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Cadiz, 20. Mai 1928

Silvio reiste ab, und gleich traten seine Trommler und Pfeifer in Tätigkeit.

Silvios Presse gab bekannt, der »dem Dienstalter, nicht dem Rang nach jüngste Vorkämpfer der Heimatbewegung« habe, aus Gesundheitsrücksichten und der strengen Verordnung der Ärzte nur ungern folgend, »den Süden« aufgesucht, die Zeit seiner Abwesenheit sei jedoch höchstens auf zwei, drei Wochen zu, bemessen. Die Wähler wurden beschworen, dem Ideal und seinem aus Überanstrengung erkrankten Fahnenträger die Treue zu halten. Folgte eine ziemlich zutreffende, im Wortschatz unwählerische Schilderung der heimatlichen Verhältnisse, von denen es dann zum Schluß hieß, daß sie einem Neuling von so vornehmer Gesinnung wie Silvio Wolf begreiflicherweise ganz anders zusetzten als der alten Garde, die seit Jahr und Tag im Sumpfe kämpfen müsse.

Die Klänge dieses Zapfenstreiches hingen noch in der Luft, da marschierten die Gegner mit großen Tragbändern auf: »Das Komplott aufgedeckt! Deutschland bezahlt die Autonomisten! Zahlreiche Haussuchungen! Die Führer heute verhaftet!« Dazu erklärten die Zeitungen des Präfekten, daß die »Flucht« Silvio Wolfs die Polizei veranlaßt habe, ohne Rücksicht auf die bevorstehenden Wahlen gegen die als elsässische Patrioten verkleideten Agenten Deutschlands einzuschreiten und die Vorkämpfer der Heimatbewegung hinter schwedische Gardinen zu setzen. Die Beweise für die Schuld der Verhafteten lägen vor, vernichtende Dokumente, deren Echtheit von den Angeklagten bei ihrer ersten Vernehmung nicht hätte bestritten werden können. (Das letzte stimmte. Nur waren die angeblich vernichtenden Dokumente Scherzartikel ohne Bedeutung.) Der Ministerpräsident Sarcarot kam eigens herbeigereist, um in einer Rede »der Welt die Wahrheit über das Unbehagen in den wiedergewonnenen Provinzen zu verkünden«.

Das Bankett, bei dem er sprach, war im geräumigsten Festsaal der Stadt für tausend Gäste gerichtet. Als er sich erhob, rückten neunhundertneunundneunzig der Schule längst entwachsenen Männer auf ihren Stühlen und wandten ihm ihre geröteten Gesichter zu, gern oder ungern bereit, wieder einmal am ewigen Fortbildungskurs des Vaterlandes teilzunehmen ... Da stand er, kaum größer als Napoleon, aber mit ansehnlicherer Stirn, und obwohl er Zivilist war und von einer Gesichtsfarbe, die an Kellergewächse erinnerte, wirkte er martialisch – wie ein Proviant- oder Zahlmeister. Schnurr- und Kinnbart, gelblich weiß, entsprachen der Gesichtsfarbe, aber die Augen glänzten vor Schlaflosigkeit ... Um Stirn und Augen häuften sich dünne Falten, angefüllt mit Bitterkeit und Kümmernis, dem Niederschlag sorgenvollen Ehrgeizes. Auf dem nackten Schädel lag das Lampenlicht durcharbeitetet Nächte, der Glanz der Kronleuchter konnte es nicht verwischen – in aller Helligkeit des Festsaales blieb es ein Stubenlicht, beschränkt und sparsam. Die Stimme klang hoch, und obwohl die Rede sich mühelos abwickelte, lief sie auf lauter kleinen Knoten ... Konnte dieser Mann jemals heiter sein? Ebenso gut hätte man erwarten dürfen, einen alten Weinstock wie eine Schlange zur Musik tanzen zu sehn! ... Man behauptete von ihm, das einzige, was er außerhalb des engsten Privatlebens liebe, sei das Elsaß. In Wahrheit war diese Liebe nur der Ehrgeiz (wahrscheinlich sein letzter), vom Elsaß geliebt zu werden. Wie aber sollten die Rheingaskogner einen dürren, verbissenen Lothringer lieben? Bestenfalls sagten sie mit abgewandten Augen: »Ein großer Mann ...«

