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Auf dem Hartmannsweilerkopf

Aus dem Pavillon kam ein Brief:

»Vorsicht! Junge Liebe! Nicht schütteln!

Die beiden Gestalten am Eingang eures Hauses, seit vier Jahrhunderten versteinert im Gebet für die Familie Breuschheim – haben sich heute gerührt. Nehmen wir an: aus Wohlwollen. Ich stand vor ihnen mit Gabriele und Jacquot, und Gabriele sagte: Du, Jacquot, nach dem Mann da bist du gemacht! Und du nach der Frau, sagte Jacquot. – Stimmt, mein Lieber! Stimmt! Ihr Junge gleicht dem Alten mehr als Ihnen, und Gabriele hat den gleichen kühnen Schnitt des Gesichtes wie die Gnädige, dasselbe, etwas vorspringende Kinn (man bemerkt es nur von der Seite) und die weit auseinanderstehenden Augen. Da ich gerade meinen Apparat bei der Hand hatte, befahl ich, kurz entschlossen und zielbewußt, wie ich bin: Kniet hin, Kinder, ich photographiere euch alle vier, das A und O der Familie, die Erbauer des Schlosses und ihre letzten Erben. – Statt dessen tat Gabriele einen Sprung auf den steinernen Breuschheim und küßte ihn auf den Mund, und zwar kräftig, es glich fast mehr einem Biß als einem Kuß. (Übrigens: Kuß und Biß haben verwandte Gesichter.) Der Alte lächelte, die Gnädige guckte erstaunt. Darauf standen die Jungen wieder da, rot bis in die Ohren, und Gabriele sagte: Bißchen kalt! Er: Du hättest ruhig mich küssen können, der Alte gehört längst ins Museum. – Gabriele schaute furchtbar beleidigt und war mit dem Wind um die Ecke. Mich wunderte die Flucht, das Fräulein hält doch sonst allerhand aus. Vielleicht floh sie aber nur vor der Ohrfeige, die sie kraft eines Naturgesetzes dem Jungen hätte verabreichen müssen. Jacquot, gefaßt wie ein Mann, zeigte auf die Gnädige: Sie gleicht ihr wirklich, komisch – wie, Aggie? Na, dann knipsen Sie wohl vorläufig die Urahne und mich allein. –

Was geschah. Ich lerne Schreibmaschine. Endlich ein ehrliches Handwerk. Grüße und einen Purzelbaum für Annette – einen langen, bei dem man die Hose sieht.

Aggie, Daktylographin«

 

Es war Sommer, zu allen Tageszeiten drang das Klappern der Maschine aus dem Pavillon. Aggie betrieb das neue Geschäft mit Eifer. Einmal, bei Westwind, erreichte mich das Klappern sogar in den Reben, und da die Tonstärke im Winde wechselte, klang es, als wären verschiedene Maschinen in Gang, und ich dachte mir auch, das seien Signaltrommeln, mit denen die kleinen Teufel, die das Land nicht zur Ruhe kommen ließen, sich über ihre Unternehmungen berieten.

Vorläufig wußte ich zwar, handelte es sich um ziemlich harmlose Dinge. Aggie verfaßte Aufsätze über elsässische Folklore und Geschichte, die unter Silvios Namen an Straßburger Zeitungen gingen, wobei die Richtung des Blattes keine Rolle spielte. Sie erfüllten ihren Zweck, wenn sie den Namen des angeblichen Verfassers bekanntmachten. Obwohl Aggie nach Möglichkeit jede Spur ihrer Eigenart verwischte, ja, nicht davor zurückschreckte, bekannte Schriftsteller zum Vorbild zu nehmen, um den Verfasser als einen talentvollen Anfänger hinzustellen, der es täglich besser mache, blieb ihre Hand, wenigstens für mich und einige andre, unverkennbar. »Sie verstellt sich großartig«, sagte Kern, und Adam fragte, ob sie sich schließlich nicht dabei ein Glied verrenken werde. Die Öffentlichkeit sah einen aufgehenden Stern und begrüßte ihn mit jenem Heimatstolz, der auch, als einzig erkennbare »politische Überzeugung«, den Aufsätzen des Verfassers freundliche Schwingen lieh.

Eines Tages kam ich am Pavillon vorbei und hörte, wie Silvio seiner »Mitarbeiterin« in die Maschine diktierte. Ich blieb offenen Mundes stehen: er konnte es fast schon so gut wie sie! Der Aufsatz, die Schilderung einer Autofahrt durch seinen künftigen Wahlkreis, erschien, und ich mußte bei Adam und Kern die Autorschaft Silvio Wolfs mit meinen Ehrenwort bekräftigen, damit sie es glaubten. »Paß auf«, lachte Kern, »der frißt auch noch die richtige Aggie Ruf, und kein Mensch wird wissen, wo sie geblieben ist.« Adam brummelte nach einer Pause, die er sichtlich benötigte, um erstgeborene Bosheiten abzuwürgen: es sei schon recht so! Da wir nun einmal beschlossen hätten ihn zu wählen, solle der Wolf sich anstrengen und Ehre für uns einlegen.

Kurz darauf saßen Aggie und ich in meiner alten Vogelhecke, ich beglückwünschte sie in dem hier gebotenen Flüsterton zu den Fortschritten ihres Schülers.

»Oh, er macht es schon lange selbständig«, versicherte sie. »Nur die allerersten Aufsätze waren von mir. Wir wollten keine Zeit verlieren, bis er selbst so weit wäre. Übrigens hat er früher schon geschrieben ... Pst!«

Sie duckte sich und spähte durch ein Loch in der Hecke. Über den Rasenplatz kamen Silvio und Ada geschritten. »Vorsicht! Nicht schütteln!« kicherte Aggie.

Als die beiden bei einem Magnolienbusch anlangten, der sie vor dem Haus, nicht aber vor uns versteckte, rief Ada etwas uns Unverständliches und fiel, anscheinend im Scherz oder Übermut, ihrem Mann um den Hals. Sie machte sich frei, bog den Kopf zurück und küßte ihn noch einmal, diesmal im Ernst. Als sie aus der Umarmung auftauchte, stand sie vor ihm, trotz der Entfernung sahen wir, wie sie zitterte, und hielt den Blick zu Boden gerichtet. Sie nahm den Hut ab und schüttelte das Haar, die tiefen Farben der Wangen schimmerten unter dem Silberfall der Mähne. Sie setzte den Hut auf und versuchte, das Haar unter den Rand zu schieben, griff immer daneben. Sie trat einen Schritt zurück, die Augen der beiden trafen sich und blieben verhaftet. Ohne einander wieder nahe zu kommen, schritten sie weiter.

»Ein herrliches Menschenpaar!« flüsterte Aggie. »Allein um ihrer Liebe willen muß man sie lieben.« Ich warf schnell einen Seitenblick auf sie. Die Wahrhaftigkeit, blaß und rosig, stand ihr im Gesicht.

