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Und nun ist auch Jacquot fort.
Wir fuhren in schwarzen Kleidern nach England. Wenige Tage nach unsrer Rückkehr aus Genf war Balthasar Breuschheim gestorben ...
Was war das bei uns für ein großes Wort: die Familie! Eine Familie, hieß es, fällt nicht aus Gottes Hand, sie wird von Grund aufgebaut und gerichtet, gegen Ungemach von außen und innen bewehrt. Wer zu sehn und zu hören versteht, erkennt den einträchtigen Lebenswillen von Generationen in den Klammern der Balken und erlauscht im Wind, der um den Giebel streicht, die Zwiesprache zwischen der ungeheuren Fremde und dem einmaligen, vertrauten Wir. Das nackte Leben durchdringt das Haus mit seinen Säften, das Hangen und Bangen, die Lust, ja die Schreie selbst, die tiefen Seufzer von der Geburt bis zum Tod sättigen es mit dem Geschmack unsers Speichels. Alle Erschütterungen dienen nur dazu, es zurechtzurücken auf seinen Grundmauern und das Dach fester über die Mauern zu ziehn, und der Nachtwind spricht und drückt das Wort in den tiefsten Schlaf: Hütet euer Licht! Haltet zusammen gegen den finstern Weltraum! Das Leben hat nur den Sinn, den ihr ihm gebt!
Wie hieß es weiter? ...
Nirgends erkennt ihr das Gesetz einer Familie so deutlich wie in einem Grenzland ... Denn hier ist sie ewig im Kampf und berufen, das Hin und Her der Eroberer und ihrer wechselnden Ansprüche zu überdauern ... Seit einem Jahrhundert lebt eine Familie im Land, eine Bande kleiner elsässischer Barone, weder arm noch reich, katholisch, doch ohne rechten Eifer fürs Meßdienen, und in wieviel Uniformen ihre Angehörigen schon gesteckt haben, könnte gar keiner nachzählen. So hat sie zahllose Katastrophen überdauert – aufgebaut wie sie ist im Sturm der Menschen und Elemente, vielerfahren zwischen dem Feuer des Kreuzes und dem Feuer des Schwertes, von der Wechselflut der fremden Eroberer umschaukelt, woraus das Erbe immer wieder auftaucht, geheimnisvoll fruchtbar und funkelnd wie ein ganz junges Mädchen ... Ja, richtig, genau so hieß es von dem großen Wort Familie ...
Doch seht: das Haus der Breuschheim ist geschlossen – wenn auch noch bewohnt.
Ein vierzigjähriger Mann und sein zweijähriges Kind rühren sich darin wie Gespenster ...
Zuerst erlosch Vivane, kaum daß Annette geboren war. Sie starb am Kindbettfieber. (Ich glaubte, daran sterbe man heute ebensowenig wie an Diphtherie). Ihr folgte Vivianes Vater, diesem der meine. Und die letzten Worte des Balthasar Breuschheim waren:
»Claus, nimm dich zusammen!«
»Ich fürchte mich nicht, Vater«, antwortete ich.
»Diesmal geht es um alles«, sagte er und sah mich an. Vielleicht, dachte er, mit ihm ginge der letzte Kämpfer dahin, und zurück blieben nur Opfer ...
Er wandte den Blick zu Jacquot, der tapfer am Fußende des Bettes stand, nickte seinem Enkel zu und lächelte mühsam.
Man hatte ihm Annette gebracht. Sie hockte neben ihm auf dem Bett, und das Kind hielt merkwürdig still. Es war die matte, dunkle Stille ihrer Mutter, die fast verschlafen musizierende Anmut Vivianes.
Balthasar Breuschheim machte ein Zeichen, daß man das Kind wegnähme. Der Arzt kam und verabreichte ihm eine Kampferspritze. Er dämmerte ein, und bald darauf begann der schwere Todeskampf, und er kam nicht mehr zum Bewußtsein.
Ein großes Wort ist klein geworden ...
Wie konnte so viel erprobte Zuversicht verloren gehn?
Einmal war Silvio Wolf bei uns zu Besuch. Wir unterhielten uns über die Stellung des Bürgertums in unsrer Zeit. Balthasar meinte, eine klassenlose Gesellschaft sei eine ähnliche Illusion wie ein Menschengeschlecht ohne Sünde ... »Natürlich könnt ihr unsre Klasse abschaffen, warum nicht, wenn ihr die Stärkeren seid? Aber dann wird sich eine neue Oberschicht bilden ... Nicht auf materieller Grundlage? ... Es gibt gefährlichere Privilegien als den Wohlstand, Herr Wolf. Und übrigens wird jede Oberschicht sich auch materielle Vorteile zu verschaffen wissen.«
Nach diesen Worten, auf die er aus irgendwelchen Gründen nicht antwortete, trat Silvio in den Ausschnitt des Fensters, es war Sommer, der Park hob den buschigen Rücken ins Licht. Mit breiten Schultern, schmal in den Hüften, stark und anmutig stand Silvio davor und zeigte uns sein Profil, von dem er wußte, es war geprägt wie eine Medaille.
Er sah uns nicht an, er sprach scheinbar ins Leere, hellseherisch versunken, wie sich's für ein Orakel gehört, aber die Rede war klar, die Rede der Weltvernunft in Person. Seine Stimme schwankte, sie klang hart, sie klang weich, ich fühlte den Triumph – nur verstand ich damals nicht recht, warum er so triumphierte ...