Nun kann ein kluger Kopf kaum eine Rede halten, das heißt längere Zeit nach einem feststehenden Ziel schießen, ohne auch einmal zu treffen. Mancher Schuß Sarcarots saß, wenn auch nicht gerade im Schwarzen. Bei dem Geknall des ›alten Ehrenmannes‹ horchte die Welt auf, nur das Elsaß nicht. Die Elsässer hörten einfach weg. Lange Gewöhnung hatte sie abgestumpft gegen das Preisschießen auf elsässische Schießscheiben. Es war nämlich seit Jahrhunderten immer die gleiche Scheibe: ihr Gesicht – ihr Gesicht, wie sie es haben wollten, die andern, die Schützen, aber nicht ... Nachdem Sarcarot geschossen hatte, knallte ein jeder im Land, der sich als Franzose fühlte, möglichst laut hinterdrein, und aus dem Standschießen wurde eine Treibjagd.

Die Wähler schmunzelten. »Aha! Der Wolf hat den Aufmarsch gerochen und ist rechtzeitig ausgerückt.« Und sie freuten sich, auch ihrerseits den Jägern ein Schnippchen zu schlagen, indem sie am Wahltag unbeirrt für den Durchbrenner stimmten. Es gab keine Wirtschaft im Wahlkreis, wo nicht allabendlich geschrien wurde: »Vive le Loup!«, und wenn es auch oft das einzige Französisch war, das die Schreier kannten, so brannten sie darum nicht weniger darauf, ihre verblüffenden Sprachkenntnisse an den Mann zu bringen.

 

Währenddessen war Ada damit beschäftigt, den Haushalt in Unterhügeln aufzulösen. Sie entließ alle Angestellten mit Ausnahme des alten Gärtners, der ein Wohnrecht im Gartenhaus besaß, und ihrer Zofe. Wir besuchten uns oft, und beide taten wir, als wäre sie darauf angewiesen, daß ich ihr in ihren Angelegenheiten beistünde. Es sollte aber nur ein Vorwand für mich sein, ihre Angelegenheiten zu den meinen zu machen ... Als wir die Nachricht erhielten, daß Graf Breisach in Capri gestorben sei, fuhren wir auf drei Tage nach Deutschland, um die Ordnung des Nachlasses in die Wege zu leiten. Ada wollte von Römerbad gleich weiter nach Genf zu ihren Kindern reisen. Wir fanden nicht viel Arbeit vor, der Graf hinterließ nur das Schloß, und darauf standen mehr Hypotheken, als die Besitzung heute wert war. Der Hauptteil der Hypotheken ging zugunsten der Witwe Graeßlin. Was Breisach an Barmitteln besessen haben mochte (infolge der Inflation konnte es nicht viel sein), hatte er ihr wohl in die Hand geschenkt.

Der Doktor Savarin, der alles wußte, was in Römerbad vor- und rund um den Erdball Römerbad anging, konnte berichten, daß die Witwe Graeßlin ihre Tochter Anna vom offenen Grab weggeholt und in eine Besserungsanstalt gesteckt habe, ferner, daß sie selbst jetzt in St. Paul wohne, einem kleinen Ort der Riviera. Derselben Meldung eines dort herumwandernden Savarinschen Patienten zufolge war sie von den Einwohnern St. Pauls als alte Bekannte und Schutzpatronin des einst aufstrebenden Platzes und schwervergoldete Fremdenfalle begrüßt worden, und man erwartete von ihr eine Belebung des träge gewordenen Umsatzes. Dort unten hieß sie Giulietta Var. »Giulietta Var?« rief ich. »In diesem Fall kenne ich die Witwe Graeßlin seit meinem zwanzigsten Jahr. Damals schon hatte sie ein tolles Leben hinter sich, im Hafenviertel von Genua und so – wenn ich mich recht entsinne, spielten da sogar Chinesen eine Rolle ... Sagen Sie, Doktor, sie muß doch uralt sein?«

»Kein Jahr älter als Sie«, versicherte der Doktor.

