Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Bald herrschte bei uns ein Leben wie zur Zeit, als mein Stiefbruder Ernst und die kleine Hartmann, seine Frau, ihre politischen Sitzungen abhielten. Der Pavillon überm Hof (es war abgemacht, daß er nicht zu »uns«, zu Breuschheim gehöre, sondern als »exterritorial« zu gelten habe) bewährte seine alte Anziehungskraft, das gleiche Publikum wie früher erschien am zweiten und vierten Samstagabend des Monats und bestand aus dem, was man die gute Bourgeoisie nennt. Wenn man die Herrschaften reden hörte, glaubte man, sie rezitierten den ›Temps‹ oder das ›Journal des Débats‹.
Der Schloßherr von Unterhügeln sprach wie sie, wenn er auch befremdende Ansichten vertrat. Sie hatten ein feines Ohr und entschuldigten vieles, weil er es gewissermaßen in einer höheren Gaunersprache ausdrückte, einem Weißwelsch, woran sie einander über ganz Frankreich hin erkannten. Diese Sprache enthielt alle materiellen und seelischen Eigenschaften der Kaste in Reinkultur.
Dem Neuling Silvio ging die Ausdrucksweise des vaterlandliebenden, gebildeten, höflichen Bürgers, der sich einen Enkel Voltaires und Sohn der großen Revolution nennt, ungesucht vom Munde, volltönig und flüssig, als sei er auf einem Paket Staatsrenten geboren. Auch konnten deshalb seine politischen Ansichten unmöglich so gefährlich gemeint sein, wie sie klangen. Die Schlaueren witterten in ihm das Tier, das die Herde nur verließ, um nach einiger Zeit an ihrer Spitze wiederzukehren ... Wahrscheinlich stimmte es, daß er von »ganz kleinen Leuten« abstammte (niemand hatte je von einer Familie Wolf aus dem hinteren Münstertal gehört), aber durch Heirat gehörte er zur mächtigen Familie Hartmann und: »die Republik kennt keine Klassenunterschiede«.
Außerdem war ja auch der Präfekt da und versicherte jedem, der einzige Heimatrechtler, der Achtung verdiene, sei Herr Silvio Wolf, und wer weiß, vielleicht würde ein Abgeordneter aus ihm. Die Regierung zweifle nicht, daß in diesem Fall das Land den Führer und ehrlichen Sachwalter erhielte, den es seit langem verdiene ... Wenn der Präfekt so sprach, schaute er seinem Gesprächspartner tief ins Auge und lächelte unmerklich. Es war ein berufliches Lächeln, das keine photographische Platte festgehalten hätte ... Vor allem rühmte der Präfekt Silvios Begeisterungsfähigkeit, »eine unschätzbare Tugend in unsrer merkantilen und blasierten Zeit«, und dabei wiederholte er das Zeugnis Saint-Simons, das Aggie ihm bei Gelegenheit zugleich mit einem Gläschen Curaçao überreicht hatte: »Man muß begeistert sein, um Großes zu vollbringen!« Die Enkel Voltaires und die Töchter der Großen Revolution dachten an die Polizei und stimmten zu.
Die einzige, die ihren Gästen und damit der Republik wirkliche Rätsel aufgab, war Aggie Ruf.
Von Geburt gehörte sie zu ihnen. Jedem waren Herkunft und Umstände der Familie geläufig. »Ah! le bon docteur Ruf!« konnten die Damen Aggie freundlich zuflüstern. »Was würde er sagen, wenn er seine Tochter hörte!« Aggie biß sich auf die Lippen, um nicht zu antworten: »Euer bon docteur Ruf war ein verdammter Heuchler, und einige eurer Mütter dürften es erfahren haben!« Gegen ihr Französisch war ebensowenig einzuwenden, es hatte unter der deutschen Schriftstellerei nicht gelitten, und wenn sie sich auch gesucht originell ausdrückte, ja geradezu tollkühn, so erwies es sich doch, wenn man aufpaßte, als untadeliges Französisch. Sie pflegte Beziehungen zu Leuten, die große französische Namen trugen, und sobald sie merkte, daß der Boden der Elsässer Bourgeoisie unter ihr wankte, rührte sie tüchtig mit dem Quirl, ließ die schönen Namen schäumen und war gerettet. Die Enkel Voltaires und die Töchter der Großen Revolution hingen ehrfürchtig an ihren Lippen. »Elle est très bien, mais un peu sauvage«, hieß es dann – anständig sei sie, aber eine Halbwilde, jedenfalls eine exotische Erscheinung. Zuweilen konnten ihre Eigentümlichkeiten allerdings erschreckende Formen annehmen.
Mitten in einer Unterhaltung erhebt sie sich, steht da und guckt flammenden Hauptes in die Luft, als ob sie eine Erscheinung hätte. Oder – statt auf eine Frage zu antworten, eilt sie zur Bibliothek und beginnt in einem Buch zu blättern, ohne sich zu kümmern, wer kommt und geht und was um sie geschieht. Was fehlt ihr? Fühlt sie sich unwohl? Ebenso plötzlich kehrt sie zu ihren Gästen zurück, von denen sie annimmt, sie hätten unterdessen geschlafen, denn sie weckt sie gleichsam mit freundlichen Zurufen, schwebt liebenswürdig von einem zum andern und bemüht sich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, die keine Minute gestockt hat. Oder sie unterbricht den Präfekten, entschuldigt sich, verstummt, entschuldigt sich von neuem und setzt zu einer Erzählung an – der Anfang der Erzählung bleibt unklar, sie hat auch kein erkennbares Ende. Aggie jedoch findet die Geschichte gut und schüttelt sich vor Lachen, ein kleiner, blonder Irrwisch, der unverständliche Tänze aufführt. Sie ist reizend, wirklich reizend! Aber eben eine Halbwilde.
Nicht immer fällt es den Gästen leicht, ihr Mißvergnügen unter höflichen Äußerungen der Teilnahme zu verbergen. Aggies Rede erlaubt nicht den geringsten Zweifel an ihrer Gesinnung. Sie ist Autonomistin strengster Richtung, und der sympathische Herr Wolf gilt für ihre »âme damnée«, ihr Opfer, das sie nicht aus den Klauen läßt, obwohl sein »Guter Engel«, nämlich Ada, »bitterlich« um ihn ringt. Ja, den Damen in ihrem Feingefühl ist es nicht verborgen geblieben, daß zwischen Ada und Aggie ein schleichender Kampf um diesen Mann geht, und in allen Ehren deuten sie ihn als einen Wettstreit zwischen der französischen Lebensart Adas und Aggies Gewöhnung an deutsches Denken und Fühlen. Sie sagen von ihr: »un esprit entaché d'allemand«, ein vom Deutschen befleckter Geist, was beinahe unzüchtig klingt ...