»Sie sind unterwegs zu Ihnen«, sagte ich.

»Glauben Sie? Ich bleibe aber lieber hier ... Ah, da kommt der Herr Zaunkönig!« Wir wandten unsere Aufmerksamkeit wieder den Vögeln zu.

Nach einer Zeit kehrten Silvio und Ada, Arm in Arm, auf demselben Weg zurück. Gleichzeitig stürmten Jacquot und Gabriele um die Ecke des Vorgartens. Bevor das Paar sie erblicken konnte, hatte das Mädchen Jacquot am Arm gepackt und ihn auf die Sommerrabatte gezogen. Hinter den Stauden warfen sich beide zur Erde. Dann krochen sie wohl auf der andern Seite heraus, denn sie kamen nicht mehr zum Vorschein.

»Glauben Sie mir«, flüsterte Aggie, »die da haßt ihren Stiefvater mit derselben Kraft, wie sie ihre Mutter liebt.«

»Aus welchem Grund, meinen Sie?«

»Da kann es viele Gründe geben, lieber Claus ...«

Und wieder nach einer Zeit beobachteten wir, wie Balthasar Breuschheim sich einen Sessel auf die Terrasse stellen ließ und darin Platz nahm. Ich hielt die Hände als Trichter vor den Mund und pfiff, so laut ich konnte, Jacquots Signal, den Ruf der Goldammer – mit dem Erfolg, daß es in der Hecke einen Aufruhr des Unglaubens gab, dem ein allgemeiner Ausbruch folgte, während drüben am Haus Balthasar Breuschheim sich aufrichtete und, die Hand über den Augen, in unsre Richtung spähte. »Gehn wir zu ihm«, sagte Aggie mit ihrer zärtlichsten Stimme.

Wir liefen über den Rasen und durchquerten den Forellenbach auf Steinen, und natürlich geriet Aggie mit einem Fuß ins Wasser. Da erst fiel uns ein, daß wir nicht mehr so jung waren wie Jacquot und Gabriele. Gemessenen Schrittes setzten wir unsern Weg fort. »Und morgen fahren wir auf den Hartmannsweilerkopf«, meldete Aggie. »Jacquot hat frei. Ich habe Balthasar die Hand darauf geben müssen ... Er verspricht sich Wunder von meiner Konfrontation mit eurem heiligen Berg und behauptet von ihm, er stelle alle andern Andachtstätten und Gipfel des Landes in den Schatten – in einen Schatten, worin ein ewiges Licht brennt ...«

Sie trug den nassen Schuh hinkend in der Hand, und auf der Terrasse und vor Balthasar angelangt, salutierte sie mit ihm, und zwar als der weibliche der beiden letzten Edelleute am Rhein, voller Stolz auf ihre Waffe und den dazu gehörenden kleinen Fuß.

 

Gabriele guckte über sich in den glanzlos blauen Himmel, ihre Nasenflügel überlief ein Kräuseln.

»Du, Jacquot, wir kriegen Gewitter.«

»Fein! Liebst du auch Gewitter?«

»O ja, sie machen unternehmungslustig. Aber sag den andern nichts, sonst schließen sie den Wagen oder bleiben gar zu Haus.«

Ich stieg mit Aggie ein. Sie trug ein kurzes weißes Kleid, weiße Seidenstrümpfe und einen Strohhut von gleicher Farbe, dazu rote Wildlederschuhe und einen roten Puschel am Hut, der die Leichtigkeit ihrer Erscheinung gleichsam mit einem Ausrufungszeichen versah. In Unterhügeln nahmen wir Silvio und Ada auf. Er betrachtete Aggie mit Wohlgefallen: »Werden wir je wieder einer so schicken Dame auf der Barrikade begegnen?« Wir antworteten lachend: »Niemals!« Er setzte sich in den Hintergrund des Wagens zwischen Aggie und seine Frau, vor ihnen saßen die Kinder, ich führte.

»Es gibt ein Gewitter«, verschnappte sich Jacquot. »Quatsch!« widersprach Silvio. »Keine Spur von Gewitter.« Jacquot spürte Gabrieles Ellenbogen in seiner Seite und blinzelte ihr zu.

Als wir durch Colmar kamen, sahn die Kinder, daß der krähende Hahn auf dem Kriegerdenkmal schon ersetzt war, und der neue schien noch größer als sein Vorgänger. Aggie räusperte sich, worauf Jacquot Gabriele zuflüsterte: »Hörst du? Aggie gibt Laut ... Sie hat recht. Die Dinger wachsen so schnell nach. Wir kommen nicht mit.« Gabriele versetzte: »Schluß damit!«

»Das sowieso«, meinte Jacquot. »Hier am Rhein ist nicht mehr zu leben.«

»Ja, wo sollen wir denn sonst leben?« fragte sie ängstlich, erhielt jedoch keine Antwort. Der Junge war voller Geheimnisse.

Hinter Mülhausen zog ein Gewitter auf. »Das Gewitter!« rief Jacquot hinten. Damit es aber nicht nach Rechthaberei klinge, fügte er schnell hinzu: Paßt auf, gleich fängt der Hartmannsweilerkopf an zu reden.«

»Hier kommandieren die Kinder sogar das Wetter«, merkte Silvio unfreundlich an.

Von allen Seiten eilten Wolken über den Himmel, es bereitete sich ein großer Zusammenstoß vor.

Von einer Wolkenbank über Sennheim hing ein rauschender Vorhang herab, der schleifte langsam über das Städtchen. Uns erfaßte er vorläufig noch nicht, mit Stimmenmehrheit wurde abgelehnt, das Verdeck zu schließen. In gerader Linie fuhren wir auf den Hartmannsweilerkopf zu, mit uns fuhr das Gewitter. Es donnerte zur Rechten, es donnerte zur Linken, ein kurzer Regen fiel, es war nur ein abgesprengter Trupp, der hastig über uns wegstürmte. Noch ein paar Minuten Stille, dann barst der Himmel unter dem Zusammenprall der Wetter, auf dem Gipfel des Hartmannsweilerkopfes lagen die Blitze wie Schnee. Als die Straße eine Biegung machte, sahen wir den Train des Kriegszuges über der Ebene versammelt. Er staute sich bis hinter den Schwarzwald, dessen Umrisse in der düsteren Masse verschwammen ... Vor uns, die der Wagen dahinriß, krachte Schlag auf Schlag, und so beständig war jetzt das Leuchten der Blitze auf dem Gipfel, daß er in seiner überirdischen Klarheit schon ein Unterpfand des Friedens schien. Doch aus dem Gepolter der Zusammenbrüche gellte die Erneuerung der Zornlust mit hagerem Schrei, und die Birken am Weg spürten die Ohnmacht und vergingen in Scham und Asche vor der Gewalt, die sich übernahm ... Gleich darauf war das Gewitter vorbei, wie aufgesogen von der triefenden Ebene. Neben der Straße erschien ein Friedhof mit einer Unmenge von nassen, weißen Kreuzen, ein Viereck, sauber abgestochen, die Kreuze gerichtet, als hätten die Gräber sich zur Parade aufgestellt und präsentierten statt längst verrosteter Gewehre die frischen, kleinen Kreuze ... Dem einen Friedhof folgte in der gleichen Haltung ein zweiter, ein dritter, die Kinder hörten auf zu zählen.

