die Befreierin von Orleans als die schwärzeste der Zauberinnen, geradezu als eine Ausgeburt der Hölle; ihre Landsleute sahen in ihr einen gottgesandten Engel des Lichts. Die gegensätzliche Wirkung dieser grundverschiedenen Anschauungen war eine unermeßliche, wie sich denn der Entsatz von Orleans alsbald als der große Wendepunkt der französisch-englischen Streitfrage herausstellte. Diese war dadurch prinzipiell zuungunsten Englands entschieden, und der schließliche Ausgang, d. h. die gänzliche Vertreibung der Engländer vom französischen Boden nur noch eine Frage der Zeit.

Ihrer ersten Waffentat reihte die Jungfrau rasch andere siegreiche kriegerische Unternehmungen an, welche um so mehr ins Gewicht fielen, als sie gegen die bewährtesten englischen Generale erlangt wurden. Im Juli 1429 übernahm die Heldin förmlich den Oberbefehl über die Streitkräfte ihres Landes. Johannas Waffengenossen, vom ersten bis zum letzten, waren überzeugt, das kriegerische Walten der Jungfrau beruhe auf unmittelbarer göttlicher Eingebung. So hat sich auch der Graf Dunois ausgesprochen. Ein Minister Karls VII., Simon Charles, bezeugte, Jeanne sei in allem sehr unwissend gewesen, ausgenommen im Kriegführen, dessen sie gar wohl kundig.

Heutzutage, wo der Krieg zu einer exakten Wissenschaft, ja gerade zur Wissenschaft der Wissenschaften erhoben ist, heutzutage muß es uns ganz märchenhaft vorkommen, daß ein Bauernmädchen, das nicht einmal zu lesen oder zu schreiben verstand, ein Heer befehligen, Schlachten lenken und Siege davontragen konnte. Um die Möglichkeit dieser Tatsachen zu begreifen, müssen wir uns erinnern, daß der Krieg damals noch keine exakte Wissenschaft war, sondern höchstens, wenn ich so sagen darf, eine freie Kunst. Nicht die strategische Geometrie und die taktische Arithmetik gaben den Ausschlag, sondern neben der physischen Stärke und Gewandtheit der einzelnen Kämpfer die moralische Kraft des Führers und die gehobene oder die niedergedrückte Stimmung der einzelnen Kriegsleute wie des ganzen Heeres. Allerdings wirken die Motive auch noch heute, allein doch nicht mehr annähernd so mächtig wie im Mittelalter. Schlachten im Stile von Morgarten und Sempach wären daher jetzt Unmöglichkeiten.

Ein schöner Zug in dem kriegerischen Auftreten Johannas ist, daß ihr Gefühl davor zurückbebte, mit eigener Hand Blut zu vergießen. Es ist unanfechtbar festgestellt, daß sie, bevor sie in die Schlacht ging, Schwert und Streitaxt ablegte. Ihre Fahne war ihre einzige Waffe. Indessen wäre es doch ganz irrig, wollte man sich deshalb unsere Heldin etwa als ein nervenschwach pimperliches und zimperliches Wesen vorstellen. Behüte, sie war ein rotbackig gesundes, und ihre derbfrische Landmädchennatur trat mitunter schlagend hervor. Schlagend in des Wortes schlagendster Bedeutung. Dies erfuhr, wie in den Akten steht, eines Tages der Kleiderkünstler Hänschen Simon, welcher der Jungfrau beim Anprobieren eines Gewandes behilflich sein wollte, aber sofort von ihr in die Schranken seiner Künstlerschaft zurückgemahnt wurde mittels eines Beweisgrundes, den man im gewöhnlichen Leben eine Maulschelle nennt …

Das größte Hindernis, welches La Pucelle d'Orléans auf ihrer Laufbahn fand, war die Erbärmlichkeit des Dauphins, dessen geistige und leibliche Trägheit sich wie ein Bleigewicht an die Tatkraft und Tatenlust des Heldenmädchens hängte. Nur mit Mühe brachte sie den leichtfertigen Menschen dahin, daß er sich von ihr im kriegerischen Triumphzug über Troyes und Chalons, welche Städte der Jungfrau ihre Tore öffneten, nach Reims führen ließ, wo der Dauphin am 17. Juli als Karl VII. gesalbt und gekrönt wurde. Hier, auf ihres Daseins und ihrer Sendung glücklich erreichter Glanzhöhe, erlebte Jeanne auch die Freude, ihre Eltern wiederzusehen, und eine bis neuestens selbst von Historikern geglaubte Sage will, sie habe ihr Werk für getan erklärt und vom Könige ihre Entlassung gefordert, um mit ihren Eltern in die dörfliche Stille ihrer Heimat zurückzukehren.

Dem ist nicht so, da jetzt urkundlich nachweisbar, daß die Jungfrau ihren Kommandostab nicht niederlegte, sondern ihre Mission erst dann erfüllt glaubte, wenn sie Paris den Engländern entrissen und diese überhaupt aus Frankreich verjagt hätte.

7.

Der epische Strom eines solchen Lebens sollte nicht in den Sand des Gewöhnlichen verlaufen. Dieses Heldengedicht der Wirklichkeit durfte weder zum Idyll noch zur Komödie sich abschwächen. Die Jungfrau von Orleans konnte aus ihrer weltgeschichtlichen Rolle heraus nicht wieder eine Schäferin werden, noch durfte sie etwa einem ihrer tapferen Waffengefährten in die Brautkammer folgen. Die einer solchen Erscheinung innewohnende Logik will ihr Recht, und dieses Recht ist die tragische Weihe. Das Epos sollte daher mit dem Schlageindruck einer Tragödie schließen.