Von alledem erzählte sie mir lachend, wobei sie die auftretenden Personen vortrefflich darstellte.
»Die Weltrevolution erwähnen Sie selten?« fragte ich einmal.
»Ja, Claus. Denn vor der fürchten sie sich viel weniger als vor der Autonomie ...«
Der erste Samstagabend des Monats gehörte den Bürgermeistern und anderen hervorragenden Vertretern der Landbevölkerung. Sie wurden nach Unterhügeln ins Schloß geladen. Sicher waren diese Abende trotz der Zurückhaltung der Teilnehmer die lebendigsten und wesentlichsten von allen, aber ich war leider nie dabei. An den dritten Samstagabenden erschienen unsere Schulkameraden, die »Bischöfler«, jeweils mindestens ein Dutzend.
Ada nahm an der Mahlzeit teil und hielt sich auch noch kurz in den Salons auf, bis die überflüssigsten Dinge der Welt, nämlich ein viel zu starker und bitterer Mokka und süße Liköre hereinkamen. (Kirschwasser und Kognak blieben vorsichtshalber ausgeschlossen.) Sofort nahm die Unterhaltung an Tonstärke zu. Man trank den Mokka oder trank ihn nicht, widerwillig hielt man sich mit den Likören in Gang, und nachdem die Anstandspause überstanden war, gab es endlich wieder ehrlichen Wein.
Aber da saßen noch die geistlichen Herrn und versuchten französische Gewächse. Sie hielten das Glas gegen das Licht, schlürften bedächtig und ließen das feurige und duftende Werk der Sonne auf der Zunge zergehn. Die Gespräche setzten sich in Hemdsärmel, ohne die großzügig gesteckten Grenzen der Schicklichkeit zu verlassen. Das ging so, bis die Pfarrerskameraden aufbrachen und die zurückbleibenden weltlichen »Bischöfler« nach ihrem guten, etwas sauern, bekömmlichen Landwein verlangten. Der Wein wurde in großen Krügen in Silvios Arbeitszimmer gebracht, wohin alle übergesiedelt waren, und es hob ein Gelage an, von dem die Bewohner von Dorf Unterhügeln behaupteten, es erinnere an die Schießerei auf dem Hartmannsweilerkopf während des Krieges.
Der einzige, der den Wein verschmähte, war der Hausherr. Er trank Mineralwasser, eine Flasche nach der andern. Wäre er nicht sehr glatt und, mit dem Doktor zu reden, »englisch aufgezogen« gewesen, er hätte an Attila erinnert, der auch so dahockte, Wasser trank und von einem Podium herab zusah, wie seine Horden sich betranken. Manchmal wurde dem Diener befohlen, die Fenster zu schließen, worauf einer, der außer Weißbrot auch noch frische Luft brauchte zum Trinken, sie gleich wieder aufriß. Silvio schickte den Diener ins Bett, und jetzt war's recht. Die ganze Bande stieg geschlossenen Zuges in den Keller und holte sich selbst ihren Wein.
Die unbestrittenen Häupter der Sippe waren François Kern (er gehörte nun dem Generalrat des Unterelsaß an) und der alte Scharfrichter der Klasse, Hubert Adam. Kern redete gern und gut und betrachtete zwischendurch als Kenner und bescheidener Sammler die Stiche von altelsässischen Städten an der Wand. Adam kauerte in der Ecke eines Sofas und grämte sich.
»Schlechter Beruf, Scharfrichter – werden alle melancholisch und kommen ins Saufen!« hänselte ihn Kern, der bei ihm vorbeikam. Der andre rührte sich nicht. Jemand rief herüber: »Als Chirurg wird man geboren, er kann nichts dafür.« Das war einer, der hatte neun Jahre lang die Mathematikarbeiten von Adam abgeschrieben ... Der Doktor lächelte. Noch immer empfand er etwas wie Zärtlichkeit für den Burschen, der ohne ihn niemals über die Quarta hinausgekommen wäre.
»Er lächelt«, schrien die Bischöfler, »unser Scharfrichter lächelt! G'sundheit!« Adam hob das Glas und trank, und Kern, dadurch ermutigt, beugte sich über ihn und fragte leise:
»Wie steht sie – die Schlacht mit dem Tod?«
»Schlecht«, knurrte der Doktor. »Laßt mich in Ruh'.«
François Kern begab sich an seinen Platz. An der einen Schmalseite des großen Tisches saß er, an der andern der Hausherr. Silvio hatte gerade festgestellt, die ganze Klasse, bis auf Adam und einen armen Teufel von Amtsrichter, die es nicht sagten, sei autonomistisch. »Und du?« fragte Kern. – »Ich auch.« Kern lachte. »Und was sagt der Präfekt dazu? Und Schwiegervater Hartmann? Muß ihnen doch verdammt peinlich sein, wenn bei den Wahlen die Höllenmächte der einen und unteilbaren Republik auf einen so netten Jungen losgelassen werden ... Ich meine für den Fall, daß du dich aufstellst.«
»Möglich.«
»Was ist möglich?«
»Daß es die Herren ärgert.«
»Hör mal, Wolf! Im Ernst! Alle Regierungstruppen: Nationalkatholiken und Freimaurer, Sozialisten und linientreue Kommunisten, marschieren begeistert gegen François Kern und seine Freunde. Gegen Silvio Wolf aber, gegen ihn kann der Präfekt sie doch nur zum Schein marschieren lassen. Man wird stutzig werden. Es wird zumindest an Begeisterung fehlen ... Ich meine für den Fall, daß du dich aufstellst.« Die Bischöfler begannen etwas zu merken. »Für den Fall, daß du dich aufstellst!« wiederholten sie feixend. Jedoch, obwohl sie stramme Heimatrechtler waren, schmunzelten sie wohlwollend über die Beziehungen Silvios zum Präfekten, als seine Mitschüler fühlten sie sich mitgeehrt. Daran änderte auch die Antwort nichts, die Silvio gab:
»Mit dem Schein irrst du, François. Kampf bis aufs Messer gegen die Autonomisten, sofort und immer schärfer, so lautet die Parole. Bis zu den Wahlen wird noch allerhand erfolgen. Schwere Schläge. Der letzte und schwerste am Vorabend der Wahlen. Ich warne dich als Freund!« Die Bischofler schmunzelten noch immer, keiner fürchtete sich.
