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Mariti magis quam parentis animo, neque victa
in lacrimas, neque voce supplex. (Mehr von des
Gatten als des Vaters Geiste beseelt, nicht zum Weinen
gebeugt, noch zum Flehen sich erniedrigend).
Tacitus, Annal. I. 57.
Aus dem Waldesdüster ältester Geschichten unseres Landes tritt eine Frauengestalt hervor, welche von den antiken Autoren, die ihrer gedenken, nur mit wenigen und flüchtigen Zügen gezeichnet ist und dennoch fest, bestimmt und deutlich vor unserem Seelenauge steht: – die Gestalt der Gattin Armins. Der Stahlgriffel des Tacitus hat mittels etlicher Lapidarworte, wie sie »der Blitz in Felsen schreibt«, das tragische Geschick dieser Frau der Ewigkeit eingegraben. Ihr Name findet sich jedoch nur bei einem der alten Zeugen, beim Strabon, dem bekannten Geographen des Altertums, welcher zur Zeit des Augustus und Tiberius schrieb. Er nennt sie Thusnelda.
Ein deutscher Altertümler, Göttling, hat die Behauptung aufgestellt und mit großem Scharfsinn zu begründen versucht, daß uns aus dem Altertum eine Porträtstatue Thusneldas überliefert sei Thusnelda und Thumelikus, in gleichzeitigen Bildnissen nachgewiesen von Karl Wilhelm Göttling, 1856.. Wer in Florenz gewesen, erinnert sich gewiß mit Vergnügen der schönen »Loggia de' Lanzi« auf dem Marktplatz, eines der besten Werke der Frührenaissance. Unter den Statuen, welche das Innere der Halle schmücken, fällt eine mehr als lebensgroße marmorne auf, und zwar durch den großartigen Ausdruck tiefer Schwermut, welche über ihre Gesichtszüge, ja über ihre ganze Gestalt gegossen ist. Die Florentiner kannten sie früher unter dem Namen der »Göttin des Schweigens«, welche Bezeichnung sicher nur von der Bewegung der rechten Hand der Statue gegen den Mund zu herrührte. Einige Archäologen wollten in ihr die Matrone Veturia, Koriolans Mutter, erkennen; andere sahen in der Bildsäule eine griechische Polyhymnia oder Mnemosyne. Der Franzose Mongez hat zuerst die richtige Nachweisung gegeben, daß diese schöne Statue – sie hatte sich früher im Palazzo Kapranika und dann in der Villa Medici in Rom befunden – weder eine griechische Göttin noch eine römische Matrone darstelle, sondern eine von den Römern gefangene und im Triumph aufgeführte »Barbarin«. »Das Urbild«, fügt Göttling hinzu, »muß einer Nation angehört haben, welche den Römern sowohl kriegerisch wie sittlich imponierte, und muß eine an Ansehen hervorragende Frau, eine Fürstin, gewesen sein.« … Das Gesicht ist nicht von hellenischem oder römischem, sondern von nordischem Schnitt. Es trägt den Stempel schwermutsvollen Insichversunkenseins. Der etwas vorgeneigte Kopf scheint sich unter der Wucht eines herben Geschickes zu beugen. Die linke Brust, sowie beide Arme sind bloß, und diese Blöße, wie auch die Gewandung der übrigen Gestalt ist ganz entsprechend der von Tacitus ( Germ. 17) gegebenen Schilderung, welcher Art die altdeutschen Frauen sich trugen. Das ganze Bild macht einen so durchschlagend germanischen Eindruck, daß auch solche Altertumskenner, welche Göttlings Aufstellung für nicht völlig erwiesen ansehen, immerhin einstimmen, daß die beschriebene Statue eine Germanin vorstelle Brunn (Geschichte d. griech. Künstler I, 463) sieht in derselben die allegorische Darstellung der » Germania devicta«, wogegen Göttling Triftiges geltend macht..
Angenommen, Göttling habe das Richtige getroffen, so war Thusnelda eine schöne Frau. Falls wir aber nicht annehmen dürften, ihre Porträtstatue stände in der Lanzknechtehalle zu Florenz, müßten wir dennoch zuversichtlich glauben, die Tochter des Segestes sei so gewesen, daß es sich der Mühe lohnte, sich in sie zu verlieben. Wäre sie häßlich gewesen, so hätte Armin sie sicherlich ganz gemütsruhig dem Bräutigam gelassen, welchem ihr Vater sie bestimmt hatte, und hätte seinen von wahrhaft weltgeschichtlicher Bedeutung gewordenen politischen Entwürfen und Arbeiten nicht die zur Durchführung eines Romans nötige Zeit abgemüßigt.
