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Was vor Kojas zweitem Lebensjahre war, davon hat er in seiner Seele keine deutbare Spur. – Dann taucht ein liebes blasses Gesicht vor ihm auf: seine Mutter. Sie liegt im Bette und daneben steht eine Wiege. Darin ist ein zartes Kindlein. Es bewegt die winzigen Händchen und weint immerzu, immerzu. – Gleich darnach: Er, der zweijährige Koja steht im langen Hemdchen neben einem Tische, klammert die Hände an den Rand und schaut: Ruf dem Tische liegt dasselbe Kindlein; es rührt sich nicht, es weint nicht; eine alte Frau taucht ein Tüchlein in ein Waschbecken und wäscht den bleichen Leib des Kindleins. Sie bekleidet es mit einem schneeweißen Hemdchen und legt es in ein lichtblaues Särglein, über dessen Rand weiße Spitzen niederhängen. Dann sieht er es nicht mehr. Es ist nicht mehr. So ist ihm die Erfahrung geworden von Sein und Nichtsein.
Ein Jahr später: Die Großmutter ist zu Besuch da.
Die Lampe steht ohne Schirm auf dem Tisch, davor sitzt die Großmutter beim Kachelofen und näht. Kojas Schwester, die fünfjährige Agi, etwas größer als er, hat sich zwei weiße Schürzen um den hals gebunden, so daß sie vorne und hinten niederwallen; mit der Linken hält sie die vordere Schürze gerafft, in der Rechten trägt sie ein Körbchen; darin hat sie allerlei knorrige Holzscheitchen steil aufgestellt; das Holz duftet. Koja hält die Schleppe der anderen Schürze in den Händen. Das Licht der Lampe erzeugt hoch oben an der Wand wunderliche Schatten von den Dingen, die auf dem Schranke stehen: Flaschen und Schachteln, Leuchter und eine Gipsfigur, die einen Knaben mit einem Blumenkorb vorstellt. Agi wandelt langsam zwischen Tisch und Kasten hin und her und Koja trippelt ihr nach. Sie deutet wie geängstigt nach den Schatten der Dinge an der wand und murmelt allerlei Unverständliches, indem sie wunderliche Worte wiederholt: »Aberla, bimerla, simerla, rikati, sibati, schureli, tschin!« Und so oft sie »tschin« sagt, hebt sie ihr Körbchen mit jähem Ruck empor, daß der Schatten ihrer Hölzer den Schatten irgend eines Dinges bedeckt, als ob er ihn verzehre; aber die verzehrten Schatten tauchen immer wieder unverwüstlich empor, so oft sie das Körbchen senkt. Da bemächtigt sich Kojas eine unbestimmte Angst. Er fängt an zu wimmern, Agi aber wiederholt ihre Beschwörung der Schattengeister immer lauter, immer aufregender. Den Buben packt das Grauen. Er fängt an zu schreien, als ob er gespießt würde. – Da öffnet sich die Zimmertür, aus der Küche kommt die Mutter, hebt Koja auf den linken Arm und geht mit ihm zum Herde. Aus der angrenzenden Gaststube dringt das Gewirre von Männerstimmen, und wenn die Tür aufgeht, kommt der Geruch von Bier und Tabaksqualm herein. Die Wirklichkeit beruhigt Koja, er hört auf zu weinen.
Ein Jahr später. Es ist Sommer. Der Regen hat den Lehmhaufen zerweicht, der neben der Kegelbahn im Garten liegt. Der Kegelbub kauert daneben und formt für Koja mit unglaublicher Fingerfertigkeit allerlei Figürchen, die er auf Bruchstücke von Dachschiefern stellt, langohrige Häschen, dickbeinige Hunde, Pferde und großköpfige Reiter.
