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Die Riviera-Elsässer, wie Ada sagte, wohnten alle vier in verschiedenen Häusern, die beiden Damen und Silvio an der Strandpromenade, Bieterle im Innern der Stadt. Um zehn Uhr morgens pflegten sie sich auf der Promenade des Anglais zu treffen. Schon um neun wachte Bieterle auf dem Strandweg gegenüber Aggies Quartier. Er ging auf und ab und führte die Brandung wie einen großen Hund an der Leine spazieren. Punkt zehn ließ er ihn laufen, stellte sich kerzengrade auf und behielt das Portal des Hotels im Auge. Und das Portal hatte keinen andern Sinn mehr in der Welt, als Aggie Ruf durchschlüpfen zu lassen, Aggie mit ihren kleinen, hastigen Bewegungen, Puderdose und Quaste in erhobenen Händen.
Gleichzeitig beaufsichtigte er den Fahrdamm, denn er fürchtete immer, sie könne überfahren werden, während sie im aufwärtsgewandten Gesicht herumpuderte. Sobald sie in der Tür erschien, setzte er sich rücksichtlos in Bewegung und zwang mit erhobener Hand die Autos, ihre Fahrt zu mäßigen. Die meisten Chauffeure kannten ihn und hielten ihn für eine amtliche Persönlichkeit, die den Sicherheitsdienst für eine ausländische Hoheit versah.
Als Aggie diesmal unvermittelt mitteilte (sie warf das Puderdöschen in die Tasche und blickte erwachend an ihm hinauf), der Herr, der kein Monsieur sei, wäre als ein Junge entlarvt, der Märchen erzähle und fest daran glaube, als ein köstlicher Knabe, hörte der Schwabe erst mit der gewohnten Achtung zu, meinte aber dann:
»Sie wollen sagen: er lügt. Weiß ich schon lange.«
»Was wissen Sie schon lange? Nennen Sie mir eine einzige Lüge von ihm!« Und gleich wiederholte sie lachend und ergriff seinen Arm: »Ein Junge! Geben Sie nur mal acht, in dem helldunkeln Burschen galoppiert ein Knabe über die Wiese, eine Balkanwiese oder sonst eine Wiese, aber etwas Grünes ist es bestimmt.«
Sie sahn Silvio und Ada auf sich zukommen, da murrte ein verrostetes Glockenspiel über ihr: »Das hat mit seinem Singen der Silvio Wolf getan.«
»Welch ein Kompliment für den Herrn!« versetzte sie noch schnell, und: Du bist ja ein Junge, blinkerte es in ihren Augen, als sie bei Silvio stand und ihn aufmerksam musterte. Sie glaubte zwar, sie beachte ihn nicht mehr als sonst, eher weniger, denn sie umarmte ja die Freundin, sprang sie geradezu an, wich ihr nicht von der Seite und plauderte nur so aus der Entfernung:
»Herr Wolf, wie ist das mit der Kuh, der heiligen Kuh? Sie waren doch einmal mit einer Kuh befreundet, einem gewaltigen Stück Sanftmut, sie hatte einen warmen Bauch, daraus lief Honig, wenn man sie melkte, weißer Honig. Ada, befiehl ihm, von der Kuh zu erzählen!«
Darauf begann ein regelrechtes Blindekuhspiel. Herr Wolf tappte blind umher und zeigte sich haarsträubend unfähig, in seinem Leben die geringste Spur einer Kuh zu entdecken. Aggie mußte verraten, daß ihr Freund Claus Breuschheim auf Anfrage einiges aus Monsieurs Jugend preisgegeben habe, darunter die heilige Kuh. Endlich dämmerte ihm etwas von der Kuh. Sie hatte seiner Großmutter hinten im Münstertal gehört, und wenn er nicht irrte – er dachte nach: war sie nicht groß und weiß, auffallend weiß? ... Er beugte sich und lächelte Aggie spitzbübisch ins Gesicht: ja, es käme ihm vor, als seien wenigstens die Hörner weiß, blendend weiß gewesen. Die Leute wallfahrteten heran, um die Kuh zu sehn und von ihrer Milch zu trinken, die Großmutter machte ein nettes Geschäft ... Er legte Aggie leicht die Hand auf die Schulter: und einmal zu Pfingsten hatte er die Hörner mit flüssiger Bronze vergoldet! Nun erinnerte er sich ziemlich genau ...