Und so geschah es. Zunächst durch das Verschulden des Menschen, den Johanna zum König von Frankreich gemacht hatte. Den Sumpf dieses schlaffen Charakters hatte selbst das Außerordentliche, ja Einzige, was um ihn her geschehen war, nicht aufzurütteln vermocht. Gegen die Dummheit kämpfen bekanntlich Götter selbst vergebens, gegen die Gemeinheit Menschen. Auf den gemeinen Sinn wirkt ein erhabener Gedanke nur wie Sternlicht auf eine Eisfläche; es schmelzt und bewegt sie nicht. Alle Beschwörungen der Jungfrau, das ruhm- und hoffnungsvoll begonnene Werk der Befreiung des Landes zu vollenden, sanken wirkungslos in die träge, durch Ausschweifungen entnervte Molluskenseele Karls VII.

Da entriß sich Johanna dem Hoflager des Jämmerlings, um nicht länger Zeugin strafbarer Zeitvergeudung und unverantwortlicher Lustbarkeiten sein zu müssen, und brach im März 1430 an der Spitze einer wenig zahlreichen Schar auf, um das von den Engländern und ihren Verbündeten, den Burgundern, bedrohte Compiègne zu retten. Aber als sie nach einem mißlungenen Ausfall den Rückzug der Ihrigen tapfer deckte, wurde sie – es war am 23. Mai – im Handgemenge vom Pferde gerissen und durch den sogenannten Bastard de Wandonne zur Gefangenen gemacht. Der Genannte überlieferte die kostbare Beute seinem Lehnsherrn, dem Grafen Jean de Ligny, und der Herr Graf verkaufte die Gefangene um die Summe von 10 000 Frank an die Engländer.

Im Dezember von 1430 befand sich also die unglückliche Johanna in den Händen ihrer Todfeinde, im Verließe der Burg zu Rouen. Sie war ihres Schicksals gewärtig. Als der englische General Graf Warwick eines Tages mit mehreren geistlichen und weltlichen Herren, worunter auch der Graf von Ligny, in den Kerker der in Ketten gelegten Heldin trat und der letztgenannte spottend zu ihr sagte, er käme, sich in betreff ihres Lösegeldes mit ihr zu verständigen, entgegnete sie mit ruhiger Fassung: »Ach nein! Ich weiß gar wohl, daß diese Engländer mich töten werden, weil sie glauben, nach meinem Tode die Herrschaft über Frankreich zu erlangen. Aber sie werden sie doch nicht gewinnen, und wären sie auch um hunderttausend Mann stärker, als sie sind.«

Die englische Politik beschloß mit jener kalten und heuchlerischen Selbstsucht, die ihr von jeher eigen gewesen ist, die Vernichtung des neunzehnjährigen Heldenmädchens, das so Großes für sein Vaterland getan hatte. Das Motiv für diesen Beschluß lag nahe: die Engländer glaubten dadurch, daß sie die Bannerträgerin des Nationalbewußtseins mordeten, den durch Johanna hervorgerufenen Aufschwung dieses Nationalbewußtseins zu knicken. Aus dem Arsenal des Glaubens aber wurden die Vernichtungswaffen geholt, und die sogenannte Religion der Liebe mußte auch hier, wie unzählige Male, den frevelhaften Mord als ein Gott wohlgefälliges Werk nicht nur sanktionieren, sondern sogar fordern und gebieten. Die Maschinerie des wüstesten Greuels, den der religiöse Wahn jemals ausgebrütet hat, die Maschinerie des Hexenprozesses wurde gegen die Jungfrau in Bewegung gesetzt. Gegen die kalte Bleifaust der engländischen Staatsräson und Rachgierde vermochte der Schild der Jungfräulichkeit das Schlachtopfer nicht mehr zu schirmen Die Jungfräulichkeit der Gefangenen war nämlich auch in Rouen festgestellt worden.. Johanna wurde als Ketzerin und Hexe angeklagt und vor ein zu Rouen errichtetes Inquisitionstribunal gestellt.

Die Universität Paris, stolz auf ihre Orthodoxie und nebenbei von Servilismus gegen die Engländer überfließend, hatte ihren ganzen Vorrat an blödsinniger Gelehrsamkeit aufgewandt, um das mit zuwege bringen zu helfen. Ganz flammend vom Eifer für das Reich Gottes, konnte sie es kaum erwarten, die Hexe prozessiert und verbrannt zu sehen. In an den König von England gerichteten Bittschriften und in für das Inquisitionstribunal bestimmten Gutachten drängte sie darauf hin. In ihrem vom 19. April 1431 datierten und von dem damaligen Rektor Michael Hébert unterzeichneten Gutachten fand sie einen Hauptbeweis für Johannas ketzerische Apostasie in dem Umstand, daß die Angeklagte ihr Kopfhaar abgeschnitten und Männertracht angelegt hatte.

Um die Ehre, dem Inquisitionstribunal vorzusitzen, bewarb sich emsig und mit Erfolg der Bischof von Beauvais, Franzose von Geburt, allein leidenschaftlicher Parteigänger der Engländer und damals durch die neuerlichen Waffenerfolge seiner Landsleute aus seiner Diözese vertrieben Er stützte seinen Anspruch auf die Tatsache, daß Johanna in seiner Diözese gefangen war.. Auch ihn verzehrte der Eifer für das Reich Gottes, und er war ohne Frage überzeugt, dem Himmel einen wohlgefälligen Rauch darzubringen, indem er die arme Johanna zum Brandopfer machte. Einen fatalen Beigeschmack erhielt die Frömmigkeit des Bischofs freilich durch den Umstand, daß er für seine Dienstbeflissenheit in dieser Sache von den Engländern mit Verleihung des Erzbistums Rouen belohnt zu werden verlangte und hoffte; allein wir müssen in Liebe bedenken, daß der Eifer für das Reich Gottes zu aller Zeit mitunter wunderliche Formen annahm und annimmt und daß Pierre Cauchon – so lautete der nicht gerade wohlduftende Name des hochwürdigen Mannes – wahrscheinlich auch nur ad majorem dei gloriam Erzbischof von Rouen werden wollte. Neben dem hochwürdigen Cauchon spielten vortretende Rollen in dem Prozesse der Dominikaner Jean Graverent, Professor der Theologie an der Universität Paris und Großinquisitor von Frankreich (von Paris her), sowie Jean Lemaitre, Prior des Dominikanerklosters Saint-Jacques zu Rouen. Am heftigsten aber wütete gegen die Angeklagte der Kanonikus Jean d'Estivet, der als Generalprokurator fungierte und kurz nach der Hinschlachtung der Jungfrau ein seiner würdiges Ende nahm, indem er sich in einer Pfütze ertränkte.

