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Die blühende Mauer

Eines Morgens, sie hatte sich längst mit Silvio versöhnt, wurde Aggie von einem heftigen Gefühl der Angst aus dem Schlaf geschreckt.

»Ich bin verloren!« hörte sie sich noch flüstern, dann fiel ihr ein, daß sie nur noch zwanzig und einige Franken besaß. Sie lachte auf, es war ein Ton, kurz und schrill wie von einem Vogel. Geld, es haben oder nicht haben, Geld hatte ihr nie Furcht eingejagt. Winzig in dem breiten französischen Bett, warf sie den Haarschopf zurück und tat groß: Ich und das Geld, wir kennen uns, obwohl wir recht schüchterne Liebhaber sind, wir fürchten uns nicht voreinander!

Gleichzeitig vernahm sie einen Laut, der ihr mit eintöniger Hartnäckigkeit zusetzte. Er griff nach ihr, drohend, lockend, im Rhythmus ihres Herzschlages, er war gefährlich wie ein Gespenst, gleich darauf gut wie Freund und Abendwind. Sie riß die Augen, den Mund auf und lauschte. Wie schwer war in letzter Zeit jeder Tag zu beginnen!

Ihr Kopf glühte vor Anstrengung, die dunkelblonde Mähne war gesträubt, wie übersät mit einer Unmenge kurzer Haare, die heller schienen als die andern. Auf der Bettdecke lagen die Hände, gespreizt und reglos und so lebendig, als lauschte sie auch mit den Händen, ja, hauptsächlich mit ihnen, den zehn kurzen, zarten, weißen Fingern ihrer Hände.

Endlich erriet sie, daß es die Brandung sein müsse, die sie da lockte und gleich wieder zurückstieß. An andern Tagen fegten die Autos das Geräusch ins Meer, den ganzen Strand entlang, von Cannes bis Monte Carlo konnte man die Brandung zwar sehn, aber nicht hören. Heute gab es etwas Neues, dies beklemmende Geräusch, die Brandung also – und etwas fehlte. Von der Promenade kam keine Stimme, kein Laut, wie sie sonst zwischen zwei Wagen durchschlüpften in hallender Klarheit, daß man sie selbst im Hinterzimmer verstand. Auch im Hotel regte sich kein Laut, nicht die Ahnung von einer Stimme hinter den Wänden. Sie blickte auf die Uhr. Der Briefträger hatte eine halbe Stunde Verspätung. Argwöhnisch begann Aggie Ruf sich zu prüfen: ihre Gesundheit, den Schlaf voll unbekannter Träume, der hinter ihr lag, die Farbe des heutigen Tages ...

Es regnete in Strömen, und die Brandung gab immer das gleiche unverständliche Versprechen, nahm es immer wieder seufzend zurück. War das die Stimme des heutigen Tages? ...

Welch ein Unglück, ein Nordzimmer zu bewohnen, mit der Aussicht auf eine Mauer, die den tiefen Hof zu einem Erbbegräbnis machte! Glücklicherweise war vergessen worden, die Grabplatte zu schließen, so daß Sonne und Regen, wenn auch in kärglichem Maße, Zutritt behielten. Hatten je in diesem Zimmer junge Menschen gewohnt? Sich geliebt? In solch einem Zimmer konnte man nichts von der Welt verstehen ... Es war ein Zimmer für Verbannte, denen hier das Bild ihres Vaterlandes zu gallenbitterer Bosheit gerann, eine Zelle, wo zuversichtliche Menschen, ehe sie sich's versahen, zu Selbstmördern wurden ... Auf, Aggie, hinaus ins Leben! Sie stürzte sich mit großen Armbewegungen in den Morgenrock, lief, die Hände auf der Brust gefaltet, über den Korridor in das erstbeste Zimmer, dessen Tür offen stand.

Es waren die Zimmer, die auf das Meer hinausgingen. In ihnen wohnte die Sonne oder doch jedenfalls die Weite, das Licht. Hier lebten die Reichen, die Dichter dagegen lagen halberstarrt am Rand von finstern Erbbegräbnissen (die man, vermutlich auf Zuspruch eines gutmütigen Mäzens, noch nicht verschlossen hatte) ...

»Pardon«, rief Aggie dem erschrockenen Stubenmädchen zu – an ihr vorbei jagte sie zum Fenster.

Ach, keine verblühte Frau, die die Nacht durchtanzt hat, konnte so elend sein wie ein verregnetes Meer! Kein abgesetzter Kaiser so sehr Zivilist wie die Palme da unten auf der Promenade. Zudem schlug unaufhörlich die Glocke der nahen Kirche an wie ein Stotterer, dem es nicht gelingen will, in Fluß zu kommen.

Es geht ihr wie mir, dachte Aggie. Das Wort bleibt ihr im Halse stecken. Das Wort des heutigen Tages ...

Sie sagte, ohne sich umzudrehen: »Ein schlimmer Morgen, Fräulein!«

Da bemerkte sie, und das ganze Persönchen zuckte zusammen, die Hand fuhr ihr zum Mund, in der grauen, etwas altertümlichen Gasse, die seitlich auf das Hotel und die Promenade heraufkroch, bemerkte sie einen Priester im Ornat mit einem Jungen, der frech den Weihwasserkessel schwenkte. Suchend gingen sie von Haus zu Haus ... Die letzte Ölung! Aggie Ruf schaute entrückt.

