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Wiedersehn

Am Tag nach ihrer Ankunft kam von Unterhügeln ein Auto und holte Aggie ab.

Es war der weiße Wagen. In ihm hatte sie oft gesessen, bevor er eine Beute Silvios geworden war, er führte einen Hauch vom Mittelmeer mit, sie begrüßte ihn wie einen alten Freund, mit dem man viel erlebt hat, erst Leichtes, dann Schweres, zum Glück war das Leben stärker gewesen. Der Chauffeur trug eine weiße Livree mit Goldlitzen und Messingknöpfen, wie damals der Chauffeur Gurdons, es war die Livree des Mittags von Tourette. So kam es, daß sie während der Fahrt nach Unterhügeln nichts von der Landschaft wahrnahm. Sie dachte an den Mittag in Tourette, an den Streit von Tourette, an die Schneeschmelze das Felsgebirge hinunter zum Meer, sie dachte, daß bei jedem der damals dort Versammelten ein Stück seines Lebens an der heißen Sonne vergangen war wie Schnee, der zu Wasser wird, wie Wasser, das die Erde trinkt, um es wieder ins Meer zu ergießen – ja, das Leben, das große, weite Leben erwies sich immer als stärker, sie hatte ihren Mond geschluckt und durfte wieder grünen ... Schon war die Fahrt zu Ende.

Sie wurde vom Ehepaar Wolf auf der Freitreppe des Schlosses empfangen, eine Zuvorkommenheit, die sie plötzlich beängstigte. Aber Ada sagte ihr bei der Umarmung ins Ohr: »Gut, daß du da bist!«, und als auch Silvio mit ausgestreckten Händen auf sie zukam, gab sie sich einen Ruck und rief lachend: »Jeder Zoll ein Schloßherr von Unterhügeln und Gatte einer Hartmann – von der Gräfin Breisach gar nicht zu reden!«

Warum auch davon reden, da die Gräfin ausgelöscht sei, meinte Ada. Aggie zeigte auf Silvio: »Auf dem Löschblatt sieht man es noch!« Sie freute sich, wie gutgelaunt und unbefangen sie sich alle drei gaben, genau so hatte sie sich's gedacht. Einen Augenblick sah sie sich in ihrem Hotelzimmer, Bieterle hielt schwer gepanzert Wache an ihrem Bett, er fuchtelte mit einem unwahrscheinlich langen Ritterschwert, wie man es in Museen findet, und ihr brach der Schweiß aus vor Angst. Das war also vorbei!

»Ich hatte Fieber«, sagte sie laut, und während die andern sie verwundert ansahen, fuhr sie fort: »Aber das macht nichts! Silvio, Sie führen mich jetzt durch Schloß und Park, und nachher komme ich zu dir, Ada, und dann, Ada, dann schwatzen wir wie früher, stundenlang, und Silvio wird die Güte haben zu warten, bis wir das Angelus läuten zum Zeichen, daß es Abend geworden ist und er heimkehren darf aus den Weinbergen des Herrn.« Immer weitersprechend nahm sie seinen Arm, nickte Ada zeremoniell zu und stolzierte mit ihrem Begleiter durch die Tür. Sie sprach und sprach, hastig, überlaut, als wäre sie, seitdem sie Ada verlassen, mit einmal wieder auf der Flucht über Stock und Stein vor jemand, der sie insgeheim am Leben bedrohte, sie hörte den Schwall ihrer Rede, von dem sie wohl annahm, daß er sie den Blicken des Verfolgers entziehe, und wußte weder, was sie sagte, noch verstand sie die Antworten des Mannes, der sie, treppauf, treppab, durch Gemächer und Gänge führte. Dann brach sie ab. Sie befand sich in Sicherheit. Sie machte halt, um Atem zu schöpfen. »Gut sehn Sie aus, Silvio«, sagte sie, »famos! Gestalt und Farben eines Zwanzigjährigen ...« Er dankte mit einer Verbeugung. Schweigend setzte sie den Rundgang fort und überließ sich seinen Erzählungen, wie eine Rekonvaleszentin sich der Sonne hingibt und dem leichten Wind. Sie raunte sich zu: wird noch eine Weile dauern, bis ich ganz fest bin, eine kleine Weile ...

Er hatte das Schloß, so hörte sie, neu möbliert, und zwar, im Gegensatz zu der modernen Kärglichkeit und Leere von Gurdons Haus in London, mit lauter altem Gerät. (»Was vom alten Gurdon gehört, Aggie? Nein. Ich zum Glück auch nicht.«) Im Park dagegen hatte er Bäume gefällt und einen Garten nach englischem Muster angelegt ... Dies aber, der schönste Saal im Schloß, dies war sein Arbeitszimmer! Er ließ sie in der Mitte stehn und begann durch den großartigen Raum zu wandern. Zwei Wände waren bis an die Decke mit Büchern gefüllt, auf allen Sesseln und Stühlen lagen Zeitungen, ein Radioempfänger verband Unterhügeln mit der Welt. Und da stand, da herrschte, überwältigend, ein Schreibtisch! Er versicherte, er könne minutenlang um den riesigen Diplomatentisch herumgehn, wie angerufen und zu ungewissen Taten ermuntert von Geisterstimmen, und das tat er jetzt auch, während sie noch immer in der Mitte des Saales hielt, nur so herumgehn und sich an seinem Anblick weiden, als wäre der Schreibtisch eine Kriegsmaschine neuester Erfindung, der nichts widerstehn könnte, sobald sie sich einmal in Bewegung setzte.

»Ja, ein herrlicher Schreibtisch!« bestätigte sie und blickte gleichgültig weg.