Als an der New Yorker Börse jene Panik ausbrach, die erst nach einem Verlust von vierzig Milliarden Dollar ein Ende fand, hatte Silvio uns überredet, gewisse Papiere zu kaufen, von denen er und Ada (ohne daß wir es wußten) eine Anzahl besaßen – Papiere, wie wir sie »nie wieder so billig bekommen könnten«. Er sprach von einem »richtigen Saisonausverkauf erstklassiger Werte« und wollte sich selbst fortissimo an der Aktion beteiligen.
Er beteiligte sich fortissimo an der Aktion, indem er seine Papiere abstieß, zur selben Stunde, als wir den Auftrag erteilten, die Aktien zu kaufen, so daß er jetzt gewissermaßen unser Geld besaß und wir seine Papiere. Es war ungefähr der Rest unsers beweglichen Vermögens. Jedoch zur Zeit, da unser Gespräch stattfand, wußten wir nur, was wir verloren hatten, und nahmen an, daß Silvio unser Schicksal teile. Wir hatten auf dasselbe Pferd gesetzt, und das Pferd war mit dem ganzen Feld in den Sumpf gejagt. Es genügte, damit die folgenden Worte meinem Vater erschreckend in die Ohren klangen.
»Was wollen Sie da machen, Baron«, sagte Silvio. »Der Adel kann nicht mehr auf seinen Boden vertrauen, der Grundbesitz, die Gewähr seiner Dauer, wird vom Finanzkapital gefressen. Das Geld wandert über die Erde, hierhin und dorthin, wo es gerade am meisten verdient, und zwar mit einer Eile und Rücksichtslosigkeit, die es vor dreißig Jahren noch nicht kannte ... Und hinter ihm her wandert die Menschheit ... Alles ist unterwegs, die Grenzen sind nur noch Attrappen für arme Teufel, die sich vor dem Zoll und der Polizei fürchten. Wer mag da noch seßhaft bleiben oder gar ein Erbbegräbnis unterhalten! Was vom Adel gesund ist, reist mit dem Plebs! ... Ackerbau? ... Proletarisiert wie das Handwerk auch! Man kann den Bankerott noch eine Weile verschleiern – wie lange? ... Der industriellen Bourgeoisie geht es nicht viel besser. Die großen Familien, die gestern noch die Besitzer und Leiter ihrer Werke waren? ... Von ihren Generaldirektoren an die Wand oder ganz hinausgedrückt! Nicht einmal der kleine Sparer, der Wald- und Wiesenbürger, geduldiger Geldgeber der Großen seit Generationen, dem sie mit Mühe eingeredet hatten, ein verzinsliches Papier sei besser als der Sparstrumpf der Alten, so ein Papier werfe nicht nur eine sichere Rente ab, es mache sie gewissermaßen zum Mitbesitzer der mächtig aufstrebenden Industrie, selbst diese Kreatur kann nicht mehr auf die bescheidenste Dankbarkeit ihrer Schuldner zählen. Sie wird betrogen, daß der Kurszettel sich biegt, man stiehlt dem Bürger einfach seine Rente, indem man die Dividende kürzt oder ganz ausfallen läßt. Mit der Begründung, neues Kapital ansammeln zu müssen, um im internationalen Wettbewerb stark zu bleiben! Wer, meinen Sie, Baron, bleibt da wohl stark? ... Um es kurz zu machen, veranstalten sie von Zeit zu Zeit einen Börsenkrach, und der kleine Mann, der schon keine Rente mehr hatte, verliert auch noch seine Aktien, die Diplome bürgerlicher Größe ... Die geringeren Gauner gehn sachte in Konkurs und machen einen neuen Laden auf. Die großen aber sind Wirtschaftsphilosophen, Doktoren beider Rechte, und vor den Medizinmännern haben die Neger aller Farben einen Heidenrespekt. Während man sie ausplündert, halten sie still mit fromm geöffneten Augen und Taschen, aber in beiden beginnt die Leere zu gähnen ... Ein Aktionär ist heute rechtloser als ein ungelernter Arbeiter und ganz ohne Hilfe ... Folge? ... Die Politik für reiche Leute ist zu Ende. Ihre Basis wird immer schmäler.«
(Besäße der Schloßherr von Unterhügeln auch nur für einen Pfennig Humor, ich würde annehmen, er habe uns damals eine Fastenpredigt gehalten. Da er aus dem Handgemenge, bei dem wir das Unsere ließen, mit großem Gewinn hervorgegangen war, hätte er uns wenigstens die Seelenspeise der Armen geschuldet.)
Die Fingerspitzen in den Taschen der Tennishose, drehte Silvio sich um und betrachtete uns neugierig. Ein leises Lachen rollte in seiner Kehle.