Hochschlank von Wuchs, voll und straff von Formen, goldhaarig, kornblumenaugig und rotwangig müssen wir uns das Mädchen denken, welches in stürmischer Nacht, zagend und doch einem unwiderstehlichen Zuge gehorchend, aus der Hintertür des väterlichen Edelhofs schleicht, wie ein weißer Schatten über die Lichtung huscht und in dem gegenüberliegenden Eichenkamp verschwindet. Am Außensaum des Kampes harrt lauschend ein Mann, an den Bug seines Pferdes gelehnt. Wenn der Mond mitunter durch die jagenden Wolken blickt, sieht man, daß der Harrende jung, stattlich, gebietend von Zügen ist und sich wie ein Edeling der Cherusker trägt. Er lauscht gegen den Eichenkamp vorgebeugt, und durch das Rauschen der Wipfel über ihm dringt ein Ton in sein Ohr, den er kennt. Mit einem Sprung ist er im Holz, ein halbverhaltener Aufschrei, von Mädchenlippen halb in Angst, halb in Wonne ausgestoßen, und einen Augenblick darauf tritt Armin aus dem Haindunkel, Thusnelda in seinen Armen tragend. Er hebt sie auf das Roß, springt nach, umschlingt die Bebende mit seinem linken Arm, rückt mit der Rechten den Zügel und fort geht es mit dem Wind um die Wette Tacitus erzählt freilich diese Entführung weniger »umständlich«: »Arminius hatte die Tochter des Segestes, die einem andern versprochen war, entführt«, Annal. I, 65..
Der wirklich und wahrhaft historische Roman Arminius und Thusnelda ist kulturgeschichtlich und psychologisch gleich merkwürdig. Diese älteste, historisch beglaubigte deutsche Liebesgeschichte zeigt nämlich deutlich, daß in den altdeutschen Wäldern das Verhältnis von Mann und Weib tatsächlich auf einer edleren Anschauung beruhte als in der griechisch-römischen Welt. Dem berühmten Zeugnisse des großen römischen Historikers zufolge hatten sich ja bei den Germanen die Frauen einer viel geachteteren Stellung zu erfreuen als bei irgendeinem Volk im Umkreise des hellenisch-römischen Altertums. Die Germanin wird nicht als willenlos vorausgesetzt. Auch in ihr regt sich der deutsche Individualismus, der Selbstbestimmungstrieb. Die germanische Frau steht nicht an, das Recht des menschlichen Ich und Selbst gegenüber der Satzung, dem Brauch und der äußerlichen Gewalt geltend zu machen. Die Tochter Segests ist, zweifelsohne nach den Formen des altdeutschen Brautkaufs ( Germ. 18), von ihrem Vater einem Manne verlobt, den sie nicht haben will. Weit entfernt jedoch von feiger Ergebung in die »soziale Ordnung«, verzehrt sie sich nicht in nutzlosen Tränen, sondern läßt sich vielmehr entschlossen von dem Manne entführen, welchen ihr Vater haßt, sie aber liebt.
Die Rebellin gegen die väterliche und staatliche Autorität heiratet den Rebellen gegen die vollendete Tatsache der fremden Zwingherrschaft, deren gehorsamer Diener sein Schwiegervater ist. Fürwahr, ein von vornherein auf einen tragischen Ausgang angelegter Roman der Wirklichkeit. Er konnte gar nicht anders als unglücklich enden, denn Held und Heldin waren ja idealistisch gestimmt, waren hoch und edel gesinnt und »das Schöne muß sterben …«
Der General Lafayette erzählt
Mémoires V, 400., eines Tages im Jahre 1813 sei Napoleon in eine feurige Lobrede auf den Oktavianus Augustus ausgebrochen, in welchem er das Muster eines wahrhaft »großen« Mannes erblickte. Der Lobredner sprach zweifelsohne aus Überzeugung, getrieben von dem starken Zuge der Wahlverwandtschaft mit dem Begründer der römischen Monarchie. Denn ganz wie Napoleon war auch Oktavianus eine wundersam gut gelungene Mischung vom Banditen und Komödianten. Beides in höchster Potenz genommen versteht sich. Der französische wie der römische Despot, sie verstanden beide gleich virtuosenhaft auf dem Instrument ihrer Ehrsucht und Herrschgier zu spielen, aber der Römer war doch der bessere Musikant und Komödiant als der Korse. Denn Augustus musizierte und komödierte klug und konsequent, und darum auch glücklich bis zum Ende, und durfte sterbend
seine Vertrauten zum Beifallklatschen auffordern
Sueton (Oktavius, Kap. 99) berichtet: »Am letzten Tage seines Lebens fragte er wiederholt, ob sich das Publikum über seinen Zustand beunruhige. Dann ließ er sich einen Spiegel geben, ließ sich frisieren und seine schlaffen Wangen zurechtmachen. Dies getan, richtete er an seine Vertrauten die Frage: ›Meint ihr nicht, daß ich die Komödie des Lebens recht hübsch gespielt habe?‹ und fügte griechisch die Epilogschlußformel hinzu:
›Falls das Stück euch hat gefallen, ei, so klatschet unserm Spiel
Und erhebt mit Freuden alle ringsumher den Beifallsruf!‹«. Napoleon dagegen fiel gar schmählich aus der Rolle, indem er nicht mehr
über ihr stand, sondern das Tyrannenspiel für baren Ernst nahm und demzufolge aus einem Virtuosen des Despotismus ein verrückter Despot wurde. Die Überlegenheit des Römers über den Korsen erwies sich durch die Selbstbeherrschung, welche jener sich aufzuerlegen wußte. Auch in seiner auswärtigen Politik. Bekanntlich hielt er an dem Grundsatze fest, das römische Reich bedürfte weit mehr der inneren Ordnung und Kräftigung als der Vergrößerung nach außen, und nur nach einer Richtung hin schien ihm ein Abgehen von diesem Prinzip rätlich, nach dem Norden zu, weil sich die tirolischen und julischen Alpen als ein zu schwaches Bollwerk gegen die fortwährende Bedrohung Italiens durch germanische Völkerschaften erwiesen. Darum wollte er in Pannonien und in Süddeutschland die Reichsgrenze bis zur Donau vorgerückt wissen, was durch Feldzüge, welche seine beiden Stiefsöhne Drusus und Tiberius führten, erreicht wurde. Nicht allein durch Waffen, sondern auch noch mehr durch diplomatische Künste. Die erfolgreichste derselben ist gewesen, den germanischen Stämmen die Oberherrlichkeit Roms in der Form von Bündnissen aufzuschwindeln.