»Was der alles weiß!« meinte Kern. »So? Kurz vor den Wahlen? ... Hm ... Ich danke dir. Um so besser! Wir gewinnen auf der ganzen Linie. Aber du? ... Kommst Arm in Arm mit dem Präfekten als Autonomist daher ... Was soll denn auch die Familie Hartmann mit den elsässischen Heimatrechten? Sie ist so groß, daß ihr Frankreich nicht genügt, sie hat Filialen in Amerika. Wir sind kleine, bescheidene Leute, Silvio. Du mußt dich klein und bescheiden machen wie wir, ich kann dir nicht helfen. Am besten wär's, du ließest dich scheiden und würdest ein möbliertes Zimmer in Schiltigheim mieten. Ich meine für den Fall, daß du dich aufstellst.«
»Für den Fall, daß du dich aufstellst!« brüllte der Chor.
»Übst du denn fleißig Dialekt? Nicht, daß du bei einer Versammlung plötzlich in eine Balkansprache verfällst!« Silvio, plötzlich verzerrt, schlug mit der Faust auf den Tisch. »Laß mich in Ruh' mit dem Balkan. Seitdem ich im Land bin, hört ihr nicht auf, mich mit dem Balkan aufzuziehn. Ich bin Elsässer wie ihr!«
»Richtig, du bist Elsässer«, ertönte da die Stimme Adams.
Die Bischöfler stießen sich an. Sie kannten die Drohung des Doktors, in jeder Versammlung, in den Zeitungen, überall gegen den Schloßherrn aufzutreten, wenn er es wagen sollte, seine Kandidatur aufzustellen. »Er ist ein Falschsager«, hatte er verkündet ... »Ihr müßt wissen, so wie es Wahrsager gibt, gibt es auch Falschsager. Alles, was die in den Mund nehmen, wird falsch, und wäre es die lauterste Wahrheit. So einer ist er.«
Jetzt also kam der Doktor mit gefährlicher Langsamkeit auf den Tisch zu. »Wie steht's aber?« fragte er lauernd. »In deiner Kindheit hast du auf dem Balkan gelebt? In der rumelischen Steppe? Und dann warfen englische Matrosen dich ins Meer? Vorwärts, die Stunde der Geständnisse hat geschlagen.«
Silvio hatte Ruhe und Schönheit wiedergefunden. Er stand auf, Adam setzte sich auf den leeren Stuhl. Der Junge, der die Mathematikarbeiten von ihm abschrieb, gab ihm zu trinken. Indessen schlenderte Silvio auf und ab und beobachtete die Kameraden aus den Augenwinkeln. Diese Art zu blicken hatte etwas Frauenhaftes, dennoch empfand keiner ihn als weibisch. Auch nicht, als er nun lächelte – obwohl er an ein Mädchen erinnerte, das schmollen möchte, dem es aber nicht gelingt. Er war schön und männlich, Kraft blitzte ihm aus den Augen. Die hellen Vögel der Heiterkeit umflatterten sein Gesicht, die Stirn hatte einen Glanz, der bis auf die Spitzen der fabelhaft abgeriebenen Lackstiefel herabtröpfelte. Die Bischöfler entdeckten Bügelfalten an ihm, deren Erzeuger die Natur selbst, nicht ein Schneider zu sein schien. Jeder von ihnen war einmal in einen Jungen verliebt gewesen, und, den meisten unbewußt, formten sich nun jene längst verwischten Gefühle zu einem Bild, dem Bild des vor ihnen wandelnden Silvio. Einer nach dem andern trank ihm zu, er nickte mit ironischer Zuvorkommenheit, einige erröteten. Vielleicht sogar war der Doktor der einzige, der völlig unberührt blieb.
»Wie ein Mannequin«, brummte er wütend.
Silvio deutete auf Kern, denn an Adam traute er sich nicht heran, und sagte:
»Ja, also, daß ich es dir gestehe. Als Kind bin ich einmal meiner Großmutter im Münstertal durchgebrannt, ich nahm den Weg über die Schlucht und kam nach Gérardmer. Am Ufer des Sees lag ein Kahn, die Riemen hingen ins Wasser, zwei schöne rote Riemen mit Ledermanschetten am Griff, ich sprang hinein in den Kahn. Kaum war ich drin, als zwei Jungens in Badehosen sich vom Boden erhoben und mich kurzerhand ins Wasser schmissen. Englische Jungens ... So, und nun, François, bitte ich dich, verrate mich nicht! Sonst verlegen meine Freunde die Geschichte auf den Balkan, und ich bin blamiert ... Ich meine für den Fall, daß ich mich aufstelle.«
Statt Gebrüll antwortete diesmal ein frisches Gelächter, das Beifall bedeutete. Silvio trat zu Kern und streichelte ihm die Backe: »Bin ich dir klein und bescheiden genug, mein Lieber? Ich mache aus dem Meer den See von Gérardmer ...«
»Warst du überhaupt im Balkan?« fragte Kern und forschte in den Zügen des abenteuerlichen Kameraden, schwankend zwischen Bewunderung und Mißtrauen.
»Später, als hochgeschossener Fünfzehnjähriger ...« Das erwies sich als ein Fehler. »Oje!« riefen die Bischöfler. »Hochgeschossen! Hör auf. Bleibe bei Gérardmer. Es liegt näher.«
»Kindsköpfe! Claus Breuschheim war im selben Alter in Venedig. Ärgert ihr ihn deshalb mit Venedig?« Adam erhob sich. »Du Rheingaskogner!« sagte er in traurigem Ton. »Je mehr ich's überlege, desto besser paßt du mir in die Schelmenzunft. Am eigenen Leib hast du die Entwicklung der europäischen Menschheit erlebt, von der primitiven Wirtschaftsform bis zu ihrer heutigen Höhe. Da kann von uns Schelmen keiner mit. Oh, du wirst deinen Weg bei uns machen, Silvio Wolf, in einem früheren Leben Lupescu genannt, Silvio Wolf, Silvio le Loup, Wolf in allen Sprachen, mit deinem seidigen Fell.« Er machte eine Pause. »Hör zu. Für den Fall, daß du dich aufstellst –« Der Junge, der die Mathematikarbeiten abschrieb, erriet ihn zuerst, er sprang auf, hob das Glas und rief: »Stimmt alles, was je auf dem Bischöflichen saß, für den Wolf.«
»Jawohl«, bestätigte Adam trübselig. »Das tun wir. Gegen Kerle wie dich ist doch nichts zu machen ... Außerdem, ihr Bürschle – seit wann springt man so mit seinem Gastgeber um? Schämt euch! ... Ich weiß nicht, was ich heute habe. Der Wein schmeckt mir nicht.«
Nachdem er eine Weile nochmals in der Sofaecke gebrütet hatte, stieß er ein wildes Ächzen aus und begab sich ganz allein in den Keller, von wo er mit zwei Flaschen Champagner zurückkehrte. Gegen Morgen begann er zu toben und stieß fürchterliche Drohungen gegen Silvio aus, von denen die geringste lautete: »Ich werde dich demaskieren, bis auf die siebente Haut.« Der Wechselgesang: »Für den Fall, daß du dich aufstellst«, von einem Chor Derwischen in steigender Besessenheit hervorgestoßen, weckte das Dorf.