Ein Wagen, auf dem ein großes Faß liegt, fährt vom Wiesenbach herüber in den Garten. Der Kutscher läßt das Wasser aus dem Faß in den weiten Bottich laufen, der mitten im Garten unterm Zwetschgenbaum steht. Der Kegelbub und Koja baden in dem klaren Wasser. Dann klettert der Kegelbub auf den Baum und holt ein paar halbreife Früchte herunter. Koja ißt eine Zwetschge und läßt den Kern ins Wasser fallen. Er schaut dem Kerne nach, wie er hin- und hergaukelnd zu Boden fällt. Plötzlich sieht er den Kern nicht mehr, an seiner Statt aber ein silberig glänzendes Fischlein, das seine Beine umschwimmt und wie neugierig an seine Knie stößt. – Und jetzt glaubt er etwas Wunderbares zu wissen: Wenn man einen Zwetschgenkern ins Wasser wirft, so wird daraus ein Fisch. Aber er behält seine erste Entdeckung für sich. Niemand soll's wissen, nur er. Die Kerne aller Zwetschgen, die er von jetzt an essen wird, will er in Fische verwandeln. Er sammelt sie in den Hosensäcken, und so oft er es ohne Zeugen tun kann, wirft er einen Kern in ein Wassergefäß, da in ein Büttel, dort in ein Schaff, in den Wasserkrug, in das Waschbecken. – Aber die erwartete Wirkung bleibt immer wieder aus. Da gibt er sein wertlos gewordenes Geheimnis preis. Die Großmutter kommt wieder einmal zu Besuch. Der sagt er's. Da lacht sie, daß ihr die Schürzenbänder hüpfen: »Aber Koja! Das Fischerl in dem Bottich war ja aus dem Bach. Das hat der Kutscher beim Wasserschöpfen herübergefangen.« »Na, und wie ist das, daß die kleinen Fischerln werden?« fragt er unbefriedigt. »Daß die Henne Eier ins Nest legt, das weißt du?« – »Ja.« – »Daß sie mit ihrem warmen Leib auf den Eiern sitzt, daß dann aus den Eiern die jungen Hühnchen werden, weißt auch.« – »Ja.« – »Nun, siehst du. So legt die Fischmutter ihre Eier ins Wasser, die liebe Sonne scheint warm darauf und aus den Fischeiern werden kleine Fischlein.« – Mit Bedauern muß es Koja ertragen, daß seine erste Entdeckung ein Irrtum ist. So hat bei ihm die Naturgeschichte begonnen. Entdeckung, Fehldeutung, Erkenntnis. So erfuhr er frühzeitig, daß ein Ereignis, welches einem andern folgt, nicht vom erstern bedingt sein muß. Sein Sinn für das Geschehen in der Natur war geschärft, deren Rätsel ihn fortan beschäftigten, die Jugend hindurch, so daß er als Schauender und Forschender in die wissenschaftliche Arbeit seiner Mannesjahre hineinwuchs.
*
Wieder ein halbes Jahr später: Ein frostklarer Februarmorgen. Noch warfen die Schlöte der Daschitzer Zuckerfabrik und die massigen Gebäude des Brauhauses lange Schlagschatten über die niederen Häuser des Ortes und in die pflasterlosen Gassen. In den Wagengleisen schimmerten weiße Eiskrusten, die große Luftblasen einschlossen. Mit schwachem Schellengeläute kamen die Straße herauf zwei aneinandergekoppelte Karren, auf denen Langholz geführt wurde. Langsam und mit hangenden Köpfen zogen die beiden Pferde ihre Last. Es waren die letzten zwei Pferde der Lorentischen. Sie blieben vor dem Wirtshaus stehen. Sie fraßen aus den vorgehängten Habersäcken. Sichtbar stieg der Dampf aus den schweißbedeckten Leibern der Pferde durch die Wolldecken auf, die der Knecht über ihren Rücken gebreitet hatte. Es waren schöne Pferde, das eine braun mit weißem Stirnfleck, das andere eisengrau. Und mit Stolz dachte Koja immer wieder: »Es sind unsere Pferde. Und sie bringen die Bäume aus unserem Wald. Und der ist dort irgendwo beim Kunietitzer Berg, wo die Großmutter wohnt, und wo der Vater sein Bauerngut hat.«
Koja war damals ein Knirps von viereinhalb Jahren; aber wer's nicht wußte, gab ihm sechs. Er war ein starker Bub und ein kleiner Gernegroß, der alles beguckte und die Erwachsenen mit Fragen quälte. Gekleidet war er wie ein Jagdgehilfe; so hatte er sich's von der Mutter erbettelt. Die flachsgelben Ringellocken fielen ihm auf den grünen Kragen des grauen Röckleins nieder, das grün gesäumt war. Die neuen Röhrenstiefel – es waren seine ersten – prahlten in der Pracht handbreiter lacklederner Stulpen. Sie knarrten mit dem hartgefrorenen Schnee um die Wette; die Eishäutchen in den Wagengleisen knisterten, wenn der Bub darauf trat. Und wo das Eis widerstand, schlug er's mit den eisenbeschlagenen Absätzen auf, daß es klirrend zerbrach.