Es war ganz dasselbe Verfahren, welches später von Ludwig XIV. und von Napoleon gegenüber Deutschland eingehalten wurde. Jedoch hatten es diese beiden Todfeinde unseres Landes dabei bequemer als die Römer, weil diese bei ihren Machenschaften auf die Volksgemeinden der Freien Rücksicht nehmen mußten, jene dagegen bei vollendeter Verknechtung des deutschen Volkes nach diesem nichts zu fragen, sondern nur die Fürsten zu kaufen hatten, bekanntlich eine im 17. wie im 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts leicht käufliche Ware.
Freilich gab es auch schon zu Anfang des ersten Jahrhunderts unserer Ära deutsche Fürsten, welche verdienten, die Ahnherrn der Rheinbundmajestäten und Rheinbundhoheiten von Napoleons Gnaden zu sein. So ein antizipierter Rheinbundfürst war vornehmlich Segestes, einer der Häuptlinge der Cherusker, ein gehorsamer Diener der römischen Zwingherren und wider Willen der Schwiegervater Armins. Segest ist ein richtiger Realpolitiker gewesen, ein so richtiger, daß er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu leben verdiente. Um das Jahr 7 n. Chr. hatten es die Römer mit ihren militärischen und diplomatischen Künsten so weit gebracht, daß der Hofhistoriograph Vellejus Paterkulus sagen konnte: »Beinahe ganz Deutschland ist in eine tributpflichtige Provinz verwandelt.« Segest erkannte dies » fait accompli« an und kalkulierte also: Der römischen Macht zu widerstehen ist unmöglich. Die Politik aber ist bekanntlich die »Wissenschaft des Möglichen«. Folglich nehmen wir das Joch der Fremden, welche noch dazu eine »zivilisatorische Mission« haben, unweigerlich auf unsere Nacken. Unsereinem gewähren ja die Römer die Mittel, das Joch gehörig auszupolstern. Uns tut es demnach nicht weh, wenn mehrbesagtes Joch den Nacken des Volkes wundscheuert. Wir, Segestes I., von Augusti Gnaden Winkelfürst von Cheruskien, stehen uns überhaupt unter römischer Herrschaft so gut, daß man ein Narr, ein Ideolog, ein Prinzipienreiter sein müßte, wollte man dem realpolitisch Möglichen und Wirklichen das idealnärrisch Unmögliche und Phantastische vorziehen und sein sicheres Auskommen und gedeihliches Behagen an solche Marotten wie nationale Ehre und Selbständigkeit, deutsche Freiheit und eigenartiges Recht wagen.
Der römische Hof scheint diese realpolitische Anschauung als bei den Deutschen allgemein vorausgesetzt zu haben. Sonst hätte er nicht den Mißgriff begehen können, den bornierten, brutalen und raubsüchtigen Quinktilius Varus zum Statthalter von Germanien zu machen. Varus hatte zuvor Syrien verwaltet, d. h. brutalisiert und ausgeraubt, so daß selbst der hofhistoriographische Vellejus Paterkulus sich bemüßigt fand, von ihm zu sagen, er habe »das reiche Syrien als armer Schlucker betreten und das arme als reicher Mann verlassen«. Wie er die Deutschen behandeln zu sollen glaubte, geht schon daraus hervor, daß er sie, desselben Paterkulus Bezeugung zufolge, für Geschöpfe ansah, »welche mit Menschen nichts gemein hätten als Sprache und Gliedmaßen ( qui nihil praeter vocem membraque haberent hominum).« Kaum in Deutschland angelangt, verschritt Se. Exzellenz rüstig dazu, die also angesehenen armen deutschen Wilden in seiner Weise zu zivilisieren. Das ging etliche Jahre so, nahm dann aber ein Ende mit Schrecken.
Segimers Sohn Armin, welchen sein Schwiegervater Segest als Idealpolitiker verachtete und als einen populären Mitfürsten haßte, war nicht gewillt, die (übrigens auch auf nicht sehr starken Füßen stehende) Tatsache der Eroberung Deutschlands durch die Römer als vollendet anzusehen oder anzuerkennen. Ihm war ein » fait accompli« überhaupt kein Götze, vor welchem die Menschen unter allen Umständen ihre Knie beugen müßten. Er faßte die Politik nicht als die »Wissenschaft des Möglichen«. Ihm war sie vielmehr eine Inspiration des natürlichen Gefühls, eine Sache des Gewissens, ein Ruf der Pflicht.
