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Aggie Ruf schrieb nach Breuschheim und fragte mich alles mögliche, und erst die Nachschrift brachte den Namen Silvio Wolf ans Licht. »Daß ich am Ende erwähne«, sagte sie, »was, meiner Absicht entsprechend, an den Anfang des Briefes gehört, soll Ihnen nichts anderes verraten als meine tiefe und überlegte Abneigung gegen Herrn Wolf.«
Danach schien mir ihr Interesse für Silvio Wolf weniger zweifelhaft als ihre Abneigung.
Ich antwortete:
Aus Breuschheim gibt es wenig zu berichten. Der Kalender verzeichnet mühevolle Arbeit, naßkaltes Wetter. Mit der Landwirtschaft geht es noch, aber was aus der Autofabrik werden soll, wissen wir nicht. Der Serienwagen hat gesiegt, zur Umstellung auf Luxuswagen fehlt uns das Kapital. Wir haben die deutschen Verkaufsläden für unsere »Alsatia«-Wagen aufgegeben, weil die Deutschen bald billiger liefern als wir, und stehen arg in der Klemme zwischen den Amerikanern, die alles auffressen, und den letzten Franzosen, die sich noch wehren können.
Die Politik wird täglich dümmer und überdies tatsächlich eine »Krankheit«, wie meine Mutter sagte, und was für eine! Nur die Kinder gedeihen. Jacquot konspiriert über den Rhein hinüber mit der ältesten Tochter Adas, ohne mich aufzuklären, was da eigentlich spielt, seine kleine Schwester Annette lernt laufen. Dafür rührt Vater Balthasar sich kaum noch aus dem Sessel, er lobt den Sessel und die Zeit, da brave Männer ruhig sitzen und die Schöpfung überdenken konnten. Er trägt eine Lesebrille aus Horn, die Hände ruhn auf dem Bäuchlein und halten bald den Livius, bald den Ovid.
Ich zweifle an Ihrem Interesse für meine Chronik, wenigstens in diesem Augenblick. Sie wünschen ungeduldig, liebe Aggie, unser interessantes Tier aus der Höhle schlüpfen zu sehn. Sie wollen erfahren, was ich von meinem Mitschüler Wolf weiß, und zwar »alles ausführlich und genau«. Mit der Genauigkeit wird es hapern. Sie sollen bald sehn, warum. Die beiden andern Forderungen kann ich erfüllen ...
Als ich Ihren Brief las, witterte ich gleich den Geruch eines fernen Septembermorgens. Hauchnasse Bäume im Schulhof, es hat die Nacht geregnet, Duft (jawohl, für uns war es ein Duft) von Öl und Terpentin, allerhand ist frisch gestrichen, dazu Weihrauch aus der romanischen Kapelle, deren Tür immer bis zur ersten Pause aufsteht, damit Luft hineinkommt, und zuletzt und am stärksten: Veilchenparfüm ... Und hier, verehrte Freundin, stehn wir bereits bei Silvio Wolf. Durch das große, mit Blech beschlagene Eisentor des Bischöflichen Gymnasiums an St. Stephan ist ein Jüngling getreten und schaut sich, nach einigen raschen Schritten auf dem Kies, vorsichtig im Hofe um. Es ist kurz vor Beginn der ersten Unterrichtsstunde im neuen Schuljahr. Die Glocke hat geläutet, der Hof liegt leer. Aus dem Schatten des Kreuzgangs lösen sich die Gestalten der Lehrer.
Hubert Adam und ich verweilen noch in der Tür des Klassenzimmers. Mein andrer Freund, der schöne François Kern, rüstet sich für das neue Schuljahr, indem er ausnahmsweise bereits auf seinem Platze sitzt und in einen runden Taschenspiegel äugt. Er zieht die Augenbrauen hoch, fletscht prüfend die Zähne. Ein Windstoß fährt über den Hof und schüttelt den Rest des Regens von den Kastanienbäumen. Barhäuptig, in fliegender Soutane, eilt unser Ordinarius durch den unerwarteten Schauer.
Wie von unsrer Aufmerksamkeit angezogen, setzt sich gleichzeitig der Neuling in Bewegung. Beim Anblick des langen, dürren Abbés beschleunigt er den Schritt. Wir machen ihm Platz, er verbeugt sich höflich, verbeugt sich nochmals vor der Klasse, setzt sich auf den Eckplatz der vordersten Bank. Auf einmal roch es dumpf, roch es unterirdisch nach Veilchen ...
»Ein Kerl, wie gemacht für unsern Abbé«, flüsterte Adam. Mein kurzbeiniger Freund hatte eine Abneigung gegen »elegante Erscheinungen« (auch unser Ordinarius gehörte dazu), und in der Tat konnte man sich keinen größeren Gegensatz denken als zwischen dem Bauernsprößling Hubert Adam und dem jungen Herrn, der da, an uns vorbei, vor einen Haufen feindlich gesinnter Lümmel getreten war und sich, ohne zu stolpern, ja, mit einem zarten Schwung, einer leisen, einschmeichelnden Schüchternheit auf die Bank setzte, nachdem er die Klasse mit seiner Verbeugung verblüfft hatte.