»Unmöglich!«

»Bitte, ich habe sie behandelt.«

»Da wird mir erst klar«, scherzte ich, »daß ich, vom Krieg abgesehen, überhaupt noch nichts erlebt habe, daß ich ein Kind bin an Abenteuern und Wechselfällen des Schicksals und ich mich sehr beeilen muß, wenn ich wenigstens noch anfangen will zu leben ... Aber in St. Paul, da war ich dabei. St. Paul ist mir so vertraut wie – wie ...«

»Wie Maria Capponi in Person«, half Ada lächelnd. »Ja, von dir, Claus, weiß ich fast so viel wie der Doktor von Römerbad.«

Betroffen sah ich sie an. Ich versuchte, ebenfalls zu lächeln, es gelang nicht.

Dann sprachen wir vom Elsaß. Die politischen Zustände dort beunruhigten den Doktor wie eine Krankheit, die sich der Diagnose entzieht, ich machte meinem lange zurückgehaltenen Unwillen Luft und malte den Teufel kräftig an die Wand – sein Name blieb unausgesprochen. Ada mahnte zum Aufbruch.

Als wir allein waren, sagte sie unvermittelt: »St. Paul liegt nicht weit von Tourette ... Der Streit von Tourette, Claus! ... Damals sah ich einen Sieger davongehen, der sich für geschlagen hielt – es war Gurdon. Eines Tages wirst du ihm nachfolgen, sprach ich zu mir, aber du wirst härter sein ... Es kam, wie ich geahnt hatte, Claus, nur unter andern Umständen ... Eigentlich ist es falsch, daß ich von einer Ahnung spreche. Es war Gewißheit.«

Kurze Zeit darauf saßen wir auf der Terrasse meines Hauses am Waldrand. Der Wald brauste im Föhnsturm. Unberührt davon breitete sich unter uns die Ebene, ein Garten des Friedens ... Die Vogesen standen tiefblau in einem Himmel, der nur ein leichter blauer Rauch war.

Ich hatte vorhin bei Savarin das Schicksal meiner Heimat verflucht, dem die kleinen Teufel nicht erlaubten, zu sich selbst zu kommen, und die wir schalten und walten ließen, als trieben nicht weithin über Europa Teufel von ganz anderm Ausmaß ihr Wesen. Wir beschäftigten uns ausschließlich mit einem Splitter in unserm Finger, sagte ich zu Ada, während schon Herz und Lunge des Körpers, dem wir zugehörten, auf den Tod bedroht waren.

»Du solltest weggehen«, riet sie mir. »Wenigstens Ferien solltest du nehmen von all dem da drüben ... Hier ist ebenso Heimat wie dort.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf das dunkle Band von Bäumen und Sträuchern, das den Lauf des Rheins in der Ebene bezeichnete. »Flingot wird auf das Gut aufpassen, und du kannst, so oft du willst, im Wagen hinüberfahren. Wenn du dich langweilst, brauchst du nur den Wald hinaufzugehen und findest mich und die Kinder. Ja, Claus, ich habe es mir überlegt, ich werde die Graeßlin auszahlen und alles neu herrichten lassen, ich fürchte mich nicht vor Gespenstern ... Vielleicht beaufsichtigst du ein bißchen die Arbeiten im Schloß, und wenn der Berg tief wird unter seinen lichtbeladenen Bäumen, dann rufst du mich – solang bleibe ich bei den Kindern in Genf ... Claus, ich glaube fast, es wäre gut so.«

Ich nickte.