Silvio und ich taten uns zusammen und manövrierten die Bischöfler hinaus. Sie wurden in zwei Autos verladen und nach Straßburg gebracht, von wo die Auswärtigen mit den ersten Morgenzügen ihre Wohnorte erreichten.
Während des ganzen Sommers war Aggie von einer köstlichen Natürlichkeit, unbeschwert, arglos, immer im Flug, der Spielball ihrer eigenen, an Einfällen ernster und leichter Art unerschöpflichen Laune. Vom ersten Tag an kam sie zum Tee wie zu einem Fest, das wir ihr gaben. Ein wahres Leuchten ging von ihr aus, wir sahen alle, wie glücklich sie bei uns war, sie sagte es mir, und schließlich glaubte ich es.
Wie denn auch nicht? Die unüberlegten Worte, die ihr entfuhren (und sie waren zahllos wie die Rufe der Vögel), die geringsten Regungen, ihr Schweigen selbst und Dahindämmern, das ihr Gesicht mit einem honigfarbenen Schimmer überzog und die Welt um sie wie in die Ruhe des Glückseligen bettete, alles sagte dasselbe. Ich war mehr als beruhigt, ich nahm teil an ihrer Gewißheit. Ich hatte geglaubt, ihr helfen zu müssen, und siehe, ein Wunder, ja, ein Wunder, sie half mir. Sie war der einzige Mensch, mit dem ich über gewisse Dinge sprechen konnte, ich schien der einzige, bei dem sie sich gab, wie sie war, sowohl in dem, was sie sprach, wie in dem, was sie verschwieg.
Den Kindern erging es nicht anders. Obwohl Jacquot längst von Gabriele über die »Wandlung der Dichterin« aufgeklärt war und sie beide eine Zeitlang wie indianische Späher aufpaßten, um an Aggie die »Zeichen des Verrats« festzustellen, verloren sie bald jedes Mißtrauen und ließen sich in eine Sicherheit einwiegen, die auch gelegentliche Verstöße ihrer Freundin nicht erschüttern konnten. Sie waren so vertraut mit ihr, daß ihre Gegenwart sie weder im Spiel noch im Ernst störte, und als die französische Presse von entrüsteten Schreien über die Zerstörung eines Kriegerdenkmals in Colmar widerhallte, gestanden sie ihr stramm, was sie freilich schon ahnte.
Es war dies die neueste Untat der Weißen Scharen, und zwar eine Höchstleistung angesichts des Umstandes, daß bei der nächtlichen Unternehmung ein Polizist in der Nähe gestanden hatte, der auch sofort herbeilief, als der gallische Hahn von der Spitze des Denkmals polterte und gleichzeitig die Flasche mit Salzsäure gegen den Sockel knallte. Die Säure spritzte den Kindern bis auf die Schuhe. Der Polizist pfiff, von verschiedenen Seiten erfolgte Antwort, da sie aber den Standort der nächsten Polizisten ausgespürt hatten, entkamen sie ungeschoren ... »Kinder, macht euch aufs Kittchen gefaßt«, sagte Aggie erschrocken. »Ausgeschlossen, daß alle die Buben und Mädels auf die Dauer dicht halten. Und was erreicht ihr damit? Eine neue Einweihung oder Entsühnung mit neuen patriotischen Drohreden. Geändert ist nichts ...« – »Möglich«, versetzte Gabriele, etwas ablehnend ... Paar Tage darauf meinte Jacquot: »Du, Gabriele, es hat wirklich keinen Sinn, daß wir den Zuckerbäckern neue Arbeit verschaffen. Die Zeitungen haben eine Subskription eröffnet, das Geld für die Wiederherstellung des Dingsda regnet nur so in die Büchse ...« Gabriele schlug vor, sich einige Zeit ruhig zu verhalten und dann erst zu entscheiden, was weiterhin geschehen solle. Dieser Beschluß wurde Aggie mitgeteilt und fand ihre Billigung.
So stand es mit Aggie und den »erwachsenen Kindern«. Noch einfacher lagen die Dinge für Annette. Die sah in Aggie eine Person, an deren Überlebensgröße man zwar nicht zweifeln konnte, die aber gewissermaßen nur zum Schein und aus Spaß dem Geschlecht der Riesen angehörte. Da kam zum Beispiel die Person, klopf-klopf, ins Zimmer hereinspaziert, fremd und hochmütig, ging herum, gab Händchen und tat groß, als ob nicht neben dem Glas mit den Goldfischen ein Mädchen säße, das seit Aggies Eintritt kein Auge von ihr verwandte. Wer aber hockte unversehens auf dem Boden und griff einem in die Haare und kollerte, rumdiplum, über den Teppich? Aji! Aji! Dabei fand Annette Gelegenheit genug, sich für größer, gescheiter und in jeder Weise vernünftiger zu erachten als die mit ihr herumtollende Aji.
Täuschte uns Aggie? Ich glaube nicht. Wahrscheinlich legte sie an unserer Haustür, wo die steinernen Breuschheim knien, Mann und Frau, die Erbauer des Schlosses, den Zwang, die Mission, die Disziplin, oder wie sie es sonst nannte, ab und lebte bei uns einfach ihr Leben weiter. Sie versicherte uns, unter dem Schutz der beiden frommen und noch im Gebet weltfrohen Gestalten, denen man ihre Liebe durch Stein und Alter hindurch ansehe, fühle sie sich geborgen wie sonst nirgends in der Welt. Denn Schutz, lachte sie, Schutz und Schirm habe sie von jeher gebraucht, das sei ihr leider anerzogen, niemand habe sich weniger um sie gekümmert als gerade ihr Vater, und die Folge davon sei eben, daß sie immer unterwegs sei, kreuz und quer auf der Suche nach Stützpunkten in einem widerwärtig unbeständigen Leben ...