»Heda«, schrie Adam in die Klasse, »heda! Wer von euch stinkt denn nach Veilchen?«
Es wurde still. Fünfunddreißig Nasen schnupperten in die Luft.
»Ich möchte schwören«, ergriff Hubert Adam wieder das Wort, »solang das Bischöfliche Gymnasium an St. Stephan steht, noch nie hat es darin nach Veilchen gerochen!« Brüllendes Gelächter belohnte den Primus.
Ohne sich um den Nachhall des Lärms zu kümmern, klappte der Ordinarius das Klassenbuch auf und begann uns in alphabetischer Reihenfolge aufzurufen.
»Hubert Adam.«
»Hier!«
Der Lehrer unterbrach sich und sagte, zu dem Ankömmling gewendet:
»Ich will doch lieber erst Ihre Personalien aufnehmen. Wie war Ihr Name bitte?«
»Silvio Wolf«, antwortete, sich schwungvoll aufrichtend, die elegante Erscheinung. Aber schon auf die Frage nach Name und Stand des Vaters erfolgte keine Antwort.
Der Lehrer hob den Kopf, der neue Schüler bog ein wenig die Schultern, die Klasse hielt den Atem an. Und von den unsichtbaren Lippen, in deren Richtung alle starrten, kam es leise:
»Ich möchte bitten, meine Personalien dem Herrn Professor nach der Stunde mitteilen zu dürfen.«
»Selbstverständlich», beeilte sich der Abbé ebenso leise zu erwidern.
Nach Schluß der Stunde holte ich François Kern auf die Seite und verabredete mit ihm, dem Neuling gegen Adam die Stange zu halten. »Mir gefällt er«, sagte ich. – »Mir auch«, sagte Kern, »obwohl der Vater so was wie Latrinenputzer sein muß – wenn er überhaupt einen hat.«
Adam trat zu uns und behielt die Tür des Klassenzimmers im Auge, in dem Wolf mit dem Lehrer zurückgeblieben war. Auf einmal schlug er sich gegen die Stirn:
»Ich hab's! Dachtet ihr nicht auch, es habe einer zum Jux eine Parfümflasche in den Ofen geleert? Irrtum! Der Kerl ist parfümiert, die elegante Erscheinung! Er stinkt nach Veilchen, der Ofen ist unschuldig.« Ich behauptete, das hätte ich gleich gemerkt. Adam starrte sprachlos auf die Klassentür.
Sowie der Junge auftauchte, marschierten Kern und ich auf ihn los und begannen mit ihm über den Hof zu schlendern. Seine Begrüßung: »Darf ich mich mit den Herrn bekannt machen?« hatten wir überhört, wir sagten »Du« zu ihm, nahmen ihn zwischen uns und begannen ohne Umschweife ein freimütiges Gespräch. Nach einigen Minuten brachten wir ihn vor Adam, der noch immer auf der Stelle hielt, wo wir ihn verlassen hatten.
»Das Geheimnis besteht darin«, sagte ich lachend, wobei ich die Hand unter Silvios Arm schob ... »Nun rate mal!« rief Kern, und er nahm den Arm Hubert Adams.
»Er ist mit einer jungen Dame gereist«, flüsterte ich so wichtigtuerisch wie möglich. »Es ist ihr Parfüm, verstehst du? Semper aliquid haeret.«
»Gut, gut«, knurrte Adam, und er reckte sich lächelnd, als müsse er selbst an ähnliche Reisen denken. Seine Art, wie er Wolf dabei ansah, ließ auf einen Rest von kritischen Vorbehalten, aber auch auf Achtung, wenn nicht auf Wohlwollen schließen. Den Jungen über seine »Personalien« auszufragen, daran dachte nicht einmal Hubert Adam. Nach einigen Tagen meldete François Kern:
»Der Mann hat eine Geschichte ...«
Silvio und er hatten denselben Schulweg, doch selbst Kern, dem er so viel Vertrauen schenkte, kannte nur das Haus, worin er nach einem freundlichen »Salü« zu verschwinden pflegte. Bei welcher der Parteien im Haus er wohnte, konnte Kern nicht erfahren. Manchmal wechselte er sogar das Haus. Und dies war bei weitem nicht das einzige Dunkel, womit der glitzernde Kamerad sich umgab. Seine Geschichte aber, die erfuhren wir. Stückweise lieferte er sie uns aus. Zwar behauptete Adam unermüdlich, die elegante Erscheinung lüge wie verrückt, zeigte sich dagegen Kern oder gar ich mich mißtrauisch, so bewies uns Adam wieder haarscharf die Wahrhaftigkeit, die schamhaft verdrehte, aber echte Wahrhaftigkeit des Erzählers. »Übrigens«, schloß er dann, »kann er gerade so gut wortwörtlich die Wahrheit reden, nicht nur indirekt. Was weiß ein Mensch vom andern!« Immerhin wußten wir jetzt, daß er sich tatsächlich parfümierte, wenn auch bei weitem nicht so stark wie das erstemal.
Sonst aber wußten wir von ihm nichts, als daß er ein gut gewachsener Junge war, schwarzhaarig und doch hell, ein wenig schwermütig und doch leicht beschwingt, mit olivenfarbenem Gesicht, mit Augen, die er, wie Kern sich ausdrückte, »seiner Schwester oder sonst einem Mädchen gestohlen«, die Wimpern waren lang und gerade und schienen immer ein wenig feucht.