Die Sonne war über den Giebel des Brauhauses emporgestiegen und ihre Strahlen strichen über die Fichtenstämme, die hochgeschichtet auf den beiden Karren lagen und mit ihren niederhangenden Wipfeln den Boden streiften. Ihre harzverquollenen Schlagwunden begannen zu duften. Es roch nach Weihnachten. Da sah Koja den Glasermeister kommen. Er ließ ihn nicht vorbei. »Unsere Bäum'!« rief er ihm zu. »Aus unserem Wald – ja.« »So? – Noch?« gab der alte Mann zurück und sah das Kind mit seinen guten grauen Augen traurig an; dann hastete er weiter. Ihn mochte in die Finger frieren, mit denen er eine dicke Glasscheibe unterm Arm trug. Das Wörtlein »Noch« war verklungen mit seinem tieftraurigen, verlustvordeutenden Sinn, vom Knaben unverstanden, wie von vielen, die sich im sicheren Besitz eines hinschwindenden Gutes wähnen. Koja umschritt den Wagen. Zwei grüne Fichtenreiser, die zwischen den Stämmen eingeklemmt waren, zog er heraus. Eins für sich und eins für die Agi. Ah, wie die dufteten! –
Gern wäre er durch die Gaststube ins Wohnzimmer gegangen, daß die Gäste seine neuen Röhrenstiefel gesehen hätten und die Reiser von den Bäumen aus »unserm« Wald. Aber die Mutter duldete nicht, daß die Kinder die Gaststube betraten. So machte Koja den Umweg durch den Hof; er gelangte ins Wohnzimmer und von da in die Schlafstube. Seinen Zweig steckte er hinter das Bild seines Namenspatrons, das über seinem Bette hing. Der Schwester aber verbarg er den ihren im angefangenen Strickstrumpf. Als sie aus der Schule kam, führte er sie ganz nahe dazu; da mußte sie riechen und raten. Richtig brachte sie es heraus. Früh am Nachmittag, als es zu schneien begann, so daß es in der Stube dunkel wurde, zündete sie die Lampe an, setzte sich in den Lehnstuhl und begann dem Brüderlein im Bilderbuch alles zu zeigen, was es in »unserm« Walde gäbe. Nur um zwei Jahre älter als Koja, spielte sie gerne Großmutter; sie setzte sich eine alte gläserlose Hornbrille auf die Nase und begann die Bilder zu erklären. Da belebte sich der Wald mit Hirschen, Rehen, Bären, Löwen, Hasen, Füchsen, Wölfen und mit jenen wunderbaren Vögeln, die den Kindern aus den Märchen und Legenden der Großmutter längst vertraut waren. Der geizige Specht, der barmherzige Kreuzschnabel, der Bluthänfling, sie alle lebten im Walde, der für die Kinder die Heimat des Wunderbaren, des Großen, des Schönen und Geheimnisvollen war. Weiter, weiter und weiter hin dehnte sich der Wald, und wo er am dunkelsten war, stand die Hütte der Knusperhexe.
Das Nachtmahl nahmen die Geschwister in der großen Küche ein, beim »Katzentischerl« in der Fensternische. Die Mutter aber stand mit glühenden Wangen beim Herde. Sie kochte und briet für die Gäste, daß es zischte und prasselte und brotzelte.
Aus der Wirtsstube drang ein Stimmengewirre, ein Lachen und Gläserklirren; und ab und zu hörte man, wie die Spielkarten auf den Tisch klatschten. Da drinnen saß mitten unter seinen vielen Freunden der Vater. Nur selten bekamen die Kinder ihn zu sehen. Nach dem Abendessen kehrten sie in die Wohnstube zurück und bezogen wieder den Märchenwinkel beim warmen Kachelofen. Die alte Hauskatze ringelte sich auf Kojas Schoß zusammen und schnurrte. Da begann er von der Schwester Märchen zu erfragen, die er schon oft gehört, und die ihm immer schöner wurden. Agi mußte erzählen, immerzu vom Walde; es waren alte Märchen. »Sag, Agi, warum nennst du den Specht geizig?« Und sie erzählte: »Als der Heiland noch auf Erden gewandelt ist, da ist er auch einmal zu Frau Gertrude gekommen; die hat gerade Kuchen gebacken. Und weil er hungrig gewesen ist, hat er sie gebeten um etwas zu essen. Sie hat ihm wollen den Kuchen geben, der gerade in der Pfanne war. Und der Kuchen ist gewachsen und ist gar wunderlich groß geworden. Da hat sie gesagt: »Den kann ich dir nicht geben, der ist zu groß geworden.