Mein Vater, der kränkelte und den größten Teil des Tages im Lehnstuhl verbrachte, einen Band Plutarch oder die Eklogen Vergils in der Hand, raffte sich bei Aggies Erscheinen auf und behandelte sie als ganz große Dame. Die Art, wie sie darauf einging, war keinesfalls von geringerem Format. »Wir beiden«, erklärte sie, »wir sind die letzten Edelleute am Rhein.«
Sie kannte von Vergil nur, was sie auf der Schule gelesen hatte, die langweilige Äneide, und war entzückt von der Frische der ländlichen Gedichte. Balthasar las ihr seine Lieblingsstellen vor, bis Aggie sie ungefähr auswendig wußte und auf sein: »Wenn Sie mir die Gnade erweisen wollen, Platz zu nehmen«, leichthin antworten konnte: »Eris mihi magnus Apollo.« »So wirst du für mich groß sein wie Apollo.« Oder sie beschloß eine längere Sitzung mit dem schwungvollen Vers, den sie »das Abendläuten« nannte: »Claudite iam rivos, pueri, sat prata biberunt.« »Schließt die Wassergräben, Jungens, genug haben die Wiesen getrunken.«
Den größten Erfolg erzielte er bei ihr mit dem ›Marcus Crassus‹ von Plutarch. Dieser Besieger des Spartacus bereitete ihr wahre Wonnen durch das Unmaß und die Unverhülltheit seiner Korruption, von der sie behauptete, eine so erfinderische, rücksichtslose, geradezu erheiternde Geldmacherei sei in jeder Beziehung großartiger als jene Nichtigkeit, die man als Feldherrngenie zu bezeichnen pflegte. Feldherrngenie bestehe einzig und allein darin, im entscheidenden Augenblick dem Gegner an Zahl und Ausrüstung überlegen zu sein. »Und das«, meinte sie, »brächte der Mann, der London oder Paris oder Berlin mit Kartoffeln beliefert, genausogut fertig ...« Balthasar teilte ihre Ansicht. Über Spartacus äußerte sie, er sei kein geborener Sklave, sondern ein in Sklaverei geratener thrazischer Fürst gewesen, weshalb es einen Unsinn bedeute, ihn mit der heutigen proletarischen Bewegung in Beziehung zu setzen. Auch darin konnte Balthasar ihr nur beipflichten ...
Von meinem Vater kam sie gewöhnlich »auf einen Hürdensprung« zu mir.
»Wie hoch heute das Hindernis?« fragte sie, und je nachdem, wie mir zumute war, blieb sie fünf Minuten oder zwei Stunden.
Ich lebte wie stets um diese Zeit, stand kurz nach der Sonne auf und ging meist bald nach ihr zu Bett. War auf dem Feld, in den Reben, im Wald alles gut gegangen, erwartete mich um so mehr Ärger im Büro. Die Autofabrik, diese Plage seit Anbeginn, konnte sich nicht mehr lange halten. Die Konkurrenz, die im Großen arbeitete und jedes Jahr neue Modelle herausbrachte, richtete uns zugrunde. Flingot verhandelte mit französischen und amerikanischen Firmen, ohne zu einem Abschluß zu gelangen. Den einen waren wir zu klein, die andern drückten uns mit dem Einwand, wir seien politisch kompromittiert. Flingot schlug vor, die Fabrik dem Schloßherrn von Unterhügeln »anzudrehn«. Ich lachte ihn aus. Er verhandelte trotzdem mit ihm. Der Erfolg war peinlich. Ada ließ uns durch Silvio ihre Hilfe anbieten, und als ich ablehnte, erschien eines Tages der alte Hartmann bei Balthasar. Nach einer Unterredung, zu der ich erst zugezogen wurde, als mein Vater bereits die Waffen gestreckt hatte, wurde beschlossen, daß Ada uns gegen hypothekarische Sicherheit eine größere Summe vorstrecke, die wir jederzeit ohne Kündigung zurückzahlen könnten. Zu unserer Verblüffung, aber sicher mit Adas Einverständnis, wurde die Hypothek auf den alleinigen Namen Silvios eingetragen ... Seit dem Besuch Hartmanns hatte der Ton, in dem Balthasar sich über Silvio zu äußern pflegte, ein wenig gewechselt. Die höfliche Geringschätzung erhob sich nunmehr auf einer neuen Grundmauer: der Anerkennung für die partielle Begabung des Nachbarn. »Finanzgenie« hatte Charles Hartmann gesagt, und wer sollte sich darin auskennen, wenn nicht der große Mülhauser? »Er wird es weit bringen«, hatte Charles Hartmann versichert. »Nicht nur in Geschäften.«
Die »Hindernisse«, zu deren galoppierenden Überwindung (wenigstens im Gespräch) unsere Aggie gutgelaunt und selbstbewußt antrat, waren demnach nicht zu verachten, und auch sie hatte die ihrigen, bei denen ich ihr den Steigbügel hielt und die wir deshalb nicht weniger ernst nahmen, weil sie Zofen, Verleger, Zeitungen, Friseure und hauptsächlich ihren Salon und dessen Gäste betrafen. Das Niveau ihres Salons erschien ihr zu vulgär und die Leute darin zu fein. Gegen das eine empfahl ich Abstellung der politischen Wasserleitung (statt dessen Jazz, Paul Valéry und Astrologie), gegen das andere einen Besuch Hubert Adams im Pavillon. Sie konnte füglich nur das zweite annehmen.
Dies waren unsere Gespräche, so wie ein Dritter sie verstanden hätte. Uns beiden jedoch dienten sie nur als Tonkulisse für etwas anderes ...
Nach Vivianes Tod erkannte ich bald, daß ich unmöglich ihr Bild in mir wiederfinden konnte, so sehr ich mich auch abmühte – nicht ihre Gesichtszüge, die Augen nicht, nicht den Körper, keine ihrer Bewegungen, und am meisten von allem schien ihr Mund gestorben. Der Mund, der mich geküßt hatte, daß ich mitten im Feld erschauernd stehnblieb, wenn ich daran dachte! ... Aber auch dann wollte es mir nicht gelingen, ihn aus dieser Luft zu erschaffen, die doch im heißen leeren Mittag gleichsam bebte von seinem Kuß ... Ich half mir, wie ich konnte, denn es war mir unmöglich, sie so völlig zu entbehren. Ich quälte beinahe die kleine Annette, weil die Amme sie stillhalten mußte: in den Zügen des Säuglings suchte ich die Mutter ... Annette hatte nur die Augen von ihr, einen Schimmer ihrer tiefgründigen, wunderbar stillen Augen. Selbst die ferne Erinnerung ging mir verloren, sobald ich dem Kind den Rücken kehrte.