Eine kleine Weile ..., wiederholte sie für sich und setzte unbemerkt das Wörtchen »nur« hinzu: »Es dauert nur noch eine kleine Weile«, um schließlich als sie sich und Silvio in einem Spiegel erblickte, gelassen festzustellen: dieser Fant könne unmöglich mehr Gewicht für sie erlangen, als sie ihm aus eigenem gäbe, und jetzt zum Beispiel gliche er nichts so sehr als der Modepuppe eines eleganten Herrn in einem Schaufenster ... Gleichzeitig sagte er: »Und nun werde ich Ihnen etwas zeigen«, und er führte sie, beinah feierlich, vor einen Stahlstich: Bonaparte auf der Brücke von Arcole. Jenseits der Brücke sah man alle österreichischen Kanonen und Flinten auf den jungen Kriegshelden gerichtet, diesseits ein Häuflein Franzosen mit aufgepflanztem Bajonett hinter ihrem General herstürzen. Selbst die Verwundeten schienen sich aufraffen zu wollen, um ihm zu folgen, und alle Toten zeigten ein zufriedenes Gesicht. Sie mußte lachen. »Ihr schönster Traum, Silvio – wie? ... Aber wissen Sie auch, daß die Sache da mit Bonaparte schiefging? Er kam nicht über die Brücke, sondern mußte zurück und fiel in den Sumpf, und es kostete viel Mühe, ihn herauszuholen.«

»So?« sagte er. »Auf dem Bild steht, die Brücke sei gestürmt worden.«

»Ja, aber nicht von ihm.«

»Von wem denn?«

»Von seinen Truppen.«

Das komme auf dasselbe heraus, meinte er, und sie solle doch nicht die Weltgeschichte schikanieren. Auch er gedenke nicht, das Leben dabei zu lassen. Sie gingen weiter. »Übrigens, fällt mir ein – was ist denn diese Gabriele für ein Wesen? Gestern abend, als sie mit ihrer Mutter hier ankam, sah sie mich kurz an – ich schwöre, wie ein Hund, der lieber seiner Nase vertraut und nur schnell mal die Augen hebt, wenn man ihn beim Namen nennt, und als ich sie küssen wollte, kniff sie den Mund so abweisend zusammen, daß ich davon Abstand nahm. Und nachher bei Tisch war es erst recht ungemütlich, ich war schlecht gelaunt, das Gör saß die ganze Zeit da, als sei sie ausschließlich damit beschäftigt aufzupassen, ob ich Ada kränkte oder nicht ...« Eifersucht könne es nicht gut sein, sie kenne ja ihre Mutter kaum. Sollte Jacquot sie bereits gegen ihn aufgehetzt haben? Der Dreikäsehoch behandle ihn nämlich wie ein spanischer Grande. Überhaupt solle Aggie gleich wissen: Breuschheim stehe geschlossen gegen ihn ... »Claus hat mir Schloß Unterhügeln verkauft, meinen Sie? Ein Zeichen des Wohlwollens? Ein Zeichen, daß die Herrschaften Geld brauchen, meine Liebe! Nächstens können sie den Pleitegeier in ihr Wappen aufnehmen. So viel habe ich schon heraus.«

»Ach Silvio! Wenn Sie sich auf die Psychologie werfen, erinnern Sie mich immer an einen D-Zug, der unter Pfeifen und Brausen in einen Tunnel einfährt.«

»Ernsthaft, Aggie. Was soll ich von der Kleinen halten?«

Ob sie denn ihm gefiele, fragte sie. Nein, sie mißfiel ihm sogar sehr. Na also, da beruhe es auf Gegenseitigkeit. Ja, gab er zu, sie sei ihm einfach zu selbständig. Das wollte Aggie nicht abstreiten. »Selbständig war sie, weiß Gott.« Ob sie ihr gefiele, forschte er weiter. Aggie sagte aus tiefster Überzeugung:

»Ich bewundere sie.«

Er schmetterte sein Männerlachen hinaus, und sie erschrak vor der rohen Kraft, die verschwiegen auf dem Grund seines Wesens lag, einer Kraft, die sie verabscheute und bei deren Klang sie sich entwurzelt und gleichzeitig geborgen fühlte. Es war wie ein Rest von der Jugend des Urmenschen, die da zum Vorschein kam.

Im Park setzten sie sich auf die Mauer des Steingartens, mitten in die Iberis. Der alte Baron Bock hatte ihn angelegt, aber seit Jahren war er verwildert, und Ada hatte entschieden, daß er so bleiben sollte, eine Wildnis von kleinen kostbaren Pflanzen. Zwischen den Iberis, deren große Sterne blendend weiß waren, ragten gelbe, lila und hellblaue Zwergiris hervor, Eidechsen raschelten, aber Aggie konnte von ihnen nur noch einen grünen Schimmer auffangen, der gleich darauf zwischen den Polstern der Mauerblumen erlosch. Diese Polster (Steinbrech, Aubrietien, Sedum, Sonnenröschen) reichten über die Mauer bis auf den Boden und waren übersät mit Blüten, lauter winzig kleinen vielfarbigen Kronen, die sich steif auf ihrem Stiel hielten, und es gab welche, die reckten sich hoch, als strebten sie, der Erde verhaftet, inbrünstig zur Sonne. In den Beeten drängten sich Narzissen und Darwintulpen zwischen fliegenden Herzen, doch die Herzen flogen nicht, sie hingen in dichten Trauben, und im geschweiften Einschnitt eines jeden von ihnen zeigte sich ein Stückchen weißes Busentuch ... Trollblumen strotzten von Goldtönen und da waren auch die grünen Eidechsen wieder ans Licht gekommen und lagen reglos unter rosa Kelchen und weißen Kronen.

Aggie schaute, atemlos von Entzücken. Sie bog sich hierhin und dorthin, nahm die kleinen Pflanzen zwischen die Finger, streichelte flüchtig über sie hin und behauptete, sie höre ein Feuer knistern, und lachte die Fliegenden Herzen an, die nicht flogen, sondern, kokett gelüftet, in Scharen ausruhten, als ginge hier die Heerstraße der Liebe vorbei ... Sie fing an, Silvio eine Geschichte von den Kleinsiegelbewahrern der Sonne, den Trollblumen, zu erzählen, und eine Weile hörte er auch zu, wußte sogar selbst einiges von den Würdenträgern zu berichten, was Aggie unbekannt war, und diese seine Teilnahme erfüllte sie mit einer Dankbarkeit, die sich in einem Schwärm von gerührt vorbeiwischenden, lustigen, geheimnisvoll verhaltenen, spritzenden Worten Luft machte. Mit einmal waren die Trollblumen ihre Trollblumen geworden und das Verständnis, das Silvio ihnen bezeigte, eine Art Liebeserklärung – jawohl, mehr oder weniger eine Liebeserklärung an eine Dame, die, unwahrscheinlich jung, unvorstellbar vergnügt, mit gespreizten Fingern in die Sonne fuhr und sich ziemlich töricht benahm. Jedoch als sie gerade so recht im Zug war und sich, ganz und gar übermütig geworden, ohne Umschweife den Fliegenden Herzen zuwenden wollte, ließ er sie sitzen und redete mit steigender Energie, als ginge er gegen die Sonne selbst an, von Politik, Vertrauensmännern, Wahlkomitees und ähnlichen Dingen. Sie merkte es nicht gleich, erst bei seinem Ausruf: »Gott, Aggie, werden Sie denn nie aufhören, kindisch zu sein!«, wurde ihr klar, welch ein Unglück geschehen war. Und alles in ihr und um sie herum, was in das große Licht geflogen war, kroch gedemütigt an die Erde zurück.