In Wahrheit, er stand auf einer so niedrigen Stufe »staatsmännischer« Entwicklung, daß er, statt ein Allerweltwindhaspel zu sein, nur ein Prinzipmann war, ein ganz einseitiger und eigensinniger Mensch, welcher nicht zugeben wollte, daß sein Vaterland entnationalisiert und verzivilisiert, d. h. verwelscht und versklavt würde. Zu seiner Entschuldigung ist nur zu sagen, daß er, der im römischen Heere gedient, das römische Bürgerrecht und die Ritterwürde erworben hatte und gut Lateinisch sprach, die Römer zu genau kannte, um sich darüber zu täuschen, was sie alles unter »Zivilisieren« verstanden. Der gute Armin war aber auch lange nicht aufgeklärt und liberal genug, um sich mit einem mehr oder weniger pathetisch zu Protokoll gegebenen Protest gegen die Tatsache der Fremd- und Zwingherrschaft zu begnügen und dann im Hochgefühl, seine patriotische Schuldigkeit getan zu haben, die Hände müßig in die Hosentaschen zu stecken. Vielmehr war er so sehr »Gefühlspolitiker«, so unbesonnen, so unstaatsmännisch, so extrem, so destruktiv, daß er geradezu ein Wühler wurde, welcher gegen das Bestehende anzugehen, die Ruhe und Ordnung zu stören sich unterfing. Ein Glück für ihn, daß er bei diesem seinem Unterfangen Erfolg hatte! Sonst würden die deutschen Historiker ihm sicherlich mitgespielt haben, allwie katholische Hofräte und lutherische Kirchenräte etwa dem Thomas Münzer mitzuspielen pflegen.
Der junge cheruskische Edeling nahm sich aber nicht nur heraus, gegen die Römerherrschaft zu rebellieren, sondern auch, schlauer zu sein als die fremden Zwingherren. Die Art und Weise, wie er den vom Dünkelgas geblähten Raubsack Varus nasführte, zeigt, daß auch so ein Idealpolitiker die Sachen, wenn es sein muß, praktisch zur Hand nehmen kann. Ganz meisterlich sodann war es, daß und wie im Sinne seines großen Gedankens Armin die Sprödigkeit des deutschen Partikularismus zu überwinden und eine nicht kleine Anzahl von Völkerstämmen zu einer widerrömischen und nationalen Eidgenossenschaft zusammenzubinden verstand. Daß bei alledem persönlicher Ehrgeiz ein tüchtig Scheit in das Feuer seiner patriotischen Begeisterung gelegt habe, mag gar nicht bestritten werden oder gar nicht zu bestreiten sein. Warum sollte er nicht den Ehrgeiz haben, sein Vaterland zu befreien und auf diese Tat als auf ein Piedestal sich zu stellen, welches seine heldische Gestalt erhaben in die Nachwelt hineinragen ließ und läßt?
Bekanntlich haben Rheinbundfürsten für ihren Protektor Napoleon die Spione und Angeber gemacht, und haben in den Jahren 1808 bis 1813 die nationalen Wiedergeburtsstrebungen ihrem Herrn und Meister eifrig denunziert. Geradeso tat zu seiner Zeit Segest. Er machte sich eine Ehre daraus, den Römern als Spion und Angeber zu dienen, vollends dann, als die Erwählung Armins zum Herzog der von demselben gestifteten nationalen Eidgenossenschaft den schwiegerväterlichen Neidhammel ganz drehend gemacht hatte. Hatte es ihm doch schon giftig am Herzen genagt, daß seine Hoffnung, mit römischer Hilfe die Großhäuptlingschaft bei den Cheruskern zu ergattern, zuschanden geworden und sein Schwiegersohn vom ganzen Klan zu diesem höchsten Vertrauensposten berufen worden war. Glücklicherweise hatte Varus seine Ohren mit dem Wachse der Selbstgefälligkeit verstopft und ließ den Verräter mit seinen Angebereien und Warnungen abfahren. So konnte Armin seine wohlausgesonnenen Veranstaltungen ungehindert zu Ende führen, – Veranstaltungen, welche darauf abzweckten, die römische Heeresmacht in Deutschland mit einem Schlage zu vernichten.
Im Teutoburger Walde im Gau der Brukterer, wahrscheinlich in der Nähe der heutigen Stadt Beckum, tat der nationale Herzog Armin in den Tagen vom 9. bis 11. September des Jahres 9 n. Chr. G. diesen Vernichtungsschlag so gründlich gewaltig, daß der bis gen Rom hindonnernde Widerhall daselbst die Ängste des »zimbrischen Schreckens« erneuerte. Der glatte Kaiserkomödiant Augustus selber verlor bekanntlich so sehr die Haltung, daß er in seinem Kabinett mit dem Kopfe gegen die Wand rannte und aufschrie: »Varus, gib mir meine Legionen wieder!« Der Varus aber lag mitsamt den Legionen tot in den Schluchten des Teutoburger Waldes. Von der ganzen römischen Armee, welche an 50 000 Mann stark gewesen, war nur ein dünnes Häuflein rheinüber entkommen.