»Jetzt«, rief er aus, »ist die Politik an der Reihe, die sich auf die Armen stützt. Starke Kerle müssen das machen, die was gelernt haben von den Cidevants ... Ich, sehn Sie, Baron, ich halte mein Geld beisammen, unter der Hand, greifbar. Ich mache nur kurzfristige Geschäfte, ich schlage schnell ... Mich betrügt keiner. Und da nach den geltenden Spielregeln einer betrogen werden muß, so will wenigstens ich es nicht sein. Im Grund eine sportliche Angelegenheit. Training! Training! Gute Nerven, sicheres Auge und – Glück!«
Auf den Gummisohlen seiner weißen Schuhe begann er eine Wanderung durch das Zimmer, lautlos, im Kreis um meinen Vater und mich:
»Mit dieser Taktik werde ich mir noch durchhelfen. Aber mein Sohn –«
»Sie haben keinen Sohn«, unterbrach ihn Balthasar und wurde zum erstenmal unhöflich gegen den Nachbarn: »Und das Geld gehört wohl hauptsächlich ihrer Frau. Deshalb könnten Sie ruhig etwas bescheidener sein, Herr Wolf.«
Silvio tat, als habe er nicht gehört:
»Was ist da zu machen, Baron? Selfmademan und Kondottiere überall! Jeder Tag sein eigener Fischzug! Wie soll es da noch eine Familie geben! ... Wo nichts mehr von Dauer ist in unsrer springlebendigen Welt! ... Ich selbst, mein Gott, ich weine der Familie keine Träne nach.«
»Sie haben nie eine Familie gehabt«, stieß Balthasar nach. Aus seiner lautlosen Wanderung, er stand hinter uns, antwortete der andre:
»Nein, Baron Breuschheim, ich habe nie eine Familie gehabt und brauche auch keine. Sie könnte mich nur stören ... Ich bin der Ahnherr eines Nomadengeschlechts, das in allen Richtungen der Windrose über die Erde schweift. Jeder von uns für sich. Jeder ein Kerl mit Muskeln, mit Nägeln und Zähnen. Füreinander oder gegeneinander, wie es sich trifft ... Ist das nicht lustiger, als tausend Jahre zwischen Kraut und Reben sitzen?«
Als wir allein waren, sagte Balthasar:
»Hör mal, Claus, man spricht vom Todesengel ... Ich habe noch keinen gesehn. Aber, wie der Mann da großartig dahersprach auf seinen Gummisohlen, einmal kam es daher, das andre Mal von dort und meist hinter unserm Rücken hervor, da habe ich ihn rauschen hören, den Todesengel! Ich versichere dir allen Ernstes, mein Junge, ich habe ihn rauschen hören, und zwar in einem Ausmaß« – er breitete die Arme –, »mit einem Aufwand, der nicht dem Wert meiner alten Knochen allein entspricht ... Deshalb meine ich fast, mein Junge, was ich rauschen hörte, das war der Todesengel der Breuschheim ... Claus, nimm dich zusammen!«
Vor einigen Tagen begegnete ich im Kanal einem englischen Geschwader. Ich sagte zu Jacquot:
»Zu denken, daß die Breuschheim vermutlich seit tausend Jahren bei jedem Krieg dabei waren, vom Krieg der Armbrüste und Pechkübel bis zu den Gasgranaten, und daß ich der erste bin, der allererste, der eine tiefe, eine überlegte, eine überzeugte Abneigung dagegen empfindet ...«
Jacquot wies mit dem Finger in die Ferne. Seine großen, blauen Augen leuchteten. Er schüttelte den Kopf, daß die Haare sich im Winde sträubten, und wollte nichts mehr vom Krieg und den Breuschheim hören.
»England! ... Claus! ...« Mit dem Funkeln einer Götterstirn tauchte es aus dem Meer. »Welch ein Glück, daß sie mich in Straßburg von der Schule geschaßt haben!« Die Welt, die richtige Welt tauchte aus dem Meer – mit dem Glanz einer Götterstirn, schmal noch, ganz schmal, die herrliche Fremde.
Ein Flügelschlag, und die Phantasie des Jungen war auf und davon, und ich spürte mit einem Schauer im Rücken, wie die einzige Gewißheit meines Lebens mich verließ. Ich schloß die Augen und stand allein mit dem Rauschen des Meeres und dem Wind auf dem gealterten Gesicht.
Bei der Paßkontrolle holte Jacquot das zusammengefaltete Dokument aus der Brieftasche, dabei flatterten einige welke Blättchen zu Boden. Ich sah ihn erröten, er bückte sich, las sie sorgsam auf.
»Sieh da, ein Liebesandenken«, dachte ich. »Die erste oder die letzte Blume von Gabriele ...«
Seitdem ich in Calais das Schiff bestiegen hatte, konnte ich mich einer Trauer nicht erwehren, die mir zusetzte wie die Spannung der Luft vor einem Gewitter. Unwillkürlich begann ich mein Leben zurückzuwandern, und alles, was ich sah, schmolz in einem Zwielicht, jenem gelblichen Zwielicht, wie es eine Gewittersonne verbreitet und das am hellen Tag die Dinge unwirklich macht, als wären sie nur die Idee der Dinge, nicht sie selbst. Keiner einzigen Stunde meines Lebens glaubte ich bis auf den Grund gesehn, keine aus voller Kraft und bis zu Ende gelebt zu haben – alle Bilder waren in Auflösung begriffen, schon wenn sie sich in ihrer ersten Andeutung meinem Geiste vorstellten. Schaute ich mich aber um, so erschien mir die Gegenwart kaum deutlicher und Jacquot selbst trotz all seiner Lebensfarben gleichsam ungeboren ...
In London erwarteten uns Berrick und seine Frau an der Bahn.
Wir fuhren zum Hotel, dort wurde Jacquot im Auto auf eine Reise durch die Stadt geschickt.
Der Teetisch wurde hereingerollt, und während Pia das Getränk zubereitete, begann sie englisch zu schwatzen, hurtig und farbig, wie sich's gehörte, und kein Fremder hätte erraten, daß sie eine geborene Deutsche sei. Und nicht nur in der Sprache, auch in jeder Gebärde, in jedem Gedanken hatte sie im Unterschied zu ihrem Genfer Gehaben den letzten sichtbaren Rest ihrer Nationalität eingebüßt. So mächtig drücken die Angelsachsen ihre Form in die Fremden hinein, machen lauter Zylinderhüte aus ihnen, und den geringsten Widerstand leisten die Deutschen.