« So ist es auch mit dem zweiten gewesen und mit dem dritten. Und sie hat den Heiland hungrig weggehen lassen. Da hat er sie zur Strafe für ihren Geiz in einen Vogel verwandelt. Der ist durch den Rauchfang hinausgeflogen und ist ganz schwarz geworden vor Ruß. Nur das rote Kopftuch ist rot geblieben, drum heißt der schwarze Specht bis heute Gertrudsvogel; er hat kohlschwarze Federn und ein rotes Käppchen.« – »Und wie ist das mit dem Kreuzschnabel? Warum nennst du ihn barmherzig?« – »Der Heiland ist an dem Kreuze gehangen. Da ist der gute Vogel geflogen gekommen und hat sich auf das Kreuz gesetzt. Und weil ihm der Heiland erbarmt hat, hat er ihm wollen die Nägel aus den Füßen und den Händen ziehen. Dabei ist sein Brüstlein rot geworden vom Blute des Heilandes und den Schnabel hat sich der Vogel verbogen.« Und von der Natternkönigin, jener aschfarbenen Schlange, wußte Agi zu berichten, daß sie ein Goldkrönlein auf dem Haupte trug und es beim Baden auf ein grünes Moospölsterchen legte. Und wenn ein Waldläufer zurechtkam und ein weißes Tüchlein aufs Moos breitete, dann legte sie ihr Krönlein aufs Tüchlein. Dann nahm er es auf und gab es der Schlangenkönigin erst wieder, wenn sie ihm den Weg gezeigt hatte zur unterirdischen Schatzkammer der Wichtelmännlein, wo sie goldene Ringlein und Ketten und funkelnde Steine aufbewahren. – So gewannen die Tiere des Waldes für Koja Bedeutung. Seine Naturgeschichte war voll Aberglauben und Dichtung.
Manchmal vertauschte Agi die Rolle der Großmutter mit der Rolle der Mutter. Sie half Koja beim Auskleiden, brachte ihn zu Bett, deckte ihn sorgsam zu und ließ ihn die Hände falten zum Nachtgebet. Ganz nach Mutterart machte sie ihm das Kreuzeszeichen auf Stirn und Mund und Brust und hieß ihn gut schlafen.
In seinen Schlummer hinein duftete der Fichtenzweig über seinem Bette. Da war ihm im Traume, als wär' er ein Waldläufer, der mit allen Tieren des Waldes auf gutem Fuße stände.
Der Frost hielt an. Der stille Wiesenbach hinterm Hausgarten bedeckte sich mit spiegelglattem, tragfähigem Eis. Da sammelten sich die Buben groß und klein auf der langen Schleifbahn; Koja lief und schliff mit ihnen dahin und schrie dabei für zwei. Je mehr Lärm, desto größer der Spaß.
In der Scheune, die zwischen Hof und Garten stand, begannen die Drescher das Korn zu dreschen; es waren ihrer drei. Das ging immer tipp–tapp–tapp, tipp–tapp –tapp. –
Dann kamen Tage, an denen die Mutter mit rotgeweinten Augen herumging und den Kindern wehmütig zulächelte. – Aber weinen hat sie keines gesehen. Sie mußte wohl in den Nächten weinen, wenn sie nicht schlafen konnte. Es wurden die schönen Pferde verkauft, der Eisenschimmel, dann das Bräunel, es wurde eine Kuh nach der anderen aus dem Stalle verkauft, Magd und Knecht wurden entlassen, Hühner und Enten geschlachtet; im Hofe wurde es stille, kein Hahnenkrähen, kein Rindergebrüll, kein Pferdegewieher. Da ward es den Kindern unheimlich zu Mute und sie quälten die Mutter mit Fragen. Die aber schloß ihnen mit langen Küssen den Mund und tröstete sie: »Wenn ihr brav seid, dürft ihr bald zur Großmutter.«
Und an einem tauig warmen Märzmorgen, als die Eiszapfen klirrend von den Dachrändern fielen, kam Marek, der alte Knecht der Großmutter mit dem leeren Leiterwagen angefahren. Neben ihm saß auf einem Strohschaub die Großmutter, das liebe, schmale, faltenreiche Gesicht eingemummelt in ein geblumtes Wolltuch. Mühsam und seufzend kletterte sie vom Wagen herab. Nur ein Tisch, ein paar Stühle, ein Schrank, die alte mit Blumen bemalte Kleidertruhe und Federbetten wurden auf den Wagen geladen, Agi und Koja dazu. Mutter und Großmutter weinten Brust an Brust, als sie die Kinder mitten im