Jedoch die beiden unten in der Gasse fanden die Adresse nicht. An soviel Türen sie auch pochten, keine ward geöffnet. Dafür sprangen alle Fenster der Nachbarhäuser auf, eine große Beratung begann in der Luft und auf der Erde. Priester und Ministrant standen tropfnaß und guckten abwechselnd in die rieselnde Luft hinauf und auf die Straße voller Pfützen.

Jetzt stieg aus dem Keller des letzten Hauses, dort, wo die gute, alte, verwitterte Gasse, ziemlich fassungslos, in die frisch geölte, mittägliche Promenade einbog, stieg aus dem Keller ein Frauenzimmer ans Licht, stemmte die Fäuste in die lotterigen Hüften und nahm, nach längerer Verhandlung, die Diener der Kirche mit sich in das Kellergeschoß. Aggie atmete wieder.

Gleich darauf verstummte die Sterbeglocke.

Aggies Blick flüchtete aufs Meer, und dort wurde ihr erst einmal Gewißheit, der Tote gehöre nicht zu den Fremden, nicht zu ihresgleichen. Diese wurden nachts aus dem Bett gestohlen und im Leintuch zur Seite geschafft, man sah keinen Priester, hörte keine Glocke, sie verschwanden in einem Güterwagen der PLM-Bahn, im Leichenhaus auf dem Friedhof, im Kühlraum des Krematoriums. Viele Fremde starben in Nizza. Begegnete man aber einem Sarg, so konnte man unbedroht seinen Weg fortsetzen, es war nicht unsersgleichen, der dahinging, sondern ein Eingeborener, dann ein Kerl, der hier viele Jahre in prächtiger Häuslichkeit gelebt hatte, wie der Holländer ten Hoet oder der griechische Tabakhändler und Pazifist droben in Ciemiez, der die Werke seiner Lieblingsautoren in die Haut erschlagener Türken binden ließ (er hatte sich auf Jahre mit solchem Leder versorgt), Kraftmeier, die Wert darauf legten, noch im Tode angestaunt, verflucht und beneidet zu werden ... Aggie warf den Kopf in den Nacken, ihr Gesicht hing blind und grau wie das Meer. Plötzlich leuchteten die Augenlider wie vom Widerschein einer Flamme:

»Silvio«, murmelte sie, als küßte sie ganz leise das Meer mit diesem Wort, es kräuselte kaum ihre Lippen, endlich hatte sie es gefunden, das Wort des heutigen Tages, sie lächelte, lächelte, lief aus dem Zimmer.

 

Beim Mittagessen, während sie ein Billet an Silvio Wolf schrieb, das von der Schilderung ihres Vormittags hell und dunkel zugleich war, bemerkte Aggie, daß der Regen nachließ. Gewohnt, dem Schicksal die geringste Gunst abzujagen, eilte sie aus dem Hotel.

Ihr Ziel war der Schloßberg, ihre Hoffnung, unterwegs würde ihr etwas einfallen. Denn davon lebte man – nicht gerade, was die richtigen Bücher anlangte, die wuchsen mit ihren Gestalten und ihrer Musik, aus der Tiefe (vielleicht aus der Tiefe, wo andre Frauen Kinder empfingen und austrugen?), aber alles, was man für Zeitungen und Zeitschriften schrieb, das mußte auf der Straße gesucht werden, in der Eisenbahn, in den Hotels, kurz, in allen Mülleimern, wie sie draußen in der Welt herumstanden und reisten. Übrigens, streng betrachtet, ging es auch mit den Büchern nicht ohne Streifzüge ... Aggie war es rundum zufrieden und in der Laune, alles zuzugeben, sogar, daß sie von den Gemeinheiten der Welt lebte.

Warum auch nicht? Andere handelten Diamanten, Autos, Grundstücke, Knöpfe und Kanonen, Tabak, Monstranzen, züchteten Rennpferde oder Schweine, plünderten Kranke aus, versteuerten, was Gott wachsen ließ, stahlen das Blaue vom Himmel. Sie, Aggie, streifte mit dem Lumpenhaken durch das Jahrhundert. Zwanzig französische Franken reichen nicht lange, es sind rund drei Mark. Vorwärts! Ingrimmig auf Verdienst bedacht, erklomm sie die steile Treppe vom Quai du Midi zum Schloßberg, unter dem Schirm spähte der Kopf hervor, klein und trotzig, mit einem Ausdruck selbstvergessener Gier. Auf einem Absatz der Treppe konnte sie bequem das »Erbbegräbnis«, ihren Hotelhof, überblicken, besser, als von ihrem Zimmer. Und was sie sah und sich bereits anschickte zu hassen – machte sie vor Lust erbeben.

Wie ein langer Geigenstrich wehte Sonnenschein durch den Regen! Das geschah oft an der Riviera, geschah überall in der Welt, und sicher hatte die blonde Erleuchtung einer Regenerde schon manchmal vor ihren Augen gestanden. Und doch hatte das Glück sie noch nie so durchdrungen! Langsam schloß sie den Schirm, nahm den Hut ab, stand strahlend im Regen.