Bei der Rückkehr von seiner Rundfahrt fand Jacquot noch reichlich Gelegenheit, sich von Pia über alles mögliche belehren zu lassen. Wenn sie sprach, was meistens der Fall war, horchte er flüchtig hin, in einer Haltung höflicher Aufmerksamkeit, die ihm erlaubte, die Menschenhorde im Speisesaal zu beobachten. Seinem Onkel dagegen pickten die Augen jedes Wort vom Mund. Genau, wie ich früher.
Das Licht der Kristalleuchter überwältigte den großen, mit hellgelber Seide bespannten Saal. Auf dessen Grund hockten die Leute dicht gedrängt und wie hilflos an ihren Tischen. Noch mehr Gewalt als das Licht und die im Schreiton geführten Gespräche taten die zwei Jazzkapellen dem Raume an, der denn auch zu schwanken schien wie ein Schiff. Sobald die eine Kapelle aufhörte, begann die andre. »Nicht wahr? Daneben war Genf ein ländliches Idyll«, meinte Pia befriedigt.
Jacquot sprach zu Pias Freude und meiner ahnungsvollen Beunruhigung nur noch englisch. Nicht gut, aber mit einem Zug von Entschlossenheit. In der frischen und aufrechten Haltung all dieser englischen Herren, die aussahen wie (nach dem letzten Frackschnitt) verkleidete Statisten aus ›Julius Cäsar‹, spähte er in den Lärm, freilich noch viel zu interessiert, als daß es echt gewirkt hätte – alle Augenblicke entdeckte er etwas, woran er seinen vorläufig noch elsässischen Witz üben konnte ...
Wie glich er Pia! ... Sie dachte wohl dasselbe und war glücklich. Nun bekam sie nach langer, unfruchtbarer Ehe doch noch ein Kind – von ihrer Schwester ... In Genf hatte sie keine Muße gehabt, an so etwas zu denken. Beim Nachtisch war Jacquot so gut wie adoptiert ... Was sollte aus dem armen Jungen werden? Er konnte sich doch unmöglich damit begnügen, die Gesellschaftsordnung nach Pias Rezept den Handschuhen und Gummiknüppeln einer aufgeklärten, sozial empfindenden Polizei zu überlassen! ... Und wie erst, wenn das College, diese Fabrik englischer Gentlemen, ihn gebrauchsfertig ablieferte? Mich schauderte beim Gedanken an Silvios ›freischweifendes Nomadengeschlecht‹ – zumal, wenn die besten Schneider und Hemdenmacher es im Zeug hielten. Dann lieber noch einmal tausend Jahre zwischen Hopfen und Reben sitzen ... Schließlich tröstete ich mich, daß der Junge von hier nach Paris käme. Das mußte ihn auflockern, in Frankreich wurden keinerlei Nomaden gezüchtet. Dort waren sie alle Bauern, vom Präsidenten der Republik und dem Erzbischof von Paris bis zum Briefträger und Scharfrichter.
Ich starrte die drei an, immer abwechselnd den Jungen – Pia – Berrick.
Berrick beugte sich zu meinem Ohr (ich sah gerade auf Pia – wie glich sie Doris!) und sagte:
»Jacquot erinnert mich an den jungen Claus Breuschheim in Venedig!«
Ja, ich hatte Jacquots Alter, als ich Berrick kennenlernte! Und nun ertappte ich mich, wie ich sein Gesicht betrachtete, als erblickte ich es in einem Spiegel des Cafés Giacomuzzi, und dann erwiderte ich ein Lächeln Pias, als säße ich Doris gegenüber, als schaute ich von Doris weg und aus aufmerksamen Schüleraugen auf Berrick und erwartete von ihm eines jener aufklärenden Worte, die mich vor langen Jahren bestürzt und entzückt hatten ... In der nächsten Sekunde erkannte ich wieder, um wieviel flüchtiger Pias Erscheinung und Wesen war als das Bild, das Herz ihrer Schwester und daß von Berrick nur das Lächeln einen Anflug von Jugend bewahrte, vermutlich, weil es von jeher das Lächeln eines Weisen gewesen ... Der Maskentausch zwischen Lebenden und Toten und das Vexierspiel der Lebensalter nahm kein Ende.
Am andern Morgen fuhr ich nach Hause.
Auf der ganzen Reise ist mir der Sommer nicht von der Seite gewichen, obwohl ich so viel Zuvorkommenheit gar nicht hätte erwarten dürfen. Es war Oktober – was hielt ihn da noch so hoch im Norden?
Über den südlichen Grafschaften lag tagtäglich der nackte Mittag. In den Vororten Londons standen die Haustüren offen, die Kinder spielten zwischen den Astern des Gartens, und ihren Schreistimmen merkte man die Strapazen einer Sommerkampagne von ungewöhnlicher Länge nicht an, sie klangen frisch und ausgeruht wie im April. Pomphaft zelebrierte der Himmel über dem Kanal den Sonnenuntergang. Holland dampfte in der Sonne.
Als ich in Straßburg aus dem Zug stieg, blieb der Sommer sitzen und fuhr weiter nach Süden.
Der Park zog die tiefsten Register seiner Orgel zu meiner Begrüßung, mäuschenstill, eingeschüchtert, lag das Schloß. Ich nahm den Weg durch den Blumengarten und öffnete die Pforte – wer stand da breitbeinig an der Sonnenuhr, als warte er auf mich? Der Kerl sagte nicht guten Tag, ja, er nahm nicht einmal anstandshalber die Hände aus den Hosentaschen. Nur einen Blick warf er mir zu, einen wilden, traurigen, etwas irren Blick, und wandte mir den Rücken. Und eine Wolke verhüllte die Sonne. Ziemlich gleichgültig vor sich hinpfeifend, bummelte er den Weg zwischen den Dahlien hinauf und verschwand unter dem gelbgescheckten Rotlaub einer Esche. Ein junger, anscheinend kräftiger Bursche, nur, wie gesagt, etwas verstört.