Eine Tafel stand am Weg, der Wagen fuhr langsamer, und auf der Tafel stand geschrieben: »Ceci est un cimetière de passage.« Dies hier ist ein Durchgangsfriedhof ... Der Wagen hielt, wir stiegen aus, und nun begingen wir langsam das gemeinsame Grab von sechzigtausend Männern, Franzosen und Deutschen.

Den Unterschied zwischen Freund und Feind hatten sie selbst verwischt, wie sie ineinander eingedrungen waren, sich miteinander durchsetzt hatten, sie lagen, wo sie gefallen waren, unlöslich verstrickt und Schicht um Schicht übereinander geworfen und zugedeckt vom jahrelangen Ausbruch des Berges. Sie trennen? Gerade so leicht hätte man den Berg gespalten ...

Im armseligen Wald zauberte ein Schweigen, gleich unter den ersten Bäumen krochen, vermoost, immer tiefer zerfallend, mit einem ergreifend zarten Ausdruck von Mimikry die kleinen Kreuze hervor, die einsamen, verstreuten, dort, wo ein Mensch allein gestorben war. Überall gingen die Unterstände, Laufgräben und Bastionen die Versöhnung mit der Erde ein, die Blechdächer versanken in den von den Jahreszeiten aufgerührten Boden, in üppiges Gras, zwischen Hecken, die sich überschlugen. Ein Schweigen hatte begonnen und ein neuer Wald und ein Sommer, der sein Licht darüber hielt. Und dies, ich erkannte es plötzlich mit einem Gefühl von Schmerz, dies alles verriet eine heimliche Verwandtschaft mit der schwebenden, halbverwehten, im verzehrenden Lichte lächelnden Aggie – die nur durch die geringe, heftige Farbe des Lebens an Kopf und Füßen unter uns festgehalten schien ... Und mir wurde klar, daß ich sie liebte wie eine Kranke, die einem unter den sorgenden Händen zu erlöschen droht. Ich sah sie an, und als ahnte sie meine Gedanken, nickte sie mir zu, mit einem Ausdruck von Trauer, der zugleich flüchtig war und tief.

Indessen ging, je höher wir stiegen, die verstummte Schlacht weiter, das Netz der Gräben verstrickte sich ineinander, die Unterschlupfe wurden zu Bergwerken.

Auf schweren Betondecken lagen noch einmal Schutzbalken, Erde, Steine, und die Gräber selbst nahmen das Wesen der Befestigung an. Umklammert von Wällen, in Stacheldrähte eingewickelt, erhoben sie sich aus dem Geröll zerschmetterten Betons und kleingehackter Felsen. Der Unterschied zwischen dem Unterschlupf der Toten und dem der Lebenden konnte einst nur gewesen sein, daß die Toten erlöst unter einem Kreuz ruhten, auf dem ihr Name stand, indes die Lebenden ihr Kreuz noch auf den Schultern trugen und namenlos litten.

Schritt um Schritt drangen wir in die stumpfsinnige Gewaltsamkeit dieses Ringens ein. Sicher waren hier auf den paar tausend Quadratmetern bebender Erde, in den Dachsgängen zehn, zwanzig Meter unter dem Boden alle Heroismen geschehn, deren der Mensch fähig ist, sicher alle Gedanken gedacht worden und nicht zuletzt auch der Wahnsinn dessen, was geschah. Aber was übrigblieb erschien uns auf einmal würdelos, fast komisch und leider Gottes doch, vom menschlichen Laut verlassen, genau das Sinnbild des Krieges: eine umgestürzte Maschine, wie man sie zuweilen bei verlassenen Erdwerken findet, die Maschineneingeweide waren an den Tag getreten und lagen verkrümmt und verrostet da: ein Riesenwerk, hochfahrend begonnen, unter den größtmöglichen Qualen fortgesetzt, schließlich doch im Stich gelassen. Die Sonne machte es offenbar.

Und der Wald spann seine grünen Fäden darüber.

Es war häßlich, es war lächerlich, mochte es so schnell wie möglich im Wald verschwinden, wir wünschten es alle, und Aggie sprach es aus. Hier sollte es keinerlei Denkmal geben, es wäre denn das der Ohnmacht, und alle Ohnmacht war bestimmt, vom Lebendigen überholt, von Trieb und Blüte überwachsen und im Lied des erstbesten Vogels vergessen zu werden! Häßlich war es, widerwärtig und komisch, sagte Aggie, als ob sie die legendären Kavallerieangriffe, deren Bilder, an den Wänden der väterlichen Wohnung hingen, in einen Wurstkessel stürzen sähe, Brigade um Brigade, nach dem Taylorsystem. Ach, über ein Schlachtfeld, das ein Hackbrett war, und Häcksel die geopferte Jugend! Und sie blieb stehn und sagte feierlich: »So gewiß das Opfer der Sinn alles Großen ist, so sinnlos ist die befohlene Schlächterei ... Opfer bleibt ewig die Sache von dir und mir, Freiwilligkeit sein Zeichen.« Gepreßte Märtyrer, im Viehwagen verladen, im Hunderttausendgros wie die Blätter einer Kartothek ins Feuer geworfen, das schrie Hohn, schrie, brüllte Hohn über das erhabenste Geheimnis des Menschen: immer wieder mit seinem Blute zeugen zu müssen für seinen Glauben.

Jacquot und Gabriele hingen in bleicher Ehrfurcht an ihren Lippen ...

Wo der Wald aufhörte und die bloße Schädelstätte begann, das Steingeröll, vom Blust der Weidenrosen überhaucht, lud eine tief in den Berg gesprengte und betonierte, sodann mit Balken und gestampfter Erde gedeckte Kantine den Ausflügler ein, zu verweilen und des historischen Ortes bei einem Labetrunk zu genießen. Seine Vorgänger hatten hier Champagner getrunken und Shimmy getanzt. Den Tanz verbot jetzt ein Plakat. Es war ein ehemaliger Verbandplatz.