Und mehr, verehrte Aggie, haben wir im Grunde nie erfahren.
Doch fragte unser kurzbeiniger Scharfrichter eines Tages: »Wißt ihr schon? Er hat eine Großmutter hinten im Münstertal, die sorgt für ihn.«
Hubert Adam hatte es auf eigene Faust herausgebracht. Unserm Silvio lebte eine alte Großmutter im Münstertal, die sorgte für ihn, und der Pfarrer hatte ihn auf die Unterprima vorbereitet. Von Eltern oder Geschwistern keine Spur. Vielleicht waren sie tot. Die Alte, hinten im Münstertal, betrieb ein Käsegeschäft.
»Und darin«, sagte Adam, »erkenne ich als Psychologe den Grund, warum er sich parfümiert.« Die Stirnfalten unter die kurzgeschnittenen Haare geschoben, verwies er uns streng das Lachen ...
Es folgt, verehrte Aggie Ruf, die »Geschichte«, die »der Mann hatte«, auch sie ist reichlich dunkel. Kern und ich dachten oft, die Sache sei einfach: Silvio überbiete die mager gewordenen Reste unsers Karl-May-Wildwestens mit der Fülle seines eigenen Wildostens, er suche sich als Schauplatz den Balkan aus, weil er nicht gut behaupten könne, in den Prärien auf Büffel und Apachen gejagt zu haben. Der Balkan lag in Europa, gleich hinter Venedig, bis wohin ich selbst nachweislich vorgedrungen war. Und er fing auch mit dem Balkan erst an, nachdem ich von Venedig erzählt hatte.
Andrerseits enthält die Geschichte eine Menge gut beobachteter Züge, und lebenswahr sind zumindest die Erfahrungen, die Silvio aus den fragwürdigen Ereignissen zog. In diesem Sinne hatte Hubert Adam recht, wenn er von »verdrehter Wahrhaftigkeit« sprach (wobei ich die ebenfalls von ihm berufene »Scham« außer acht lasse).
Die erste Strecke von Silvios Weg also führte von einem Dorf der rumelischen Steppe zum Schwarzen Meer, eine unglückselige Strecke, das sollten wir ihm nur glauben, mit Pech an jedem Pfosten, Hunger und Angst und voller Fallgruben, dort, wo Menschen wohnten, wahrlich, eine schier übermenschlich schwere Strecke Weges für einen Dreizehnjährigen. Er brachte sie hinter sich, es gelang. Am Schwarzen Meer geriet er in eine Stadt. Es war ein geringer Ort, dem Jungen schien er riesig.
Erhobenen Hauptes und nachlässig vor sich hinpfeifend, um niemand merken zu lassen, daß er hier fremd war, stapfte er durch die gepflasterten Straßen und erkannte dabei aus den Augenwinkeln jene »Welt«, den »Westen«, die »Menschheit«, von der die Tante erzählt hatte, eine blinde, gelähmte Frau, die in ihrer Jugend eine Zeitlang »der Sonne nachgegangen« war. Auf einmal wurde es zuviel, er hatte ein großes bewegtes Wasser gesichtet, laut rief er: »Das Meer!«, ließ alles fahren und begann zu laufen. Er zweifelte nicht, daß er die Stadt und das Meer der Tante entdeckt hatte, die Menschheit, die Welt, den Westen. Er lief gleich bis zum Leuchtturm am Ende der Mole und beobachtete, wie da ein verkümmertes Männchen saß und aufpaßte, daß die Schiffe richtig hereinkamen. Der Junge lachte, grüßte mit tiefen Verbeugungen und wollte seinen Spaß mit ihm haben, denn er sah, daß der andre betrunken war. Das Männchen warf ihm einen giftigen Blick zu und zeigte ihm den Rücken.
Dort, in der Stadt am Schwarzen Meer, half er beim Löschen eines englischen Baumwollschiffes, bekam Essen sowie ein gediegenes Nachtlager und lernte obendrein seine ersten Brocken Englisch. Nette Leute, die Matrosen, reizende Kerle. Eines Abends, als ihr rothaariger Anführer den Kleinen auf die Knie nahm, vertraute Silvio ihnen an: Gemäß einer mündlichen Überlieferung seiner Familie lebte noch weiter im Westen eine Großmutter, die sei Millionärin, und er, ihr Enkel, hege den Wunsch, sich bis zu ihr durchzuschlagen und ihr Grüße von der Heimat und einer zahlreichen Familie zu überbringen. Dies alles erzählte er mit Unbefangenheit, nur etwas behindert durch mangelhafte Kenntnis der Sprache.
Großartige Kerle, die Matrosen, sie lachten, und einer rief: »Komm doch mit, wir helfen dir die Großmutter suchen.« Ein Zweiter fiel ein: »Einfache Sache in London! Man fragt den nächsten Policeman, und der nimmt dich an die Hand und führt dich zur Großmutter.«
»Elsaß heißt das Land, wo sie wohnt«, sagte Silvio.