Sollte das wirklich schon der Herbst –?
An diesem Tag kam die Sonne nicht mehr zum Vorschein.
In der Nacht regnete es. Schwer und kalt. Seit Monaten der erste Regen! Meinetwegen, dachte ich. Ihr braven Bauern und Gärtner im Umkreis, die ihr euch jetzt zufrieden knurrend im Bett umdreht, dachte ich – da habt ihr ihn endlich, euern Regen! Nun ja, Gott sei Dank. Und wohl bekomm's, dachte ich. Ich hörte die Bäume des Parks nicht mehr, nur noch das Quirlen in den Dachrinnen und das Aufstoßen und Gurgeln der Traufe. Herrlich schlief ich, nicht besonders tief, vielmehr mit Wissen um die gute Sache, die ich da leicht in der Hand hielt: einen kleinen Finger so weich wie Flaum, den Kinderfinger des guten Engels Schlaf.
Mit diesem Engel aber, stellte sich am Morgen heraus, hatte es eine eigene Bewandtnis. Als nämlich die Fensterläden geöffnet wurden, purzelte ein weißhäutiges Geschöpf aus dem Zimmer, es fiel einfach vom Fensterbrett auf die Terrasse, und von dort schwang es sich mit einem Saltomortale in die Bäume des Parks. Licht und bunt schaute die Erde in den blauen Himmel. Da wurde mir klar, daß ich mit der Sonne geschlafen hatte, mit der Sonne, die vor dem wilden Burschen, dem ich gestern abend im Garten begegnet, davongelaufen und in mein Bett gekrochen war. Eine Weile saß ich aufrecht in den Linnen, gaffte offenen Mundes auf den Garten. Dann spreizte ich die Hand und betrachtete nachdenklich die Stelle, wo der kleine Finger geruht hatte.
War es eine Erinnerung an die Zeit, als der kleine Jacquot sich morgens zu mir ins Bett stahl und dann, nach einer Zeit mühsam verhaltener Ungeduld, hinaussprang und die Fensterläden aufstieß, worauf im einstürmenden Tageslicht von ihm nichts mehr zu sehen war? ...
Im Garten begrüßt Annette ihren Vater mit der zarten, wirren Musik ihrer Stimme.
»Ich soll dich von Jacquot grüßen«, melde ich.
»Sa-jo«, singt sie in die blaue Luft, »Sajo.« Plötzlich guckt sie sich um, ob der junge Herr dieses Namens nicht in der Nähe sei, wackelt verneinend mit dem Kopf, wozu sie wie einer jener Kreisel summt, die eine winzige Windharfe im Leib haben, und setzt ihren Weg fort. Ihre runden dunklen Augen und die leise Musik ihrer Stimme ergehen sich wieder endlos zwischen dem Himmel und den Blumen.
Da der Garten noch vom Regen trieft, entfesselt die Sonne wahre Farbentumulte in den Beeten, zumal die Dahlien strotzen in hoffärtiger Buntheit. Nun blühen die hundert Büsche ununterbrochen seit Juli, wir haben weit über tausend Blumen von ihnen geschnitten und sie stehen da wie heute erst erblüht!
Auch der Phlox blüht noch, wenn auch spärlich. Phlox und Dahlien allein könnten einen Garten mit aller Schönheit erfüllen bis an den Rand des Winters, erkläre ich Annette, die natürlich kein Wort versteht, aber eifrige, bejahende Musik macht. Die Dahlien dauern so lang wie selbst die späten Staudenastern. Und wenn diese auch die ersten Frostnächte noch überstehn, aus denen die Dahlien schwarz verbrannt hervorgehn, so bieten sie doch mit ihren schmutzigen Farben und rostigen Stengeln keinen erfreulichen Anblick mehr.
»Nicht wahr, Annette?«
»Wa, je, wa! Sa-jo, Sa-jo ...«
»Ja, Annette, Jacquot meint es auch. Du hast ganz recht.« Plötzlich, völlig unmusikalisch, roh und deutlich, fast vorwurfsvoll, stößt sie hervor.
»Kathrin!«
Die Kinderfrau entführt sie im Laufschritt. Ich weiß nicht, warum, aber bei solchen dringenden Anlässen wird sie immer zur alten Kathrin gebracht. Vielleicht handelt es sich um eines der zahlreichen Vorzugsrechte in der Familie, auf deren Beachtung Kathrin besteht ...
Im Weitergehn überlege ich, ob ich nicht den Garten für die Monate Juli bis Oktober nur für Dahlien und Phlox herrichten und allen andern Platz (natürlich mit Ausnahme der Rosenbeete) den Frühlingsblühern überlassen sollte, von denen übrigens manche, wie der Teppichphlox und die Veilchen, nun gar zum dritten Male blühen.