An diesem luftig blauen, sonnig verspielten Morgen empfanden Silvio und Aggie zum erstenmal in aller Klarheit etwas wie Freundschaft füreinander. Sie trieben viel Spaß, und ein ganz klein wenig Ernst fuhr mit auf der Schaukel.
Besonderen Eindruck machte es auf Aggie, als er sich unvermutet zum Kommunismus bekannte. Sie hatte einmal gesehn, wie ein Kriminalbeamter im Tanzraum eines Hotels an einen Herrn herantrat und, rasch den Rock öffnend, auf eine Messingmarke wies, worauf der Herr sich wortlos erhob und dem Beamten folgte. Ähnlich drohend und feierlich wirkte Silvios Enthüllung, nur konnte sie im Augenblick nicht unterscheiden, wer von ihnen beiden den Kriminalbeamten und wer den Verbrecher darstellte.
»Ich weiß zu wenig davon«, sagte sie ausweichend. Er schlug ihr vor, sie in seinem Lieblingsfach zu unterrichten. Das Lieblingsfach, stellte sich heraus, war die Revolution einschließlich der Schüsse in den Kellern der GPU. »Diese Schüsse«, meinte er, »werden Ihnen anders in die Ohren klingen, wenn Sie erst verstehn, worum es geht.« Sie widersprach: »Jedenfalls um Mord, und zweitens hört man die Schüsse ja gar nicht, die Herren lassen einen Motor laufen, um niemand zu stören.« – »Ach, Unsinn!« gab er zur Antwort. Sie versuchte, das Gespräch ins Scherzhafte hinüberzuführen und so die Schaukel des schönen Tages wieder in Gang zu setzen, fand aber bei niemand Gefolgschaft.
Da schickte sie die Herren vor, um »Ada endlich für sich zu haben«. Sie erzählte ihr von dem Brief aus Breuschheim, erläuterte ihn, schmückte ihn aus, ihre Phantasie sprang wie ein Wiesel. Ada freute sich, die alte Aggie wieder an ihrer Seite zu haben, und beide wärmten sich am gleichen Feuer, wie es unsichtbar vor ihnen schwankte, dicht an ihrer Brust.
An einem trüben Tag (Aggie vergaß diesen Tag nie, so unscheinbar er sich auch anließ) speisten sie zusammen im Grillraum des Negresco, leider ohne den Schwaben, der behauptet hatte, sein schlapp hängender Anzug untersage ihm solchen Aufwand. Hier beschlossen Silvio und Aggie eine Arbeitsgemeinschaft einzugehn. Silvio hatte schon wiederholt den Vorschlag gemacht, ohne Aggies Geneigtheit zu erfahren. Jetzt also fand der Vorschlag begeisterte Annahme. Von nun an frischte sie täglich seine französischen Sprachkenntnisse auf (denen es freilich mehr an den Wurzeln fehlte als am Blattwerk), wogegen er sie in sein Lieblingsfach, die Revolution, einführte.
Als erste Aufgabe mußte er die Stelle aus dem Breuschheimer Brief übersetzen, die von der Kuh im Balkan handelte. Das Wort »Balkan«, das an dieser Stelle im Text fehlte, hatte sie eingeschmuggelt. Als sie ihn verbesserte, der Balkan heiße französisch die Balkane, les Balkans, und danach eine erwartungsvolle Pause einlegte, um ihm Gelegenheit zu geben, den Balkan aus freien Stücken durch das Münstertal zu ersetzen, dankte er und neigte ihr dasselbe Lächeln zu, unter dem die pfingstliche Vergoldung der Kuhhörner erfolgt war. Vielleicht, meinte sie, deute die Mehrzahl darauf hin, daß es ursprünglich verschiedene Balkane gegeben? ... Da platzten sie beide aus und brauchten eine Zeit, bis sie wieder ernstlich an die Arbeit gingen.
Die Frage blieb offen: neckte sie ihn mit der Gaukelei seiner Lügen, oder hielt er sie zum Narren, weil sie, unter dem Schutz seines zweideutigen Lächelns, Tatsachen für Erfindungen ansah? Einer Spinne gleich saß er in der Mitte seines Gewebes, ob es nun aus Lüge oder Wahrheit bestand oder aus beidem zusammen, und wie eine Spinne, die sich unsichtbar machen will, schaukelte er sich in dem weitgespannten Netz und verschwand schier im Wogen und Schillern der Fäden.