Unter der Abendsonne war die Ebene durchscheinend grün geworden, grün, als bräche ihr Blutschein hervor. Das Tal zerfloß in seinen Wiesen, es war abgründig in seinen Äckern ... Dies Land gehörte nicht mir, ich gehörte ihm. Es war eine große Person von mütterlicher Zauberkraft, ja, stärker noch als die leibliche Mutter, weil sie mit der Gewalt auch jener Mütter zu mir sprach, deren Kinder mir Freunde und Verwandte waren – in dieses Tal, auf diese Berge fiel der Widerschein aller Menschen, die ich verehrte und liebte. In dieses Tal, auf diese Berge mußte ich zurückwandern aus aller Welt, hier stand die Scheune, in die ich jede Ernte fuhr, es war der Punkt, von dem ich ausging und zu dem ich zurückkam, und dieser Weg: fort und wieder heim, zeichnete jedesmal die Bewegung des Fischzugs, den ich draußen getan ... Und Ada hatte tausendmal recht! Das Land der Vogesen und das Land des Schwarzwaldes waren wie die zwei Seiten eines aufgeschlagenen Buches, ich sah deutlich vor mir, wie der Rhein sie nicht trennte, sondern vereinte, indem er sie fest zusammenhielt. Die eine der beiden Seiten wies nach Westen, die andre nach Osten, auf jeder stand der Anfang eines verschiedenen und doch verwandten Liedes. Von Süden kam der Strom und ging nach Norden, er sammelte in sich die Wasser aus dem Osten und die Wasser aus dem Westen, um sie als Einziges, Ganzes ins Meer zu tragen ... Dieser vereinende Strom mitsamt seinen Ländern, die sich an seinen Flanken dehnten, dies war Europa, hauptsächlich dies, und jedenfalls konnte es nie ein Europa geben ohne diese Länder, wie sie der Rhein mit seiner Naht zusammenhielt, einer Naht, die ewig im Fluß blieb, damit sie nicht reißen konnte oder verfaulen ... Ich erkannte es in dieser Minute mit allen Sinnen und empfand einen zerreißenden Frieden – wie die Gegenwart eines unendlichen Wesens, das sich mit mir vermischte und zugleich mit diesem Land, auf das der goldklare Schatten des Abends herabsank.

»Ja«, sagte ich, »es wäre gut so, Ada. Wir wollen es tun.«

Sie sah mich an. Ihre Augen schienen hinter Lichtschleiern zu atmen. Dann zuckte im leichten Rauch des Himmels ein Funken reinsten Feuers. Der Abendstern war über den Vogesen aufgegangen.

Bei meiner Rückkehr nach Breuschheim lag ein Brief Aggies auf meinem Tisch, der Umschlag trug den Poststempel: »Cadiz, 20. V. 28.« Der Brief selbst nannte weder Ort noch Zeit. Er lautete:

Lieber Claus, ich schreibe in meiner Kabine. Ich bringe den Brief noch zur Post, denn Bieterle meint, auf dem Landweg werde der Brief schneller und sicherer zu Ihnen kommen, und er kann gar nicht schnell und sicher genug in Ihre Hände gelangen, dieser Brief.

Ja, lieber Freund, es gab einen Ausweg, ich habe ihn versucht. Sie sagten einmal, um unsre Generation sei ein magischer Kreis gezogen, aus dem könne sie nicht heraus, sie sei verurteilt, im Kreis von Blut und Feuer und im vielleicht noch heftiger brennenden Zweifel über sich selbst und ihre Bestimmung zu wandern – sie habe nicht zuviel, aber zu vieldeutiges erlebt ... Claus, ich habe versucht, aus dem Kreis zu springen und dorthin zurückzufinden, woher ich gekommen bin. Außer Ihren Abschiedsworten war der Anlaß dazu ein Traum, den ich hier in der letzten Nacht gehabt habe. Ich war, im Traum, in einem alten winkligen Teil dieser Stadt geraten und ekelte mich vor dem Anblick einer schmutzigen, baufälligen, mit Moos und Schimmel überzogenen Kirche, als eine Glocke, die Glocke dieser Kirche, zärtlich und vorwurfsvoll zu läuten begann. Im selben Augenblick sah ich im Fenster eines gegenüberliegenden Hauses meinen Vater. Ich dachte mir gleich, es müßte eines jener Häuser sein, die man öffentliche nennt, und ich wußte auch, daß man ihn mit Gewalt in dem Haus zurückhielt. Er lehnte sich weit aus dem Fenster, als suche er jemand auf der Gasse, einen Polizisten, dachte ich, der ihn befreien sollte ... Sein Gesicht zeigte einen sinnenden Ausdruck von Angst und Trauer, mitten im Schritt machte ich halt. So war er zwar gestorben, aber noch nicht erlöst! Er war durch viele Städte geirrt, immer der Sonne nach, und saß jetzt fest in diesem fragwürdigen Haus. Da erblickte er mich, wandte ein wenig den Kopf und nickte mir von der Seite zu, ohne im übrigen seine Haltung zu ändern, er musterte mich rasch und aufmerksam, wie er seine Kranken anzuschauen pflegte, und ein Lächeln erhellte seine Züge. Ein Lächeln, das ihm gar nicht gehörte, vielmehr schien es hinter seinem Gesicht zu stehn, es war jemand anders, der durch seine Züge hindurch lächelte! Ich verstand, daß es niemand anders sein konnte als meine Mutter (die ich nicht gekannt habe), und zum erstenmal im Leben fiel mir ein: »Sie muß ihn doch geliebt haben!« Und in Gedanken setzte ich hinzu: »Dann ist alles gut ...« Ich gab, ein wenig furchtsam, das Lächeln zurück und ging weiter. Für solche Gefangene gab es keine Befreiung auf Erden ... Dies also, Claus, war der unmittelbare Anlaß zu meinem Versuch, in die Gewißheit heimzukehren.