Aber als ich die Dahlien hinter mir lasse und weiterhin so viel unermüdeten Vertrauten aus dem Sommer begegne: dem Geum, das beim geringsten Windhauch mit seinen Goldstücken um weiße Gladiolen jongliert, der missurischen Nachtkerze von einem feierlichen Gelb, wie man es nur noch in Sonnenuntergängen findet, unter dem neubestirnten weißen Gewölk des Schleierkrauts, den Sonnenröschen, die zwei Mauern mit allen ihren sauberen Farben übersprudeln, dem dunkelroten und weißen Centranthus (seit Mai hat er keinen Tag aufgehört zu blühen), den brokatschweren Farben des Freilandchrysanthemums, der Nachblüte des Rittersporns, ganz zu schweigen von den Japanischen Anemonen, den gefüllten Herbstzeitlosen, den Herbstkrokussen und anderen entzückenden Geschöpfen – da lache ich über meine »Vereinfachungsversuche« und mache mich statt dessen daran, Plätze auszusuchen für die Stauden, die so üppig geworden sind, daß wir sie endlich teilen müssen. Zum Beispiel ist da eine weiße Staudenaster, die hat ein Goldlackhelenium eingekreist und endlich fast gar verschlungen bis auf zwei Stengel, die mit ihren leuchtenden Blüten im Wogenschaum des im Winde brandenden Asternbusches ununterbrochen Notsignale geben.
Inzwischen hat Annette ganz allein zu mir zurückgefunden, ich halte sie fest.
Hör! ...
Eine Amsel!
Dort sitzt sie auf dem Spaliergang und flötet inbrünstig. Sind wir im Herbst oder im Frühling?
Das kleine Mädchen sperrt Augen und Mund auf und bleibt so reglos wie die Latte, worauf der Vogel singt.
Und unser Waldkäuzchen ist auch noch da. Es ruft von der Eiche am Parkrand. »Juhuhu«, macht es und: »Kiwitt, kiwitt.«
Gleich darauf fliegen und flattern kleine Vögel herbei, ich glaube, es sind Tannenmeisen, und umschwirren die Eiche und vollführen ein Heidengezeter, beschimpfen und verhöhnen den Waldkauz und pfeifen ihn aus. Der arme Kerl ist ganz verstimmt.
Und jetzt fliegt er lautlos davon.
Feindlich folgen ihm die runden, dunklen Augen des Mädchens ...
Paar Schritte weiter: auch die Akeleien stehen noch im Laub, sie haben sogar frische Blattherzchen, wie drüben im Gemüsegarten der junge Salat.
Und jetzt kommt mir ein, was das für Blumenblätter waren, die Jacquots Paß an der Grenze entfielen ...
Einige Tage vor dem Tod Vivianes fand ich beim Morgenbesuch im Garten eine große gelbe Akelei, sie kam mir geradeswegs entgegengeflogen. Wie tapfer sie aussah, wie zuversichtlich: die fünf langen Steuer, die sich am Ende wie ein Schwänzlein nach oben bogen, weit von sich gestreckt, brustweit in die Luft gehoben die zweimal fünf Kelchblätter, und daraus witterte der Besen von Staubfäden! Ich nahm den Luftfahrer ins Haus, und es schien mir, ich hätte den seltsamsten Schmetterling gefangen. Zu seiner Gesellschaft pflückte ich noch zwei Hornveilchen, die an ihrem sonnigen Standort hochgeschossen waren.
Nachdem ich die drei Blumen eine Weile in der Hand hin- und hergedreht und mich vergeblich nach einer passenden Vase umgesehen hatte, ging ich und holte ein Champagnerglas – einen von den altmodischen hohen Kelchen. Dahinein tat ich die Blumen und stellte das Glas auf meinen Schreibtisch.
Morgens, wenn ich ins Zimmer trat, brauchte ich sie nur anzusehn, um gleich zu wissen, daß wir heute gute Fahrt hatten, mit Ostwind, in den weiten Himmel hinterm Fenster hinein, und die schmutziggrauen Wolken schreckten mich nicht, traf sie doch ein Blick, der von der luftigen, kühnen Form des Seglers und seiner Sonnenfarbe bis zur Unwiderstehlichkeit ermutigt war, zeigten doch die zwei sattblühenden Veilchen durch den Abstand zwischen ihnen und der Akelei, wie erfolgreich mein Albatros gerade davonflog!
Paar Türen weiter lag das Neugeborene im Bettchen neben der Mutter. Nicht in der heimlichsten Regung ahnte ich die Möglichkeit, daß das Kind seine Mutter töten könnte. Unser Leben schien mir so durchsichtig und geschlossen wie das Kelchglas, dieser Schauplatz eines muntern, goldklaren Aufstiegs.
So blieb es, und nachts, wenn der Regen Kälte ans Haus warf, hielten die drei Blumen im Schein der Tischlampe den Frühsommer wie unter einem Lichtsturz. Aber eines Nachmittags, ich sah gerade eine Schularbeit Jacquots durch, der Junge stand dicht neben mir, eines Nachmittags trat der Diener mit bestürzter Miene ins Zimmer, ganz nah kam er, bis an den Schreibtisch.
»Der Herr Doktor läßt den Herrn Baron bitten.«
Ich sprang so heftig auf, daß Joseph zusammenfuhr, dabei streifte sein Rockärmel das Kristallglas, und der Sonnensegler stürzte ab und zerfiel. Kein Stäubchen blieb auf dem Stiel zurück, ein paar feingedrehte Blätter in einem Häufchen Goldstaub auf der Tischplatte, das war alles, was noch an die Vollkommenheit einer Welt erinnerte, und im verwaisten Glas trugen die Veilchen die Farbe der großen Trauer.
Jacquot war bleich geworden. Schnell trat er einen Schritt zurück, um mich vorbeizulassen. »Erwarte mich hier«, sagte ich ... Und als ich wiederkam, nickte ich nur. Viviane war tot. Wortlos verließ der Junge das Zimmer.