Auf Tatsachen aber, das zeigte sich immer mehr, legte er den größten Wert, auf Tatsachen war er versessen. Nach einer Prüfung, wobei der Lehrer den kürzeren zog und deshalb die Befragung bald einstellte (er nahm immer an, der andre lüge), gab er zu, daß sie über allgemeine Geschichte Bescheid wisse, vermutlich also wirklich Geschichte studiert habe. Sie sei aber nicht bis zu dem Triebwerk aller Geschichte vorgedrungen, nämlich der ökonomischen Notwendigkeit, der Nötigung der Ideen durch die Wirtschaft. Er zitierte ein Wort von Marx: »Die Idee blamierte sich immer, soweit sie von dem Interesse unterschieden war.« Den Schlüssel der Welt, den Sozialismus, insbesondere den Marxismus, habe sie übersehn, geblendet natürlich von den Prachtkulissen der bürgerlichen Ideologie.
Gehorsam nahm sie sein Urteil entgegen. Wenn es einen solchen Schlüssel gab, so hatte sie ihn freilich übersehn. Zu ihrem Erstaunen stimmte diese Unterwerfung, dazu noch mit seinen eigenen Worten, Silvio nicht etwa gnädig, sie machte ihn wild.
»Übersehn?« lachte er höhnisch. »Geradesogut könnten Sie behaupten, den Himmel zu übersehn. Nein, Sie haben den Himmel keineswegs übersehn, Sie haben nur den lieben Gott darin gesucht.« Worauf Aggie für sich feststellte: das halte der grobe Kerl nun für Ironie, eine Feststellung, die glücklicherweise nur die Form eines Seufzers annahm.
Nach längerer mündlicher Vorbereitung, die ihn zuweilen sichtlich langweilte, drückte er ihr ein Buch über Karl Marx in die Hand. Das heißt, er überreichte ihr den Gegenstand mit einer Gebärde, als handle es sich um einen Fernzünder, womit sie von ihrem Platz New York in die Luft sprengen könnte. Dementsprechend trug sie ihn vorsichtig nach Hause, während er mit Ada im Auto losfuhr. Sie fand in dem Buch die Mehrzahl seiner Zitate, auch das über die schlechte Ehe von Interesse und Idee. Es war ein gutes Buch, klar und zwingend in seinen Gedankengängen, dabei voller Spannung wie ein Kriminalroman. Je mehr sie von dem Tische aß, desto hungriger wurde sie, und Silvio gestand Ada, er fange an, sich vor dem Appetit seiner Schülerin zu fürchten. Um sich den »Tiger, der Blut geleckt hatte«, vom Halse zu schaffen, betraute er Aggie mit der Aufgabe, einen »Querschnitt durch die französische Marx-Literatur« herzustellen, einem gewichtigen Stück Arbeit. Sie verbrachte viele Stunden auf der Stadtbibliothek und arbeitete halbe Nächte hindurch. Er indes, glücklich, sie für sich beschäftigt zu wissen, rollte im Auto der Gräfin Breisach (früher saß Aggie darin) und schnitt, wie er fröhlich sagte, Kuchenstücke aus der festlichen Landschaft. Monsieur hatte ebendies alles schon hinter sich, was Aggie mühsam erarbeiten mußte. Trotzdem, gab sie zu, erdrückte er sie nicht mit seiner Überlegenheit. Wenn er zum französischen Unterricht im Salon erschien, den Ada ihnen zur Verfügung stellte, versäumte er nie, sie zu holen und mit dem Grafen Saint-Simon auszurufen: »Man muß begeistert sein, um Großes zu vollbringen!« Und begeistert war sie.
Im Sturmschritt nahte sie den Empörern der letzten hundert Jahre. Zwar blätterte sie nur in ihren Schriften, besonders, wenn sie sich als wenig zugänglich für ihren Sturmschritt erwiesen (»sicher auch von Silvio überschlagen«, tröstete sie sich, »vorausgesetzt, er hat das Buch überhaupt in der Hand gehabt!«), dafür aber las sie um so gründlicher alles Erreichbare über das Leben und die Werke der Großen und sammelte ihre Bildnisse. Aus dem Widerspruch der Urteile entstand eine Vorstellung, die sich mit dem körperlichen Bild verband, und daran glaubte sie mit Selbstverständlichkeit, was weiter nicht zu verwundern braucht, wenn man bedenkt, daß die Einfühlung in einen Menschen, das Erraten höherer Art, ein Leben lang geübt, Aggies einziges brauchbares Fuhrwerk durchs Leben war. Sie hielt sich den aufgerufenen Gestalten mit allen ihren suchenden und vergleichenden, ihren inständig werbenden Gedanken zugewandt, bis die Bilder Leben gewannen. So geschah es, daß aus Gesichten Gesichter wurden und die Züge eines Lassalle, eines Engels, eines Marx, eines Lenin sie ansprachen und Aggie die Toten als faszinierende, gefährliche Freunde um sich versammeln konnte. Die Schüsse in den Kellern der GPU verloren allmählich für sie ihre Schrecken, Die Wissenschaft übernahm die Rolle des Motors und erstickte die Todesschreie mit dem Geräusch ihrer Dialektik.