 

»Habe ich Sie nun so weit?« fragte er.

Sie nickte, ein gehorsames Schulmädchen. »Bitte, noch einmal, Silvio! Da waren also die Vertrauensmänner ... In jedem Dorf Ihres Wahlkreises, sagten Sie, haben Sie deren zwei oder drei, und die sind fest besoldet. Bitte, von wem und wofür?«

Endlich einmal war das vernünftig gefragt! Natürlich von ihm besoldet und dafür, daß sie fest für ihn arbeiteten, Schmarotzer wurden nicht geduldet. Sie hatten Stimmung zu machen für seine Kandidatur, und je nach ihren Leistungen erhöhte sich oder sank ihr Gehalt. Das letzte freilich hätte bedenklich sein können, wenn nicht mit der Senkung des Gehalts automatisch eine Erhöhung der Prämie verbunden gewesen wäre, die für den Fall seiner Wahl einem jeden winkte, der seinen Schweiß für ihn vergoß. Inzwischen holte er sich die Bürgermeister, einen immer hübsch nach dem andern. Jedesmal, wenn er ein halbes Dutzend dieser Prachtkerle von Bauern auf der Seite hatte, lud er sie hier ins Schloß ein und erwies ihnen gewissermaßen die militärischen Ehren. Küche und Keller waren dauernd mobil. Sie sollten sich fühlen, die Herren! Je mehr sie von ihrer Bedeutung durchdrungen waren, um so höher stieg auch er in ihren Augen. »Wir haben knapp noch ein Jahr bis zu den Kammerwahlen«, schloß er. »In der Zeit will es geschafft sein.«

Er sah so komisch aus bei den letzten Worten, streng, fast drohend, daß sie gleich wieder munter wurde. Sie lächelte ihn an. Er lächelte etwas unsicher zurück. Dadurch ermutigt, schielte sie um sich und sammelte alle ihre Verluste wieder ein: die Polster voll kleiner Blumen, die Fliegenden Herzen in der Rabatte, die Iris, den Trollius und schließlich auch die Eidechsen. Mit vorgestrecktem Hals lagen sie da, reglos – nur der Atem lief in Wellenlinien durch ihren Leib, als schlüge ihnen ein zu großes Herz in der grünen Flanke ...

»Ja, und dann, Silvio«, fragte sie unschuldig. »Wenn Sie die Herren glücklich an Ihrer Tafel haben, sagen Sie ihnen dann einfach, daß Sie gewählt werden wollen?« Er machte große Augen. Wie? Was? War er verrückt? Von ihm war überhaupt nicht die Rede! Der heutige Abgeordnete saß dabei und wurde von ihm angetoastet. Was meinte sie denn? War er ein Intrigant, ein Verräter, ein Mann, der mit dem Dolch im Gewande herumging? Nein, die Herrn sollten Gelegenheit haben, Vergleiche zu ziehen zwischen ihm und dem andern, solide, anständige, nachhaltige Vergleiche. Und dann sollten sie selbst entscheiden.

»Und der andere, Silvio? Der jetzige Abgeordnete? Merkt der gar nichts?«

Er platzte aus: »Und ob der was merkt! Aber was soll er denn tun?« Sie warf einen Seitenblick auf die Eidechsen und sah, daß sie den Kopf spitzten und fast unmerklich den Schwanz bewegten. Der Elsässer Bonaparte da sprach ihnen zu laut, Aggie mußte versuchen, das Gespräch zu dämpfen.

»Sich wehren«, sagte sie leise. »Sich wehren, solange es noch Zeit ist.«

Er antwortete im gleichen Ton, und Aggie freute sich diebisch:

»Wogegen sollte er sich wehren? Es ist nichts da, wogegen er sich wehren könnte! Ich tu' ihm ja nichts, ich unternehme nichts Sichtbares gegen ihn, ich toaste ihn an, unentwegt.« Aggie drehte vorsichtig den Kopf. Die Eidechsen hatten sich beruhigt, ihr Bauch atmete breit und behäbig. Er wiederholte: »Ich toaste ihm zu, – und bin die Loyalität in Person.« Dies hinderte aber die Herren nicht, Silvio beim Abschied freundlich zuzublinzeln oder ihn auch schon vorher zu zweit und dritt langsam in die Ecke eines entfernteren Zimmers zu schieben und dort eine halbe Stunde und länger um den heißen Brei herumzugehn, daß er geradezu hingerissen war von der Anmut, mit der die schwerfälligen Kerle das taten. Er behauptete, so wie er und seine Bürgermeister, so verständen sich sonst nur noch Verliebte. Wortlos, doch voll Musik.

»Ich begreife, Silvio. Sie kokettieren mit Ihrem Wahlkreis.«

»Jawohl, Aggie, so weit ist es mit uns gekommen.«

»In der kurzen Zeit.«

»In der sehr kurzen Zeit. Sie, Aggie, wundert es nicht!«

»Nein, Silvio, mich wundert es nicht. Ich möchte nur wissen, was mit dem andern geschieht, dem rechtmäßigen Gatten, wenn ich so sagen darf.«

»Genau wie bei einer Ehescheidung. Entweder läßt er sich abfinden, oder es gibt Krach. Ich nehme das erste an. Er ist ein guter Mensch. Demokrat, glaube ich.«

»Glauben Sie?«

»Ich habe meine Bürgermeister gefragt, sie konnten es auch nicht genau sagen. Ach, Aggie, unsre Bürgermeister! Sie müssen sie unbedingt einmal in ihrem Sonntagsstaat an meinem Tisch sehn! Sie werden glauben, da säßen lauter als Bauern verkleidete Kardinäle, Diplomaten, Generäle, Vorstandsmitglieder von amerikanischen Trusten, hauptsächlich aber Kardinäle. Solche Köpfe haben die! Fabelhaft ... Wenn ich mich danach im Spiegel betrachte, gefalle ich mir nicht mehr. Ich finde mich fad. Im Ernst! Ich schwöre es Ihnen.«

»Nicht immer gleich schwören, Silvio! Ich glaube Ihnen manchmal auch so ... Und als was werden Sie kandidieren?«

»Als Heimatrechtler – was denn sonst? Sogar der Präfekt meint, die Canaillen von Heimatrechtlern seien die einzigen, die Aussicht auf Erfolg hätten.«

Er lächelte.