Der Wirt bot Karten feil, die auf zwölf zusammenhängenden Blättern ein Sortiment der besterhaltenen Friedhöfe zeigte, auch Pläne der Schützengräben gab es zu kaufen, und auf ihnen erkannte man alle Ausflüchte des Urmenschen wieder. Höhlen, für einen allein, der vorgeschoben war, um aufzupassen, und für ein Dutzend Männer dahinter, die auf seinen Raubvogelschrei herbeieilen sollten, um das Wild zu schlagen, und Erdgänge zwischen kunstvollen Verstellungen, die man der Natur abguckte, Tobel, in dessen Wänden man lag wie in engen Gräbern, Felsnester mit zwei, drei Stockwerken und sogar ganze Dörfer, die sich mit friedlichen Namen, Namen, die es in der Heimat gab, gegen den allgemeinen Angsttraum versichert hatten. Dazwischen starrten Tausende von kahlen, entseelten Bäumen in die Bläue des Sommertages – der gemordete Wald.

Von den Ausflüglern, die an diesem Tag den Totenberg bevölkerten, hatten die meisten in der betonierten Kantine haltgemacht, hauptsächlich die Männer, denn der Aufstieg zum Gipfel war steil, und die Sonne schürte den Durst. Einige Damen aber saßen auf Kamelhaardecken im Geröll unter dem Gipfel, tauschten Ausrufe der Bewunderung über die schöne Aussicht auf Rheinebene und Schwarzwald und schrieben Ansichtskarten. An ihnen vorbei erklommen wir die höchste Stelle des Berges. Und hier stand ein Kreuz, daneben eine Stange mit der Trikolore ...

Aggie schloß die Augen, und ich wußte: Immer werden Tausende, von Granaten geschälte und verbrannte Bäume um sie sein, wenn sie an diesen Berg denkt, an dieses Unheil und Golgatha von tausend und aber tausend Marterhölzern, wo in vier Jahren sechzigtausend schuldlose Männer von Explosionen an Pfähle genagelt wurden, von wo neue Explosionen sie in Fetzen herabholten. Immer wird sie diesen Gipfel sehn, einen Haufen rötlichen Gesteins, der in nichts mehr an einen Wald erinnert, denn hier hat die Schlacht den Wald bis in die letzten Wurzelfäserchen ausgerottet. Und an der höchsten Stelle des Gerölls erhebt sich ein Kreuz, ein schlechtes, peinlich sauberes, nachgemachtes Kreuz, ein Sonntags- und Friedenskreuz, dem man von weitem ansieht, daß es sich erst einstellte, als alles vollbracht war, Essigschwamm und Weißbluten auf die Lanzenspitze – daneben eine Stange mit der Trikolore!

Aggie öffnete die Augen, schüttelte den Kopf und sagte: »Claus, ich will mich ein wenig ausruhen.«

Ich, machte in der Nähe einen geeigneten Platz ausfindig, das Stück eines Betonblockes, und setzte mich zu ihr. Die Kinder lagerten sich auf dem Felsen, in den das Kreuz eingelassen war, Silvio und Ada gingen weiter.

Aggie lehnte den Kopf an meine Schulter.

Bäuchlings ausgestreckt auf dem warmen Stein, das Gesicht zur Ebene gewandt, unterhielten sich leise die Kinder.

»Prachtvoll, unsre Aggie«, sagte Jacquot. »Silvio hat nicht gezuckt. Das Lamm war halt wölfischer als der Wolf, da hielt er still.«

»Ja, aber«, antwortete das Mädchen gedehnt ...

»Weißt du, mir ist nachher eingefallen, wie meine Mutter sie anguckte. So mit großen, erstaunten Augen! Wie sie daheim ihre Zofe anguckt, wenn das Fräulein sie anlügt, und die lügt wie gedruckt, kann ich dir sagen. Und wenn die Mutter sie so vorwurfsvoll anguckt, gerät sie direkt in Ekstase und lügt immer toller.«

»Kenn' ich! Lügen hat was Abenteuerliches. Feine Sache!«

»Wieso?«

»Ich meine nur.«

»Ich sprach von Mutters Zofe.« Darauf erfolgte keine Antwort ... War der Junge rätselhaft heute! »Jedenfalls ist es so seit dem Krach.«

»Was für einem Krach?«

»Seit dem Krach Aggies mit meiner Mutter. Seitdem guckt sie manchmal so auf Aggie.«

»Na, und?«

»Vom Krieg war damals bestimmt die Rede.«

»Nicht auch von Silvio?« Sie dachte nach. »Nein.« Die beiden versanken in Nachdenken.

»Hör zu, Gabriele«, begann Jacquot nach einer Weile. »Ich habe zwar versprochen, mit niemand darüber zu reden, weil es eine Schande für mich sein soll ...« Er wandte ihr das Gesicht zu. Sofort veränderte sich das ihre. Gespannt, ein wenig ängstlich, doch schon voll trotziger Parteinahme sah sie ihn an. »Sie haben mich gestern von der Schule geschaßt«, sagte er. Sie rührte sich nicht. Nach einer Pause blickte sie weg: »Ach, deshalb bist du heute so«, und dann fuhr sie auf: »Wer hat uns verraten?«

»Ja, stell dir vor, ich habe ein Billett von dir im Aufsatzheft liegen lassen! Es stand nur darin, daß wir uns dann und dann am Rhein treffen wollten, sonst nichts, ein uraltes Ding, keine Ahnung, wie es in das Heft kam. Unterschrieben war's: Im Auftrag der Weißen Scharen, Deutsche Sektion – und ein G.«

»Da haben sie natürlich nichts aus dir herausgebracht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du hättest behaupten können, die Weißen Scharen seien Briefmarkensammler.«

»Ich habe gar nichts behauptet. Ich habe sie schreien lassen. Einmal waren sie ganz nahe an der Wahrheit.« Erschrocken streckte Gabriele die Hand und packte ihn am Rockärmel. »Und?« fragte sie. »Nichts. Ich begann nämlich auf einmal, furchtbar zu lügen. Ganz sinnlos. Aber es war großartig. Da sagten sie wütend, ich könnte daheim bleiben, ich sei geschaßt, und alles andre würde sich finden ... Ich habe mich vor den Herren verbeugt und bin gegangen.«

Unter heftigem Schlängeln des Körpers rutschte das Mädchen näher. Dicht an seiner Seite angelangt, warf sie den Arm um seine Schultern und schüttelte ihn kräftig. »Jacquot, ich bewundere dich!« verkündete sie mit zusammengebissenen Zähnen. Dann rutschte sie wieder weg, stützte sich auf die Hände:

»Und dein Vater?«

»Halt, erst kommt der Präfekt.«

Sie fiel platt auf den Bauch. »Der Präfekt!« seufzte sie in Erwartung des schlimmen Endes, dem die Geschichte jetzt unweigerlich zueilte. Statt dessen kam ein schnelles, jedoch erfreuliches Ende.