Eine Weile verharrte sie so, gedankenlos, in selig blöder Wehrlosigkeit der Erscheinung geöffnet, als nähme der Heilige Geist von ihr Besitz. Dann schwenkte sie den Schirm, hob ihn so hoch, wie sie konnte, und sie lachte. Herausfordernd stieß sie ihr Lachen, ein Kind von Silvios Lachen, in den Hotelhof, zum Fenster ihres Nordzimmers hinüber. Er liebt mich! Ein fröhlicher Eigensinn bemächtigte sich ihrer, sie hätte Seil springen, mit Ada Ball spielen, einen großen, knallgelben Reifen über einen Parkweg schlagen mögen, so schnell, daß keine ihrer Gespielinnen nachkäme. Nicht Ada liebt er – mich! Kann nichts dafür. Die andre ist eine Gräfin und reich und wandelt abends in Festgewändern, die aus dem Sonnenuntergang geschnitten sind. Ich trage bloß ein altes graues Morgenfähnchen von ihr auf, mein Vermögen besteht heute aus zwanzig Franken, einem lumpigen, blauen Geldschein. Trotzdem liebt er mich, wie schön von ihm! Das Wort des heutigen Tages – ist sein Jawort! Ein Engel spricht es in seiner Vertretung, jener Engel, der herschwebend eine Lilie, eine weiße Lilie in der Hand trägt und dessen Haar vom Leuchten der Taube erglänzt über seinem Kopf. Heißt er nicht Gabriel? Ich kann es ja vorläufig ruhig für mich behalten, aber es ist so, wie ich sage, deshalb nehme ich Ada noch lange nicht den Mann weg. Er sei ihr gegönnt, ich brauche keinen Mann, ich liebe Ada, sie ist meine Schwester, ich bin es gewohnt, ein geteiltes Herz zu tragen. Ich kann mich mit der Verkündigung begnügen. Wenn Gabriel ein Briefträger wäre, würde ich jetzt den Empfangsschein unterschreiben und den Brief uneröffnet mit mir herumtragen. Ich weiß ja, was er enthält! ...

In diesem Augenblick entdeckte sie die blühende Mauer. Die Mauer zog sich hinter dem Hotel hin und bildete das Schaustück für die Nordzimmer. Sie war völlig bewachsen. Die Sonne berührte nur ihren äußersten Rand, jedoch, wohlverstanden, die ganze Mauer blühte, auch im Schatten. Wer hätte gedacht, daß es Blumen gäbe, die im Schatten blühten! Als saugten sie die Sonne aus den Wurzeln! Als wüchse ein verschwiegenes Stück Sonne in ihnen, als bedürften sie, nachdem das Licht, die Lust sie in die dunkle Erde geboren, der Mutter nicht mehr! ... Der Regenbogen in Aggies Brust atmete leise.

Hoch oben auf der Mauer, dort, wo die Sonne sie traf, stürzten Kaskaden dunkelroter Geranien, vielfarbiger Nelken, Massen von winzigen weißen Blüten, die Aggie nicht kannte, quoll ein ganzer Blütenschaum hernieder, hoch oben ... Hoch oben brodelte in einem unerschöpflichen Guß der dreißig Meter breite Streifen der Sonnenanbeterinnen unter den Blumen. An der Schattengrenze erwartete die Überschäumenden ein Wall von Primeln und Aurikeln mit leisen, freundlichen Ermahnungen zur Mäßigkeit. Diese vornehmen, wohlkonservierten Stiftsdamen lebten in ihren Mauerfugen wie in Kammern, jenen Kammern, denen der Engel mit der Taube bei seinen überwältigenden Besuchen den Vorzug gab, sie schienen ernst, erträglich fromm, mit einem Anflug von Weltfreudigkeit. Ja, sie hatten sogar etwas merkwürdig Verstecktes, Vielversprechendes, als scheine ganz heimlich die große Sonne in ihnen – konnte man wissen?! Geschah es nicht zuweilen, daß selbst alte Jungfern sich plötzlich entpuppten? Und erstaunt besah man das zerknitterte Futteral, das ein Pfauenauge aus lauter Gold und Himmelsbläue verborgen hatte ... Ach, ich mache mich über mich lustig, ein Regenbogen lacht in meiner Brust! ... Der Tag blieb zum Guten gewendet, obwohl die Sonne gleich wieder im Regen verschwand.

Der Park auf dem Schloßberg war leer.

Die Schloßruine glich einem ausgebrannten Keller.

Die Verkäuferinnen der Andenkenbuden, eingewickelt bis an die Nase, machten kaum einen Versuch, die Aufmerksamkeit der einsamen Spaziergängerin auf ihren Trödel zu lenken. Die Seeadler in ihrem Käfig schliefen. Wer in die Teestube trat, wurde behandelt wie ein fremder König, aus Übermaß von Glück ist er an diesem unwirtlichen Gestade gelandet. Genau das war Aggie am heutigen Tag: ein König, aus Übermaß von Glück an einem unwirtlichen Gestade gelandet. Sie trank Tee.