Auf meinem Tisch standen Photographien, sie zeigten Viviane als Mädchen, so wie sie gewesen sein mochte, wenn ich an ihrer Seite die Staden Straßburgs hinaufging oder sie in die verbotene Wildnis des Rheinwaldes entführte, als Frau, als werdende Mutter, und dies letzte Bild war ergreifend.
Es war im Freien aufgenommen. Nichts deutete ihre Mutterschaft an, und alles verriet sie. Vor allem eine in Worten kaum wiederzugebende Vertiefung ihrer lässigen Anmut, aber auch das Ausgehöhltsein ihres Gesichtes, die Verflüchtigung, ja völlige Ohnmacht ihrer Züge, indes der noch immer schmale Körper fest mit dem Boden verwurzelt war, auf dem sie stand, und deutlich teilhatte an der Macht und unersättlichen Lebensgier der Erde.
Ich sah die Photographien, ich sah sie an, bis mir schwarz vor den Augen wurde, und Viviane, Viviane blieb in dem Sarg, der sie in sich aufgenommen und sofort restlos vernichtet hatte. Halbe, ganze Nächte lag ich wach und suchte sie hinter meinen krampfhaft geschlossenen Lidern zum Leben zu erwecken, wenn auch nur für den Augenblick eines Blitzes. Niemals gelang es.
Aber die Klagerufe eines Huhnes, das der Marder holte, der Todesschrei eines Vogels, den ein Feind schlug, ließen mich minutenlang um Vivianes Leben zittern! Wenn ich dann schließlich, denn ich fürchtete zu verzweifeln, Jagd machte nach irgend etwas, was mich im Leben beglückt hatte, nach dem geringsten Beweis, daß ich mich überhaupt je gefreut, und mich im Bett hin und her drehte – was stellte sich ein? Viviane nicht, keine Frau, nicht der Händedruck oder Blick eines Freundes, nur Auftritte aus dem Krieg, Wirrnis und Greuel, wobei ich meine Kameraden haarscharf vor mir sah. Ich machte Licht und sagte laut: »Wir sind heute alle verdammt, der Tod hat einen Kreis um uns gezogen, aus dem kommen wir mit keinem Schritt heraus ...«
Und erst, wenn ich ganz erschöpft war und zu keiner Willensanstrengung, nicht einmal zum Ausdenken eines Wunsches mehr fähig, da geschah es ... Ein junger Buchenwald am Fuß des Hartmannsweilerkopfes, ich plänkelte scherzhaft mit jemand, der hinter mir gehend behauptete, ein Birkenwald sei noch viel schöner, als diese lächelnde Kindheit von Buchen, und während wir den Pfad hinabschritten, verteidigte ich meinen Wald. Er habe alle Helle, alle Zartheit der Birken, ohne deren windhundmäßige, dumme, fade Art, rief ich hinter mich, sein Laub sei nicht minder zart und viel frischer, ein Blatt sei ein Blatt, es sehe nicht aus wie mit der Schere geschnitzelt und dann an die Äste gepustet, wo es im geringsten Windhauch erzittere! Der Pfad fiel steil auf eine Straße ab, die, seit Kriegsende nicht mehr benutzt, verwildert war, und hier, am steilen Hang und bis mitten in die Straße, genau so weit, als sie in der Mittagssonne lag, blühte roter Fingerhut ... Und dieser lautlose Jubel, hingebreitet in die Sonne, das war sie, Viviane!
Sie war ein später Julitag, wie er besonders häufig in meiner Erinnerung auftauchte: unsre Felder, von der Höhe der Landstraße gesehn, der Weizen altes Gold, verschossener Purpur, mit Streifen dickflüssigen Olivengrüns im Gewebe, der Hafer silbrig grün, ein verspäteter Frühling, die Gerste mit ihren steifen Grannen, in deren Widerhaken noch das Mittagslicht gefangen saß, der Roggen, der unruhig wogte, als schaukelten lauter Wiegen mit hellhäutigen, gelbhaarigen Kindern zwischen seinen Halmen, und auf den Bergen wurde es Nacht ...
Oder Schnee war gefallen, tagelang, ich fuhr in der Frühe auf einen Berg, von oben kam Nebel und wanderte über mich hinweg, der Himmel zeigte sich zwischen den Bäumen – eine Last ward mir von den Schultern genommen ... Je höher ich stieg, um so verwunschener blickte der Wald mich an. Immer dichter waren Tannen und Laubbäume in Weiß getaucht, jetzt auch die Stämme bis herunter auf den Boden, jedes Ästchen, jedes vorjährige Blättchen in Schnee gerollt (vermutlich eine Wirkung von Sturm und Nebel). Als ich kurze Zeit weitergegangen war, trat die Morgensonne in den üppigen Schneewald. Sie überschwemmte, durchdrang ihn von den Wipfeln bis auf den Grund, das Licht war blond wie Kamelhaar, der Wald leuchtete, aber die Stechpalmen am Boden und die Brombeerbüsche mit dem feinververschlungenen Zierwerk ihrer Ranken, zwischen denen noch alte Blätter saßen, wurden von den schrägen Strahlen voll getroffen und schienen Glutgebilde der Sonne, von ihr selbst verfertigt und auf den Grund des Waldes gelegt ... Von diesem Augenblick an hieß der Wald: Viviane ...
Und weder der machtvoll gleichmäßige Sonnentag auf der Höhe noch die schneeblaue, glitzernde Nacht, in der ich heimkehrte, konnten seinen Namen verwischen.
Andere landschaftliche Erinnerungen mehr stellten sich ein, wenn ich auf die traurige Suche nach Glück ausging. Offenbar waren sie es, die am beständigsten in mir lebten. Sie standen in keiner unmittelbaren Beziehung zu Viviane, Viviane hatte an den wiedergefundenen Stunden selten teilgehabt, und auch in ihrer Gegenwart war ich, dem Gesetz der kreatürlichen Stille gehorchend, allein geblieben ... Also erwies sich gerade die Einsamkeit, die Zeit, da ich sie verlassen und verloren hatte, als das einzige, was mich zu ihr zurückführte! Eine Treulosigkeit, gewissermaßen, blieb der letzte, nicht verschüttete Weg, der mich mit ihr verband!