»Und da läßt er mich als Halbcanaille mitlaufen.«

Aggie nahm sich zusammen: »Der Präfekt? Sie haben auch schon mit dem Präfekten gesprochen?«

Er griff nach ihrer Hand, streichelte sie: »Kindchen, der Präfekt – das war mein erster Besuch. Und bei der Hochzeit saß er zur Linken meiner Frau und neben meinem Schwiegervater, dem großen Charles Hartmann. Schade, daß Sie nicht dabei waren, Aggie! Die Blüte des Landes war versammelt ... Ich hatte auch meine Mitschüler vom Bischöflichen Gymnasium eingeladen. Sie können sich denken, was die für Augen machten! In solch einer illustren Gesellschaft waren sie noch nie gewesen, und obschon sie alle längst Notare, Ärzte, Anwälte, Geistliche und Ingenieure sind, saßen sie auf einmal wieder auf der Schulbank und starrten mich an und tauschten heimliche Blicke ... Leider fehlte Claus.«

Er machte eine Pause und schien zu überlegen. »Alle fragten nach ihm«, sprach er zögernd, »ich meine: unsere Mitschüler, und sie hörten nicht auf, von ihm zu sprechen, es war eine Art Schwärmerei ... Wahrscheinlich sehnten sie sich nach einem Anführer gegen mich. Was meinen Sie, Aggie?«

Nun ließ Aggie alles fahren, Mauer und Rabatte, Eidechsen, Park und Schloß Unterhügeln und Silvios Hand, und rief wütend:

»Ich meine, daß bei Ihrer Hochzeit keiner so dick auf der Schulbank gesessen hat wie Sie! Und dann meine ich, daß Sie nach allem, was ich höre, die Katze schon im Sack haben und weder mich noch sonstwen brauchen, um ein großer Revolutionär zu werden. Und ich bin doch hauptsächlich hergekommen, um Ihnen – nun ja, um Ihnen bei der Weltrevolution ein wenig behilflich zu sein, – Sie Scheusal!«

Es kam zu einem kleinen Handgemenge, weil er sie am Arm festhielt und nach ihrer Hand haschte. »Sitzen bleiben, Kind! Ist alles gar nicht so lächerlich, wie Sie glauben. Ein Heimatrechtler, das bedeutet in diesem Augenblick die historisch gegebene Form eines elsässischen Revolutionärs. Bitte, überlegen Sie, wir greifen den Staat in seinem Kernstück an, dem Zentralismus, wir sorgen dafür, daß die eine und unteilbare Republik Fetzen läßt, wir –« Sie riß sich los, sprang auf den Weg: »Wir laufen unter dem Protektorat des Präfekten als Halbcanaille mit! Die Fahne der Heimatrechte in der Hand, stürmen wir die Brücke von Arcole, und sobald wir drüben sind, schicken wir die Fahne ins Elsässer Armeemuseum! Die nächste Fahne, bitte! Wir verachten alles und alle, um gewählt zu werden!«

Ohne sich von seinem Platz zu rühren, sagte er ruhig: »Wenn Sie schreiben wollen, Aggie, brauchen Sie Papier und Feder. Um Politik zu machen, brauche ich ein Mandat. Einen Moment, bitte! Es kommt mir nicht nur auf das Mandat an, sondern auf meine politische und gesellschaftliche Stellung. Und dafür brauche ich Sie, Aggie. Sie müssen für mich schreiben! Erst werden Sie sich einmal in Ihrem Pavillon einrichten und alte Familienbeziehungen auffrischen, habe ich mir gedacht, dann werden Sie einen politischen Salon eröffnen.«

Mit einem spöttischen Lächeln trat sie einen Schritt näher, und –: du lieber Gott! staunte sie. Wie schön er ist! ... Still in sich gesammelt hockt er da auf der Mauer, locker, schmal, aus der Luft geboren, und atmet, sendet Blicke aus, junge fröhliche Brautwerber – und weiß es, die Ganzcanaille, fühlt sich selbst so dasitzen, rundum in die Luft gegossen und lächeln und blicken und strahlen von diesem Bewußtsein ... Sie schnappte nach Luft, ihre Stimme flog, als sie ausrief: »Eröffnen! Eröffnen, sagt er! Eine Wirtschaft, einen Modesalon ... Etwas für die Gesundheits- und Schönheitspflege ... Schwedische Massage ...« Er legte die flachen Hände zusammen und hob sie demütig lächelnd zur Brust: »Ganz recht, Aggie. Von alledem sollte etwas dabei sein.« – »Ach. Und wer wird der Löwe meines Salons?« Mit einem Ruck warf er die Hände in die Luft und rief: »Ich!« Sie nickte ernsthaft: »Gut geraten. Und die Löwin?« Er machte große Augen. »Sie! Wer denn sonst, liebe Aggie?« Sie antwortete:

»Ada.«

Er legte die Stirn in Falten. »Ada hat damit nichts zu tun. Sie kann Ihnen behilflich sein, wenn Sie es wünschen.« Sie sah ihn scharf an, und es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Abgemacht!«

»Hut ab«, befahl er begeistert, »daß ich Ihre Schläfen sehe!« und leise, wie bittend, setzte er hinzu: »Die blassen, kleinen Blinklichter Ihres Leibes ...« Sie riß den Hut vom Kopf: »Honni soit qui mal y pense! Und halten Sie ja die übliche Entfernung von einem Leuchtturm!«

Schmunzelnd betrachtete er sie und kam dabei langsam auf den Weg herüber.