Darauf ging sie und weckte ihre Wappentiere, die Adler. Die Tiere blinzelten den großen König mißmutig an und über ihn hinweg auf das Meer, und dann drehten sie ihm und dem Meer verächtlich den Rücken.

Weiter, Aggie, weiter! Der Weg führte, mit rotem Sand bestreut, zu einem berühmten Friedhof, dem Friedhof der Reichen, der Kraftmeier, der Kerle, die nicht nachts aus ihren Betten gestohlen werden, wenn sie tot sind ... Sieh nur, selbst an ihren Marmorgräbern prallte der Regen ab, ja, er diente den Sonntagsgreisen im Tode, wie alles im Leben ihnen gedient hatte, indem er ihr Denkmal putzte und blank rieb, es immer noch schöner machte. Was für ein achtunggebietender Friedhof! Nicht einmal der Campo santo in Genua konnte sich mit ihm vergleichen, obwohl dort dicke Herren aus Marmor auf ihrem Grabe standen, eine goldene Uhrkette auf dem Bauch, als ließen sie sich in alle Ewigkeit photographieren.

»Weiße Neger«, knurrte Aggie. Sie wollte dem Villenviertel der Toten den Rücken kehren, mit einer Bewegung, die sie den Adlern abgeguckt hatte, da bemerkte sie, daß sie vor dem Grabmal Gambettas stand, der Regen spritzte, sie trat einen Schritt zurück. Und weil Gambetta ein gewaltiger Redner gewesen, pflanzte sie sich vor ihm auf, den Kopf hoch erhoben unter dem Regenschirm, und sprach:

»Du hast viel von den Armen geredet, mein Lieber. Du hast geredet, daß die Meridiane sich bogen, wenigstens die, die durch das südliche Frankreich laufen. Zum Schluß bezogst du ein Grab, wie kein König von Frankreich es besitzt – protzig, Verehrter, teuer, nichts als teuer und niederträchtig geschmacklos. Bei Gott, man könnte an der Republik verzweifeln, wenn man die Gräber ihrer großen Männer sieht ... ten Hoet, der Diamantenhändler, hat wenigstens einen Obelisken für sein Grab bestimmt, weil der bei aufgehender Sonne singt – das heißt: der Grabmalfabrikant hat es ihm versprochen, und ten Hoet hat den Obelisken probeweise in seinem Garten aufgestellt, um festzustellen, ob er mit Lügen übervorteilt werden soll oder ob eine naturwissenschaftlich begründete Merkwürdigkeit vorliegt. Nur kommt er nie bei Sonnenaufgang aus dem Bett, und so wird er den Obelisken ungeprüft auf sich nehmen, wenn er dahingeht. Dumm ist dieser ten Hoet, ich hätte nie gedacht, daß ein saftiger Holländer so ausgetrocknet dumm sein könnte, dumm wie die Wüste ... Sage mir, Gambetta, womit hat er denn seine Millionen gescheffelt, oder, wenn er sie geerbt hat, wie hat er es fertiggebracht, sie bei sich zu behalten? Mir läuft das Geld weg, kaum, daß ich es gesehen habe, ich kann die Faust noch so fest darumhalten. Und doch bin ich – nein, dumm wie ten Hoet bin ich bestimmt nicht ... Gambetta! Gambetta! Wie reich sind die Armen, die mit ihrem Grab unbeachtet im Acker versinken, sie haben teil an der unerschöpflichen Großmut der Erde. Selig, wer mit den Jahreszeiten lebt und in der Wiege versinkt, die jede von ihnen offenhält ... In der ganzen Schöpfung gibt es nur einen einzigen Redner, und das ist der Mensch. Die Vögel singen, und das ist das Gegenteil von einer Rede. Kein Zweifel, an ihren Rednern wird die Menschheit zugrunde gehn – Gambetta!!«

Nachdem Aggie diese Rede gehalten und zum Schluß in einer Vision des letzten Gerichts, zu dem sie blies, mit schauernden Lippen »Gambetta« über den Friedhof gerufen hatte, fühlte sie sich munter genug, nun auch noch vom Villenviertel der Toten zum Villenviertel der Lebenden zu wandern und den Diamantenhändler ten Hoet zu besuchen.

Mit großen Schritten eilte sie den einen Hügel hinab, den andern hinauf.

 

In der Halle bei ten Hoet saßen vierzehn Herren um einen Tisch und spielten Bakkarat, und als Aggie an der Tür zögerte, erhob sich einer von ihnen, eilte ihr entgegen und küßte ihr die Hand, und sein Name war Wolf.

Sofort brach unter den Spielern ein Streit aus, ob man zu dreizehn weiterspielen solle oder nicht.