In ihren Unterhaltungen kam nun das Wort Dialektik ebenso oft vor wie früher die Worte Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Herz, Güte, Geduld zusammengenommen.
Silvio lachte über die »dichterische Freiheit« von Aggies »Forschungsmethode«. Er hörte nicht auf, Ada im rollenden Wagen davon zu erzählen, und die Methode war in der Tat denkbar naiv, »phantastisch« naiv, hätte Bieterle gesagt. Ada verteidigte die Freundin und bestritt, daß Aggies Methode naiver sei als die Berichte über die Helden der Geschichte. »Was weißt du denn von ihnen, als was andre oft nach ihrem Tod, oft nach Jahrhunderten erzählt haben? Spotte nicht über Aggie ... Küsse mich!« Und die Glücklichen küßten sich, und nicht nur das, sie küßten sich wortwörtlich im Himmel: der Wagen überfuhr den Berg, auf dem Tourette lag, und verdeckte ihnen für Augenblicke die Erde ...
Gute Aggie, die du begonnen hast, wie eine Sklavin für deinen plötzlich erwählten Herrn zu arbeiten – wäre zu deinen Gunsten nicht auch noch der Hinweis am Platz, daß die geistigen Werkzeuge, die wir im Umgang mit den Lebenden benutzen, ebenso grobkörnig sind wie die deiner »Forschung«? Und führt nicht die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf allen Gebieten oft genug zu ebensovielen Ergebnissen, wie Gelehrte sind, die sie unfehlbar anwenden? Du wenigstens denkst bescheiden über deine Hilfsquellen und schiebst alles Verdienst auf die vom Grafen Saint-Simon geforderte Begeisterung!
Jedoch die wilde Welt der Empörer konnte ebenso blenden wie die Prachtkulissen der Bourgeoisie, nein, mehr noch, heftiger, abenteuerlicher. Es geschah, daß sie sogar zündete und die kleine Aggie gleich einer Brandfackel daherfuhr, bereit, den Sprung ins Dunkel zu wagen, alles zu opfern, selbst das Leben, nur um von Herzen zu leuchten und alles um sich mit dem neuen Licht zu erhellen. Sie war dann so verwandelt, daß Ada die Geduld verlor und darauf hinwies: wenn Silvio ein Revolutionär sei, so mache er die Revolution vorläufig noch in ihrem Rolls Royce. Und ihr persönlich sei dies auch die angenehmste Art, ihre Klasse zu stürzen, und sie hoffe, daß es dabei bleiben werde ... Ein bourgeoiser Maßstab, den die andern in hitzigem Zwiegesang bekämpften.
Was aber gab es an einem Standpunkt zu widerlegen, den Ada ungefähr in die Worte faßte: ich will bleiben, was ich bin, gut oder schlecht, es ist meine Welt, und wenn man mich angreift, will ich mich wehren, jawohl, genau wie der Arbeiter sich zu seiner Klasse bekennt und für sie kämpft. Ich sehe keinen triftigen Grund, jemand behilflich zu sein, der mir ans Leben will, und bin der Ansicht eures Marx, daß die Idee sich blamiert, wenn sie das Interesse gegen sich hat. Warum verlangt ihr von mir, ich solle mich blamieren? Soviel ich begreife, spielt da eine Schicksalstragödie, deren Schauplatz die Welt ist. Handle ich nicht am ehrlichsten, wenn ich den Platz einnehme, der meiner Abstammung, meinen Neigungen und Fähigkeiten, meiner Überzeugung, kurz, allem entspricht, wovon und wofür ich lebe?