Voll Unruhe dachte ich darüber nach, bis ich fand, daß auch die Andacht nur ein Mittel sei, in die Einsamkeit und zu Gott zu gelangen, und daß gleichzeitig nichts die Menschen so vereine wie das Gebet.
Seitdem ich verstand, wie und wie allein ich mir die Gegenwart Vivianes sichern konnte, versuchte ich nicht mehr, nach ihrem Bilde zu jagen. Ich ging der Stille nach ... Und Aggie brachte sie mir. Wahrscheinlich, weil sie selbst Stille bei mir suchte.
Hie und da, wenn ich sie tagsüber nicht gesehen hatte, brachte Grether Fritz abends einen eilig heruntergeschriebenen Brief von ihr, in dem es raschelte, lächelte, huschte, daß mir beim Lesen war, als sähe ich einer Frau beim Tanzen zu.
Ich telephonierte an Hubert Adam und lud ihn zu mir ein. Er kam, ahnungslos.
Im Hof geriet er in einen Strom von Gästen, auf der Rampe des Pavillons brannten, obwohl es erst dämmerte, die altmodischen Kugellampen aus Milchglas, und Adam erfuhr von Joseph, daß Fräulein Ruf »empfange«.
»Aha«, sagte er, »es geht wieder hoch her bei euch! Ist der Herr daheim?«
Er schien gut aufgelegt, denn er setzte in großen Sätzen die Treppe herauf. Die Türklinke noch in der Hand, fragte er, ob er nicht einen Blick in das Narrenschiff werfen dürfe – da drüben werde offenbar gerade eine Kappensitzung abgehalten. »Ich war dabei, als die alte Narrenfregatte vom Kapitän in den Grund gebohrt wurde, ich möchte gern sehn wie die neue sich auf dem Wasser hält.«
Der Chirurg, eine Leuchte schon des Bischöflichen Gymnasiums an St. Stephan, hatte nie aufgehört, das Dunkel um sich zu erhellen, nur hielt er die Laterne nicht mehr recht in Ordnung, er wurde schwermütig und zu seltsamen Spaßen geneigt. Man verdächtigte ihn sogar des Autonomismus ... Er antwortete, das langweilige Leben in Straßburg könne einen zum Kannibalen machen.
Wie er da gestikulierend vor mir stand, erschien er mir auch nicht mehr ganz nüchtern, und meine Neugier, was der ›grand medecin‹ im Angesicht des Wolfes und seines Hofes anstellen werde, war nicht mehr ungemischt. Der Mann funkelte von fragwürdiger Heiterkeit. Wir wurden von Aggie mit Jubel, von den übrigen mit der Zuvorkommenheit empfangen, wie sie einem berühmten Arzt gebührt. Nur Silvio lächelte fahl unter gerunzelter Stirn. Ihm bangte noch ganz anders als mir vor der dionysischen Ader unseres Freundes.
Hubert Adam erhielt, gegen alle Sitte, eine Flasche alten Burgunder vorgesetzt, den er so lange lobte, bis er Silvio und Aggie mit Herr und Fräulein Admiral anredete, was allgemein Verwunderung erregte. Schließlich fiel es ihm selbst auf, und er hüllte sich in eine Wolke von Schweigen, aus der er den Kopf erst herausstreckte, als statt der geleerten wieder eine volle Flasche des herrlichen Weines vor ihm stand. Er hatte Sorgen und trank fleißig weiter. Unbeachtet saß er in seiner Ecke am Flügel, da hörte er das Fräulein Admiral sagen: »Und wissen Sie auch, Herr Präfekt, was aus einer Ansammlung von Menschen ein Volk macht? Der liebenswürdigste Franzose, Ernest Renan, hat es uns erklärt, sehr schön erklärt. Die Erinnerung daran, was sie gemeinsam Großes vollbrachten, und der Wille, weiterhin Großes zu vollbringen! Nicht wahr, es gefällt Ihnen? Nun gut, die Elsässer haben Großes vollbracht mit den Deutschen und mit den Franzosen, sogar die Mißgeschicke teilen sie mit beiden Völkern, sie wurden 1870 zusammen mit den Franzosen geschlagen und 1918 mit den Deutschen. Mögen sie für ihren Willen, neuerlich Großes zu vollbringen, jetzt auch auf Frankreich angewiesen sein, warum sollten sie nicht bei deutschen Taten etwas wie Nachfreude empfinden?«
»Frage gegen Frage!« versetzte der Präfekt. »Wäre es nicht an der Zeit, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie ›ihren Heroismus‹ betätigen wollen?«
Die Worte ›ihren Heroismus‹ ließ er ironisch durch die Zähne pfeifen. Und das lockte den Doktor aus seiner Wolke hervor. Er räusperte sich, und ich wußte, was bevorstand. Ich machte Aggie heimlich ein Zeichen.
»Hat man ihnen die Wahl gelassen?« gab sie mit erhobener Stimme zurück.
»Im November 1918. Als wir sie befreiten.«
»Ja, das war ein herrliches Abenteuer«, sagte sie gedehnt und ließ einen verschleierten Blick auf den Doktor gleiten.
Hubert Adam stand auf. Die meisten hatten seine Anwesenheit schon vergessen, er sprang aus seiner Abgeschiedenheit wie das Kasperle aus der Schachtel, man sah ihn neben dem Flügel stehn und den Zeigefinger ruckweise in die Höhe heben, bis Schweigen eintrat.
»Ah, ce qu'il faisait bon d'être Français sous les Allemands«, flötete er mit gefühlvoll gespitztem Munde – schön sei es gewesen, sich als Franzose zu fühlen, als die Franzosen noch nicht im Lande waren! Darauf schaute er sich traurig im Kreise um, tat einen Schritt und war verschwunden.