Während die Älteren die Erfahrung zahlloser Geschlechter gegen die Zahl Dreizehn ins Feld führten und sich achselzuckend von den Stühlen erhoben, erklärten die Jungen, die moderne Unglückszahl sei nicht mehr Dreizehn, sondern Siebzehn, blieben sitzen und schlugen mit der Faust auf den Tisch. Wenn man ihnen Glauben schenken sollte, hatten sich in den Zimmern Nummer 13 wunderbare Dinge ereignet: Träume von Lotterienummern, auf die das Große Los fiel, von napoleonischen Börsenfeldzügen und einem lange gesuchten Scheidungsgrund, Verjüngungen im Schlaf und die Wiedergewinnung der Jungfräulichkeit dicht vor der Hochzeitsnacht. Schon um die Jahrhundertwende war ein junger Offizier, der sich in Nummer 13 des Negresco erhängen wollte, ganz allein vom Strick gefallen und während des Krieges als General in seinem Bett gestorben. Seit Jahren hatte man am Dreizehnten weder eine Zugentgleisung noch einen Schiffsuntergang beobachtet, die beste Tennisspielerin der Welt war das dreizehnte Kind eines Steinklopfers. Schon gab es in den besseren Hotels mindestens zwei Zimmer Nummer 13 auf jedem Stockwerk ... Dagegen die Siebzehn! Grausam wurde sie mit allem Jammer und Elend beladen, womit die Dreizehn, der Ahasver unter den Zahlen, lange genug von Exil zu Exil geirrt war – jetzt konnte die Siebzehn sehn, was es hieße, eine Unglückszahl zu sein! ... ten Hoet machte dem Zank ein Ende, indem ihm eine Verabredung in der Stadt einfiel.

Während die Anschauungen zweier Generationen solchermaßen aufeinanderplatzten, stand Aggie an der Glastür des Salons und blickte über die Dächer der Stadt. Bei hellem Wetter sah man das Meer und Cap d'Antibes und das Esterel-Gebirge, Aggie, in einem Wirbel der Gefühle, verlangte nach junger Meerbläue, nach der Sichel des Kaps, nach dem Bergrücken, wo die Sonnenuntergänge die letzten Kränze niederlegten, die herbstlichen, unbestrittenen Kränze des Ruhms, indes über dem Meer schon der kalte Abendwind aufstand, sie verlangte nach einem Frühlingstag, der ein ganzes Leben umfaßte – nichts von alledem war zu sehn, Aggie rührte sich nicht, und auch er, der Wolf hieß, blieb still. Plötzlich spürte sie seinen Atem an den Spitzen der Haare im Nacken ... Wie kam das? Er war doch größer als sie. Bückte er sich, um ihr ausdrücklich in den Nacken zu atmen?

Als er ihre Hand drückte, fuhr sie zusammen. Sie wollte sie an sich ziehn und wagte es nicht. Sie fühlte, wie ihre Hand heiß wurde, die seine blieb kalt.

Draußen der Regen schwankte gleich einem Vorhang, die Fransen schlürften über die Dächer. Hinter Aggie steht – die Siebzehn oder die Dreizehn. Der Ausblick in die Welt ist ihr verschlossen. Was wird er in einer Sekunde tun?

Sie vernahm seine Stimme. Der Atem an der Spitze ihrer Haare im Nacken war Fleisch geworden.

»Aggie«, sprach er leise, »was war das für ein trauriges Briefchen, das Sie mir heute schickten? Warum haben Sie es heute so schwer? Wir haben doch gestern den ganzen Abend gelacht. Gott, waren Sie komisch!«

»Gestern«, antwortete sie, »gestern? ... Gestern wußte ich noch nichts ... Worüber lachten wir denn?«

Er ließ die Hand los, welch eine Befreiung, und trat an ihre Seite. Ein frischer Hauch traf ihr Gesicht, Geruch von Thymian und sonnverbranntem Gras.

»Sie zeigten auf eine wandernde Wolke am Himmel und behaupteten, sie gleiche einem großen Wolf und einem kleinen Lamm, liebe Aggie, einem olivenbraunen Wolf mit rosa Pfoten und weit aufgerissenem Rachen. Erinnern Sie sich? Der Wolf sollte genau meine Gesichtsfarbe haben. Wir gingen auf der Promenade, Bieterle hatte sich verabschiedet. Das Innere des Wolfsrachens leuchtete blau, es war nämlich der Himmel, aus dem das Tier einen Happen herausriß, dem Lamm zu seinen Füßen tat er nichts. Sie aber, Aggie, Sie zeigten auf das Lamm und zeigten auf mich und warnten Ada: ich ginge herum und wüßte schon, welches Opfer ich verschlingen würde. So warnten Sie, in prophetischen Worten! Als wir ausgelacht hatten, Sie lachten am stärksten, Aggie, und wieder hinschauten, war der Wolf in ein Lamm verwandelt, vielmehr das Lamm hatte den Wolf gefressen und sich mit dem Abendhimmel verklärt und war ein Gott geworden, ein himmlisches Meer von einem Gott um die Gestalt eines Lammes. So drückten Sie sich aus, Aggie, und jubelten. Diesmal war ich es, der am lautesten lachte. Das Lamm, das den Wolf auffrißt, ein Aggie Rufsches Märchen! ... Wer zuletzt lacht, sagte ich –«

Endlich, mit aller Anstrengung hob sie den Blick und stieß auf sein grauenhaft entblößtes Gesicht. Es stand dicht vor dem ihren und zeigte jene Grimasse voll weißer, spitzer Zähne, die Ada sein »großes Lächeln« nannte, von dem sie selbst hingegen zu Ada geäußert hatte, es sei das lautlose Lachen eines Tieres. Aber jetzt erst machte sie sich klar, daß es im gleichen Maße schamlos wirkte, kalt und gierig, wie sein wirkliches Lachen Vertrauen erweckte. Dies also hatte er in ihrem Rücken gehalten! Damit hatte er sich zu ihrem Nacken gebeugt!