Ich bin heute von Kirche zu Kirche geeilt und habe nach einem Priester gefragt, der mir, deutsch oder französisch, die Beichte abnehmen könnte. Zuletzt schickte man mich zum Pfarrer der Stadtkirche, er sollte ›der Gelehrteste‹ sein. Ich fand einen schönen Greis, dessen Augen einmal in den Himmel geschaut haben mußten! Allein durch die Art, wie er mich ansah, tröstete er mich, wie kein Vater mich getröstet hat. Er gab mir zu verstehn, seine sehr mangelhafte Kenntnis des Französischen werde es ihm nicht ermöglichen, meiner Beichte zu folgen, aber im Bund mit meinem Herzen, das er klopfen höre, sei es mehr als genug, die Reue springe mir ja aus den Augen. Wir begaben uns von der Sakristei in den Beichtstuhl, die Kirche war leer, bis auf ein paar Frauen, die im Halbdunkel knieten, und auch ein Mädchen war da, vor einem Madonnenbild, fast noch ein Kind, das hing scheinbar ohnmächtig, als habe man sie hingeworfen, über dem Betstuhl. Aber als ich vorbeiging, erschrak ich, wie heftig sie betete ...

Erst ging es ganz gut, der Priester half mir hie und da mit einem Brocken Französisch weiter, manchmal auch mit einem Stückchen Kirchenlatein, das ich schon so vergessen hatte, daß ich wie über einem Mutterlaut dabei verweilte und hineinhorchte, als müßte auf dem Grund ein tieferer Sinn verborgen liegen, als das Wort verraten wollte, eine nie gefühlte Wärme dort quellen ... Doch je weiter ich in der Beichte vordrang, um so schemenhafter wurde alles, die Gnade fehlte, Claus, die unentbehrliche Gnade ließ mich im Stich.

Jemand, der meine Stimme hatte, bewegte angstvoll Augen und Hände, es waren meine Augen, meine Hände, wahrscheinlich glich er mir auch sonst in allem, ich aber schüttelte den Kopf dazu und fand ihn aufdringlich, kriecherisch in seinem heillosen Bemühen. Die Worte verloren ihren Sinn, sie waren wie unbekannte Gegenstände, die ich im Dunkel aufhob und wieder zurücklegte, und die wenigen, die ich erkannte, verleugnete ich schon im Augenblick, da ich sie aussprach. Ich schämte mich vor dem edlen Greis, der, es konnte nicht anders sein, mir widerwillig folgte und immerfort hörte, wie ich log, selbst wenn er kein Wort verstanden hätte, dem es grauste vor dem Zerrbild der Reue und der angesichts der Schändung, die ich am Höchsten beging, allmählich erstarrte. Er sprach immer seltener und schließlich verstummte er ganz.