»Kann nur ein Sprung von London entfernt sein.«
Als es aber ans Klarmachen ging, hatten sie von nichts mehr wissen wollen, weder vom Policeman, der ihn zur Großmutter führen sollte, noch überhaupt von einer Aufforderung, mit ihnen zu reisen. Da versteckte er sich im Laderaum. Es ging los. Es war toll, wie es losging. Die Erde selbst kam ins Rollen, mit Klappern und Getöse, scharenweise fegten die Ratten über ihn hinweg, die Erde rollte, sie flog, hin zur Großmutter im sternenfernen Elsaß, und taumelnd eilte er an Deck, um die Bahn zu sehen, die der wild gewordene Erdball beschrieb. Das brachte ihm Unglück.
»Wissen die Jungens in der rumelischen Steppe«, fragte Adam, »daß die Erde rund ist und sich bewegt? ... Sie wußten es. »Hattet ihr Schulmeister?« Sie hatten bessere als wir. Adam feixte.
Und »Aha, da steckst du?« riefen die Matrosen, erzählte Silvio unbeirrt weiter, und der Junge bemerkte zu seinem Schreck, daß das Schiff noch im Hafen herumschob, denn nun, fürchtete er, würden sie wieder anlegen und ihn absetzen. »Jawohl, da steckt er, der Millionärsenkel. Gerade haben wir dich gesucht.« Und derselbe, der ihn auf die Knie genommen und ihm das Haar gestreichelt hatte, ergriff ihn an den Hüften, hob ihn lachend hoch und warf ihn über Bord. Eine dumme Sache, so über Bord zu gehen, wenn man nicht schwimmen kann. Wohl strengte sich der kleine Silvio an, es auf der Stelle zu lernen, aber ganz glückte es doch nicht, man mußte ihm helfen, und die Schwimmstunde endete, wie sie vernünftigerweise hätte beginnen sollen, an einem Bootshaken.
Sein Retter aber war der Trunkenbold, der Leuchtturmwächter. Das verkümmerte Männchen zog ihn mit einer Stange an Land, und nachdem er Silvio ein paar Ohrfeigen gehauen hatte, stellte er sich vor ihn und fragte, ob es nun stimme oder nicht, ob er, der Mann des Meeres, dem Landwurm da nun auch richtig das Leben gerettet habe oder nicht, und nach erfolgter Bejahung erklärte er, also stimme es, und es sei gut. Silvio könne als Sklave bei ihm bleiben, bis der Allmächtige einen von ihnen abberufe.
Drei Monate behielt ihn der Wächter. Der Turm war nicht mehr als ein enger Keller, darin wohnten die beiden, und oft schlief Silvio zur Strafe zusammengekrümmt in dem höher gelegenen, noch engeren Raum, wo die gewaltige Laterne brannte. Es war die Hölle.
Was bedeutete indes Keller und Laterne neben der Angst, die er ausstand! Und draußen herrschte der Schrecken noch viel ärger als im Turm. Zwang ihn doch sein Quälgeist, sich in Kneipen und schmutzigen Gasthäusern herumzutreiben und Dinge zu tun, die ihm alle ehrbaren Menschen zu Feinden machten. Er wachte und schlief zwischen Galgen, und die Sprache des schweren Zwerges erinnerte an das Krächzen der Raben. Jeder Unbekannte, der auf der Mole auftauchte, war der Henker, aus den Sturmwolken am Himmel streckte Gott den glühenden Arm gegen den Knaben.
Es kam, wie es kommen mußte. Eines Nachts, als der Zwerg wunderbarerweise nüchtern war, so daß er eine ganze Stunde aufrecht gehen konnte, führte er Silvio hinaus vor die Stadt und versetzte ihm einen Fußtritt. »Lauf«, krächzte er, »lauf, so schnell du kannst. Die Polizei!«
Silvio lief ...
Nächster Halt: eine Landschenke an der serbischen Grenze. Hier gab es einen in allen Farben blühenden Hühnerhof, herrliche Schweine, in den Obstbäumen sangen Vögel, und Silvio lachte. Wenn er in aller Frühe Brot gebacken hatte, durfte er den Vögeln zuhören, er durfte die Schweine füttern, bei den Hühnern verweilen und den sauberen Eroberer Hahn bewundern. Ein Bach floß am Haus vorbei. Silvio badete morgens und abends, bald war er so weit, daß er Wettschwimmen mit den Enten veranstaltete. Seine Brust wurde breit und wölbte sich. Er schlug sich auf die Brust und lachte ... »Na, na«, meinte Adam, »wenn ich mir so deine Brust betrachte –«
Er wurde gleich still, weil Silvio erklärte:
»Das Schönste jedoch war die Kuh.«
Eine Heilige! Ein einziges, mächtiges, weiches Stück Sanftmut und ein Berg von Treue, der Junge wurde nicht müde, sie zu streicheln, minutenlang schaute er ihr in die Augen. Wenn er sich richtig stellte, sah er sogar sich selbst in den Augen: ganz klein zwischen Stücken Wiese, Strauch und Himmel. Dann dachte er, so müßten die farbigen Kirchenfenster mit den Heiligen darauf sein, von denen die Tante erzählt hatte bei den Menschen, in der Welt, noch weiter im Westen. Er liebte die Kuh, und die Kuh liebte ihn. Wenn die Frau sie melkte, stand er dabei und atmete tief den Duft der warmen Milch. Die Milch erschien ihm als das allerkostbarste Gut, Sternenschein, den man an die Lippen nehmen und trinken konnte, Honig, der aus einem warmen Bauche floß, sie perlte und schäumte, und wenn sie im Topf auf der Mitte des Tisches stand, schob man sich bangen Herzens dazu, möglichst nahe, wie zu einer Frau mit freundlichen, dicken Brüsten. Hier hätte er bleiben sollen. Silvio entsann sich nicht, was ihn vertrieb.