Selten habe ich so verdutzte Gesichter gesehn! Alle starrten sie sprachlos in die Ecke hinter dem Flügel, und als die Ecke leer blieb und die Ohren die Erinnerung an das leise Einschnappen eines Türschlosses an das Gehirn weitergaben, guckten sie alle zusammen, wie angerufen, auf den Präfekten. »Enfin«, sagte der mit einem vorwurfsvollen Blick auf Aggie (sie stand plötzlich am Flügel und blätterte in einem Notenheft), »enfin!« Der Blick wanderte weiter zu Silvio, der weiß war vor Zorn ... »Enfin, Monsieur Adam est sans doute un grand médecin, mais ... Passons!«
Ich verabschiedete mich, schuldbewußt und zufrieden. Auf dem Flur holte Aggie mich ein. Sie lehnte sich an die Wand und lachte bis zur Erschöpfung. Ich mußte ihr versprechen, den köstlichen Mann festzuhalten, um ihn später nach Abzug der Gäste wieder zu ihr zu bringen. Darüber begann sie von neuem zu lachen und die einzelnen Gesichter nachzuschneiden, nur das von Silvio ließ sie aus, und es war doch von allen das einprägsamste gewesen in seiner vernichtenden Wut. Ich neckte sie: »Und Silvio?« Sie wurde ernst. »Claus, das verstößt gegen die diplomatischen Gebräuche. Mein Salon ist exterritorial, Sie dürfen sich nicht einmischen, auch nicht mit einer Bosheit.« Ich konnte es nicht unterlassen, von Zeit zu Zeit einen Stein in den dunklen Brunnen dieser Freundschaft zu werfen, und so fuhr ich fort: »Ja, und er selbst ... Neulich hat er sich bei mir beklagt, Sie würden ihm zu selbständig, Sie handelten eigenmächtig, kurz, Sie hätten ihm gleichsam die Brücke von Arcole gestohlen ...«
»Dumm von ihm, Ihnen so was zu sagen. Das nächste Mal sollten Sie ihn gar nicht ausreden lassen.«
»Ich habe ihm geantwortet, Aggie, wahrscheinlich befürchteten Sie, er könnte ohne Ihre Vorsorge in den Sumpf geraten.«
»Ach, Sie kennen die Geschichte vom Sumpf? ... Aus der Schule? ... Dann müssen Sie es erst in der Oberprima gehabt haben, denn er wußte nichts davon. Aber, Claus, haben Sie die entgeisterte Glatze des Präfekten gesehn?«
»Nachmachen, Aggie!« rief ich ...
Als wir uns endlich aus dem Lachen herausrissen und ich den Doktor suchen ging, war er bereits weggefahren.
Seitdem setzte ich nicht mehr den Fuß in Aggie Rufs politischen Salon. Ja, der Pavillon selbst wurde mir unheimlich. Ich dachte zurück an Ernst und Anne-Marie, und wie es geendet hatte ... Hauste dort nicht ein Unterteufel, dem die Aufgabe zufiel, das elsässische Leben zu verunstalten? Und ich wußte zu gut, daß er als Bezahlung Menschenopfer verlangte.
Vierzehn Tage nach dem Narrensprung unseres Doktors ließ der Präfekt sich von ihm den Blinddarm herausschneiden.
Adam hatte der Frau des Präfekten erklärt, so was operiere er sonst überhaupt nicht, es gäbe Kollegen genug, die ausschließlich von dieser Fingerübung lebten, doch sei er bereit, für einen Mann mit einem so hübschen blonden Schnurrbart eine Ausnahme zu machen.
Als die Schwester dem Patienten die Äthermaske auflegte, verzieh dieser Hubert Adam alles.
»Es ist wahr«, dachte er, »wir verstehn nicht einmal ihre Sprache ... Die meisten von uns wollen sie nicht verstehn ...« Er seufzte tief: »Pauvres gens!« Er dachte auch noch, die Eigentümlichkeit dieses Landes lasse keine Helden aufkommen, weder bei den einen noch bei den andern – auf dieser Linie müßte man sich verständigen ... »C'est ça«, sagte er laut und versank in wonnigen Frieden.
Die Operation gelang, und die Straßburger Gesellschaft beschäftigte sich mit der Gewissensfrage, wer als mutiger zu gelten habe: ein Mann, der sich seinem Feind und Beleidiger ans Messer liefere, oder der Feind und Beleidiger, der seinem Opfer das Leben rette. Schließlich wurde die Frage vor den Präfekten selbst gebracht. »Wer mutiger ist?« rief er aus ... »Pardi – unser Doktor! Ich wagte nichts. Kein Arzt in ganz Frankreich hätte mich gewissenhafter operiert. Denken Sie nur, was man gesagt hätte, wenn die Operation mißglückt wäre! Mörder! Ein Mörder! hätte man gesagt.« Adam dagegen äußerte, er hätte nicht gedacht, daß ein Mann mit einer so schönen Glatze auch noch so couragiert sei. Deshalb wolle er auch keinen Burgunder mehr trinken, wenn die Leute über Politik schwatzten. Da wäre er doch beinahe in den Geruch eines Heimatrechtlers gekommen, ein Pech für einen Nihilisten wie ihn!
Ich weiß nicht, wer den Präfekten aufmerksam machte, daß die Direktorstelle an der chirurgischen Klinik seit langem verwaist sei. Ich weiß nur, daß Silvio Wolf eigens in die Stadt fuhr, um Adam seine bevorstehende Ernennung zum Direktor der Klinik mitzuteilen. Adam brummelte zwar hochmütig, legte jedoch keinen ausgesprochenen Unwillen an den Tag. Als der andre durchblicken ließ, an der weisen Maßnahme der Regierung seien alte Schulkameraden nicht ganz unbeteiligt, trat Adam an ihn heran und umschritt ihn, als ob er ihn beschnuppere: »Nett von dir, alter Balkanese! Hätte ich nicht von dir erwartet ... Man sollte meinen, alle Leute läsen in der letzten Zeit die Bergpredigt ...« Er fuhr mit den Fingern zum Mund und machte eine Bewegung, als ob er ihn abdrehte: »Hier, mein böses Maul, nimm, ich schenk' es dir.«
Sie schüttelten sich die Hände und – der Doktor guckte, rückte an seinem Kneifer, guckte noch einmal, und »Donnerwetter!« sagte er. In Silvios einem Auge stand eine Träne.
Adam ging schnell ein paarmal durchs Zimmer und schämte sich seiner natürlichen Roheit. (Späterhin prägte er das Wort von der Silvio-Wolfschen Solitärträne.) Vom Doktor fuhr Silvio gleich zur Präfektur und berichtete, mit wieviel Mühe er den dickköpfigen und wohlhabenden Mann zur Annahme der Stellung bewogen habe. Der Präfekt dankte mit jenem Lächeln, das keine photographische Platte hätte festhalten können. »Also ist es unsern gemeinsamen Anstrengungen geglückt, wieder einen unserer Siouxhäuptlinge der Zivilisation zuzuführen«, sagte er.
Jedoch Silvio hatte ihm das wunderbare Lächeln, das der Präfekt für ein Geheimnis hielt, längst abgesehn, und er gebrauchte es so vorzüglich, daß der andre den überlegenen Augur nicht erkannte.