Vom Zimmer des Schuldirektors war Jacquot stracks zur Präfektur marschiert und hatte dem schmucken Herrn den Zwischenfall berichtet mit der Erklärung, die Weißen Scharen seien eine pazifistische Vereinigung von Knaben und Mädchen, die beiderseits des Rheins wohnten und sich hie und da schmugglerischerweise auf einem der Ufer träfen. Er, Jacquot, sähe zwar darin nichts Schlimmes, aber da es ihm wegen seiner Familie peinlich sei, öffentlich von der Schule gejagt zu werden, bäte er den Herrn Präfekten um seine Vermittlung. Er wollte ohnehin aus dem Elsaß heraus, und zwar nach England. Dort werde er zwei Jahre bleiben und dann seine Studien in Paris fortsetzen und erst als gereifter Mann ins Elsaß zurückkehren ... »Ich ersticke hier«, hatte er ausgerufen, »und bin heilfroh, daß sie mich schassen! Nun bleibt meinem Vater nichts übrig, als mich zu deportieren.« Der Präfekt hatte gelacht und Jacquot in einer schönen Rede zu seinem Entschluß beglückwünscht, »für eine Zeit, in der unser Charakter noch nicht seine ganze Festigkeit besitzt, die giftigen Nebel des Rheins zu fliehen«, und ihn mit dem Versprechen entlassen, er werde das Nötige beim Direktor veranlassen.

»Was heißt das Nötige? erkundigte sich Gabriele.

»Ein reguläres Abgangszeugnis ohne Bemerkung.«

»Gut.«

An der Tür war Jacquot festgehalten und nach dem Befinden seiner Familie gefragt worden, und vom Schloß war dann das Gespräch auf den Pavillon gekommen und von dort ganz von selbst nach Unterhügeln weitergereist. »Ihre Meinung über Herrn Silvio Wolf, Jacquot, Ihre offene Meinung – so wie wir hier gesprochen haben?«

»Um Gottes willen!« stieß Gabriele hervor. »Eine Falle!«

»Falle oder nicht, ich habe sie ihm gesagt.«

»Deine offene Meinung?« Sie setzte sich, indem sie sich schnell einmal um sich selbst drehte, und starrte mit vor Aufmerksamkeit gerunzelter Stirn auf seinen Mund. »Lassen Sie ihn erst Abgeordneter sein«, hatte Jacquot geantwortet. Pause! »Vorher hat er nichts zu verkaufen!«

»Au, fein«, jubelte Gabriele. »Das hast du von deinem Vater. Und der Präfekt?«

»Lächelte. Weiter nichts. Er lächelte. Ich auch. War ein feiner Moment, Gabriele.«

»Der Herr Präfekt und du, zwei Männer, Auge in Auge. Kann ich mir vorstellen.«

»Ich bin geschaßt, aber lautlos! Im Herbst fahre ich mit meinem Vater nach England. Onkel Berrick bringt mich auf einem College unter. Sieg! Heraus aus dem elenden Land, nur nichts mehr vom Elsaß hören!«

Er lachte, laut, schrill, unbändig, und Gabriele schrie mit, und sie sprangen auf die Füße, weil man so besser schreien konnte, und tanzten wie die Wilden ...

»Um Gottes willen, was haben denn die zu lachen?« fragte mich Aggie. Wir sahen uns nach ihnen um, und auch die Damen auf der Kamelhaardecke, noch tiefer unten, drehten die Köpfe.

Da warfen sie oben die Arme in die Luft und schleuderten ihr Triumphlachen über den Berg und das ganze Land zwischen Vogesen und Schwarzwald.

Darauf saßen sie erschöpft auf dem Stein und lächelten blöde.

Und Gabriele ließ langsam den Kopf sinken, widerwillig, in kurzen Rucken, als wehrte sie sich gegen einen lastenden Griff auf ihren Scheitel. Endlich fiel ihm ihr Schweigen auf:

»Gabriele, was ist los?«

Sie antwortete trotzig:

»Dann gehe ich auch.«

Er stammelte etwas wie: »Selbstverständlich gehst du auch ...«, aber mehr brachte er, obgleich er wiederholt dazu ansetzte, nicht hervor.

Alles mögliche ging ihm durch den Kopf, er wurde traurig, und allmählich fand er auch den Grund. Er dachte daran, daß die Absicht, Gabrieles Schwester »aus der Verbannung heimzurufen, in die die Witwe Graeßlin sie geschickt«, niemals verwirklicht worden war, zweifellos auf Silvios Wunsch, daß Gabriele mehr in Breuschheim lebte als bei ihren Eltern in Unterhügeln und ihre Mutter selten allein sah. »Meine Eltern haben Flitterwochen«, meldete sie zuweilen ... Er erinnerte sich an einen Sonntagmorgen im Park, als Gabriele plötzlich vor ihrer Mutter stand, einen Augenblick wartete sie, ob nicht Silvio hinter ihr auftauchte, dann fiel sie die Mutter an wie ein Hund, der seinen Herrn wiederfindet ... Er erinnerte sich an gewisse Blicke, an halbe Worte, womit seine Freundin verriet, wie überflüssig sie sich zu Hause fühlte, wie unerwünscht, und was waren das für unermüdliche Spaziergänge auf dem Pappelweg, hin und her, hin und her, bis Jacquot, der von der Schule kam, auf der Landstraße erschien und sie zu winken begann, stockenden Schrittes, als wüßte sie nicht, sollte sie kehrtmachen oder ihm freimütig entgegenlaufen! Was für Sonntage, an denen nichts sie trennte, und welche Abschiede, täglich gegen Abend, Abschiede, für die sie hundert Zeremonien erfand und von denen ein jeder, Jacquot empfand es jetzt mit heißem Schmerz, ein jeder ein ängstlich verheimlichtes Trauerspiel war ...

Und plötzlich befiel ihn ein Schrecken. Es war ihm klar geworden, dies alles bedeute mehr als nur Vernachlässigung und daß Gabriele die Zärtlichkeit der Mutter, die Gesellschaft der Schwester vermisse, wie er bisher gedacht hatte. – Jacquot erstarrte. Die Möglichkeit, daß nicht er allein liebte, daß auch sie ihn liebe, stand vor ihm auf wie eine riesige Gestalt, deren Umrisse flammten. Das unruhige Feuer verschwand, und es blieb eine finstere, unförmige Form, das Feuer kam wieder, züngelte nach ihm. Dies wiederholte sich mehrmals. Er wagte nicht, Gabriele anzuschauen, wagte kaum zu atmen, und auch das Mädchen hielt den Kopf abgewandt und schwieg.

Als setzte sie ein stummes Gespräch laut fort, erklärte sie unvermittelt: »Stimmt, Jacquot, hier kann man's nicht aushalten ... Ohne die Weißen Scharen ... Ohne dich ... Wir verschwinden einfach, du nach England und ich zu meiner Schwester nach Genf.« Er begegnete ihrem kalten Auge, dem hochmütigen Mund.

Die heiße Angst, geliebt zu werden, verließ ihn.

 

Aggie ruhte an meiner Schulter.