Das erste Aktenstück des Prozesses, welches die Konstituierung des Tribunals anzeigt, ist datiert vom 9. Januar 1431. Die Prozedur selbst begann im Februar. Die Anklageakte war nur ein Mischmasch von groben Absurditäten und plumpen Lügen. In den Verhören wurden alle die blödsinnigen Subtilitäten und subtilen Blödsinnigkeiten der mittelalterlichen Scholastik in Anwendung gebracht, um die Angeklagte zu verwirren und zu fangen. Beim Durchlesen der weitschichtigen Protokolle gewinnt man aber den Eindruck, daß die religiösen Fanatiker und leidenschaftlichen Politiker, welche diese Protokolle niedergeschrieben haben, widerwillig-unwillkürlich bezeugen mußten, daß das ganze Gehaben und Gebaren Johannas während der Prozeßqual von würdevollem Unschuldbewußtsein, wie von herzgewinnender Bescheidenheit und rührender Frömmigkeit gewesen sei. In unendlich weitschweifiger Wiederholung drehte sich die Prozedur um die von der Angeklagten standhaft behaupteten Erscheinungen der Engel und Heiligen. Auch die männliche Tracht der Jungfrau war ein bevorzugter Gegenstand des Inquirierens. Physischer Folterung jedoch wurde, abgesehen von der hinlänglich folternden Kerkerpein, Johanna nicht unterworfen. Das Verfahren der Inquisition war damals überhaupt noch nicht zu jener raffiniert grausamen Marterkunst ausgebildet, zu welcher es gegen das Ende des 15. Jahrhunderts hin insbesondere in Spanien durch die Bemühungen eines Thomas de Torquemada und anderer hochwürdiger Priester der Religion der Liebe glücklich gedieh. Nur einmal ist die Angeklagte in die Folterkammer geführt worden, um sie durch den Anblick der Marterinstrumente zu schrecken, welche, so drohte man ihr, gegen sie in Anwendung kommen sollten, so sie nicht mehr bekennen würde als bislang. Es geschah dies am 9. Mai. Das arme Mädchen verlor auch angesichts der Folterbank und der bereitstehenden Folterknechte die Fassung nicht und gab ihren Richtern die protokollarisch aufbewahrte Antwort: »Wahrlich, auch wenn ihr beschließt, mir die Glieder auszurenken und mir die Seele aus dem Körper zu reißen, kann ich euch doch anderes nicht sagen; und wenn ich euch anderes sagte, würde ich doch nachher erklären, daß ihr mich nur mittels Gewalt dazu gebracht.«

Der ganze Prozeß war ein echter Hexenprozeß, d. h. ein schmachvoller Knäuel von Willkürlichkeiten, Verdrehungen und sogar notorischen Fälschungen. Schon der Umstand, daß nur lateinisch protokolliert wurde und die Protokolle nur in dieser Sprache der Angeklagten vorgelesen worden sind, gab sie völlig der Willkür ihrer Richter, d. h. Henker preis. In dieser Weise wurden endlich zwölf Artikel zusammengestellt, die die angeblichen Geständnisse Johannas enthielten. Sie enthielten aber am Ende doch schlechterdings nur die Angabe der Jungfrau, daß Engel und Heilige ihr erschienen wären, um sie im Namen Gottes zu ihrem patriotischen Unternehmen aufzurufen. Das Tribunal war in Verlegenheit. Es ließ sich auf diese Aktenlage hin doch wohl kaum ein auf Feuertod lautendes Verdikt fällen. Selbst die superlativisch glaubenseifrige theologische Fakultät von Paris fand für gut, in ihrem von der Inquisition erbetenen Gutachten ihr Verdammungsurteil verschämt zu verklausulieren.

Das Opfer schien seinen Peinigern zu entgehen oder wenigstens, zu großem Unmut und Zorn der Engländer, mit dem Leben davonzukommen. Denn der düstere Apparat und drohende Pomp, womit am 24. Mai auf dem Kirchhof der Abtei Saint-Quen das öffentliche Schlußverfahren stattfand, war ganz dazu angetan, den Mut des armen, schon so lange gequälten Mädchens zu brechen. Johanna scheint doch auch bei einigen ihrer Richter Teilnahme erweckt zu haben. Auf ihrem Wege vom Kerker zum angegebenen Platz wurde ihr eindringlich zugesprochen, ihre Behauptungen von Engel- und Heiligenerscheinungen zu widerrufen; sie habe nur zwischen diesem Widerruf und dem Scheiterhaufen die Wahl. Man zeigte ihr den Henker, der bereit stand, sie zum Holzstoße zu schleppen. Wem könnte es einfallen, die Arme zu tadeln, daß sie schwankend, daß sie schwach wurde? Das Urteil war noch nicht ganz vorgelesen, als sie den Vorleser unterbrach mit der Erklärung, sie wollte der Kirche gehorsam sich erzeigen, und da die Kirchenmänner gesagt, die Erscheinungen und Offenbarungen, welche sie gehabt, wären nicht zu glauben und aufrechtzuerhalten, so wollte sie sie nicht länger behaupten. Hierauf nahm der Bischof von Beauvais die zuvor ausgesprochene Ausstoßung der reumütigen Ketzerin aus der kirchlichen Gemeinschaft zurück und sprach »aus Gnade und Milde ( gratia et moderatione nostris salvis« statt der Todessentenz über Johanna dieses Urteil: »Weil du gegen Gott und die heilige Kirche verwegen gesündigt hast, verurteilen wir dich zu lebenslänglichem Kerker, damit du bei dem Brote der Schmerzen und bei dem Wasser der Trübsal ( cum pane doloris et aqua tristitiae) eine heilsame Buße tun und deine Sünden beweinen kannst.«

Die über die »Mildigkeit« dieses Urteils scheltenden, schimpfenden und fluchenden Engländer mochten sich trösten: ihre erbarmungslose Rachelust sollte völlig befriedigt werden. Die englische Brutalität sorgte schon dafür.