Wiederum Wald und Steppe, Hochebene, Seen, Berg und Tal, große und kleine Flüsse, eine einzige Öde, darin Menschen und Tiere, verloren und von der Vorsehung selbst vergessen, und endlich: die Städte. Balkanstädte, Städte der Städte! Wuselnde, zirpende, schleimende, krähende, stinkende, strahlende Häuserhaufen am Rande der Urerde! Hütten, Trümmer von Hütten zwischen vergoldeten Palästen. Die Autos weichen Eseln, Gänsen, Schafen und Schweinen aus, die Leute aber müssen vor ihnen zur Seite springen.
Frauen groß, üppig, gewaschen, schreiten funkelnd auf einem Meer von Schmutz, über Abgründe von Armut, schreiten aufrecht und sicher wie Petrus auf dem See Genezareth. Doch viele der zerlumpten Mädchen, die ihnen ehrfürchtig aus dem Wege gehen, sind viel schöner als sie – mit ihren schmalen Schultern, den zarten Gelenken, dem Hungermäulchen, das in den Tag schwätzt, wie die Spatzen zwischen den Roßäpfeln picken. Manchmal schießt die Polizei oder das Militär in die Menge. Eine Welt in Hitze, eine Welt in Empörung. Und Silvio macht Ernst mit dem Leben.
Er lernt die Frommen schätzen, denen er bei Umzügen hilft (sie geben ihm wenigstens freundliche Ratschläge, wenn sie ihn betrügen), wird Sakristan, fliegt hinaus, weil er vom Meßwein genascht hat. Er befreit sich von den Fesseln der Kirche, arbeitet als Friseur, Hausierer, politischer Agent einer Partei, die bei den Wahlen gewinnt, und erwacht daraufhin als Botenjunge in einem staatlichen Amt. Fliegt hinaus, führt seine Lästerzunge spazieren, prügelt sich, trauert hungernd vor Pfarrhäusern und Suppenküchen. Endlich erhebt er wieder den Kopf als Zuschlepper für Gemischtbetriebe, die sich Hotels nennen. (»Gemischtbetriebe«: fabelhaftes Wort, wir hatten es nie gehört, verstanden es aber sofort.) Dabei erweitert er seine Sprachkenntnisse.
Ein älterer Freund arbeitet in einer Zeitungsdruckerei.
»Warum widmest du dich nicht auch der schwarzen Kunst?« wird Silvio gefragt. »Es sind allemal die Gewecktesten von uns, die das tun«, und als Silvio ihm dankbar um den Hals fällt, verspricht er ihm ein Plätzchen am Letternkasten für die Anzeigen. Der Freund selbst thront vor der Setzmaschine! Silvio wohnt bei ihm, ißt mit ihm, schläft mit ihm im selben Bett. Ein wahrer Freund ist eine Ahnung Gottes.
Silvio zieht köstliche Gerüche durch die Nase, Tinte, nasses Papier, frischgegossenes Blei. Die schwarze Kunst: o ja, etwas von Zauberei muß wohl dabei sein, aber eine Kunst ist es auch, beim Handsatz aus dem, Haufen wirrer Buchstaben eine kleine Anzeige hübsch viereckig zusammenzufügen, daß Tausende von Leuten sie so deutlich lesen können, als stünde sie in ihrem Kopf.
Morgens erwartet er mit Herzklopfen die neunte Stunde. Dann beginnt ein Sausen und Beben in den Mauern des Hauses gleich dem Atem der Schöpfungstage. Das Sausen schwillt an. Fünf, sechs Augenblicke lang verweilt es in der gleichen höchsten Tonstärke, worauf das tiefe Donnern der Druckmaschine sich loslöst. Nun wohnt der Donner selbst im Haus, genau vierzig Minuten lang. Ein Donner, so kraftvoll und ruhig wie die Sonne, wenn sie über der Steppe aufgeht. Zahllose Menschen, über das ganze Land verstreut, erwarten die Botschaft. Und Silvios Herz geht stolz und ruhig, es ist das Herz eines Generals, der sein Heer in gewaltiger Ordnung aufmarschieren sieht ... Leider gerät etwas schief. Er soll im Redaktionszimmer ein Buch gestohlen haben oder etwas Ähnliches. Der Freund schreit: »Ein klassenbewußter Arbeiter stiehlt nicht, du Hund!« und schlägt ihn zuschanden, ohne daß Silvio sich wehrt. Er kreischt nur und weint wie ein Kater. Hinaus! Kam wieder eine Zeit großen Hungers, zwischen Hoffnung und Angst. Hatte er geglaubt, den Hunger zu kennen von Kindheit an und ihn nicht gar so sehr gefürchtet, jetzt wird er eines Bessern belehrt! Jetzt erst ist es Hunger, der toll macht und seinen Mann zu Boden schlägt, als träte ein Kind vor einen Stier und schmisse ihn um mit einem Schlag der flachen Hand auf die Nüstern ...