Der Bewahrer Germaniens vor Romanisierung, der Retter deutscher Nationalität, der Sieger in der Teutoburger Waldschlacht, war zweifelsohne ein genialer und großdenkender Mensch. Gar wohl erkennend, daß mit dem Getanen keineswegs genug getan sei und daß der römischen Macht in die Länge nur zu widerstehen sein würde, so man ihr die nationale Kraft Deutschlands entgegenstellen könnte, hat er die Festigung und Erweiterung der im Jahre 9 gestifteten Eidgenossenschaft energisch angestrebt. Er ist geradezu der erste Prophet und Werkmeister der deutschen Nationaleinheit gewesen, aber auch ihr erster Märtyrer. Denn er vermochte seinen großen Gedanken nicht zur Tat zu machen, er konnte nur dafür leben, streben und sterben.
Am deutschen Partikularismus ging Armin zugrunde. Den gewöhnlichen Volksdank muß er unlange empfangen haben, nachdem er sein Volk befreit hatte. Sonst wäre ja nicht zu erklären, wie es zugegangen, daß der Verräter Segest Macht genug besaß und es wagen durfte, den beneideten und gehaßten Eidam heimtückisch zu überfallen und ihn samt seiner Gattin gefangen zu nehmen. Die Gefangenhaltung des Befreiers muß bis ins Jahr 15 n. Chr. hinein gewährt haben. In diesem und schon im Herbste des vorhergehenden Jahres wurde traurig offenbar, daß dem Widerstande der Deutschen gegen Roms erneuerte Eroberungsversuche Seele und Führung fehlte. Die schonungslosen Streifzüge, die der Neffe des neuen Kaisers Tiberius, Drusus Germanikus, im Spätjahr von 14 und im Frühjahr von 15 aus Gallien rheinherüber gekommen, gegen die Marsen und Katten vollführte, zeigen dies.
Bevor der römische General nach im Kattenland getaner Raub-, Brand- und Mordarbeit wieder über den Rhein zurückging, war es dem Armin gelungen, die Bande seiner Gefangenschaft zu brechen; wir wissen nicht, wie. Sofort verschritt er dazu, auch seine Gattin zu befreien, welche gesegneten Leibes in der Gewalt ihres Vaters zurückgeblieben war, und belagerte zu diesem Ende den befestigten Hof des Segestes. Allein diesem gelang es, seinen Sohn Segimund und andere Boten mit der Bitte um schleunige Hilfeleistung an den Germanikus zu entsenden. Der römische General hielt inne auf seinem Marsche, kehrte mit seinem Heer um und brachte dem belagerten Rheinbündler den erbetenen Entsatz, indem er mit unwiderstehlicher Übermacht die Belagerer zersprengte. Bei dieser Gelegenheit tat Segest eine Rede an seinen römischen Protektor, welche nicht allein dem Sinne nach, sondern auch in einzelnen Ausdrücken mit Reden übereinstimmt, welche rheinbündische Fürsten und Minister an Napoleon gehalten haben. Warum auch nicht? Die Niedertracht arbeitet ja allezeit nach derselben Schablone.
Im Cheruskerlande weiter zu bleiben getraute jedoch der Verräter sich nicht. Der Herr Protektor sandte ihn nach Gallien und von dort später gen Rom. Die unglückliche Thusnelda aber kam aus der Gefangenschaft ihres Vaters in die der Römer. Als sie aus der väterlichen Burg heraus und vor den Cäsar geführt wurde, trat sie – erzählt uns Tacitus – vor denselben, »mehr von des Gatten als des Vaters Geiste beseelt, nicht zum Weinen gebeugt, noch zum Flehen sich erniedrigend, mit unter dem Busen zusammengefaßten Händen stumm auf ihren ungeborenen Sohn niederblickend«.
Armin versuchte in seinem wilden Schmerze alles, um das Unheil zu wenden und die Gattin zu befreien. »Ihn trieben«, berichtet der römische Historiker, »neben dem natürlichen Ungestüm die Wegschleppung seines Weibes und sein noch ungeboren in die Sklaverei verkauftes Kind wie sinnlos umher, und er stürmte hin durch die Cheruskergauen, zu den Waffen wider Segest, zu den Waffen wider die Römer rufend. So den Deutschen Vaterland, Familie und heimische Sitte lieber wären als Fremd- und Zwingherrschaft, so möchten sie sich an ihn, den Führer zu Ruhm und Freiheit, anschließen.«
Wohl hatte dieser Aufruf Erfolg, wohl belebte des Befreiers Feuereifer den nationalen Widerstand gegen Rom wiederum, allein Thusnelda war nicht mehr zu retten. In der Gefangenschaft gebar sie bald einen Sohn, welchen die Römer Thumelikus nannten.