Der, Shakespearesch zu reden, »geflickte Lumpenkönig« Karl machte nicht den geringsten Versuch, seine Retterin zu retten. Daß auch das französische Volk – falls nämlich in dem Sinne, in welchem wir heutzutage das Wort Volk gebrauchen, überhaupt von einem französischen Volke von dazumal gesprochen werden kann – einen solchen Rettungsversuch nicht machte, braucht kaum erst gesagt zu werden. Denn überall und allzeit hat ja das Volk seine wahren Helden, Helfer und Heilande schmachvoll feige verleugnet und schnöde im Stiche gelassen, hat sie verfolgen, quälen, kreuzigen und verbrennen lassen, ohne einen Finger für sie zu rühren, wogegen es den Triumphwagen der Unsinnprediger, Schwindler und Lügenpropheten, sowie der meineidigen Usurpatoren, der Menschenquäler und Nationenschinder nie an einer hintendrein jubelnden Menge fehlte oder fehlen wird. Allerdings pflegt zu solchem Jubel der süße, d. h. der vornehme Pöbel, dem sauren, d. h. niedrigen, das aufmunternde Signal zu geben. Das aber ist es ja gerade, was der wirklichen Menschengröße ihren reinsten Nimbus verleiht, daß die wahren Helden, Helfer und Heilande für die Menschheit leben und sterben, ohne Dank weder zu empfangen noch zu erwarten.

8.

Nach Anhörung ihrer Verurteilung auf dem Kirchhof von Saint-Quen war Jeanne in ihren Kerker zurückgebracht worden. Dort ermahnte sie der Vorsitzer des Tribunals, nicht wieder in ihre ketzerischen Irrtümer zurückzufallen und vor allem ihren männlichen Anzug mit einem weiblichen zu vertauschen. Man reichte ihr einen solchen, und sie kleidete sich gehorsam um. Warum nahm man ihr nun die abgelegten männlichen Kleidungsstücke nicht weg, da man das Tragen derselben doch für etwas Ungeheuerliches, für eine todsündliche Ketzerei ansah? Wollte man sie in Versuchung führen? Und warum unterwarf man sie auch jetzt noch, nach ihrem Widerruf und ihrer Verurteilung, der Pein, in ihrem Kerker fortwährend durch drei englische Kriegsknechte bewacht zu werden?

Am dritten Tage darauf ging dem Bischof Cauchon die Meldung zu, daß Johanna rückfällig geworden sei, d. h. wiederum ihre Männerkleidung anhätte. Der Inquisitor machte sich einen Tag später mit verschiedenen Beisitzern des Tribunals auf, um sich von der Wahrheit dieser Meldung zu überzeugen. Er fand die Gefangene wirklich in Männerkleidung (» induta tunica, capucio et gippone cum aliis ad usum viri pertinentibus«). Befragt, warum sie die männliche Tracht wieder angenommen hätte, erklärte sie, es sei geschehen, weil sie, solange sie genötigt wäre, unter Männern (ihren Wächtern) zu leben, es für passender gehalten, männliche als weibliche Kleider zu tragen.

Was ist zwischen diesen Zeilen des Protokolls zu lesen? Ein Frevel.

Schon früher hatte im Verlaufe ihres Prozesses Johanna geäußert, sie wage es nicht, ihre männliche Kleidung abzutun, weil sie in ihr gewissermaßen einen Schutz gegen eine nächtliche Vergewaltigung durch ihre Wächter erblickte. Ihre Angst war nur allzu begründet gewesen: einer der sie bewachenden englischen Soldaten hatte gegen die arme Gefangene einen Notzuchtversuch gemacht. In den Tagen oder Nächten, welche der ersten Verurteilung der Jungfrau folgten, war aber ein »großer englischer Lord« Bestie genug, diesen Versuch ebenfalls anzustellen. Das unglückliche Mädchen hat dies wohl auch zu Protokoll gegeben, allein der Schreiber desselben schlüpfte mit dem oben angeführten allgemeinen Ausdruck über die Schändlichkeit hinweg. Diese ist uns jedoch ausdrücklich bezeugt durch Johannas Beichtvater, welcher sie auch auf ihrem Todesgange tröstete, durch den frommen Predigermönch Martin Ladvenu Deponit quod ipse audivit ab eadem Johanna quod quidam magnus dominus Anglicus ad eam in carceribus introerat et eam tentavit vi opprimere. Et dicebat eidem loquenti quod erat causa quare habitum virilem resumpserat post primam sentantiam. (Er sagte aus, daß er selbst von Johanna gehört habe, ein großer englischer Herr sei in ihren Kerker gekommen und habe versucht, ihr Gewalt anzutun. Aus diesem Grunde habe sie die männliche Tracht wieder angezogen.) Quich. III, 168. Vgl. II, 365..

Die Wiederannahme der männlichen Tracht war demnach hinlänglich erklärt und gerechtfertigt, und mit dieser Tracht scheint Johanna auch wieder die ganze Mannhaftigkeit ihres früheren Mutes wiedergefunden zu haben. »Ich will lieber sterben, als so in Ketten leben!« sagte sie zu dem hochwürdigen Cauchon.