Ihre Augen brannten, sie starrte, bis sein Mund mit den auseinandergezogenen Lippen sich schloß und sie ihn langsam wiederfand, wie sie wollte, daß er in ihren Gedanken lebe ... Und als er sie bat, den Hut abzunehmen, damit er ihre Schläfen sehn könne, für einen Kenner wie ihn heiße das Austern schlürfen – tat sie es, um nicht zimperlich zu erscheinen. »Wie zart!« flüsterte er. »Fast schmerzlich! ...« Mit niedergeschlagenen Augen und zitternden Knien stand sie vor ihm. Bis er gerührt den Hut nahm und ihn ihr wieder aufsetzte.

»Kommen Sie, Aggie«, sagte er freundlich.

Er nahm ihren Arm und zog sie mit sich fort.

»Ich schwöre Ihnen, Aggie, Sie hatten eben einen wahren Schlangenblick, grün in grau und trüb wie das Nachtlicht meiner Großmutter, das die Räuber abhalten sollte, oder aber, ich weiß nicht, vielleicht war es Eva und gar nicht die Schlange, die mich so anstarrte ...«

Sie durchquerten zwei Zimmer, er hob das Ende eines Gobelins von der Wand, dahinter war eine Tür, er stieß sie auf, und Aggie trat in einen unbekannten Raum. Er enthielt vier Sofas von der Länge der vier Wände und in der Mitte einen niedrigen, leeren Tisch. Auf den Sofas lag ein buntes Durcheinander von Kissen. An den Wänden hingen Farbenstiche. Aggie konnte nichts weiter von ihnen erkennen, weil das Fenster blendete. Es lag der Tür gegenüber, nahm fast die ganze Breite der Wand ein und reichte bis an die Lehne des unter ihm stehenden Sofas. Aggie eilte darauf zu, in der Erwartung, dahinter eine Welt zu entdecken, neu und geheimnisvoll wie das Zimmer ... Indes fand ihre Neugier keine andere Nahrung als den Garten des Hauses und über den Bäumen den leeren Giebel der Nachbarvilla.

»Sie scheinen bei Herrn ten Hoet wie zu Hause zu sein«, meinte sie mit einer tiefen Stimme, die, ohne zu zittern, ihre Gemütserregung verriet, und als Silvio keine Antwort gab, ging sie und setzte sich auf das Sofa in der nächsten Nähe der Tür. Alle Kraft brauchte sie, ihre tolle Willenskraft und auch ihre Angst, um das Beben, die Schwäche in den Beinen zu verwinden. Wenn ich nachgebe, sprach sie eindringlich zu sich, wenn ich nachgebe, falle ich um, bin verloren. Er stand am Fenster, auf dem Platz, den sie verlassen hatte, und wandte ihr das Gesicht zu. Sie konnte es nicht erkennen, glaubte aber nicht, daß es noch lächle, nein, es lächelte nicht mehr, der schmale, dunkle Kopf senkte sich, sie konnte es vom Fenster absehen, das einen dunklen Scherenschnitt aus ihm machte, und drohte gefährlich in ihre Richtung, ihre Angst wuchs bis zum Schwindel.

Höher reckte sie sich, mit Hals und Ellenbogen, noch höher, sie saß ganz steif, die Augen schienen gestorben. Niemals war Silvio einem solchen Ausdruck verzweifelter weiblicher Kampfbereitschaft begegnet, einer derart im Feuerofen der Seele gehärteten Verzweiflung. Unaufhörlich liefen Glutwellen über das erstarrte Gesicht, als wäre es wirklich nur eine rätselhafte, vom Leben losgelöste Macht in ihr, die noch atme, ihr Herz aber stände still. Da bewegten sich die Lippen der Maske ...

»Ja, Aggie?« fragte er schnell. »Was sagen Sie?«

Mit einer schmeichelnden Stimme fragte er, einer Stimme, die sich unter die Haut einschmeichelte, tat einen Schritt auf sie zu, weich und zögernd. Es genügte, um Aggie mit Kopf und Schultern an die Wand zu pressen.

Hastig stieß sie hervor:

»Was wollen Sie mit mir in diesem Zimmer?« Gleich machte er halt.

»Was ich in diesem Zimmer mit Ihnen will, Aggie?«

Er grinste, sie hörte es, sah es, leise grinste er in sich hinein. Wie Bucklige grinsen. Bist du ein heimlicher Krüppel? So sprich doch, sprich! Als er aber sprach, klang es ganz anders, ernst und freundlich klang es.