Die Feldzüge des Germanikus in Deutschland blieben im Grunde resultatlos, obzwar die nach Rom gesandten Siegesbulletins des Cäsars großartig genug lauteten. Armin hielt ihm mit zäher Ausdauer Widerpart. Tiberius rief den Neffen vom Oberbefehl in Germanien ab, vergoldete aber diese Pille mittels Bewilligung eines Triumphes, welcher am 27. Mai im Jahre 17 in Rom gefeiert wurde. Dem Strabon verdanken wir den Bericht, daß in der Triumphalprozession Thusnelda, ihren zweijährigen Sohn auf dem Arme, mit ihrem Bruder Segimund in Fesseln vor dem Wagen des Triumphators einhergehen mußte, und daß der Verräter Segest die namenlose Infamie beging, von einem ihm – »weil er zu uns übergelaufen war« – angewiesenen Ehrenplatz aus diese echtrömisch-grausame Mißhandlung von Sohn, Tochter und Enkel mit anzusehen.
Der schwergeprüften deutschen Frau geschah noch Bitterstes: – ihr Sohn wurde ihr entrissen, um, wie wir aus Tacitus wissen, in Ravenna erzogen zu werden. Da mag der Leidvollen das Herz in der Brust gelegen haben so schwer und einsam wie ein von seinem Tau losgerissener Anker auf dem Grunde der See. Wann und wie sie gestorben, wissen wir nicht. Hoffentlich bald. Was aus dem armen Sohn Armins geworden, können wir vermuten. Tacitus, nachdem er gemeldet, daß Thumelikus in Ravenna erzogen worden, fügt hinzu: »Zu welchem Hohn des Geschickes er aufgespart war, werde ich später erwähnen.« Allein diese Erwähnung ist bekanntlich nicht vorhanden, da der Teil der Taciteischen Schriften, in welchem sie vorkommen sollte, verloren gegangen. Das Wahrscheinlichste ist, daß Thusneldas Sohn in der Gladiatorenschule zu Ravenna zum Fechtersklaven abgerichtet wurde, um als solcher, er, der Sprößling Armins, etwa zur Feier eines über die Deutschen gewonnenen Sieges im Zirkus dem vornehmen und geringen römischen Pöbel zum pikanten Spektakel zu dienen. Freilich beruht diese Annahme immerhin nur auf fünf Worten des Tacitus (» educatus Ravenna puer, ludibrio conflictatus«). Dem Dichter aber war es erlaubt, auf dieser schmalen historischen Basis eine tragische Dichtung aufzubauen, was denn auch Friedrich Halm theatralisch wirksam getan hat.
Nach der Katastrophe vom Jahre 15 führte Armin den nationalen Unabhängigkeitskampf noch volle sieben Jahre weiter, »nicht mehr siegreich in Schlachten, aber unbesiegt im Kriege«, wie sich Tacitus ausdrückt, der ihn an derselben Stelle ehrend den »unzweifelhaften Befreier Deutschlands« nennt, welcher dem römischen Reiche auf der Machthöhe desselben Trotz geboten habe. Was aber Rom nicht gelang, den nationalen Helden zu fällen, das brachte der gemeine Neid seiner Mithäuptlinge zuwege. Diese bezichtigten ihn des Strebens nach Alleinherrschaft – als ob er nicht verdient hätte, sie zu führen! – und gingen im Namen der »deutschen Libertät« gegen ihn an. Also mit derselben dynastischen Lug- und Truglosung, welche die deutschen Fürsten die ganze deutsche Geschichte entlang allezeit erhoben haben, wenn sie Verrat an der Nation verüben wollten. Mitglieder seiner eigenen Familie waren mit Armins Neidern und Hassern verschworen und standen ihm nach dem Leben. Nachdem er zwölf Jahre lang der Bannerherr Germaniens gewesen, fiel er, siebenunddreißigjährig, durch die Tücke seiner Verwandten (» dolo propinquorum«). Die Dummheit und Gemeinheit haben es also schließlich über das Genie und den Hochsinn davongetragen, damit ja die Weltordnung nicht aus dem gewohnten Geleise käme.
Die Gattin in der Gefangenschaft am Herzeleid gestorben, der Sohn als Fechtersklave verdorben, der Retter Deutschlands selbst von deutschen Händen meuchlings erschlagen – nicht sehr gemütlich das, aber lehrreich. Da sieht man wieder einmal recht deutlich, wie es »Gefühlspolitikern« und »Idealnärrinnen« ergeht. Nehmt ein Exempel daran und laßt es euch zur Warnung gereichen, ihr armen unpraktischen Leute, »Idealpolitiker«, »Schwarmgeister«, »Prinzipienreiter«, Spieler auf der alten »Gesinnungstüchtigkeitsleier«!
Wohl, ihr Herren Realisten, wir nehmen ein Exempel daran; nur ziehen wir die Nutzanwendung etwas anders. Wer hat euch denn, fragen wir, in den Stand gesetzt, uns in deutschen Lauten den Text zu lesen, der Erfolgschleppeträger Segest oder der »Prinzipienreiter« Armin? Wir wissen zwar ganz gut, daß ihr, Bekenner der Machtanbetungsreligion, die Anathemaspritze nicht minder eifrig handhabt, als der »Oberbonze von Babel«, welcher nicht müde wird, die Jauche seines alleinseligmachenden Afterwitzes über Europa hinzuspritzen; aber fragen darf man ja doch wohl noch, und so werdet ihr uns erlauben, euch noch etliche weitere Fragen vorzulegen, obgleich sie mit dem abgehandelten Thema nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen.