Unter dem Glas fehlten die abgefallenen Blütenblätter – ich erinnere mich jetzt, daß es mir im Verlauf des Tages einmal auffiel, aber bis heute habe ich nicht mehr daran gedacht. Damals, im Gefängnis einer ahnungsvollen Erwartung, die ihm für eine halbe Stunde Licht und Luft benahm, muß er die Blätter gesammelt und an sich genommen haben ...
Doch Annette will weiter. Sie zerrt an meiner Hand, und ihr musikalischer Schwatz erhebt sich zur Eindringlichkeit eines Vogelgeschreis.
Mit den Blumen sind wir fertig. Also geht es hinüber zum Obstgarten.
Ja, Annette, was soll man nun dazu sagen?
Ich stehe und verrenke mir fast den Hals. Dicht über meiner Nase blüht ein Birnbaum! Und wie ich gespannt weiter in den Obstgarten dringe, entdecke ich einen Apfelbaum, der es ebenso toll treibt. Er blüht! Ist das nun ein Wunder oder nicht?
In allen Büchern steht zu lesen, der einzige Baum, der Blüte und Frucht zugleich trage, sei der Orangenbaum. Das mag für die Gelehrten stimmen. Aber auch nur für sie. Ich nehme einen Anlauf und springe unter dem blühenden Baum in die Luft, da halte ich einen Apfel in der Hand, einen schönen roten, runden Apfel. Und am Ende des kleinen Astes, den ich mit abgerissen habe, zittert eine richtige Apfelblüte, weiß, mit Rosa verziert.
Das ist noch nicht alles. Die Nacht darauf weckten mich Donnerschläge eines Gewitters, der Blitz erleuchtete mein Zimmer. Als ich mich aus dem Fenster lehnte, fielen mir warme Regentropfen in den Nacken. So gewiß der gestrige Regen einen bösen Herbstregen vorstellte, so gewiß hatte ich es hier mit einem Frühlingsgewitter zu tun. Ich kenne mich doch aus. Aber – halten wir nun im Oktober oder im März?
Am Ende war der Kerl, der mich gestern so breitbeinig an der Sonnenuhr empfing, gar nicht der Herbst, sondern ein kranker, verwundeter Frühling?
So vieles kommt mir jetzt geheimnisvoll vor, da die Geliebten vor meinen Augen sterben und unaufhaltsam die Kindschaft ihres Blutes heranwächst.
Seitdem das Leid zum erstenmal wieder auf den Fels schlug, zu dem wir in der scheinbaren Gewißheit der Tage werden, und die lebendige Quelle aufsprang, seit Vivianes Tod weiß ich, daß ich allein bin und auf die einzige Hilfe der Einsamkeit angewiesen. Und es ist gut so. Das meiste von dem, was ich war, vergesse ich. Es fällt von mir ab wie die Brocken einer alten Haut. Ich suche keine Menschen. Denke ich an eine Frau, so wünsche ich sie mir fremd, als ein in sein eigenes Schicksal geschlossenes Wesen, dem ich gelegentlich begegnen darf, um mit ihm die Zeichen des Menschen zu tauschen. Beinahe könnte ich mich glücklich nennen.
Ich weiß: das absolute Denken, auf das der Mensch verfiel, der vom Menschen allein lebt, schafft nicht einmal Ordnung, es macht jede Ordnung unmöglich. Nach den philosophischen Systemen, der reinen Moral, der reinen Vernunft ist auch der Mensch, der Mensch an sich ausgeschöpft. Was bleibt?
Es bleibt, heute wie gestern, der in seiner Kleinheit einmalige, stets erneuerte Mensch und die ewig schöpferische Natur und die Zwiesprache zwischen den beiden. Manche nennen sie die Gegenwart Gottes ... Hier gibt es nichts zu erforschen. Was erforschbar schien, haben wir erforscht bis auf den Grund der Verzweiflung. Und selbst wenn wir in hundert Jahren oder in tausend eine Seelenkunde besäßen, die den technischen Fortschritt noch mit Engelschwingen überholte – darin wird nichts geändert sein ...
Das Leben bewegt sich im Raum, nicht in der Zeit. Die Zeit ist ein willkürlicher Maßstab, ein Längenmaß von der Größe eines Menschenlebens, wie es von der Geburt zum Tode reicht, und unser Wanderstab durch ein großes Geheimnis. Wir sind rund wie die Erde, wie sie drehen wir uns so schnell um uns selbst, daß wir die Bewegung nicht spüren, und so fliegen wir mit ihr um die Sonne, und unsre Gegenwart ist bei Tag und Nacht angefüllt mit Vergangenheit und Zukunft wie die Erde mit den Kräften des Weltraums.
Im Dorf Breuschheim geht es merkwürdig zu.
Der Frost hat die Äcker geschlossen, bevor alle Herbstsaat im Boden war. Die Bauern lassen den neuen Wein ab, dreschen, fahren zum Lagerhaus und holen Thomasmehl und Kali für die Wiesen, und das ist alles, was sie tun können. Abends sitzen sie im Wirtshaus und politisieren.
Einmal bin ich abends hinübergegangen, um Flingot eine telephonische Nachricht zu übermitteln, die nach Fabrikschluß eintraf. Eine wichtige Nachricht! Eine Konkurrenzfirma machte ein verbindliches Angebot auf unsre Fabrik. Sie war im Begriff, sich auf Serienfabrikation umzustellen, wollte aber die Herstellung von Luxuswagen beibehalten und diesen Teil des Unternehmens nach Breuschheim verlegen. Das Geschäft ermöglichte es uns, die Hypothek Silvio Wolfs abzulösen, was unverzüglich geschehen sollte. Freilich blieb uns dann von der Kaufsumme kein Sou übrig. Aber die Aussicht, mich von dieser quälenden, unwürdigen Verpflichtung freizumachen, berauschte mich geradezu.