Was jetzt folgte, beweist, daß wir ganz berechtigt waren, zu sagen, die Logik, welche Erscheinungen innewohnt, wie die des Mädchens von Domremy eine war, fordere ihr Recht. Johanna durfte nicht als Abtrünnige von ihrem eignen Selbst und Wesen im Kerkerdunkel verkümmern. Der Heldin gebührte ein heldischer Tod im Angesicht des Himmels und der Erde. Sie mußte ihre Sendung erfüllen bis zuletzt, der Schluß mußte des Anfangs würdig sein, und hier, wenn irgendwo, ist so recht statthaft das Dichterwort:

»Wann wir in urgewalt'gem Streit
Die großen Menschen sehn
Aus innerster Notwendigkeit
Dem Tod entgegengehn,
Dann möchten wir dem Heldenschwung
In des Geschickes Zwang
Zurufen mit Begeisterung:
Glückauf zum Untergang!«

9.

»Hast du vielleicht auch wieder die Stimmen der heiligen Katharina und der heiligen Margareta vernommen?« fragte der Bischof.

»Ja, ich habe sie vernommen.«

»Und was haben sie dir gesagt?«

»Sie haben mir gesagt, daß ich großes Unrecht getan, sie zu verleugnen, und ich tat das auch nur aus Furcht vor dem Feuer Hier hat das Protokoll die lakonische Randbemerkung: »Todbringende Antwort ( responsio mortifera).« Q. II, 456. Das ganze mitgeteilte Gespräch ist eine auszügliche Übersetzung des Protokolls.

»Und du glaubst, daß diese Stimmen wirklich die der heiligen Katharina und der heiligen Margareta waren?«

»So glaube ich.«

»Und daß sie im Auftrage Gottes redeten?«

»Ja. Und was ich am 24. Mai gesagt habe, war der Wahrheit entgegen; mein Widerruf geschah nur um der Furcht vor dem Feuer willen. Ich will aber meine Buße lieber auf einmal leiden, will lieber sterben als in dieser Kerkerpein leben.«

Die Inquisition hatte genug gehört. Als die Inquisitoren das Gefängnis verließen, sagte der hochwürdige Cauchon zu den zahlreich davor versammelten Engländern: »Freut euch! Sie ist geliefert. Gesegnete Mahlzeit!«

Am 29. Mai tat das Tribunal seinen endgültigen Spruch. Er lautete korrekt nach dem kirchlichen Rechte der Zeit, daß Johanna als ein mit dem Aussatze der Ketzerei behaftetes Satansglied (» tamquam membrum Satanae lepra haeresis infectum«) aus der Kirche auszustoßen und der weltlichen Justiz zu überantworten sei. Dieser Nachsatz war nur eine Umschreibung für Feuertod oder, wie der amtliche Ausdruck in Deutschland lautete, für »Einäscherung«. In der Sentenz fehlte auch die gewohnte Heuchelformel nicht, daß die weltliche Gerechtigkeit angegangen werden sollte, »milde mit der Verurteilten zu verfahren und sie mit der Strafe des Todes oder der Verstümmlung zu verschonen«. Stilus curiae romanae! Während die hochwürdigen Herren Inquisitoren diese christliche Liebesphrase von sich gaben, wurde auf dem Altmarkt von Rouen schon der Holzstoß aufgeschichtet, welcher das Opfer einäschern sollte Eine Verurteilung Johannas durch ein weltliches Gericht hat auch gar nicht stattgefunden. Die Engländer trafen sofort, als das Inquisitionstribunal gesprochen, die Anstalten zur Verbrennung des Opfers und rissen es ohne weitere Formalität am 30. Mai von den Schranken des geistlichen Gerichts hinweg auf den schon tags zuvor aufgebauten Scheiterhaufen. Nach dem formalen Rechte mußte Johanna, als ihr am 30. Mai auf dem Altmarkt zu Rouen die Inquisitionssentenz vom 29. feierlich eröffnet wurde, dem weltlichen Richter überliefert werden. Aber das geschah gar nicht. Die rohe Ungeduld der Engländer ließ es nicht zu. (S. Quicherat II,8) Im übrigen wäre diese Übergabe an den weltlichen Richter auch nur eine elende Posse gewesen; denn bekanntlich mußte der weltliche Richter eine ihm zur Bestrafung überlieferte Ketzerin oder Hexe verbrennen lassen, bei Strafe, selbst in Ketzerei zu fallen, d. h. sich selber eines todeswürdigen Verbrechens schuldig zu machen. Das bekannte » Ecclesia non sitit sanguinem« (Die Kirche dürstet nicht nach Blut) war die frechste Taschenspielerformel, die es jemals gegeben hat..

Der Bischof von Beauvais war aber doch mehr Politiker als Fanatiker. Er überlieferte die Jungfrau dem Feuertode nur aus Gefälligkeit gegen die englische Politik. Wäre er ein ehrlicher Fanatiker gewesen, so konnte er gar nicht tun, was er am Morgen des 30. Mai, also nach der Exkommunikation Johannas, tat, nämlich dem Predigermönch Martin Ladvenu die Erlaubnis geben, nicht allein die Beichte der Verurteilten zu hören, sondern ihr auch die Hostie zu reichen. Die Kirche konnte dem »Satansglied« unmöglich ihr höchstes »Gnadenmittel« verabfolgen, wenn sie von der Satansgliedschaft Johannas aufrichtig überzeugt war.

Kein Zweifel, mit rabenmütterlicher Hand mordete die Kirche ihr treuestes Kind. Denn wie sie als gläubige Katholikin gelebt, so ist Johanna auch als solche gestorben. In der Morgenfrühe des genannten 30. Mai, welcher ihr Todestag war, hat sie dem Pater Ladvenu gebeichtet und unter strömenden Tränen der Andacht den »Leib Christi« empfangen.