(Hier fragte Kern: »Und die Frauen, Silvio, die Frauen?«
»Offen gestanden, nur herrschaftliche Dienstmädchen, mein Lieber, mit weißen Schürzen – verstanden?« Aha! Liebesgöttinnen, noch mit Meerschaum auf dem Leib, sagte ich. Er nickte mir zu: »Oh, ich hätte regelrechte Einbrüche begangen, um ihrer nachts habhaft zu werden, ich bekam sie aber immer nur zwischen Tür und Angel zu fassen.«
»Auch in der Hungerszeit?«
»Gerade. Hunger macht scharf.«
»So?« meinte Kern, der nie gehungert hatte, mißtrauisch.)
Kam der Tag, wo Silvio aus einer Wolke von Fieberträumen an ein ungeheures, fremdes Gesicht herantrat und um Essen bat. Nach einem erschrockenen Blick warf man ihm etwas hin und ging rasch weiter. Es war eine Frau. Auf allen vieren suchte er nach dem Geldstück ... »Es war eine Frau«, betonte Silvio. »Ihr müßt euch immer an die Frauen halten!«
Kam der Tag, da er auf Stelzen wandelte, ohne Schwere, ein kühner Gesang loderte ihm in der Brust, die Wolken streiften sein Haar. Bis er stolperte und plötzlich in Nacht versank. Nun erst wird's recht. Silvio kommt auf das richtige Geleis. Ein Uhrmacher nimmt ihn auf.
Der Uhrmacher ist ein Mann, der aufrecht durch seinen Laden schreitet oder, die Lupe vors Auge geklemmt, auf einem Holzschemel sitzt und Wunder verrichtet. Er wird Meister genannt und braucht niemand zu gehorchen. Die Herrschaften, die in seinen Laden kommen, behandeln ihn wie ihresgleichen, sie reichen ihm die Hand. In der Druckerei hatte man nie reiche Leute gesehn ... Wenn der Meister einer vornehmen Frau die Uhr in Seidenpapier einwickelt, darf er ein Scherzchen von den Fingern schnippen. Sie reicht ihm die Hand ... »Darauf kommt es an«, belehrte uns Silvio: »Ihr müßt so gestellt sein, daß die reichsten Leute euch die Hand reichen.« Und was die Kunst anlangt, die der Meister ausübt, so übertrifft sie bei weitem das Tippen auf der Setzmaschine. Die Entdeckung, daß fünfzig verschiedene Dinge, die man zusammensetzt, auf einmal klingend miteinander mahlen, Zeit und Geld, alle fünfzig miteinander, auf lustige und nützliche Weise, diese Erfahrung oder Entdeckung öffnet Silvio einen Fernblick ... Silvio ist auf den Wert der Intelligenz gestoßen: es gibt Arbeit, die mehr abwirft, als nur das Geld für das Essen, Trinken und Übernachten, Arbeit, die bereichert, nach innen und von außen ... Eine solche Arbeit bringt außerdem Ehre.
Endlich kommt das Haupt bei ihm hoch und fest zu sitzen, wie menschliche Köpfe sitzen sollen. Man ist wer, und wenig hindert einen, mehr zu werden. Ringsum steigen Leitern in den Himmel. Schön hat Gott die Welt geschaffen, schön und vernünftig.
Und nun, da die Schöpfung ihn derart anlachte, fand sich auch bald ...
»Eine Frau«, riefen wir alle drei. Und: »Endlich!« stieß Adam nach.
Jawohl, eine richtige Frau, was denn sonst! Maria hieß sie und war die Tochter eines Gastwirts, der geringe Gastwirt saß im Kirchenrat der römisch-katholischen Gemeinde, und außer Maria hatte er noch zehn andere Töchter ans Licht gezogen. Ein braver Mann.
Während Silvio sich auf die Gesellenprüfung als Uhrmacher vorbereitete, erlernte Maria das Milch- und Käsegeschäft. Das Milchgeschäft war ein heiliges und, wie der Schwiegervater bestätigen konnte, einträgliches Gewerbe, ein Gewerbe, das vieles vor Gott gutmachte, was die Menschen sonst in Geschäften sündigten.
»Halt, Silvio!« befahl Kern, »Wie alt bist du? Achtzehn, also warst du damals – sagen wir sechzehn ... gut, sechzehneinhalb. Wenn du jetzt erzählst, du hättest mit deinen sechzehneinhalb Jahren das Mädel geheiratet, so schlage ich dir den Schädel ein.«
Silvio lächelte liebenswürdig auf ihn herab.