»Du bist ein Ungeheuer an Egoismus«, entschied Aggie. Silvio widersprach. Egoismus sei die schönste Sache der Welt, unter der Bedingung, daß er zum Ziel führe. »Aus dem Marxschen Armeebefehl an das Proletariat spricht die ungeheuerlichste Selbstsucht, wie aus jedem Kampfruf, wenn es auf Leben und Tod geht, aber es kommt auf den Sieg an und das, was dahinter liegt, auf die neue Welt, die der Sieg erschließt.«
»Was das anlangt, Silvio«, bemerkte Ada ... »Ich habe einige Siege erlebt und auch, was dahinter lag. Es war ganz und gar nicht, was man uns versprochen hatte.«
Aggie begann, ihr schulgerecht den Unterschied zwischen einem imperialistischen Raubkrieg und einem proletarischen Befreiungskrieg auseinanderzusetzen. Silvio faßte sich kürzer. Er murmelte: »Unsinn!«
Ihre Bundesgenossenschaft umschloß Aggie und Silvio wie mit Wall und Graben, Ada stand draußen. Die Blicke der beiden schossen siegesgewiß aufeinander zu, heiß und blitzend, fast waren es Liebesblicke. Ada blickte lächelnd zur Seite.
»Ein Pazifist von 1914 und 15 ist heute Kommunist«, erklärte Aggie. »Oder ein Zeitgenosse a.D.«
»Puh, Pazifist!« Silvio sprach das Wort mit Ekel aus.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Ada ... »Habt ihr euch einmal mit dem Leben der Termiten befaßt?«
»Aber Ada! Was kümmern uns die Termiten!«
»Sie sind älter als die Menschen, Aggie. Und sie scheinen die klassenlose Gesellschaft in ihrer höchsten und, was wichtiger, in ihrer bewährtesten Form. Ein ebenso vernünftiges wie grausames Geschlecht.«
»Da haben wir's«, höhnte Silvio. »Die Termiten lehren uns die Verderblichkeit des Kommunismus. Man sollte nicht glauben, liebe Gräfin, daß Sie die vernunftbegabte Tochter eines Tatsachenmenschen wie Charles Hartmann sind ...«
Nach solchen Wortgefechten, wobei die Worte vielleicht nur die Reiterei abgaben, die das Manövrieren der Hauptmacht, nämlich der Gefühle, verschleierten, empfand Aggie Ruf eine wohlige Müdigkeit und ein klein wenig Verdruß. Und wenn sie dem Stachel des Verdrusses nachging, entdeckte sie errötend in sich das Verlangen, wieder und wieder an Silvios Seite im Worte glücklich zu sein, und »glücklich« verstand sie, wie ein Kämpfer, im Sinne von »siegreich«. Es gibt geistige Gemeinschaften, konnte sie sich dann zurufen. Ein Schmutzian allein könnte behaupten, sie seien der groben Sinnlichkeit benachbart, gewissermaßen ein Abstellraum vor dem Schlafzimmer. Ach ja, meine Sinne ... Angenommen, auch ich beherberge etwas von der Inbrunst eines Spatzen, von welchem Giftstoff Wissenschaft und Kirche in seltenem Einklang behaupten, er sei der Mehrzahl der Menschen eingeboren, so stehe ich in der Beziehung nicht einmal auf Piepfuß mit Monsieur, im Gegenteil, was von einem Spatzen in mir sein mag, schwirrt davon und verflüchtigt sich bei seinem Anblick. Dem Himmel sei gedankt ...
Bis jetzt war nur von der Lichtseite die Rede, wo die Welt der empörten Sklaven prächtig gedieh. Hart daran grenzte jedoch die Nachtseite, und hier war es unheimlich wie in nächtlichen Dschungeln, die von den Mord- und Brunstschreien der frei schweifenden Raubtiere und den Todesschreien ihrer Opfer widerhallen. Wenn Aggie dahin verschlagen wurde und das Bild des Gemetzels vor ihr aufstieg, floh sie, so schnell sie konnte, und kam atemlos, den Schrecken noch in den Gliedern, drüben im Lichte an. Dementsprechend wechselte auch ihre Begeisterung die Farbe. Die Begeisterung schillerte von einem apokalyptischen, fast schwarzen Rot bis in ein Rosa-Weiß hinüber, das die Lieblichkeit selbst und wie abgezogen war von ihren gepuderten Wangen.
Zumal nach einem Ausflug auf die Nachtseite der wilden Welt neigte sie zu allerhand Kunstgriffen, die in Silvios Augen keinen andern Zweck verfolgten, als das Bild der Revolution um seine schicksalhafte Strenge zu betrügen. Und dann mußte natürlich ein Mann wie er mit kalter Vernunft eingreifen.