Ich zitterte so stark, daß der Beichtstuhl mitbebte, Tränen überschwemmten mein Gesicht, ich sah und hörte nichts – nichts als die Empörung, die auf einmal wieder in mir aufstand. Sie kennen sie, Claus, von unserm traurigen Abschied! ... Es ist ein Sturm, eisig und scharf, ich kann nicht gegen ihn an, wenn er mich einmal gepackt hat. Inbrünstig leise schmähte ich mich mit den stärksten Ausdrücken, flüsterte brennend, bald französisch, bald lateinisch – brannte es ihm plötzlich verstummend, gleichsam mit dem Schrei der Stille ins Ohr, daß ich nicht fähig sei und auch nicht willens zu bereuen, und flehte den armen, alten Priester an, die Unwürdige aus der Kirche zu jagen, sie verhöhne ihn ja mit ihrem Getue und ihren scheinheiligen Tränen. Dann konnte ich nicht mehr, ich war erschöpft, der Priester schwieg nach wie vor. Nach einer Weile hörte ich ein leises Geräusch und erriet, daß seine Lippen sich bewegten. Er betete über meiner Verzweiflung, und ein- oder zweimal huschte ein Leuchten vorbei, das von seinen nassen Augen herrührte.

Eine lange Zeit verstrich in dieser Lautlosigkeit, nur die Lippen des Priesters bewegten sich noch, stiller und stiller. Hatte er aufgehört zu beten? Kein Sturm mehr, keine Träne, der Beichtstuhl schwieg wie ein Grab. Ich fühlte nichts mehr von der Kälte im Innern, mein Gesicht glühte nicht mehr. Erhobenen Hauptes kniete ich in einer Hoffnungslosigkeit, wie sie nicht vollständiger sein kann. Ich war wie verzückt von ihr, wie verklärt von Verzweiflung und wartete auf das gerechte Wort des Priesters, das mich verwerfen sollte ... Statt dessen geschah das Furchtbarste von allem. Mit einer Stimme, die säulengleich aus dem Herzen stieg, mit einer Stimme voll übermenschlicher Zuversicht begann der Priester die Formel der Absolution zu sprechen, und ich erriet, wie er im Dunkel die Hand erhob, um das Zeichen des Kreuzes über mich zu schlagen. Da sprang ich auf und floh.

Draußen strahlte die Herrlichkeit der Welt. Sie war böse. Der Himmel überschlug sich fast vor grausamer Spannung. Ein Jagdruf gellte durch das Wüstenlicht, das auf die Schöpfung herabbrannte. Mit plötzlichem Hunger, einem eigenartigen Heißhunger, dachte ich an Silvio ... Mit einem Heißhunger, wie ich ihn an Raubtieren im Käfig beobachtet habe. Das ist ein Hunger, Claus, der mit furchtbar drohenden Blicken, dann wieder ingrimmig in sich versunken und scheinbar gemächlich seine Gier löscht, und ich begrüßte ihn wie ein ungeahntes Glück! Als ich zum Hafen kam, sah ich Silvio vor der Landungsbrücke unruhig auf und ab gehn und Ausschau nach mir halten. Vielleicht fürchtete er, ich sei ihm entkommen. Weißgekleidet vom Kopf bis zu den Füßen, schien er mit seinen anmutigen Bewegungen heimlich die Möwen an sich zu locken ... Von weitem warf er mir sein Lachen über den Kopf, eine blitzende, einhüllende Liebkosung, die im Sonnenlicht eine Spur hinterließ. Ich erschauerte, als würde ich nackt von einer kalten Hand berührt, und fühlte gleichzeitig, wie ich über den ganzen Körper erglühte. Wieviel Unheimliches geschieht zwischen zwei Menschen, wovon sie wenig verstehn!