»Fünf Minuten allein sein mit Ihnen, liebe Freundin, das wollte ich in diesem Zimmer. Sie anschauen. Um Sie herumgehn. Mich an Ihnen freuen – plaudern, in einem Wort, wie neulich im Hotel.«

Ach ja, richtig! Vor einigen Tagen war er mit einem Auftrag Adas in ihr Hotel gekommen, sie hatte ihn unten im Salon empfangen, auch einem Nordzimmer und dem schlimmsten von allen, weil es im Erdgeschoß lag. Er war sehr höflich, sehr aufmerksam gewesen, ja, auf packende Art leise und zartfühlend, viel mehr als nur ein »Monsieur«. Da hatte sie es gefühlt: er war im Begriff, in ihr Leben zu treten, mit der gedämpften Stimme, der Stimme eines höflichen Knaben floß er in ihr Leben, auf breiten, weichen Flügeln überschattete er sie.

»– wie neulich im Hotel«, wiederholte sie und schaute fragend zu ihm auf.

Die Furcht war von ihr gewichen, doch nun mußte sie sich wieder Gewalt antun, um nicht in den Hüften zusammenzusinken vor Scham. Die geballte Hand, mit der sie sich auf das Polster des Sofas stützte, öffnete sich, als brauchte sie alle Finger zum Halt.

Silvio, schmal und dunkel im Fensterausschnitt, hob langsam einen Finger.

»Silvio«, sagte sie, »ich erinnere mich! So standen Sie im Salon des Hotels. Da hoben Sie auch so die Hand und deuteten mit dem langen Finger.«

»Ja, Aggie, ja«, fiel er rasch ein, »ich wollte Sie auf die blühende Mauer aufmerksam machen, Sie beklagten sich über Ihr Hotel. Übrigens, Aggie, warum bleiben Sie dort, wenn Sie sich unglücklich fühlen?«

»Ich nehme seit Jahren immer das gleiche Zimmer im gleichen Hotel ... Weil –? Weil ich, wie man es von Verbrechern behauptet, vom schlechten Gewissen getrieben werde. Oder von der Reue, von der Hoffnung, ein versäumtes Glück, ein altes Leid wiederzufinden, lieber Silvio, oder auch eine Freude, die vor mir ergraut ist. Und die mir zeigt, wie ich selbst bald ganz und gar sein werde.«

Sie fürchtete, er könnte sie unterbrechen und die Stimme erheben, oh, nicht jene merkwürdig gedämpfte Stimme von neulich, seine Knabenstimme – die hätte sie nicht gefürchtet! Aber die war auch damals gleich von seiner andern Stimme geschluckt worden, dem erwachsenen, hinterhältigen Männerlaut, und den, gerade den wollte sie jetzt nicht hören.

»Vielleicht auch nur, um mich selbst wiederzufinden, Silvio«, eilte sie weiter, »um mich zu überzeugen, daß ich in der Zwischenzeit nicht verlorengegangen bin, zugleich mit meinen Handtaschen und Strümpfen, es ist eine Schwermut und Traumwandelei bei lichtem Tag. Was ich aber sagen wollte, Silvio – heute habe ich die blühende Mauer gesehn! Vor einer Woche haben Sie sie mir gezeigt, und heute erst habe ich sie gesehn. So schwerfällig bin ich, mein Freund, so lang muß ich fallen, um endlich ans Ziel zu gelangen. Es soll Sterne geben, deren Licht Jahrhunderte braucht, bis es uns erreicht. Zu der Familie gehöre ich, so lange brauche ich ungefähr, um irgendwo anzukommen.«

Weiter! Weiter! Nur nicht aufhören! Sie erzählte, wie sie heute noch der Knabenstimme jenes Tages lausche, ohne sich in Wahrheit zu fragen, wem sie gehöre, und die Stimme, der sie so lausche, sei ja auch niemand zu eigen und führe unbekümmert ihr Leben, nun ja, das meist übersehene, ziemlich unerforschte Leben einer Stimme im Raum. Ob er sich etwas darunter vorstellen könne? Ja? Weiter! Famos, daß Sie mir folgen. Nur nicht aufhören ...

Doch allmählich wurde ihre redselige Versonnenheit von einer Gestalt abgelenkt, die sich in ihrer scharfen Magerkeit gegen den Fensterausschnitt abzeichnete und mit einem langen Finger hinausdeutete, und diese Gestalt blieb stumm. Und Aggie wußte, jetzt wußte sie's: auf die Gestalt, genau in der gleichen Haltung, war sie nicht erst heute, nicht erst im Salon des Hotels, nein, schon vor langer Zeit einmal gestoßen.

Behutsam, um den Zauber nicht zu stören, beugte sie sich vor, einem vergessenen Geruch entgegen. Der Geruch durchzog sie mit einem luftigen Gewebe, Schmerz und Wonne, in ihrem Fleische fühlte sie, wie sie sich in einen andern Menschen verkehrte, und dieser Mensch war ein zehnjähriges Mädchen im Sommerkleid. Das Mädchen kam einen bewaldeten Hügel herab, jetzt waren Tannen um Aggie, schwere, dunkle Tannen, gleich darauf grüne Grasstreifen zu seiten eines lehmgelben Pfades, und unter ihr griff das Licht mit wehenden Händen in die Pfähle eines Weinbergs und rührte einen Harfenklang auf, und dort, am Saum des letzten Rebstückes, stand die Kirche, worin das alte Bild hing, dort in einem Dorfwinkel von Aggies elsässischer Heimat – dort!