Als er mit seinen weichen Schritten neben ihr ging, den Hut behielt sie in der Hand, verkündete Aggie:

»Morgen fange ich an ... Wenn es nicht ganz ernst wird, amüsant kann es jedenfalls sein.« Er hörte die Fanfare, dies »Wehe dir, wenn du nicht Ernst machst!«, er war daran gewöhnt. Vom ersten Tag, da er sie vom Pazifismus zur Revolution bekehrt hatte, war es ihr Leitmotiv gewesen. Er hörte es gern, zumal wenn es wie jetzt verschleiert erklang, dann nämlich war es die Schamade und kündete seinen Sieg. Die gute Kleine, je heftiger sie um sich schlug, um so gerader führte er sie zu seinem Ziel! Und da ihr dieser Umstand, wie er aus sichern Zeichen schloß, ebensowenig verborgen blieb wie ihm, fragte er sich, ob nicht auch sie am Vorgeschmack ihrer schließlichen Ergebung nasche, während sie beide noch schwer zu kämpfen schienen, wie er selbst sich an ihrem Widerstand erlabe. Er hing ein Lächeln heraus, sie sollte es sehn, und sie sah es. Doch zugleich bemerkte er etwas anderes. Zum erstenmal war sie beim Hissen dieses Zielfähnchens nicht errötet! Er blickte wiederholt hin, so unglaublich erschien es ihm, er beugte sich sogar vor, um des Wunders gewiß zu sein. Während er noch voller Argwohn nach einer Erklärung suchte, sagte sie nebenhin:

»Tut mir leid, Silvio. Ich fürchte Sie nicht mehr. Ich nehme Sie als das, was sie sind, ein etwas verdorbener Knabe. Wahrscheinlich sehr gefährlich, wenn Sie Gelegenheit haben, sich als Mann zu bewähren in Geschäften, Politik, in der Liebe ...

Doch das kommt bei uns nicht in Betracht.« Rasch ergriff er in gewohnter Weise ihren Arm: »Um so besser, Aggie! Jetzt erst beginnt die wahre Freundschaft.«

»Ja, ich weiß. Ich habe wahr und wahrhaftig meinen Mond geschluckt.«

»Wie, bitte? Was haben Sie geschluckt?«

»Später, Silvio! Ich erzählte es Ihnen vielleicht später. Wenn unsre Freundschaft alt und unerschütterlich geworden ist wie ein Römerturm ... Es ist eine ganze Kosmogonie ...«

»Eine Kosmo – Gut, gut. Auf später denn ... Sie stehn vor der Tür meiner Frau. Bitte! Ich habe leider zu tun.« Aggie setzte den Hut auf.

Aggie betrat das Zimmer der Freundin mit den Worten:

»Meine Liebe, ich bin mit mir zufrieden.«

»Das sehe ich«, sagte Ada und zog sie neben sich auf den Diwan. »Heißt das nicht auch, du bist mit uns zufrieden?«

»Doch. Aber anders, als du meinst. Ich bin verliebt in euch beide, eine alte Geschichte. Ihr bereitet mir meine tägliche Portion gutes oder schlechtes Wetter, ich bin geradezu abhängig von euch, sogar in der Fremde, nämlich anderswo als bei euch. Untrügliche Beweise von Verliebtheit, wie?«

»Hör mal, Aggie, warum machst du die Katze? Gleich wirst du dich noch zusammenrollen und schnurren, und dabei spüre ich, wie es dir in den Krallen zuckt.« Aggie hielt ihr die Hände hin. »Sind das Krallen?« Ada klopfte mit dem Finger darauf. »Mein Gott, du manikürst dich ja nicht mehr! Hör mal, Aggie, das spricht stärker gegen die Verliebtheit, als alle Worte dafür wahrmachen könnten.« Sie habe Besseres zu tun, teilte Aggie ihr mit. »Seien wir präzis! Ich bin verliebt in die Mission, die Silvio auf sich genommen hat. Und in dich, so wie du bist.«

»Dann laß mich sein, wie ich bin, und sprich mir nicht gleich am ersten Tag von Politik. Leugne nicht! Du hast schon eine Menge Enterhaken ausgelegt, nicht nur deine kleinen Locken an den Schläfen, obwohl die heute besonders frech und herausfordernd baumeln ... Überall an dir bemerke ich solche Haken und Kriegswerkzeuge, ich finde sie furchterregend trotz ihrer Winzigkeit und halben Verstecktheit. Das schlimmste Vorzeichen aber: du hältst dich so still! Als lägst du schon Bord an Bord mit deinem geliebten Feind ... Heraus mit der schwarzen Fahne, du Pirat! Wenn du schon etwas so Zartes wie eine Jungvermählte nicht schonen kannst, dann bitte, schlage unverzüglich los. Oder vielmehr nein, ich will dir lieber zuvorkommen ... Wir fangen ja jetzt ein neues Leben an ... Zu diesem neuen Leben also gebe ich dir ein für allemal folgende Erklärung ab. Ich habe das Land, das mein Mann seit einiger Zeit seine Heimat nennt, hauptsächlich von Paris aus gesehn ...«

»Nur von Paris!« verbesserte Aggie, schon war sie sichtlich auf Kampf erpicht. Ada bat, das Nötige womöglich in einem Zug heruntersagen zu dürfen. Aggie setzte sich mit einer Bewegung, die nicht ganz artig und ebenso neu an ihr war, wie die Vernachlässigung ihrer Hände ...

Ada hatte in einem Kreis gelebt, wo man vom Elsaß und von Lothringen mit beleidigter Unlust sprach. Die Unlust in Paris nahm zu, je mehr die Enttäuschung wuchs, die die »wiedergewonnenen Provinzen« dem »Mutterland« bereiteten. Immerhin unterschied sich Ada von ihrer Umgebung durch geistige Selbständigkeit, und ihr Mißtrauen gegen alles, was öffentliche Meinung hieß, hätte sie auch hier in die Opposition getrieben, wenn eine Opposition zu erblicken gewesen wäre. Sie hörte aber nur, wie die elsässischen Führer bei allen Heiligen schworen, sie seien die besten Franzosen und geradezu selig, nach so langer und bitterer Prüfung in den Schoß der »Mère-Patrie« heimgekehrt zu sein. Im selben Atem hielten sie freilich der Mère-Patrie lauter Schönheitsfehler vor, von denen sie überdies versicherten, daß man sie bei dem früheren deutschen Vaterland vergeblich gesucht hätte. Dann wieder hörte Ada sie Deutschland belasten und endlos wiederholen, sie seien wahr und wahrhaftig befreit, befreite Brüder der Franzosen, – worauf sie sich, gewissermaßen von diesem Bad in Patriotismus gestärkt, gleich wieder heiser schrien über das Joch, das der brüderliche Unverstand ihrer Befreier ihnen auferlegte. Ein Hin und Her, worin sich außer einigen gelehrten Elsässer Lamas niemand auskannte. Ada jedenfalls begriff nicht, wie man aller Welt erzählen konnte, zur deutschen Zeit sei die Eigenart des elsässischen Volksstammes besser geschont worden, während man dieselbe Zeit und das Volk, zu dessen Sprachgebiet man gehörte, verleugnete oder gar als etwas hinstellte, wovon man hatte befreit werden müssen. Ihr Mißtrauen wurde noch durch den Umstand gestärkt, daß die schlimmsten Ärgernisse der deutschen Zeit, Monarchie, die Person des Kaisers, politische und gesellschaftliche Vorherrschaft des Militärs, im heutigen Deutschland nicht mehr bestanden und daß es kaum ein andres Land gab, in dem die Kirche so mächtig war wie gerade das Land, von dem befreit worden zu sein ein Glück bedeuten sollte, ein Glück, das auch die Herren Geistlichen priesen, wenigstens sobald sie in der Öffentlichkeit auftraten. Den Staat aber, der sie befreite, den schimpften sie Freimaurerrepublik. »Mein Vater«, sagte sie mit einem Stolz, den Aggie komisch fand, »mein Vater ist Freimaurer.«