Nach beendigter Zeremonie teilte ihr der Mönch mit, daß sie heute sterben müßte, und zwar des Feuertodes. Da schrie die Natur in ihr auf gegen diesen Greuel. »Weh mir!« rief sie aus, »so gräßlich und grausam will man mit mir verfahren, daß mein frischer und jungfräulicher Leib, der nie bemakelt worden, zu Asche verbrannt werden soll!« Man glaubt die Tochter Jephthas zu hören, welche ihre Jungfrauschaft beweinte, da ihr Vater sie seinem als Adonai verkappten Bal-Moloch zum Brandopfer opferte. Als der hochwürdige Cauchon eintrat, sagte sie zu ihm: »Bischof, ich sterbe durch Euch.« Worauf der Hochwürdige: »Jeanne, faßt Euch in Geduld. Ihr sterbet Eures Rückfalls wegen.« Und wieder Johanna: »Ich appelliere von Euch an Gott als an den höchsten Richter, um alles des schweren Unrechts und aller der Qualen willen, die man mir angetan hat.«

Zur neunten Morgenstunde wurde sie, bloß mit dem langen Büßerhemd bekleidet, im Burghof auf einen Karren gesetzt, den ihr Beichtvater und dessen Mitmönch Isambert de la Pierre ebenfalls bestiegen. Die nachmaligen Zeugenaussagen dieser beiden Kleriker haben sehr viel zur Verherrlichung des Namens der Heldin beigetragen. An 800 englische Kriegsknechte umgaben den Karren während der Fahrt nach dem Altmarkt. Die Engländer scheinen bis zuletzt einen Versuch zur Rettung ihres Opfers gefürchtet zu haben. Allein nichts rührte sich, und die Überlieferung, es hätten ehemalige Waffengefährten der Jungfrau einen Handstreich auf Rouen versucht, um sie aus ihrer Not zu lösen, hat durchaus nur sagenhaften Wert.

Auf dem von Menschen wimmelnden alten Markte waren nahe bei der Salvatorkirche zwei Gerüste aufgeschlagen, ein höheres und ein niedrigeres. Auf dieses wurde Johanna gestellt, jenes bestieg der Bischof. Diesen Gerüsten im Dreieck gegenüber war auf einer gemauerten Unterlage der Scheiterhaufen geschichtet. Die Soldaten bildeten eine Hecke um das Dreieck her, in welches nur englische Herren und Prälaten oder von Franzosen nur notorische Parteigänger Englands zugelassen wurden.

Nachdem eine Predigt gehalten worden, deren an Johanna gerichtetes Schlußwort: »Geh' hin im Frieden! Die Kirche kann dich nicht mehr verteidigen« – lautete, verlas der hochwürdige Cauchon das Urteil der Inquisition, welches schließlich die Übergabe der Ketzerin an die weltliche Justiz verordnete. Allein den Engländern währte die Sache ohnehin schon zu lange. Sie schrien den Bischof an: »Wie, Priester, glaubst du, wir sollen hier zu Mittag essen?« zerrten Johanna ohne weiteres von dem Gerüst herunter, schleppten sie zu dem Holzstoß und riefen dem Henker zu: »Tu deine Schuldigkeit!«

Für eine Minute, aber auch nur für eine Minute wankte angesichts der schrecklichen Zurüstungen zu ihrer Todesqual die Fassung der armen Johanna, so daß sie weinend ausrief: »Soll ich wirklich also sterben?« Das ging aber vorüber, und während man sie an den Todespfahl festband, war ihre Haltung eine so demutsvoll ergebene, keusche und andächtige, daß selbst geifernde Pfaffen und fluchende Kriegsknechte, welche die »Hexe« soeben noch mit Beschimpfungen überhäuft hatten, zur Bewunderung, zum Mitleid, zum Weinen hingerissen wurden. Dieser Eindruck steigerte sich noch beträchtlich im Vorschreiten des grausamen Dramas.

Pater Ladvenu hatte sein Beichtkind auf den Holzstoß begleitet. Als der Henker diesen von unten in Brand gesetzt, bat Johanna den Mönch, hinabzusteigen, aber drunten das Kruzifix, welches er in der Hand trug, so hoch zu halten, daß sie es durch den Rauch hindurch sehen könnte. Sie blickte darauf hin, bis die emporschlagenden Flammen das Haupt der Märtyrerin umzüngelten. Dann, bevor dieses edle Haupt der Todesqual sich beugte, scholl noch einmal laut von den Lippen der Jungfrau der Ruf: »Jesus!« und so entfloh ihre Seele.

Die als Heldin gelebt hatte, war als Heilige gestorben.

Dies war auch das Gefühl, das die Menge auf dem Markte von Rouen mit überwältigender Macht anfaßte, als das Brandopfer dargebracht war. Vergeblich suchte die Roheit verhärteter Kriegsknechte dagegen aufzukommen. Ihre lästernden Stimmen verhallten vereinzelt. Als der Geheimschreiber des Königs von England, John Trassart, den Platz verließ, sagte er: »Wir alle sind verloren, denn wir haben eine Heilige verbrannt.« Ein englischer Offizier hatte, von besonderer Wut gegen Johanna erfüllt, ein Reisigbündel zum Scheiterhaufen getragen, allein der Anblick der Dulderin wandelte seinen Grimm mit einmal in Erbarmen und heftige Reue um. Der zur Zeit in Rouen anwesende Pariser Bürger Jean Marcel sagte als Augenzeuge aus, daß, während der Holzstoß noch rauchte, die Mehrheit der Zuschauer laut geweint und geäußert hätte, Johanna sei schuldlos verdammt worden. Am Abend des Tages kam der Henker zum Pater Ladvenu und sagte weinend, er fürchte, nimmer Vergebung finden zu können, weil er eine Heilige eingeäschert habe Die Zeugnisse hierfür bei Quicherat II, 352; III, 90..

Die Volkslegende hat schön gedichtet, aus dem flammenden Scheiterhaufen sei, als Johanna ausgeatmet, eine weiße Taube hervor und himmelan geflogen. Wir können den Sinn dieser volksmäßigen Dichtung wohl ohne Zwang dahin deuten, daß der auf dem Altmarkt von Rouen lodernde Holzstoß wohl das Leben der heldischen Jungfrau vernichten konnte, nicht aber den großen Gedanken, dessen Trägerin sie gewesen war, den Gedanken der Befreiung ihres Landes von der Herrschaft fremder Eindringlinge.