»Wie du wünscht. Ich schwöre dir, sie liebte mich genug, um mir auch ohne Segen zu folgen. Jedenfalls folgte sie mir, verheiratet oder nicht – du siehst, François, ich will dich nicht ärgern. Ich darf aber doch bemerken, daß sechzehnjährige Ehemänner im Balkan keine Seltenheit sind?« – »Väter«, verbesserte Kern mit zynischem Nachdruck. – »Nein, Ehemänner.«
»Von den Tropen weiß ich's bestimmt«, knurrte Adam, den das Auftauchen eines Milch- und Käsegeschäftes in der Erzählung gnädig gestimmt hatte. Jedenfalls begab Silvio sich eines Maimorgens von neuem über Land. Und diesmal murmelte eine junge, zärtliche Frau, verheiratet oder nicht, neben ihm das »Gebet vor einer Reise«, und in Eilmärschen ging es diesmal streng geradeaus. Jedes von ihnen trug ein Bündel, es war nicht mehr wie früher, da Silvio auf seine Reisen nichts mitnahm als nur die Hände in den Hosentaschen. Das Ziel war Konstantinopel. Eine schöne Reise. Eine Reise voll Würde und Tapferkeit. Er arbeitete sich von Stadt zu Stadt, und in Konstantinopel angelangt, setzte er seine grundlegende Erfahrung in die Tat um.
Er suchte und fand Geschäfte, die ließen sich, im groben, zusammensetzen wie eine Uhr, und wenn sie nur recht abgepaßt waren, so mahlten sie hell klingend, alle miteinander, Zeit und Geld. Zwei, drei Geschäfte fand er so und fügte sie zusammen und setzte noch allerhand kleine Hilfsrädchen ein. Er frisierte, erst türkische Herren, dann aber ausschließlich christliche Damen. Abends handelte er Teppiche, die er auf der Schulter und über dem Arm trug, und, aus dem Ärmel, Kokain. »Kokain, was ist das?« fragten wir und – bekamen es erklärt. Gegen Mitternacht zog er einen Frack an und begab sich in den Spielklub, wo er auf Falschspieler aufpassen mußte, und dies war das beste Stück des Uhrwerks.
(»Frack!« feixte Adam. »Frack hat sie gesagt, die elegante Erscheinung!«
Silvio schnauzte ihn an:
»Dummkopf! Der Frack regiert die Welt. Ohne Frack kommst du zu gar nichts in der Welt.«)
Viele Damen der Klubmitglieder ließen sich bei ihm frisieren, von seiner Frau bezogen sie die Milch für die Kinder, auch sonst war Frau Wolf den Damen gelegentlich von Nutzen. Und wenn eine von ihnen um ein würdiges Geschenk verlegen war, so fand sie bei Silvio einen Teppich um die Hälfte des Preises oder das letzte Pariser Parfüm sowie erprobte Schönheitsmittel. Das Kokain gab er nur auf schriftliche, mit vollem Namen unterzeichnete Empfehlung.
Wir wurden ungeduldig. Schon wieder das Kokain! »Nun ja, Kokain«, belehrte er uns, »das ist etwas anderes als Karl Mays Henrystutzen und Storms Gedichte. Damit verdient ihr wie ein Bankier.«
Es war die Gattin des französischen Botschafters, die ihm riet: »Silvio! Gehn Sie nach Europa! Sie sind die Geschicklichkeit in Person und ein Sprachgenie dazu. In Europa machen Sie Ihr Glück.«
Silvio hatte nur auf ein solches Wort gewartet. »Abgemacht!« sprach er leise, fast grimmig vor Entschlossenheit, und kurze Zeit darauf schiffte er sich nach Marseille ein. Die Dame hatte ihm Empfehlungen versprochen.
Umsonst läutete die Glocke des Dampfers, die Sirene heulte vergebliche Mahnung, Silvio und Maria verrenkten sich die Hälse, kein Bote, aus vollen Halse schreiend: »Monsieur Wolf! Monsieur Wolf!« stürzte mit Empfehlungen herbei nichts, und die Liebenden verdarben mit ihrem Spähen und Ohrenspitzen und Bereden des Mißgeschicks die unwiederbringliche Stunde.
Als das Schiff hinausfuhr, brach Maria, die Gute, schluchzend auf einem Haufen leerer Säcke zusammen, und ihr roter Hut rollte und rollte und fiel über die Mauer ins Meer ...
Wir gingen in der Meisengasse, als Silvio Wolf uns seine Abfahrt von Konstantinopel schilderte. Das Fest des neuen Jahres, Ostern, das Fest der berauschenden Luft stand vor der Tür. Noch drei Tage trennten uns von den Ferien. Wir sahn den roten Hut Marias, der Guten, ins Rollen geraten, er fiel über die Kaimauer ins Meer. Auch am Bosporus war es nicht mehr lange bis Ostern.
»Und jetzt büffelst du auf der Unterprima des Bischöflichen Gymnasiums an St. Stephan?« entrüstete sich François Kern. Seine dunklen Augen waren geweitet von den Abenteuern des andern.
»Lebt wohl«, flüsterte Silvio.
Wir verstanden nicht, was er meinte.
»Was soll das heißen?« fuhr Adam ihn an.