Ich fand Flingot in der Nähe des Wirtshauses, wie er leise und eifrig auf unsern dicken Pfarrer einsprach.
Die dörflichen Prokonsuln der Großmächte und Erzfeinde Rom und Moskau genierten sich nicht, sie trieben keine Heimlichkeit, deutlich erkennbar standen sie im Lichtschein, der aus dem Wirtshausfenster auf die Gasse fiel, und grüßten gemeinsam, wenn ein Bauer oder Arbeiter vorbeischlürfte. Dabei betrieben sie, ohne es zu wissen, ein dämonisches Schattenspiel. Der heftig gestikulierende Flingot malte nämlich mit seinem Schatten eine Riesenspinne auf die Gasse, während aus dem Zeug des Pfarrers eine dicke Orchidee entstand, die sich, ein ungeheurer Schlund, der anstürmenden Spinne öffnete. Die Orchidee wandt sich und bebte unter den kitzelnden Füßen der Spinne ...
Ich trat aus dem Dunkel. »Einen Schatz haben Sie an Ihrem Flingot«, sagte der Herr Pfarrer nach der Begrüßung, »einen Schatz, Herr Baron.«
»Einen wahren Kirchenschatz«, versetzte ich. Flingot zwinkerte mir belustigt aus den Augenwinkeln zu, und der Pfarrer bemerkte: »Leider kann man das von dem Schloßherrn nicht immer behaupten.«
»Dafür haben Sie jetzt den Prinzen von Unterhügeln!« meinte Flingot. – »Gewiß«, bestätigte der Pfarrer. »Dafür haben wir jetzt Herrn Wolf.«
»Ob er bei der Stange bleibt?« fragte ich.
»Ich denke schon! Und da ist ja auch noch der bisherige Abgeordnete ... Nein, der tritt nicht zurück, bewahre, der darf nicht zurücktreten. Doppelt genäht hält besser, wenigstens beim ersten Wahlgang. Und für die Stichwahl haben wir die braven Elsässer Kommunisten des Herrn Flingot.«
»Natürlich«, sagte ich. »Haben Sie je gesehn, daß, wenn zwei Hunde sich raufen, der herbeilaufende dritte sich auf den stärkeren gestürzt hätte? Immer auf den, der unten liegt! Aber, aber, Herr Pfarrer, Moskau und Rom ...«
»So, so, Herr Baron? Warum sollten uns die Dienste eines so wertvollen Mannes wie des Herrn Flingot nicht ebenso willkommen sein wie Ihnen? Es kommen auch wieder andre Zeiten.« Flingot sprach die Hoffnung aus, bis dahin zum Kanonikus avanciert zu sein. Der Pfarrer verabschiedete sich schmunzelnd, und so blieb es diesmal unentschieden, wer stärker sei, die fleischfressende Orchidee oder die Spinne, und die Höllenschatten zerflossen in der Dorfnacht ...
Flingot und ich gingen in das Wirtshaus und tranken ein Glas Bier. Die Gäste mußten zusammenrücken, um uns ein Plätzchen in der Ecke beim Schanktisch freizumachen. Man konnte kaum die Gesichter unterscheiden, so dicht stand der Tabaksqualm in der Stube. Auch die Gespräche blieben unverständlich. Von allen Tischen schienen sie gegen ein Ziel zu prasseln, das der Rauch verbarg. Nur der Name »Silvio« blitzte darin wie eine Rakete oder ein Geschoß auf. Immer wieder »Wolf Silvio« ... »Silvio«, als berauschten sich die Dörfler am Klang des Namens.
Das war nun ihr Mann! Vor einem Jahr noch völlig unbekannt, heute ein Fanal, die im Handgemenge tanzende leuchtende Fahne der »Heimratrechte« ... Ich war in die Höhle einer Sekte geraten, die in Tabakrauch, Gestank und Geschrei unter wilden Zeremonien unaufhörlich ihren Fetisch anrief.
Auch in Schloß Breuschheim suchen zwei die Räume mit einer Art Winterspuk zu beleben – ein Mann von vierzig und ein ganz kleines Mädchen.
Die Räume sind groß und tönen, sie sind die menschliche Stimme nicht mehr gewohnt.
Bei jeder Begegnung stellen sich der Mann und das ganz kleine Mädchen, als ob sie sich mit Schrecken, mit Freude entdeckten, führen gemeinsam ein Tänzchen auf und entschwinden wieder in Gänge und Zimmer.
Morgens braust das Feuer in den Kachelöfen, und ich frage mich: beginnt heute die Fahrt? Bald darauf, wenn Joseph die Ofentüren geschlossen und das Abzugsrohr gesperrt hat, herrscht die Stille eines zugefrorenen Hafens.
»Joseph«, sage ich, »können wir nicht noch ein bißchen Dampf geben?«
»Nicht gut, Herr Baron. Der psychologische Augenblick zum Schließen der Ofenklappe darf nicht versäumt werden.« Der Alte ist von meinem Vater zur Sparsamkeit erzogen. Auch die Psychologie hat er von Balthasar Breuschheim.
Lautlose Stille herrscht bis zum Abend, nur vom kleinen Tumult der Begegnungen zwischen Annette und mir unterbrochen.
Ein Trupp vermummter Räuber kommt die Nacht über die Felder.