»Ach nein?« rief Aggie mit gemachter Ungläubigkeit. »Gibt es das wirklich, Freimaurer?«

»Die Abgeordneten, die du schätzt, sind es jedenfalls nicht, liebe Aggie. In der Beziehung kannst du mit ihnen zufrieden sein.«

Dafür aber war ihr »Vive la France«-Rufen so epidemisch geworden, daß der Präsident der Abgeordnetenkammer einem von ihnen, der die Regierung angriff und dabei wieder einmal an die gute alte Zeit erinnerte, höhnisch zurufen konnte: »So schreien Sie doch ›Vive la France‹!« Was der Abgeordnete zwar nicht wörtlich, aber doch dem Sinne nach tat, indem er in einer flammenden Improvisation sein Herz öffnete und darin das Bild Frankreichs zeigte, strahlend und geliebt wie eine Madonna. »Entweder verstehe ich nichts von Liebe«, meinte Ada, »oder ich verstehe nichts vom Elsaß.«

Aggie wandte ein, Regierung und Land seien nicht immer dasselbe. Ada gab es zu. »Nein, nicht immer. Aber da unsre Abgeordneten sich unter allen Regierungen gleich verhalten, scheinen sie doch gar keine Unterschiede kennen zu wollen.«

Sie hatte jenen Abgeordneten, dem befohlen worden war, Vive la France zu rufen, auf der Kammertribüne beobachtet. Er war weiß im Gesicht, der arme Mann sprach gegen eine Mauer von Feindseligkeit, eine jener Mauern, an denen man erschossen wird, und er spürte die Drohung aus achthundert Augen auf sich gerichtet, er ballte die Fäuste, und dann, dann hatte es des ganzen elsässischen Temperamentes, des verzweifelten Mutes eines Rheingaskogners bedurft, um auf so viel Bosheit – mit einer Liebeserklärung zu antworten ... Der Mann log, in diesem Augenblick wenigstens log er, inbrünstig. Jedermann in der Kammer fühlte es. Wie eine Frau, die von ihrem Mann bei einem Fehltritt überrascht wird, log er drauflos, blind und taub gegen sich selbst, und auch die Kommunisten, die einzigen in der Kammer, die ihm vielleicht wohlwollten, konnten dazu nur lächeln. Ada zweifelte nicht, daß der arme Kerl nach wenigen Sätzen selbst an seine Lüge glaubte, und als sie es gewahr wurde, empfand sie körperliche Übelkeit und verließ schnell die Kammer.

Inzwischen hatte Aggie die Überlegung angestellt, daß ein Versuch, der Freundin Verständnis für die heimatlichen Verhältnisse beizubringen, weder erfolgversprechend, noch überhaupt angebracht sein könnte. Denn für diese Dinge war sie da. Und Ada nur für die Liebe ... Sie rüstete ab. Um es zu verschleiern, täuschte sie gespannteste Aufmerksamkeit vor, obwohl sie nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Allmählich vollzog sich bei ihr die Verwandlung in den Irrwisch. Die gestrafften Schultern sanken herab. Die Hüften drehten sich leise, als lockerte sie auf die Weise vorsichtig eine Schraube, zugleich kletterten die Hände die Goldkette hinauf und schlossen sich, am Hals angelangt, spielend zusammen. Jetzt wippte sie mit dem Fuß. Zuletzt begann ein Lächeln an ihren Mundwinkeln zu zittern, ein ratloses Lächeln, das nicht wußte, ob es sich dort niederlassen sollte oder nicht. Ihre grauen Augen aber blickten Ada fest an.

»Gewiß«, warf sie hin. »Ich begreife dich vollkommen. Mit diesem Standpunkt läßt sich hier sehr nett leben ... Man kann vor der Tragödie eines Volkes die Augen verschließen und dennoch glücklich sein – ohne Bosheit gesagt, meine Liebe! Glück ist eine Kraft wie eine andere.«

»Nein«, sagte Ada ruhig, »von dieser angeblichen Tragödie will ich freilich nichts wissen, ich verstehe nichts davon und will nichts verstehn. Der Nationalismus der großen Völker hat mich nie angesprochen. Warum sollte ich mich an den Selbstbefriedigungsrausch eines kleinen Volkes hängen? Unter einem Volk, einer Nation kann ich mir einfach nichts vorstellen, liebe Aggie, zum mindesten nichts, was ich lieben könnte. Allgemeine Vorurteile, die in der Phantasie der Völker dauernd ihr Bild wechseln, mitmachen, sogar mit Leidenschaft, gelingt mir nicht einmal bei der Mode, und als Frau kannst du ermessen, was ich da sage. Ich schaue zu, wie mein Mann mit grotesken Schemen um die Wette läuft, er läuft hübsch – hübsch sage ich, um nicht zu übertreiben. Nun, und das muß mir eben genügen.«

 

»So lange hintereinander und so heftig habe ich dich mein Lebtag nicht reden hören«, sagte Aggie, als die Freundin zu Ende war. »Doch darin muß ich dir zustimmen, Nationalismus, Patriotismus sind keine Angelegenheiten der Gesinnung, sondern der Sinnenlust, und ja, wie jede Sinnenlust wird er bei dem einen zu echter, sauberer Leidenschaft, beim andern führt er zu lasterhaften Gewohnheiten ... Für uns, meine Liebe, ist die elsässische Politik nur ein Teil der großen Revolution, das Stück von ihr, wo wir eben anpacken können. Liebe zur Menschheit beginnt im eigenen Haus. Hier, wo wir zu Hause sind, wo wir hingehören, hier fangen wir an, die Welt zu ändern.«