10.

Vierundzwanzig Jahre später regte sich das Gewissen Frankreichs, das seine jugendliche Retterin so schmählich preisgegeben hatte.

Durch das rastlose Betreiben der Mutter und der Brüder Johannas – ihr Vater war inzwischen gestorben – wurde König Karl VII. gedrängt und vermocht, wenigstens für die Ehrenrettung des Andenkens der Gemordeten etwas zu tun. Mit Genehmigung des Papstes Calixtus III. ist im Jahre 1455 eine Rehabilitationsprozedur eröffnet worden, deren Ergebnis war, daß das Verdammungsurteil des Inquisitionstribunals von Rouen förmlich und feierlich umgestoßen wurde als aller Wahrheit und allem Rechte zuwider.

Die Protokolle und sämtlichen übrigen Aktenstücke der beiden Prozeduren, des Verdammungs- und Wiederherstellungsprozesses, hat in unseren Tagen ein französischer Gelehrter, Jules Quicherat, mit größter Sorgfalt gesammelt und gesichtet und hat sie, unter Anfügung einer Menge von Auslassungen der Zeitgenossen der Jungfrau, in den Jahren 1841-49 in fünf starken Bänden veröffentlicht. Dieses Sammelwerk enthält die eigentlichen und echten Quellen für die Geschichte des Mädchens von Orleans, Quellen, aus denen, wie schon eingangs angemerkt wurde, die vorstehende Darstellung geschöpft ist. Die Erwähnung dieses Urkundenbuches gibt mir aber Veranlassung, zum Schlusse noch ein paar flüchtige Worte über die Literatur meines Gegenstandes zu sagen.

Es konnte nicht fehlen, daß eine Erscheinung wie die unserer Heldin frühzeitig ein vielbehandelter Gegenstand literarischer Bemühung werden und bis auf den heutigen Tag bleiben mußte. Chronisten und Historiker, Dichter und Dichterinnen haben gewetteifert, das anziehende Thema zu variieren.

Der älteste Chronist, der die Geschichte des Mädchens von Orleans erzählte, war Perceval de Cagny. Sein Bericht ist schon im Jahre 1436, also nur fünf Jahre nach der Verbrennung Johannas, niedergeschrieben, und zwar im Hause und auf Anregung des Herzogs von Alençon, also des französischen Generals, der am meisten Gelegenheit gehabt hatte, die Jungfrau genau zu beobachten. Von noch älterem Datum, nämlich schon vom Ende Juli 1429 ist ein, wenn ich so sagen soll, historischer Brief, den man von dem berühmten Gelehrten Alai Chartier verfaßt glaubt und worin der Verfasser einem fremden Fürsten über das Auftreten und Wesen des Mädchens von Domremy Auskunft gibt Der Brief ist ein rhetorisches Prunkstück, ein wahrer Panegyrikus, wie schon aus folgender Stelle erhellt: » O virginem singularem, omni gloria, omni laude dignam, dignam divinis honoribus! Tu regni decus, tu lilii lumen, tu lux, tu gloria non Gallorum tantum, sed christianorum omnium.« (O du einzige Jungfrau, alles Ruhmes, alles Lobes würdig, würdig göttlicher Ehren! Du Zierde des Königreichs, du Glanz der Lilie, du Leuchte, du Ruhm nicht allein der Gallier, sondern aller Christen.) Q. V, 135.. Weitaus das Beste jedoch, was im 15. Jahrhundert über Jeanne d'Arc geschrieben worden ist, floß aus der Feder eines Papstes, aus der Feder Pius' II., jenes Äneas Silvius Piccolomini, welcher so vielfach tätig in die literarische Bewegung der Renaissanceperiode eingegriffen hat. In seinen »Denkwürdigkeiten« zur Geschichte seiner Zeit, die unter dem Namen seines Sekretärs Gobelin veröffentlicht wurden, erzählt der Papst die Geschichte Johannas ganz vortrefflich. Ihre Hinrichtung beurteilt er, mit gänzlicher Beiseitestellung des kirchlichen Moments, ganz richtig als eine brutale Tat der englischen Politik, und seiner Erzählung des am 30. Mai 1431 auf dem Altmarkt von Rouen verübten Greuels fügt er die Worte bei: »So starb Johanna, das wundersame und erstaunliche Mädchen ( mirabilis et stupenda virgo), welches das zerrüttete und beinahe zerstörte Frankreich wiederherstellte und den Engländern so viele Niederlagen bereitete. Zum Feldhauptmann geworden, bewahrte die Jungfrau inmitten der Kriegerscharen ihre makellose Keuschheit. Nie hörte man von ihr etwas Unehrbares. Ob sie aber ein göttliches oder ein menschliches Werkzeug gewesen, dürfte schwer zu entscheiden sein ( divinum opus aut humanum inventum fuerit, difficile affirmaverim).« In Deutschland tat, soviel ich finden konnte, zuerst der Schatzmeister Kaiser Sigismunds, Eberhard von Windecken, des Mädchens von Orleans historische Erwähnung, und zwar in der von ihm geschriebenen Geschichte des genannten Kaisers. Unter den modernen Historikern haben zweifelsohne Quicherat mittels seines genannten Werkes und Henri Martin in seiner » Histoire de France« das Bedeutendste für die Geschichte unserer Heldin geleistet. Die glänzendste, farbenreichste Darstellung ihrer Laufbahn gab jedoch in seiner berühmten Geschichte Frankreichs Jules Michelet, der Kolorist par excellence unter den Geschichtschreibern seines Landes. Neben ihm haben sich von Franzosen neuestens insbesondere Desjardins und Wallon mit der Geschichte der Jungfrau beschäftigt; der erstgenannte springt aber zuweilen mit den Quellen etwas willkürlich um, und der zweite steht auf dem Standpunkt des kirchlichen Mirakelglaubens, der eine wissenschaftliche Behandlung des Problems unmöglich macht. Wie sehr auch die deutsche Historik von diesem Problem angezogen wurde, zeigt – von älteren Arbeiten zu schweigen – der Umstand, daß allein in den zwei Jahren von 1860 bis 1862 nicht weniger als vier Monographien über Jeanne d'Arc erschienen sind: eine von Pauli, eine zweite von Hase, eine dritte von Sickel, eine vierte von Straß. Die Arbeiten von Hase, dem bekannten Kirchenhistoriker, und von Sickel verdienen den Preis. Des letzteren Abhandlung ist geradezu das Beste, was psychologische Analytik und historische Kritik bislang in irgendeiner Literatur zur Herstellung einer wirklichen Geschichte Johannas getan haben.