Es ging nicht an, daß Aggie, die gerade im Verein mit ihm auf die bourgeoise Zweifelsucht, dies Ruhekissen der Ausbeuterklasse, losgetrommelt und Ada siegreich in ihre Silberwolke zurückgescheucht hatte (sie sprachen das Wort »Skepsis« mit einem Abscheu aus, als sei es die schlimmste Art widernatürlicher Unzucht), es ging nicht an, daß die Studentin der Sozialwissenschaften auf einmal kopfüber in die Theologie kollerte, auf einmal, hast du gesehn, mit wehendem Röckchen die Nebelberge der Mystik erkletterte und, droben angelangt, die profane Versicherung abwarf: »All das sind herrliche Märchen!«
Erst versuchte er, sie sanft auf den rechten Weg zurückzuführen:
»Bitte, Fräulein Ruf, es sind Tatsachen, wovon wir sprechen, Tatsachen!«
Sie aber, eingebildet und verstockt wie ein Backfisch, blieb auf einmal dabei, die größten Märchen seien die philosophischen Systeme – nein, verbesserte sie: die zweitgrößten, die größten und ehrwürdigsten seien die Religionen. Jetzt kam die Blütenlawine ins Rollen, die das Gesicht der Revolution unter sich begraben sollte, der Unsinn schwoll zu riesiger Größe. Ein Königreich für ein Pferd, um nicht zu einer Dame grob zu werden!
Dem Geplauder der Jungfer zufolge sollte also die Schöpfung ein Märchen sein, an dem die Menschen unermüdlich weiterdichteten. Und als Beweis führte sie einige Verszeilen Shakespeares an, eines Dichters, der bei all seinem Talent so weltfremd war wie alle Dichter und außerdem lange vor Marx und Darwin lebte. Inzwischen hatte Darwin die Theologie getötet und Marx die Philosophie ... Jawohl, und dem Monsieur sein Karl Marx, rief sie triumphierend, sei auch nur ein Märchenerzähler wie ein andrer. Er habe sich nur Mühe gegeben, die Pointe oder Moral seiner Geschichten besonders deutlich herauszuarbeiten. Darin schien er ihr sogar etwas arg gehässig, wenn man auch berücksichtigen müsse, daß alle Märchenerzähler starke Neigung zur Schadenfreude verrieten. Welch ein Jubel diesmal, wenn der Bösewicht sein Fett bekam! ... Übrigens gab es auch böse Märchen, Märchen voll urböser Dinge, wo Aggie nicht mitkonnte. Da hatte sie heute gelesen, in Moskau vergnügten sie sich damit, nachts auf den Roten Platz vor dem Kreml zu ziehn und unter Hohngeschrei eine Ingenieurmütze zu verbrennen. Der neueste Proletsport, dernier cri der eleganten roten Welt, die Snobberei der herrschenden Klasse ... Offenbar genügte es, die herrschende Klasse zu sein, um alsbald zu verdummen. Sie verbrannten allen Ernstes die Mütze der Leute, die ihnen ihre Maschinen bauten, dieselben Maschinen, die sie anbeteten!
»Schau nur, Ada, unser Herr Wolf zieht ein Gesicht, als hätte ich eine Gotteslästerung begangen, zumindest aber eine Majestätsbeleidigung. Das hängt schon wieder mit der herrschenden Klasse zusammen. Offenbar braucht jede herrschende Klasse einen Gott zum Lästern und eine Majestät, die beleidigt werden kann. Was ich aber noch sagen wollte: Der nächtliche Spektakel mit dem Mützen-Autodafé versinnbildlicht den Untergang der Ingenieurkaste – verstanden? Der Teufel wird ›rite‹ mit dem Feuer ausgetrieben, eine richtige Inquisition. Was sagen Sie dazu, Herr Wolf? Rote Kardinäle, rote Henker, Meßbuben, die das Weihrauchfaß schwingen, die untadeligen Parteigenossen, die in der Prozession gehn, und rote Partisanträger, die unserm alten Gott, liebe Ada, auf den Leib rücken und in den Kirchen die abgesetzten Heiligen requirieren, um sie im kunstliebenden Ausland zu Geld zu machen. Ich fürchte nur, wenn die Edelleute und ihre Maschinen erst ganz unter sich sind, werden sie anfangen, einander zu hassen!«
Während sich solchermaßen die Ekstase eines Blaustrumpfes im Gewimmel der Spaziergänger weiter austobte (sicher glaubte das Nichts von einer Dichterin, sie sei allein auf der Promenade), bemerkte Silvio, und er pfiff verächtlich durch die Zähne, wie Ada wiederholt aufatmete, wie sie ein paarmal die Ellenbogen hob, als wollte auch sie, die vernunftbegabte Tochter Charles Hartmanns, auf und davon in die blaue Luft und dort mit den Möwen um die Wette fliegen, er bemerkte, wie ihre wolkige Schönheit zu glänzen und zu funkeln begann und die Person einem weißen Pfauen gleich in Selbstvergötterung einherschritt, der Studentin zu Ehren.