Ada versetzte mit unerwarteter Kälte: »Glaube doch nicht, daß du je eine anständige Revolutionärin wirst ... Du bleibst ewig eine Bürgerin, Aggie, und wenn du in die Fabrik gingest und als Proletarierin lebtest, alle und du selbst würden dich als eine verkleidete Person empfinden. Deine Revolution ist 1789 gemacht worden, und weiter kommst du nicht in deinem innersten Wesen, und wenn du dich noch so anstrengst. Weiter als zum Überläufer oder Gastdirigenten in der Unterwelt, wie Claus Breuschheim sagt, weiterbringst du es einfach nicht.«

Aggie nahm den Hut ab und schüttelte die Mähne. »Claus Breuschheim und du, ihr versteht euch wohl gut?«

»Wir sehn uns leider fast nie ... Das Wort vom Gastdirigenten in der Unterwelt hat er zu Silvio gesagt.«

»Ach nein ...?«

Nach einer Pause erklärte Aggie im Plauderton:

»Du irrst dich, Ada ... Du warst eben nie religiös ... Ich habe die Wahrheit erkannt und sie mit allen ihren Folgen auf mich genommen ... So wie ich einmal katholisch lebte, mit Gebet, Beichte, Kommunion, katholisch bis in den letzten Winkel in mir und draußen. Man nennt es Disziplin. Es ist nichts andres als – tätiger Glauben.«

»Mit dem Unterschied, daß er nicht dein Glaube ist, Aggie! Entschuldige vielmals! Du hast einen fremden Glauben angenommen, einen, der für das Proletariat die Natürlichkeit selbst sein mag, zu dem du dich aber erst hast überreden müssen, ich vermute, mehr mit dem Verstand als mit dem Herzen, du bist von deinem Leben weggeirrt zu einem andern, dessen Gesetze für dich nicht gelten, die du künstlich zu den deinen machen willst ...«

»Ob es die meinen sind oder nicht, ich beuge mich ihnen. Ich nehme sie auf mich, weil sie die einzig gerechten Gesetze sind.«

»O Aggie, da fällt mir etwas ein, ich muß es dir erzählen. Ich habe ein junges Mädchen gekannt, eine Freundin unsrer Tante Sidonia in Rheinweiler – eine Russin, schön, reich, wohlgeboren, Kosmopolitin vom reinsten Wasser. Es kam der Krieg, und ich hörte nichts mehr von ihr. Kürzlich traf ich nun in Paris einen ihrer Brüder, den einzig Überlebenden ihrer fünf Brüder, und der erzählte mir, was aus ihr geworden ist. Sie hatte sich, so sagte er, in einen Bolschewiken verliebt, den Leiter der Tscheka in einer südrussischen Stadt, und leidenschaftlich wie sie war, bot sie sich aus Liebe zur Henkerin an. Sie marterte ihre Opfer, sie knallte sie nieder, ungefähr jeden Tag, den Gott ihr schenkte, bis die Weißen die Stadt einnahmen und ihrerseits die Henkerin marterten und schließlich an den Galgen knüpften. Bei diesem Vorgang, sagte der Bruder, bewies sie die größte Kaltblütigkeit, er habe nicht anders gekonnt, als sie aufrichtig zu bewundern. Er stand selbst mit dabei, als sie gehenkt wurde ... Ja, sie waren wohl beide stolz aufeinander, auf die Unerbittlichkeit ihres Hasses, des eigenen wie des andern, auf das, Aggie, was du tätigen Glauben und Disziplin nennst ... Der Bruder erklärte übrigens die Tollheit der Schwester mit der Liebe, die Liebe hatte sie dazu gebracht, ihresgleichen zu martern und hinzurichten – zur größeren Ehre des roten Gottes ... So sah er es an. Im Anfang war die Liebe, sagte er lächelnd.« Pause. »Glaubst du das, Aggie?«

Die beiden Frauen drehten einander gleichzeitig den Kopf zu und starrten sich an, und da sie Schulter an Schulter auf dem Diwan saßen, berührten sich fast die Gesichter, das eine schmal, leicht umlockt, unruhig emporgehoben zur strengen Stille des andern. Aggie zuckte die Achsel und stand auf.

»Ich auch nicht«, sagte Ada. »Es war nicht die Liebe. So weit hätte Liebe allein sie nicht gebracht. Es war die Disziplin. Die Disziplin der Neubekehrten.«

Aggie ging ein paarmal durch das Zimmer und sprach über die Schulter: »Die ersten großen Führer des Kommunismus waren alle Bürger. Neubekehrte. Überläufer.«

»Aggie! Eben hörte ich genau die Stimme Silvios, wie er dir wörtlich das gleiche auf der Promenade in Nizza zurief. Ich wunderte mich damals, daß dir die einzig richtige Antwort nicht einfiel. Dafür nämlich waren jene Führer auch die ersten. Sie liefen nicht über – die Arbeiter liefen zu ihnen über. Sie wurden nicht bekehrt. Sie waren es, die bekehrten. In der selbstlosesten Weise. Heute aber – ach, Aggie, wenn du einverstanden bist, lassen wir das, es macht mich krank. Und es nimmt auch kein Ende.«

»Wenn ich dich recht verstehe«, meinte Aggie, ihr Spott klang ziemlich ungezwungen, »erhebst du die Unbelehrbarkeit zu einer sittlichen Forderung der Bourgeoisie. Keiner von uns soll aus der Tretmühle« (sie stampfte mit den Füßen, krallte die Hände), »keiner soll aus der Tret- und Würgmühle ausspringen dürfen.«

»Doch, soviel du willst. Nur nicht, um in eine andre Tret- und Würgmühle hineinzuspringen. Denn, siehst du, das sind dann die schlimmsten. Sie müssen es jedem vor Augen führen, wie ernst sie es nehmen mit ihrer neuen Religion. Sie hätten Marx selber und Engels und Lenin und Trotzki, alle und jeden hätten sie in einem Kellergewölbe niedergeknallt, wenn sie ihnen ausgeliefert worden wären.«

»Selbstverständlich«, warf Aggie hin.

»Erlaube, Aggie, ich spaße nicht. Wer sagt dir denn, daß heute nicht Männer vom Format eines Marx in den Sowjetgefängnissen sitzen oder gesessen haben?«

»Niemand sagt das. Es kommt heute gar nicht mehr auf solche Köpfe an. Seitdem die Masse in einem Weltteil wie Rußland an die Macht gelangt ist, spielt die Theorie keine große Rolle mehr, die wirtschaftlichen Verhältnisse verschieben die Figuren des Schachbretts ganz allein, und ob die, die dabei etwas nachhelfen, Müller oder Lenin heißen, bleibt sich am Ende gleich. Nur hart müssen sie sein und zielbewußt. Es geht Zug um Zug, mit ihnen oder ohne sie, und wer ausläßt, fliegt über Bord. Wir stehn in voller Aktion, und die, meine Liebe, muß sich ihren Weg bahnen, wie und wo sie kann, da es sich nun einmal darum handelt, das Schicksal zu beschleunigen. Je grausamer die Revolution, um so schneller der Sieg. Es ist wie im Krieg.«

Sie blieb am Fenster stehn. Hinter einem Durchhau in den Parkbäumen sah sie Schloß Breuschheim, ohne es zu erkennen. Im Zimmer blieb es still.