Sie sagte:

»Ich hoffe, Sie haben mich vorhin nicht mißverstanden ... Da ist das Proletariat aller Zonen, Sie können es nicht übersehn – aber nein, das tun Sie ja gar nicht, ich will lieber anders anfangen. Claus, es war wirklich der Krieg, den ich verfluchte, nicht nur den Krieg, wie ihn von je die Ausbeuter gegeneinander führten, nein, auch unsern Krieg, ich behaupte nicht, daß es gute Kriege gibt, und auch nicht, daß die Revolution kein Krieg sei ... Im Gegenteil, sie wird der schlimmste sein, eine Gewalttat und Metzelei ohnegleichen, denn sie nimmt kein Ende vor der Ausrottung der bürgerlichen Gesellschaft rund um den Erdball. Sie sehn, Claus, ich mache keine Ausflüchte, ich mogle nicht, ich nehme nicht einmal die Hilfe unsrer gottlosen, aber herzhaften kommunistischen Theologen in Anspruch, von denen wir eine ganze Anzahl haben, weil eben für jedes Gift ein Gegengift zur Hand sein muß.«

»Jawohl, Aggie, seitdem die Revolution das größte Reich der Erde beherrscht, mogelt sie nur noch im kleinen.«

»Der Krieg«, fuhr sie unbeirrt fort, »ist die Erbschaft, die die Unterdrückten neben andern Scheußlichkeiten von ihren Unterdrückern übernommen haben. Dieser Krieg hier. Der Krieg des Hartmannsweilerkopfes. Wir aber kämpfen allen Ernstes für die Welt, allen Ernstes für die Menschheit und nicht für falsche Lockvögel dieses Namens. In diesem Kampf nimmt das Proletariat die Lebensbedingungen der feindlichen Klasse in sich auf, Tugenden wie Laster – wie könnte es anders sein? Die Arbeiter sind nicht besser als wir, wie sollten sie auch? Wir haben sie ja zu dem gemacht, was sie sind, vergessen Sie es nicht, Claus. Ich meine, wenn das Proletariat auch Krieg führt, so geschieht es nicht mit dem Ziel, Beute zu machen oder Beute sicherzustellen oder eine neue Klassenherrschaft aufzustellen.«

»Doch, darum handelt es sich«, unterbrach ich sie. »Sowjetrußland ist eine reine Klassenherrschaft.« »Einen Augenblick, bitte! Ich wollte natürlich gerade sagen, daß auch nach dem Sieg und dem wirklichen Ende des Krieges der Arbeiter noch lange Proletarier bleiben wird, jedenfalls im geistigen Sinne, weil er auch noch den Feind in sich selbst auslöschen muß, alles, was während der langen Knechtschaft an Instinkten und Gedanken von uns in die Arbeiterschaft übergegangen ist, und danach erst wird das Proletariat wirklich ausgelöscht und der Mensch geboren sein und die Gemeinschaft, die uns erlaubt, menschenwürdig zu leben und die Arbeit unserer Hände ehrlich zu verwalten ... Sagen Sie mir, Claus, wie soll er anders zur Welt kommen, der Mensch da doch heute und von jeher ein jeder in die enge, böse, tyrannische Form einer Klasse hineingeboren wird? Bis wir den Zwang überhaupt erkennen, hat unser Geist bereits dessen Form angenommen, und so kommen Geschlechter um Geschlechter als Gefangene zur Welt ... Einen Augenblick, bitte! Ich weiß, was Sie antworten wollen. Die Gesellschaft könne nur verändert werden, indem der einzelne sich verändere, durch eine lang andauernde Revolution des Menschenherzens, durch Lauterkeit der Lebensführung, Vorbild und Beispiel. Der Krieg könne niemals den Krieg töten, vielmehr enthalte jeder Krieg schon den Keim eines neuen Krieges, und das Leben des Menschen sei heilig, und das unsittliche Mittel, also Gewaltanwendung bis zur Tötung des Nächsten, verfälsche das sittlichste Ziel, in diesem Fall den klassenlosen Staat, das Reich der Gerechtigkeit auf Erden, und deshalb werde nach beendeter Revolution zwar die Regierungsform und die Zusammensetzung der Regierungsmannschaft, sonst aber nichts geändert sein.«

»Am allerwenigsten das Wesen des Menschen. Ja, Aggie, das wollte ich Ihnen antworten. Und das ist doch wohl entscheidend. Denn sonst geht die ganze Geschichte früh oder spät von vorn an.«

»Claus, so habe ich ja selbst früher gepredigt ... Und alten Jungfern und Kindern die Köpfe verdreht. Es war alles Unsinn! ... Um gegen mich gerecht zu sein, muß ich allerdings zugeben, daß ich auch auf Männer Eindruck machte mit meinen gemütvollen Beschwörungen. Sie hatten den Krieg noch in den Knochen und ihre Frau wieder bei sich im Bett. Erschrecken Sie nicht, Claus, wenn ich so deutlich werde wie – wie Ada ... Jetzt schauen Sie sich um, Claus! Halb Europa liegt im Kriegsfieber, keine Spur mehr von Gemüt und Menschenliebe!«

»Am allerwenigsten im Kreml. Harte Kerle sitzen da.«

»Harte Kerle.«

»Wundern Sie sich, wenn die bürgerliche Gesellschaft Wert darauf legt, Ihnen ebenso harte Gesellen entgegenzustellen?«

»Dort, wo sie es noch kann! ... Nicht im geringsten wundere ich mich, Claus. Ich finde es völlig in der Ordnung. Wir erwarten es nicht anders. Nur werden wir ihnen zuvorkommen oder, wenn sie zuerst losschlagen, den Krieg, ihren Krieg kräftig in Unordnung bringen. Her mit Gewehren, Kanonen und Giftgas! Setzt noch einmal die Welt unter Waffen! Heute weiß jeder Arbeiter, was er damit anfängt, in jedem Land wird er auf die erstbeste Gelegenheit warten, nach oben loszuschlagen statt nach vorn ... Manchmal meine ich sogar, noch ein Krieg wie der letzte, das wäre für uns das kürzeste Verfahren ... So, Claus, sieht die Wirklichkeit aus. Ihr in Breuschheim reitet indessen euren alten Gaul zu Tod ... Individualismus! Damit ist es auf ewig vorbei.«