Er fand es unerträglich. Jederzeit war es ihm unerträglich, wenn die beiden zusammenhielten. Gegen wen hätten sie wohl zusammenhalten sollen, wenn nicht gegen ihn? Warum hielten sie zusammen? Um ihn unter ihre Füße zu legen und mit der freundlichsten Miene ihre Schuhe an ihm abzuputzen ... Sir Ronalds Gespenst erhob sich vor ihm. Für Augenblicke war er wie außer sich vor Anstrengung, nicht in Wut zu fallen. Starr bis in die Knie rang er nach Ruhe. Die Übung war ihm geläufig. Er hielt lange den Atem an, wobei sein Gesicht weiß wurde, atmete schnell aus, begann von neuem. Nach zwei Minuten bückte er sich und zeigte Aggie seinen Zorn mit jener Beherrschung, wie sie wohlerzogene Menschen hauptsächlich in der Öffentlichkeit zur Schau tragen.
»Dicke Tatsachen«, flüsterte er etwas heiser. »Es handelt sich um grobe Wirklichkeit, nicht um den ›Sommernachtstraum‹!« Sie lachte.
»So sagen Sie doch lieber gleich: Tabu! Das Wort ist kürzer und meint dasselbe. Es handelt sich also um Tabus ... Ich muß aber noch bemerken, daß etwas Tiefsinnigeres als der ›Sommernachtstraum‹ unseres Wissens nie geschrieben wurde.« Sie betonte das »unser«. Er schielte gleich zu Ada hinüber, ihr Gang wob noch immer an ihrem Titaniakleid, und sie lächelte, als ginge sie nicht neben ihm, sondern schwebe durch einen Mondscheinwald. Nun aber schien Aggie zur Welt der dicken Tatsachen zurückkehren zu wollen: »Sagen Sie mir, was Sie eine Tatsache nennen, und ich will sehen, was sich damit anfangen läßt.«
Er antwortete zuvorkommend:
»Wenn ich, verehrte Freundin, kein Geld in der Tasche habe, um mir Essen zu kaufen, und da drüben fährt ein neuer Hispano vorbei, so sind das zwei Tatsachen, die –«
»Nein«, unterbrach sie ihn, »es ist der Anfang eines Märchens. In dem schönen Wagen möchten Sie sitzen, und vielleicht werden Sie sogar allerhand anstellen, um in seinen Besitz zu gelangen, zum Beispiel eine Revolution. Es sei denn, Sie wären überhaupt dagegen, daß man in einem Hispano fährt oder in einem Rolls Royce.«
»Dagegen bin ich natürlich gar nicht, mein Dummchen.«
Sie blieb stehn wie gebannt und starrte ihm ins Gesicht. Dann errötete sie so heftig, daß er meinte, es müsse knallen. Aus ihrem verzweifelten Unwillen heraus versetzte sie, erst stockend, dann aber fest, und man sah ihr die Mühe an, die sie sich gab, zu überlebensgroßer Grobheit aufzuwachsen: »Es gibt Ochsen, die glauben einzig und allein an die Wirklichkeit der Hörner, deshalb heißen sie auch Intelligenz- oder Pfingstochsen.« Das Letzte schrie sie fast, und sie war so rot, daß es schien, die ganze Gestalt sei in eine Welle empörten Blutes getaucht. Sie streifte Adas Hand, wie man rasch einen wunderreichen Gegenstand berührt, der von Krankheit heilt, und lief als das Wiesel, das sie in ihrem blinden, ohnmächtigen Zorn noch immer blieb, zwischen den Autos über den Fahrdamm.
Hundert Schritte entfernt stand Bieterle. Er war den dreien ungesehn gefolgt. Seitdem sie ihn bei ihrem Versöhnungs- und Gründungsessen im Negresco schnöde im Stich gelassen, statt mit Rücksicht auf seinen Anzug ein weniger vornehmes Restaurant zu wählen, hielt er sich zurück und zeigte sich nur, wenn Aggie ihn ausdrücklich rief. Als er sie im Zickzack über den Fahrdamm flitzen sah, griff er sich erschrocken zur Kehle, eine Sekunde später überquerte auch er den Damm, diesmal ohne verkehrshemmende Umstände, wie ein Turm fegte er hinüber. Gleich darauf hatte er Aggie eingeholt.