Sie hielt die Lippen zusammengepreßt, daß es über ihr Gesicht hinzuckte, sie wußte, was die Freundin jetzt sagen würde, und fürchtete sehr, es könnte in einer Weise geschehn, die ihr die Haltung raubte. Denn was auch immer Ada sagen mochte, es betraf ihre Freundschaft viel mehr als ihre Meinungsverschiedenheit. Während sie über Politik zu sprechen schienen, wurde über ihre Freundschaft abgerechnet. Sie kämpfte gegen Tränen und verhöhnte zugleich ihre Weichherzigkeit ... Aber warum, warum sollte sie nicht weinen, warum nicht die Nähe des jungen Gottes spüren dürfen, der auf Grabsteinen die Fackel trauernd zur Erde kehrt, wenn eine große Freundschaft, die Treue eines ganzen Lebens vor einem in Stücke bricht ... Sie bewegte den Mund, es war wie Erlösung, und der Mund sprach wortlos: Was fallen will, soll man stoßen ...

Endlich kam es dumpf klagend, wie mühsam emporgehoben aus der Tiefe:

»Wie im Krieg«, stöhnte Ada. Und nach einer Weile: »Aggie Ruf sagt – wie im Krieg!«

Es war die Prüfung, auf die Aggie sich oft in Gedanken vorbereitet hatte ... Sie wartet noch auf Äußerungen wie: »Bis jetzt habe ich es nie recht geglaubt ... ich dachte, wenn du eine Zeitlang allein gewesen bist und dich wiedergefunden hast ... wenn wir uns wiedersehn ...« Sie wartete lange. Als sie sich umdrehte, vorsichtig, um nicht zu plötzlich auf das für immer verstummte Gesicht der Freundin zu stoßen, war das Zimmer leer. Sie blieb angewurzelt stehn und bewegte leise den Kopf hierhin und dorthin. Das Zimmer war leer.

 

Dann erblickte sie Gabriele. Das Mädchen glitt auf sie zu und flüsterte:

»Was hast du meiner Mutter getan? Sie ist ja ganz verstört. Geh, bitte, sofort zu ihr!«

Aggie, kühl, sie wunderte sich selbst, wie kühl, sagte:

»Vielleicht hat sie Angst?«

»Wovor? ... Ah!« Sie suchte Aggies Augen. »Erinnerst du dich, wie du Angst hattest, als du krank warst? ... Ist es das?«

Statt zu antworten, wollte Aggie fragen, wo Ada zu finden sei, im selben Augenblick aber warf Gabriele den Kopf in den Nacken und lauschte. Ihre Züge verfinsterten sich. »Er holt meine Mutter zum Spaziergang ab«, sagte sie hastig, und: »So darf er sie nicht finden.«

Sie verschwand, als wäre sie am Waldrand in einen Busch zurückgetreten.

Jetzt erst hörte Aggie jemand den Gang heraufkommen und erkannte Silvios Schritt.

Unter heftig einsetzendem Herzklopfen wartete sie, daß er an der Tür vorbei sei. Ein wenig vorgebeugt, mit einem merkwürdig unsichtbaren Lächeln, dem Privatlächeln eines fertig geschminkten Clowns hinter den Kulissen, horchte sie in die Stille hinein. Als sie sich ihrer Haltung bewußt wurde, richtete sie sich wie ertappt auf, zählte bis drei, öffnete die Tür und lief leise über den Gang zur Treppe.

Die feste Landstraße unter sich, marschierte sie nach Breuschheim. Sie schaute sich summend auf der Erde um und im Himmel, marschierte und war erstaunt über die Menge blühender Bäume und noch mehr über eine Strichwolke, die wie der Rauch von all den Blüten im strahlenden Himmel hing. Mit keinem Gedanken dachte sie an das zurück, was geschehn war. Sie wollte nicht. Sie kam unter einem Apfelbaum vorbei, den ein Bienenschwarm in eine dröhnende Orgel verwandelte, hielt an und beteiligte sich an dem Gesang, indem sie ihr Summen anschwellen ließ, so hoch es ging. Zufrieden mit ihrer Leistung setzte sie den Weg fort.

Die Straße begann zu steigen, und als sie bei dem unablässigen Summen außer Atem geriet, ließ sie nach und suchte, was das für eine Melodie sei, von der sie behext war. Auf der Höhe angelangt, verstummte sie ganz – von unten blickte Schloß Breuschheim sie aus flammenden Fensterscheiben an ...

Ach ja, rief sie: du bist bös, weil ich in Adas Zimmer nicht die Zeit fand, dich richtig zu beachten! Ja, das bist du also! Schön, schön. Schloß Breuschheim. Du wirst mir doch deshalb nicht den versprochenen Tee entziehen – oder sind das bloß Warnungsfeuer, weil es schon zehn Minuten nach fünf ist? ... Als die Melodie sich beim Weitergehn wieder einstellte, erkannte sie den Militärmarsch von Schubert, und nun pfiff sie ihn. Erst recht!

 

»Verzeih, daß ich dich in deinen Gefühlen verletzt habe«, sagte Aggie beim nächsten Wiedersehn mit Ada.

»Meine Schuld«, erwiderte Ada. »Ich hätte das Gespräch vermeiden können. Dennoch, es ist gut so. Wir wissen beide Bescheid.«

»Gewiß«, bestätigte Aggie, und sie sprachen von einem neuen Roman, der nur als Privatdruck hatte erscheinen können, den aber jedermann las. Aggie nannte ihn ein obszönes Buch, Ada eine erfrischende Lektüre für Damen der älteren Generation.

»Und wie gefallen dir die diesjährigen Sommerhüte?« fragte Aggie.

Nachdem das unverfängliche Thema gefunden war, verweilten sie dabei, bis Silvio seine »Mitarbeiterin« zu sich bitten ließ, um die Einladungsliste für die Eröffnung ihres Salons aufzustellen.


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