Wenn, wie ihr sagt, alles in bestem Geleise der Entwicklung ist, wenn eure reale Politik und Wissenschaft mit dem ganzen Dünkel deutscher Kathedrarierschaft auf die ideale des 18. Jahrhunderts herabsehen darf, wie geht es denn zu, daß jene an aufhellender und befreiender Wirkung dieser bei weitem nicht gleichkommt? Könnt ihr leugnen, daß die Pfaffenmacht heutzutage eine Stellung einnimmt, wie sie vor hundert Jahren unmöglich war? Damals hätte man den Gebildeten in Europa zumuten sollen, sich mit dem obsoleten Hokuspokus eines Konzils als mit einer ernsthaften Sache zu beschäftigen! Ein unermeßliches Gelächter wäre die Antwort gewesen.
Ihr habt Politik und Wissenschaft materialisiert und habt sie glücklich dahin gebracht, die Götter, die Ideale, von den Altären zu stoßen und in dem ungeheuren Mammonstempel, dessen Dach über die Gegenwart sich hinwölbt, den Levitendienst zu verrichten. Aber habt ihr denn ganz und gar kein Auge und kein Verständnis dafür, daß die hochmütige Verblendung, womit ihr den unausrottbaren idealistischen Zug und Trieb im Menschen entweder als gar nicht vorhanden betrachtet oder demselben doch jede Befriedigung versagt, der pfäffischen Pfiffigkeit Gelegenheit und Raum gab, dieses Triebes sich zu bemächtigen, um ihn wieder in die labyrinthischen Räume der alten finstern Santa Casa hineinzuschmeicheln? Euer Geschäft der Entgötterung und Entgeistung der Gesellschaft floriert, floriert sehr, kein Zweifel; aber gereicht es denn etwa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welche so nüchtern kalkuliert und allen Idealismus als »unpraktisch« verspottet, gereicht es dieser praktischen, auf die Errungenschaften der exakten Wissenschaften und auf die Erfolge der Realpolitik so stolzen Zeit wirklich zur Ehre, daß der Menschheit Gewissen verstummt scheint und die »heilige Dummheit« mit unerhörter Frechheit rasende Orgien aufführen darf? Orgien, in welchen der Papstwahnsinn mit der Schamlosigkeit den Infallibilitätskankan tanzt, Orgien, welche im Tollrausche des Afterwitzes »Enzykliken« wie jene vom Dezember 1864 in die Welt hinausschreien. Zeugt es wirklich für einen Vorschritt der europäischen Gesellschaft oder aber aller staunenswerten materiellen Gewinste und Schöpfungen ungeachtet für einen Rückschritt, wenn ein auf den sieben Hügeln von Rom so lange nur durch bonapartische Bajonette aufrecht gehalten gewesenes Gespenst des Mittelalters zur Verhöhnung und Beschimpfung von allem, was denkenden, wissenden und redlichen Menschen heilig ist, einen »Syllabus« ausgehen lassen durfte, worin die traurige Botschaft des Kretinismus mit satanischer Überhebung als ein Evangelium verkündigt wurde?
Ihr weist stolz auf die Fülle von mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Forschungen und Findungen, welche unserer Zeit eigen und deren Wert kein Verständiger unterschätzen wird. Ja, gewiß jeder Mensch von fünf gesunden Sinnen zollt den exakten Wissenschaften seinen begeisterten Dank für die unberechenbar großen Wohltaten, welche sie zu unserer Zeit mittels ihrer Arbeiten und Erfolge dem Menschengeschlecht erwiesen haben und zu erweisen fortfahren. Aber Menschen von Kopf und Herz können und werden nicht anstehen, die in unseren Tagen sehr laut gewordenen Ansprüche der exakten Wissenschaften auf Alleingeltung, Allmacht und Alleinseligmacherei ganz entschieden zu verwerfen und zurückzuweisen. Die menschliche Gesellschaft lebt denn doch nicht allein von mathematischen Formeln, von Dampf- und Gasbereitung, von Eisenbahnen und Telegraphen. Die Bestimmung des Menschen geht nicht im Nützlichen auf. Streicht das Schöne und seinen Kult aus dem Leben weg, und ihr werdet bald erfahren, daß die Erde nur noch ein Schweinestall ist. Ein mittels der Tätigkeit eurer exakten Wissenschaften recht utilitarisch sauber und bequem eingerichteter Schweinestall, aber doch immer nur ein Schweinestall, in welchem für Götter, für Begeisterung, für Gefühlsinnigkeit, für Gedankenhoheit und Opferwilligkeit kein Platz ist und nur der eiserne Moloch des Nutzens fühllos seine gräßlichen Hekatomben empfängt.