Sie begrüßte ihn, indem sie dicht neben ihn trat und sich auf die Fußspitzen stellte. Vorsichtig berührte sie seine Schulter und blinzelte, den Kopf weit zurückgeworfen, in eine Bogenlampe, die in der Sonne blitzte. Die andre Hand spielte mit der Goldkette. Nachdem sie so ihren Standort auf dem Meere des Lebens bestimmt hatte (»Schlechte Fahrt«), nickte sie dem Schwaben traurig zu und setzte sich in Bewegung. Schweigend begleitete er sie bis an die Tür ihres Hotels. Hier sagte sie:
»Sie müssen wissen, Bieterle – es steckt an. Ich kann schon so grob sein wie er ... Würden Sie sich an meiner Stelle entschuldigen? Eigentlich entschuldigt er sich nie.« Er sah sie groß an. »Ach so, Sie ahnen ja nicht, was geschehn ist.«
»Doch, doch, verehrte Aggie. Ich kann es mir denken. Deshalb antworte ich nicht.«
»Ich warte jedenfalls bis morgen früh«, sagte sie, als machte sie Bieterle ein Zugeständnis. Erhob die gewaltigen Schultern und wartete hilflos, bis die Drehtüre sie in die Hotelhalle gequirlt hatte. Als er sich zum Gehen wandte, fuhren Silvio und Ada in ihrem weißen Wagen vorbei, Monte Carlo zu. Die Gräfin Breisach sah sich um, erkannte den Amtsgerichtsrat und winkte ihm eine Aufforderung zu, die er wohl verstand (»Kümmern Sie sich um Aggie, mein Lieber!«), aber leider nicht befolgen konnte.
Wolf, nachlässig in die Ecke gelehnt, sturte vor sich auf die Straße. Jetzt kam die Kurve, die Straße mußte sich durchzwängen zwischen dem eckig vorspringenden Schloßberg und der Stelle, wo der Strand unmittelbar ins Meer abfiel, der Chauffeur gab Signal, und Bieterle kam es vor, als habe der Wagen einen biegsamen Rücken so legte er sich in die Kurve. »Biegsam«, »schmiegsam«, dachte er mit traurigem Neid ... Über die Mauer spritzte das Meer seinen Gischt bis auf den Damm. Die Räder wischten darüber. Und Bieterle begriff, daß er ein Statist im Leben war, grobknochig, ungelenk und unsentimental, ein Provinzstatist, verstärkte er, und es ewig bliebe. Und wie es bei ihm zu gehn pflegte, wenn ihn sein zweites Gesicht anfiel, folgte auf die eine Erleuchtung gleich die andre. Er blickte auf die Stelle, wo das Meer nicht gerade Silvios Füße, aber doch die Räder seines Autos geleckt hatte, und erklärte halblaut:
»Der Kerl wird bestimmt noch Minister.«
Am späten Abend hielt Ada einen Brief in der Hand, den Aggie ihr durch einen Boten geschickt hatte. Er enthielt ein Gedicht.
Ich liebe dich –
Das ist wie die Blume,
Die jedes Jahr wiederkommt
In Treue beflissen
Sobald der Specht, klopfend,
Sie an ihr Versprechen gemahnt.
Ich liebe dich –
Das ist wie die Blume,
Die vergeht, wenn der Wind
Ein Bote der Sterne
Die Vögel, ihre Spielgefährten,
Auf einmal entführt.
Darüber stand: »An Ada.«
Sie sank in einen Sessel und blickte lange in das goldgelb verschleierte Licht der Lampe. In diesem Licht hatte ihr Haar einen blonden Schimmer, sie sah es, als sie endlich aufblickte, im Spiegel, und sie erschrak, wie jung sie war, ein großes Mädchen ...
Sie eilte zu Aggie.
Aggie lag schon zu Bett, sie öffnete die Arme, und Ada fiel vor dem Bett auf die Knie und in Aggies Arme. Plötzlich brach Aggie in ein Schluchzen aus, und auch Ada weinte. So lagen sie umschlungen, bis Aggie leise bat: »Geh jetzt, Liebe, geh! Mir ist nicht gut ...« und Ada auf den Fußspitzen hinausschlich.