»Damit, Aggie, ist es so wenig vorbei, daß der Individualismus noch nie, seitdem die Welt steht, eine so rasende Gesundheit bewiesen hat! In Wirtschaft und Politik, überall ein verborgener oder offener Bonapartismus! Es wimmelt von kleinen Korsen und Offizierschülern, die hinauf wollen, und ein paar sind auch schon glücklich oben. Und halten sich! In Rußland ging es zuerst los, da zeigte es sich gleich, wieviel die Uhr geschlagen hat. Sie wissen, nach der Oktoberrevolution rechnete Lenin nur mit einer kurzen Dauer der Bolschewikenherrschaft. Das bäuerliche Rußland war ja denkbar unreif für die sozialistische Staatsform. Der Marxschen Lehre zufolge konnte die Oktoberrevolution nur ein Staatsstreich von geringem Umfang und beschränkter Dauer sein, ein Glücksfall der Geschichte ohne unmittelbare Folgen. Aber der romantische Bonapartist Trotzki behielt recht gegen den Marxisten Lenin. Aggie, ich will Ihnen ein Geheimnis ins Ohr flüstern. Wenn es heißt, mit dem Individualismus sei es zu Ende, und die Spatzen pfeifen es ja von den Dächern, daß es damit vorbei sei, ob sie nun für die rote Diktatur pfeifen oder für die weiße, – immer, Aggie, ist mit Individualismus der freie Mensch gemeint, der Mensch, der sich weder danach sehnt, zu kommandieren, noch, kommandiert zu werden, der weder Sklave sein noch über Sklaven gebieten will. Das ist nämlich heute das unerwünschteste Exemplar von einem Menschen.«

»Ach, Claus, was ist ein freier Mensch?«

»Jemand, der mit sich selbst im reinen lebt«, erklärte ich fröhlich.

»Der wird sich aber bald mit allen andern überwerfen!« versetzte sie.

»Nein, Aggie, ein gutes Gewissen ist der beste Ausgangspunkt, um auch mit der Welt ins reine zu kommen. Freie Menschen kennen Güte und Mitleid und pflegen freundlich zu sein, wenn sie nicht gerade an der Leber kranken.«

»Lassen wir die Leber«, sagte sie ernst ... »Gutes Gewissen? Auch Gewissen werden geformt.«

»Deshalb geht der freie Mensch mit dem seinen auch sehr zart um. Und dieser Umgang macht ihn höflich und wachsam. Er spitzt Nase und Ohren, wenn die andern noch nicht einmal den Wind hören ... Liebe Aggie! Je mehr ich an den freien Menschen denke, desto vergnügter werde ich. Da sehn Sie die Wirkung! Freischärler, auf nichts als ihr gutes Gewissen vereidigt – das können die wichtigsten Menschen sein, Aggie! Die Siegelbewahrer des Anstands und der Gerechtigkeit. Jawohl, der uneigennützigen Gerechtigkeit, deren Bild selbst hundert Jahre Diktatur nicht im Bewußtsein der Menschen zerstören werden! Der freie Mensch? Nehmen Sie ihn als den vorläufig letzten Priester und Verkündiger dieser Gerechtigkeit, auch wenn er sich in Katakomben verkriechen muß mit seinen einzigen armseligen Waffen des Verstandes und des Gefühls. Nein, nein, Aggie, an der Menschheit dürfte man erst verzweifeln, wenn es ihn nicht mehr gäbe, wenn der letzte freie Mensch tatsächlich ausgerottet wäre, und das wird nie sein. Und heute, Aggie? Heute, wo er von überall her bedroht ist und alle Parteien Jagd auf ihn machen, heute scheint mir der freie Mensch, Verzeihung, Aggie, es klingt unbescheiden – einfach unentbehrlich ... Einsam? ... Aggie, der Einsame allein kann gut sein. Wenn Sie je im Menschengewühl einen guten Menschen treffen, so seien Sie versichert: er ist entweder fromm oder verrückt. Denn wie sollte er sonst unter so viel Menschen einsam sein?«

»Claus, Sie werden eine Einöde um sich schaffen und darin umkommen.«

»Oh, meine Liebe! Darauf antworte ich mit dem Propheten Jesaias: Aber die Wüste und Einöde wird lustig sein, und das dürre Land wird fröhlich stehen und wird blühen wie die Lilien.«

Nun mußte auch sie lächeln.

Sie erhob sich und sagte:

»Ich frage mich, habe ich es mit einem Spaßmacher zu tun oder mit einem Monstrum von freiem Menschen?«

»Mit jenem Monstrum«, versicherte ich ...

 

Ich reichte ihr die Hand und führte sie über den steilen Hang. Ihre kleinen Füße zuckten und taumelten in dem Geröll, sie verlor bald den einen Schuh, bald den andern, die schönen roten Festmale verdarben zusehends, als würden sie in aller Form gesteinigt. Schließlich nahm ich Aggie auf die Arme und trug sie. Wir kamen an den Damen vorbei, die sich inzwischen auf ihrer Kamelhaardecke zu einem Schläfchen ausgestreckt hatten. Sie bliesen aus geröteten Gesichtern wie Robben. Um sie lag ein herbstlicher Blattfall von beschriebenen Ansichtskarten.

Dann rasselten die Kinder den Gipfel herab. Der Lärm weckte die Damen, die unter erschrecktem Geschnatter ebenfalls aufbrachen.

Wir saßen schon alle im Auto, als Jacquot und Gabriele gemächlich daherschlenderten.

»Ha! Meine Mutter und Silvio haben sich gezankt«, flüsterte Gabriele. »Sie hören nicht einmal darauf, was dein Vater ihnen erzählt ... Schau, wie er sich anstrengt, den verstimmten Herrschaften aufzuspielen! Los, ihm zu Hilfe!«

Das Mädchen lief. Die Stirn in Falten, den Mund ängstlich vorgeschoben, sprang sie auf das Trittbrett und berührte zaghaft den Arm der Mutter. »Seid ihr verstimmt, weil wir auf uns warten ließen? Verzeihung!« Ada zog sie neben sich auf das Polster, Silvio mußte rücken, um Platz zu schaffen. Er tat es sichtlich erbost. »Niemand ist verstimmt«, sagte er in rohem Ton.

Jacquot setzte sich neben mich. Das Mädchen blinzelte Aggie fragend an, und diese bejahte mit den Augen. »Wie gesagt – dicke Luft!« meldete das Mädchen leise nach vorn. Jacquot hüstelte.

»Ja, aber hört, Kinder«, nahm Ada ruhig das Wort, »ein Soldat hat uns erzählt, daß man den Hartmannsweilerkopf befestigen will.«

»Stand längst in der Zeitung«, höhnte Silvio. Da kam etwas wie Kampflust über sie: »Kinder, es stand sogar schon in der Zeitung! Der ganze Gipfel wird eine Festung, der Kriegsminister war schon da und hat alles besichtigt. Die Überreste der französischen Soldaten werden in einer Gebeinkammer gesammelt, darüber soll sich eine Kapelle erheben.«

»Das Böse wächst schneller nach als das Gute«, verkündete Gabriele. »Jacquot und ich wissen es aus Erfahrung.«

Jacquot rief hinter sich in den fahrenden Wagen:

»Und was geschieht mit den deutschen Knochen?«

»Habe ich auch gefragt, Jacquot. Aber davon wußte der Soldat nichts.«

»Sie wollen die Toten in der Erde auseinanderreißen?« fragte ich entsetzt. »Unmöglich!«

»Sie wollen«, bekräftigte Ada. »Und in der Kapelle wird Christus am Kreuz zu sehen sein.«

Gabriele sagte kleinlaut: »Der ist doch für alle gestorben ...« Und sie dachte mit Grauen an ihren Vater, von dem Savarin ihr heute geschrieben hatte, er sei mit Anna Graeßlin von Römerbad abgereist, niemand wisse wohin. »Unsinn!« rief Silvio. »Verdammter Unsinn. Schon im Mittelalter gab es befestigte Kirchen. Unser Kriegsminister ist Pazifist. Wir sind alle Pazifisten!« – »Silvio!« flehte Ada ... Er fuhr sie an: »Was willst du?« Sie bat: »Keinen Streit mit den Kindern!« Er hob die Stirn. »Muß ein Erwachsener unbedingt vor Kindern das Maul halten?«

»Nicht unbedingt«, antwortete sie leise.