Als einzige Antwort schüttelte er den Kopf. Eine Träne stand ihm im Auge. Schweigend setzten wir unsern Weg fort. Der Vorfrühlingstag hielt die Menschenmenge auf der Meisengasse versammelt, diesem Korso und Wandertheater der komödienfrohen Stadt Straßburg. Unter Summen, Kichern und Scharren vollzog sich, fast feierlich, das Wiedersehn nach dem Winter, mit Hurra und Grüßetauschen nahm die Bevölkerung Besitz von sich, der Straße und der Stadt, einer Dreieinigkeit, der sie in Wirklichkeit niemals untreu gewesen. Wir wurden oft getrennt, und jedesmal, wenn wir uns wiederfanden, erwarteten wir eine Erklärung Silvios, was dieses »Lebt wohl« zu bedeuten habe. Keiner wollte ausdrücklich fragen. Als ihn jedoch Hubert Adam kräftig kitzelte, sagte er: »Ich habe nicht nur ein Privatleben, ich habe eine Mission.« Darauf konnte Adam nur verächtlich die Achsel zucken.
Kurz vor dem Broglieplatz kam uns eine junge Dame entgegen, wir erblickten sie alle zugleich. Unwillkürlich mäßigten wir den Schritt. Sie hatte ein fremdländisches Aussehn. Alle vier starrten wir in ihr Gesicht. Sie trug einen roten Hut!
Da, aus der Blauwolkengasse fuhr ein Windstoß, ein Schrei, der unter dem schweren, roten Mund, den wir anstaunten, blitzend weiße Zähne enthüllte, und der Hut flog, über Silvios Schulter hinweg, auf den Fahrdamm.
Mit einem Ruck machte Silvio kehrt. Kern ergriff seinen Arm:
»Ist es Maria?« stieß er hervor.
Silvio riß sich los und tauchte im Gedränge unter.
Inzwischen war Adam dem Hut nachgesprungen, wir sahn, wie er ihn der Dame überreichte und ein paar Worte mit ihr wechselte.
Als er wieder zu uns stieß, riefen Kern und ich: »Maria«, und François teilte ihm mit, Silvio sei vor ihr geflohen.
»Unsinn«, brummte er. »Ich kenne das Mädel. Sie ist Verkäuferin im Warenhaus Knopf.«
»Du gönnst sie ihm nicht«, widersprach Kern, und hastig sah er sich um, der rote Hut war verschwunden. In heller Entrüstung fuhr er fort: »Jetzt, wo es ernst wird, willst du es nicht wahrhaben. So bist du, du gönnst keinem etwas, was nicht von dir kommt.«
»Gebt acht!« sagte ich. »Wir sehn Silvio nicht wieder.« Ich nahm an, er würde die junge Dame irgendwo treffen und mit ihr durchbrennen.
Ich hatte wenigstens zum Teil richtig prophezeit.
Am andern Morgen eröffnete uns der Abbé, Silvio Wolf habe gestern sein Zeugnis abgeholt: Familienverhältnisse veranlaßten ihn, die Anstalt zu verlassen und sogar das Studium aufzugeben. »Schade«, setzte der Abbé hinzu, »ein ungewöhnlich begabter Mensch!« Er ließ den Blick über die Klasse schweifen, als wollte er feststellen, wieweit sein Bedauern geteilt werde.
Also mußte Silvio gleich nach der Begegnung in der Meisengasse zur Schule geeilt sein, um sich abzumelden! François Kern stellte es fest, und Adam konnte es nicht bestreiten, ebensowenig wie den Umstand, daß Silvio niemals die Absicht geäußert hatte, uns zu verlassen. Im Auftrag meiner Freunde unternahm ich einen persönlichen Schritt beim Ordinarius, um den Grund von Silvios Abgang zu erfahren. »Familienverhältnisse«, wiederholte der Abbé, und mehr, als daß der Junge sich nicht bei seiner Großmutter aufhalte, konnte auch Hubert Adam nicht herausbringen.
Die Bestürzung bei uns dreien, die das Abenteuer ratlos zurückließ, war groß. Adam gab zu, er könne sich geirrt haben, die Ähnlichkeit der Dame mit einer gewissen Verkäuferin des Warenhauses Knopf sei viel geringer, als es im ersten Augenblick geschienen habe. Wir durchstreiften die Stadt auf der Suche nach dem roten Hut. Er blieb unauffindbar.
Wir vergaßen Silvio Wolf.
Ich war von meiner eigenen Maria erfüllt, Maria Capponi, der »goldhäutigen Königin des Südens«, Adam glaubte nicht mehr an einen persönlichen Gott, und in Kern »flammte«, seitdem es richtig Frühling war, »das leibhaftige Leben«. Er schrieb abwechselnd Liebesgedichte und Satiren auf die deutsche Regierung. Die Liebesgedichte wie die Satiren wurden von ihm hektographiert und samstags in der Klasse verteilt ...
Erst durch Ihren Brief, verehrte Freundin, habe ich erfahren, daß Silvio Wolf während des Krieges in einem Londoner Park »ausgehoben« wurde (nach dem, was Sie mir schreiben, müßte es eher heißen: »emporgehoben«), und zwar von Gurdon. Ich bin Sir Ronald in Paris begegnet, erinnere mich auch, daß er in der Unterhaltung seinen Privatsekretär erwähnte, den er leider zu Hause habe lassen müssen, ahnte aber nicht, daß es sich um unsern alten Wolf handle, im Balkan Lupescu genannt. Grüßen Sie ihn, wenn es Ihnen Spaß macht,
von ihrem ergebenen
Claus Breuschheim