Es roch nach Thymian und heißem Gras auf dem Vorplatz, drinnen aber, auf dem Bild, stand der heilige Johannes, mager, bartlos, und zeigte mit einem auffallend langen Finger auf die mystische Rose, die Wunde des Herrn. Ein Alemanne von dreißig Jahren, ein junger Bauersmann hier aus der Gegend, hatte er lange die heißen Länder durchstreift, bis er so geworden war: braungebrannt bis in die Augen, und von Hunger und Märschen geschmeidig bis in die gestreckten Knochenecken seines Körpers, ein abgemagerter Wolf, den die Tiere eines Tages heilig gesprochen ...

Sprach sie noch immer?

Es schien ihr, als sei es still geworden im Zimmer. Die großen Sofas waren mit Schweigen gepolstert. Man hörte nur das Rauschen des Regens hinter dem Fenster.

Nein. Silvio redete. Es war seine glatte erwachsene Stimme, die blitzend in der Luft spielte, bevor sie hinabrauchte ... Wie das Spiel von Delphinen in einem lauen Meer ... Und nun verstand sie ihn auch. Er sprach von der Nachbarvilla. Ada wollte nicht mehr im Hotel wohnen. Ada stand in Unterhandlungen, um jene Villa zu kaufen, deren, fensterloser Giebel über die Bäume herüberschaute. Ada. Ada. Nichts als Ada ...

»Dann werden wohl auch Sie in der Villa wohnen?« fragte sie und spähte zum Giebel hinüber, als müßte der wenigstens die Wahrheit sagen.

»Nein, Aggie. Ich möchte, daß Ada Schloß Unterhügeln kauft, wie sie es vorhatte. Aber auf einmal sträubt sie sich gegen das Elsaß. Sie allein, Aggie, können sie überzeugen, daß sie ins Elsaß gehört und nicht hierher, in dieses Allerweltsparadies. Reden Sie ihr zu!«

Aggie erhob sich mit einem Ruck.

»Ich?« rief sie empört.

Nun schlich er, schlich um den Tisch auf sie zu und nahm ihre beiden Hände, beide zugleich, er drückte sie nicht, verwahrte sie nur, indem er selbst ganz still blieb und nur ein wenig den Kopf drehte, ins Licht, damit sie sehn konnte, wie demütig er sei und wie er sein Leben in ihre Hände gebe.

»Aggie, ich liebe Sie wie mein Glück, ich meine wie etwas, das mir Glück bringt, mit dem mein Glück notwendig verknüpft ist. Kann man mehr lieben? Aggie? Freundin ... Mein Glück steht in den Sternen. Sie aber sind der Dolmetsch. Sie haben mir immer Glück gebracht. Aggie, schon neulich, als wir nach Monte fuhren, um zu spielen, da brauchten sie nur einmal durch den Saal zu gehen, wo ich an der Roulette saß und verlor, gleich wandte sich alles, und ich gewann, in fünf Minuten gewann ich alles zurück, in den nächsten Minuten das Dreifache dazu.«

»Ja, aber«, stieß sie hervor, »ich verlor mein ganzes Geld, bis auf ein paar Groschen.«

»Im Bakkarat, Aggie! Und ich saß nicht bei Ihnen.«

»Nein, Sie saßen bei Ada.«

Er öffnete die Tür, schob Aggie hinaus.

»Kommen Sie, wir wollen spielen!«

Als sie ihm draußen gestand, und in ihr raste die Ungeduld, das Glück zu versuchen, das bittere Glück, das Silvio hieß, als sie mit zusammengekniffenen, grünlich glitzernden Augen ihn lauernd ansah und sagte: ich besitze nur noch zwanzig Franken, da drückte er ihr einige Scheine in die Hand, und unter Silvios Ruf: »Ich bitte um Platz, meine Herren! Ich spiele mit Aggie Ruf«, traten sie in die Halle.

»Es war vorhin an mir, die Bank zu übernehmen, nicht wahr, meine Herren? Ich stand nur eben auf, um unsre Freundin zu begrüßen ... Ich bitte um die Bank.«

»Sie waren im Verlust und drückten sich rechtzeitig«, wurde geantwortet. Man lachte, und Silvio und Aggie lachten übereifrig mit.

»Messieurs, n'insultez pas un galant homme!« rief Silvio, außer sich vor Gier, ins Spiel zu kommen. Aber sie mußten warten.

»Zwei Minuten«, flüsterte Silvio, er beugte sich zu Aggie und bohrte ihr den Blick in die Augen. Da war auch wieder das Flattern und Funkeln um ihn, die mühsam beherrschte Trunkenheit ohne Wein, die sie zum erstenmal beim »Streit von Tourette« beobachtet hatte ...

Sie warf den Kopf zurück, er wog ihr so schwer, und lächelte mühsam. Leise, selbst für ihn kaum verständlich, befahl sie:

»Nehmen Sie, bitte, den Schraubenzieher aus den Augen, Silvio. Es geht auch so. Ich bin stark!«


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