Zum Gegenstande poetischer Verherrlichung wurde das Mädchen von Orleans zuerst gemacht durch ihre Zeitgenossin Christine de Pisan, eine siebenundsechzigjährige Nonne. Im Juli 1429, als man einen Angriff der französischen Streitkräfte auf Paris erwartete, machte diese Dichterin in einem französischen Carmen von 61 achtzeiligen Strophen ihren patriotischen Gefühlen Luft. Sie lobpries die Pucelle oder, wie sie Johanna zärtlich nannte, das Jüngferchen (» Pucellette«) in hohen Tönen und stellte sie den israelitischen Heldinnen Deborah, Judith und Esther gleich oder voran. Ein gelehrter Zeitgenosse feierte die Retterin Frankreichs in einem lateinischen Hexameterepos, das freilich weit mehr wohlgemeint als gelungen ist. Sodann brachte der im Jahre 1440 in Paris geborene Reimchronist Martial d'Auvergne die ganze Laufbahn Johannas in französische Verse. Die moderne Kunstpoesie war mit ihren Versuchen, die Geschichte des Mädchens von Domremy im hohen epischen Stile zu behandeln, nicht glücklich. Das älteste Kunstepos dieses Inhalts, das der Franzose Jean Chapelain in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verfertigte, ist geradeso ungenießbar langweilig wie das meines Wissens jüngste, von dem Engländer Robert Southey zu Ausgang des 18. Jahrhunderts verfaßte.

Der Rede wert sind von den dichterischen Variationen unsers Themas eigentlich nur drei, alle von Autoren geschaffen, die in der geistigen Hierarchie den höchsten Rang einnehmen: Shakespeare, Voltaire und Schiller. Der Engländer ließ unsere Heldin im ersten Teil seiner Historie »König Heinrich VI.« auftreten, vorausgesetzt, daß dieses Stück als Ganzes wirklich ein Shakespearesches Werk, was noch keineswegs unstreitbar festgestellt ist. Der Franzose machte aus der Laufbahn Johannas eine komisch-epische Travestie. Der Deutsche umgab in seiner romantischen Tragödie »Die Jungfrau von Orleans« die Gestalt derselben mit der vollen Gloriole der Poesie.

Wie mitunter der Blume des edelsten Weines ein saurer Erdgeschmack beigemischt ist, so schmeckt man aus Shakespeares Drama den Bodensatz stocksteifenglischen Nationalvorurteils und Nationalhasses heraus. Der große britische Dichter hat all den gehässigen Klatsch, der im 15. Jahrhundert in englischen Lagern und Sakristeien über Jeanne d'Arc umging, kritiklos aufgenommen und nachgesprochen. So stellte er denn das Heldenmädchen als eine ungeschlachte Virago, zuchtlose Dirne und boshafte Hexe dar und schrak nicht einmal vor der Gemeinheit zurück, sogar den Märtyrertod Johannas zu beschimpfen König Heinrich VI., Teil I, Akt 5, Szene 4. – ein abschreckender Beweis, wie wenig selbst ein großer Genius der herrschenden Anschauung seiner Zeit und seines Landes sich zu entziehen vermag, sobald nationale Leidenschaften ins Spiel kommen.

Voltaires »Pucelle« ist ein Bacchanal des Spottes, eine Orgie des souveränen Witzes, beim ersten Anblick durchaus verwerflich als die frevelhafte Besudelung einer ebenso erhabenen als rührenden Erscheinung. Ich erinnere mich, daß ich bei der ersten Lesung dieses skandalhaften Poems die Empfindung hatte, als säh' ich eine Lilie in eine Kotlache werfen. Um jedoch dem großen Spötter, der soviel Unwahrheit, Unrat und Unrecht aus der Welt weggespottet hat, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß man berücksichtigen und sagen, daß er seine Pucelle nur schrieb, um auch in dieser, von der damaligen französischen und europäischen Gesellschaft mit Entzücken aufgenommenen Form die große Lüge von der angeblich guten alten frommen Zeit zu entlarven und zu vernichten. So angesehen, ist Voltaires komisches Epos eine meisterliche Satire auf das Mittelalter.

In der Vollreife seines Genius, auf der Höhe seiner Stellung als Prophet des Idealismus ergriff dann Schiller den dankbaren Stoff, um daraus ein Kunstwerk zu formen, welches, was auch im einzelnen nicht ohne Grund daran getadelt werden mag, als Ganzes von Schönheit strahlt und funkelt. Höchst bedeutsam fiel diese Arbeit mit des Dichters Wendung vom Kosmopolitismus zum Patriotismus zusammen. In seiner »Jungfrau von Orleans« schlug er mit mächtiger Hand schon einzelne jener herzbewegend-patriotischen Töne an, welche er nachmals in seiner Telldichtung zu einem hochherrlichen und nie verrauschenden Akkord der Vaterlandsliebe zusammengefaßt hat. Dieser große und gute Mann strömte den ganzen heiligen Enthusiasmus seiner Seele in seine Jungfrautragödie über, und darum durfte er sie in die Welt entlassen mit den prophetischen Worten:

»Dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben!«


 << zurück weiter >>