Während der weiteren Fahrt sprach niemand ein Wort. Silvio hatte uns mit dem Bann seiner üblen Laune belegt, und da ich den Wagen führte, war keiner da, der den Zwang hätte brechen können. Bei sinkender Nacht trafen wir in Unterhügeln ein.

Der Hund, der Jacquot bei den Nachbarn gesucht hatte, ließ den Schwanz hängen, als er die unfreundliche Gesellschaft beschnupperte. Ich verabschiedete mich herzlich von Ada und Gabriele, mit der größten Kälte von Silvio. Jacquot hielt sich womöglich noch steifer. Nicht als ob ich den Schloßherrn von Unterhügeln für erziehbar gehalten und gehofft hätte, die Lektion würde ihn eines Besseren belehren, nein, aber er sollte wissen, daß zumindest wir Breuschheimer seine Ungezogenheiten ablehnten. Und zum Unterschied von früheren Anlässen tat ich es diesmal mit aller Deutlichkeit, selbst auf die Gefahr hin, daß Ada und Gabriele und Aggie dafür büßen müßten ...

Tatsächlich blieben die Unterhügelner lange unsichtbar, und auch Aggie hielt sich fern, zum großen Leidwesen Annettes, die schließlich die Entsendung einer Botschaft in den Pavillon durchsetzte. Als Antwort kam ein Briefchen:

»Wenn Annette morgen früh Punkt sieben antritt, darf sie zu mir ins Bett und Auto-und-Garage spielen. Große Männer haben Launen. Man sieht es ihren Denkmälern nicht an. Jedoch Klio, schamhaft, wie sie ist, vermerkt es in Geheimschrift am Rande. Bitte, für morgen fünf Uhr meinen Besuch beim letzten Edelmann anmelden.

A.«

 

Mitte Juli beschloß das Ehepaar Wolf, die »aus geschäftlichen Gründen« wiederholt verschobene Hochzeitsreise auszuführen.

Eines Abends, als in Unterhügeln die Bischöfler tagten, besuchte mich Ada, und Ada, »die die Dinge beim Namen nennt«, sagte, ich sei heute in Unterhügeln erwartet worden, da ich aber nicht gekommen sei, habe ihr Mann sie mit einer Bitte hergeschickt. Ich solle auf Aggie Ruf einwirken, daß sie mit ihnen auf die Reise ginge – angeblich sträube sich Aggie dagegen. Und nun stehe sie, Ada, vor mir und ersuche mich dringend, der Nachbarin von solch einer geschmacklosen Kombination abzuraten.

Während sie noch gegen den Plan sprach, ließ ihr Widerstand merklich nach, als würde ihr erst jetzt, da sie ihren Unwillen einem Dritten gegenüber äußerte, die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühung klar. »Verzeihung, Claus«, sagte sie: »ich benehme mich wie ein jungverheiratetes Gänschen, das bei einem Onkel Zuflucht sucht. Spielen wir tapfer in der Komödie mit, Sie, indem Sie tun, als ob Sie die Prinzipien des Anstandes bei Aggie Ruf besiegten, ich indem ich den Sieg mit gemessenem Jubel begrüße. Besser, Silvio hat seine Politik in den Fjorden leibhaftig zur Hand, als daß er mich täglich plagt und mit dringenden Geschäften droht, die ihn heimrufen. Er meint, wenn wir Aggie Ruf bei uns haben, wäre es so gut, wie wenn sein großer Schreibtisch mitreiste. Und sie nähme ja auch höchst ungern Ferien von der Revolution und würde sich allein hier langweilen. So mag denn der Schreibtisch mitreisen!«

Jedoch ich weigerte mich, »in der Komödie mitzuspielen«, bewies ihr die Sinnlosigkeit des ganzen Aufwandes, worauf sie, als fände sie ihr Gleichgewicht wieder, aufatmend beschloß, Silvio unsere Unterredung der Wahrheit gemäß mitzuteilen ... Von Aggie hörte ich nichts über die beabsichtigte Reise.

Sie fuhren zu dritt und kamen Ende August zurück. Ich erfuhr ihre Heimkehr durch ein Briefchen, das Joseph spät am Abend herüberbrachte.

»Wieder da, schlaflos. Zu still hier, mein Lieber. Keine schöne Reise. Nie wieder! An jeder Station Haufen Zeitungen von daheim. Niemand las sie außer mir, ich aber hatte Muße genug, sie auswendig zu lernen. Liegen jetzt über Dänemark, Schweden und Norwegen verstreut, keine Ziege wollte sie fressen, und wo sie in einen Garten fielen, bildeten sie Vogelscheuchen. Ich kann sie heute noch auswendig, heute und in alle Ewigkeit. Unter dem Nordlicht wurden die elsässischen Heimatrechte besprochen. Jemand saß dabei, prachtvoll und stumm, nur leise knisternd, als wäre sie es, die das zuckende Feuer am Himmel verursachte. Höre von Joseph, daß Sie nach Genf gehen zur Sitzung des Völkerbundes. Um es gleich zu sagen: Sie werden staunen über den Jahrmarkt der Verlogenheiten! Wenn Sie irgendwo einem kleinen Bolschewiken begegnen, der still vor sich hinlächelt, so grüßen Sie ihn von mir! Weil er vermutlich der einzige ist, der bei dem Feuerzauber klar sieht.

A.«

 

Der Ton des Briefes enthielt etwas beunruhigend Neues. Nicht nur, daß ich fand, seine Lustigkeit segle unter falscher Flagge, nicht nur, daß er Enttäuschung und verhaltene Rachsucht verriet – Aggies Unrast schien ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Das Flüchtige, Schwebende, doch immer noch Bestimmte war ein Flattern geworden. Ich sagte mir, daß es zwischen den dreien zur Entscheidung dränge.

Aber schon das erste Zusammentreffen mit ihr strafte mich Lügen. Sie kam, mit keinem Phantasiegebilde zu verwechseln, als unsere Aggie daher, von Annette mit dem Erkennungsruf »Aji, Aji« begrüßt, und blieb noch lange so unverändert.


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