Droben an der Reling stand Bieterle und winkte. – Gleich fährt das Schiff, Claus, ich muß mich beeilen. Bieterle wird mir helfen auf meiner letzten Fahrt. Denn Silvio bekommt mich nicht mehr! Und wenn Bieterle Nacht um Nacht mit dem Revolver vor meiner Kabine Wache stehen muß, er bekommt mich nicht mehr. Ich habe einen Heißhunger auf ihn, und er bekommt mich nicht. Wer hätte gedacht, daß ich je Heißhunger auf ihn bekäme, das Lamm auf den Wolf! Einen Hunger ganz besonderer Art, den tollsten Hunger der Welt, wobei die Gedärme sich krümmen, den Hunger aus der Tiefe des Leibes, wo andere Frauen glückselig Kinder empfangen, den Hunger der großen Gestirne, bei Gott, das ist kein Liebesspiel, aus dem Lamm ist ein Wolf geworden. Und, begreifen Sie, Claus! So kann ich nicht leben, als ein Lamm, aus dem ein ausgewachsener Wolf geworden ist, kann ich nicht leben! Das Wölfische tut mir zu weh, nachdem es jetzt in mir selbst wohnt. Über jede Verachtung, die größte Verzweiflung hinaus ist es unerträglich. Ich wollte werden wie alle Frauen und bin ihnen über den Kopf gewachsen – zu schnell, Claus, viel zu schnell, als daß ich mich hätte daran gewöhnen können. Gibt es überhaupt außer mir Frauen und Ungeheuer mit dieser Gier, dieser Zerstörungswut, von der ich bestimmt weiß, daß sie alle Grenzen überschreiten wird?

 

Eine Stunde später

Er ist in die Kabine gekommen und hat mir eine Szene gemacht, weil ich Ihnen schreibe, und ich habe ihn sofort überschrien. Ein wüster Auftritt, Claus. Als er fort war, bin ich liegengeblieben, um mich zu erholen und meine Geister zu sammeln. Wenn der Agent der Gesellschaft das Schiff verläßt, nimmt er den Brief mit, Bieterle hat das so eingerichtet. In meiner Kindheit hatten wir eine Köchin, die hielt die Maus in der Falle, bis die Katze heimkam, und wenn die Katze zu gewissen Zeiten lange außer Haus blieb, fütterte sie die Maus. So ist das Leben, Claus, nur wechseln manchmal Katze und Maus die Rollen, und wenn dies in großem Maßstab geschieht, spricht man von einer Revolution. Wie schnell, wie blutig schnell werden dann die Mäuse zu Katzen! Silvio hat mir seinen Hunger eingeblasen, diesen Hunger besonderer Art, eingeblasen, eingehaucht aus Nase und Mund in alle meine Poren, eingebrannt mit den Augen, eingepreßt, mit seinem ganzen Gewicht und mit hundert Hämmern in mich geschlagen. Gewissermaßen habe ich ein Kind von seinem Hunger bekommen, und nun ist es ans Licht gekommen ...

Was soll ich noch tun und versuchen, nachdem Gott selbst mich verworfen hat, was soll ich tun, nachdem jenes Kind geboren ist? Jede Mutter lebt für ihr Kind, und manche stirbt daran. Bestenfalls bliebe mir nur, das Kind zu stillen, zu hätscheln und jubelnd hochzuheben, wie Mütter tun. Aber es ist nicht mein Kind, es ist das Zwangskind des andern, ich hätte nie ein Kind von ihm haben wollen, nie, nie! Auch nicht in den Augenblicken, wo ich ihn am meisten liebte. Nie. Es ist ein Kind, das ich nicht leben lassen kann, das ich erwürgen muß. Nicht wahr, Sie geben es zu, Claus, ich habe keinen andern Ausweg? Beim letzten, den ich ging, wurde ja das Kind geboren! Damit ist er mir gerade so verschlossen, wie wenn hundert Mauern ihn sperrten. Und nie, Claus, hat die Erde mich so angestrahlt! Herrisch und deutlich, ohne Lüge, die weißen Zähne entblößt, in einer Bläue, die keine Gnade kennt, mir ist zumut, als könnte ich von einem Blitz geraubt werden, niemals aber sterben und vergehen. Auf diesen Raubgriff des Himmels warte ich, das ist es, was ich mit dem Erwürgen des Hungerkindes meine, ich bin bereit, mich der tödlichen Gewalt auszuliefern, und so wahr es ist, daß meine Klasse unter dem Schwert der Sklaven ihr Dasein nur noch fristet und in uneingestandener Wollust auf den Gnadenstoß wartet, der –

Hier brach der Brief ab.

Er wurde tragisch ergänzt durch ein Telegramm, das kurz nachher eintraf:

»Aggie Ruf unter kriminellen Umständen tödlich verunglückt. Anzeige gegen Wolf erstattet. Bieterle.«


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