Der Vorwurf, ausschließlich und hochmütig zu sein, trifft freilich mehr die Masse als die Spitzen der exakten Wissenschafter, obzwar es nur einem Humboldt gegeben war, Idealismus und Realismus in völlig harmonischem Gleichmaß zu repräsentieren Wer so recht erfahren will, wie, lese neben den »Ansichten der Natur« das Kapitel »Anregungsmittel zum Naturstudium« im 2. Bande des Kosmos.. Allein diese Masse wirkt mittels ihrer Massenhaftigkeit, und diese Wirkung läßt sich darin verspüren, daß junge Leute, welche eine algebraische Gleichung zu lösen oder eine Säure herzustellen oder das Nervengeflecht eines lebendig geschundenen Kaninchens bloßzulegen gelernt haben, sich berechtigt glauben, mit der ganzen Überhebung der Unwissenheit auf ideale Schöpfungen hinzublicken, welche zu den edelsten Siegen und unvergänglichsten Triumphen des Menschengeistes gehören. Allerdings kann man sagen, es sei gleichgültig, was Dummlinge sich einbilden. Nicht gleichgültig jedoch ist, daß die exakte Wissenschaft selber die nötige Bescheidenheit lerne. Sie könnte, so sie wollte, dieselbe aus der Tatsache lernen, daß alles Schönste, was die Menschheit besitzt, vor der Blüte der exakten Disziplinen geschaffen wurde. Alle die ewigen, »menschengeschickbestimmenden« Phantasie-, Gedanken-, Bildner- und Tonwerke, von der Ilias, dem Prometheus, dem Buch Hiob, der Bhagavadgita, dem Parthenon und der Aphrodite von Melos an und bis herab zur Madonna Sistina, zum King Lear, zur Kritik der reinen Vernunft, zum Faust und zur Symphonia heroica, – sie alle und noch zahlreiche ebenbürtige sind geschaffen worden, bevor das über alle Maßen gepriesene Millennium der exakten Wissenschaften angehoben hat. Und wann dereinst gar manche der jetzt angestaunten Errungenschaften derselben versunken und verschollen sind, wann auch die Eisenbahnen da sein werden, wo jetzt die kaiserlich römischen Heerstraßen sind, dann wird die Gedankensaat eines Platon und eines Aristoteles noch immer Halme treiben und Ähren reifen, wird die Stimme des Demosthenes noch fortschallen, wird der Zeus von Otrikoli noch immer die Majestät des zum Göttlichen gesteigerten Menschentums versinnlichen, wird das gewaltige Lied von Siegfrieds Ermordung und Kriemhilds Rache noch immer brausen, werden die Flammen von Dantes Hölle noch immer glühen, wird der Tell Jünglingsherzen höher schlagen machen und Childe Harold sympathische Tränen in Frauenaugen locken.
Ihr sagt freilich: Was soll uns das alles? Nur die Wahrheit macht frei, und Wahrheit gibt nur die »exakte« Wissenschaft. Aber ist es denn nicht fraglich, ob die einseitig betriebene »exakte« Wissenschaft freie und ganze Menschen und Männer zu schaffen vermöge? Ist es nicht auffallend, daß gerade Träger der exakten Disziplinen häufig genug bereit sind, jedem Machthaber in den Handschuh zu kriechen? Woher kommt es, daß man so manche Rechner und Experimentierer da in der Langohrenschar erblickt, welche die Säcke des Köhlerglaubens andächtig aus der kirchlichen Mühle trägt, oder dort in der Reihe der Hofpudel, welche so vortrefflich zum Aufwarten und Apportieren dressiert sind?
Ihr rühmt euch, auch der Jugend alles unpraktische Phantasieren, Idealisieren und Sentimentalisieren allmählich verleidet zu haben. Aber habt ihr dadurch nicht mit roher Hand den Schmetterlingsflügelstaub von der Menschenseele gewischt? Habt ihr nicht die liebenswürdige jugendliche Begeisterung in widerwärtige Blasiertheit verkehrt? Habt ihr die Jugend nicht gelehrt, die höchste, die einzige Wissenschaft und Kunst sei im Grunde doch die, ein Millionär oder gar ein Milliardär zu werden, gleichviel wie? Ist die unter euren Auspizien auch von jungen Kehlen mit der ganzen Frechheit erzstirniger Selbstsucht hergebrüllte »zeitgemäße« Losung: »Regalias, Veuve Cliquot, Loretten und Offenbachsche Musik!« etwa edler als die altfränkische: »Freiheit und Humanität«?
Ihr tut endlich groß damit, die Idee des Staates in den Leuten zum Bewußtsein gebracht zu haben. Aber was für eine Staatsidee? Die des ordinären Militär- und Polizeistaates, unter dessen Joch ihr euch selber untertänigst beugt. Und ist es wirklich unseres Geschlechtes höchstes Ziel, daß wir, statt freie Menschen, d. h. harmonisch entwickelte, selbst sich bestimmende und selbst sich beschränkende Persönlichkeiten zu werden, uniformierte Staatsatome, willenlos brauchbares und verbrauchbares Staatsvieh seien?
Ja, ihr habt es glücklich dazu gebracht, die Götter ins Exil zu treiben. Seht zu, wie weit und wohin ihr mit euren Götzen kommt.