Bettzeug zurechtgesetzt hatten. Zuletzt stieg die Großmutter auf und der Knecht. Der breitete eine Plache über den Wagen. Die Pferde zogen an, und knarrend ging's durch die leere Scheune und dann durch den Garten, auf dem Fechsungsweg über Wiesen, dann auf dem Feldweg, der das Ufer des Wiesenbaches begleitete. Das Brauhaus und die hohen Fabrikschlöte der Zuckerfabriken blieben zurück hinter den Fahrenden. Zwischen den Sprossen der Wagenleiter durch lugten die Kinder unter der Plache in die vom Nebel verschleierte Landschaft, die im Tauwetter wie verweint aussah. Von den Erlen und Weiden fielen Tropfen ins ruhige Wasser des Wiesenbaches. Der schlich geräuschlos dahin, fast in gleicher Höhe mit den schmutzigen Schneeresten auf den fahlen Wiesen und braunschwarzen Ackerflächen. Traurig versonnen standen die Kopfweiden am Ufer, hie und da überragt von einer hohen Ulme, deren Stamm der Äste beraubt war, bis auf den kleinen Wipfel. Und wo der Bach vom Röhricht gesäumt war, rieben sich die hohen Halme flüsternd aneinander. Das war alles so ernst, daß die Geschwister in gedrückter Stimmung schwiegen. Auch die Großmutter war still. Der Rauch aus des Kutschers Pfeife duftete nach glimmendem Birkenlaub und Kartoffelkraut und reizte sie zum Hüsteln. – Die Sonne klomm höher. Es wurde windstill. Der Nebel zerfloß. Im rostfarbenen Grase öffneten die Maßliebchen ihre rosig angehauchten Knospen. Es war wie ein zages Lächeln der Landschaft. Und jetzt erst fiel den Kindern auf, daß zwischen Wegrand und Bach auf schlanken Schäften sich Schneeglöckchen wiegten. Jenseits des Wassers stieg in weiter Ferne ein welliges Hügelland empor, das mit hohem Walde bestanden war. Zur Linken aber dehnten sich in der Ebene dunkle, niedere Nadelwälder, welche die Kinder nüchtern anmuteten. Ihre Bäume waren alle von gleicher Größe und standen in geraden Reihen. Das waren keine Märchenwälder. – Fern und nah lagen die Ortschaften mit ihren roten Ziegeldächern und moosbegrünten Strohdächern inmitten der unbelaubten Obstbäume. Senkrecht stieg von den Schornsteinen der bläuliche Rauch zum Himmel. Alles war friedvoll. Koja und Agi machten ihre erste Reise über Land. Der Wagen fuhr ins Dorf Laan ein; er hielt vor einem weitläufigen Bauerngehöft, dessen großer Hof von Stallungen und Scheunen umgrenzt war. Die Hunde schlugen an und die Gänse erhoben ein aufgeregtes Geschnatter. Eine stattliche Greisin, welche die Großmutter um Kopfeshöhe überragte, trat aus dem Tor. – Es war die neunzigjährige Urgroßmutter der Kinder, die Mutter der Großmutter, Dorothea Puhlovska. Sie hob erst Koja dann Agi vom Wagen, beugte sich zu den Kindern, drückte sie an ihre Brust und küßte sie auf die Scheitel. Dabei sprach sie ein übers andere Mal vor sich hin: »Arme Kinder, armer Koja, arme Agi!« Im Herrgottswinkel der braungetäfelten Stube wurde der Tisch gedeckt. Es gab reichlich Buchteln Kuchen aus Weißmehl (Germteig). mit Pflaumenmus, dazu Oberskaffee, als wäre es Sonntag. Und die Kinder verstanden nicht, was die Urgroßmutter gemeint hatte, als sie sagte: »Arme Kinder!« – Hatten sie es denn nicht gut?
Und weiter ging die Reise. Sanft geschaukelt im Federbettennest schliefen die Kinder ein. Und als sie erwachten, sahen sie einen grünen, nadelspitz sich verjüngenden Turm erstaunlich hoch die Häuser einer Stadt überragen. »Der grüne Tor-Turm von Pardubitz,« sagte die Großmutter. Links um die Stadt herum, vorbei am Hügel mit dem Schloß, vorbei an Wall und Graben fuhr der Wagen zur Elbe. Er polterte über die Brücke, an deren schrägen Strebepfeilern das Stromwasser lärmte. Zwischen hohen Pappeln und grellen Ziegeldächern, tiefliegenden Tümpeln und endlos scheinenden Ackerflächen ging's weiter auf wohlgepflegter Straße. Und auf einer der hohen Ulmen, unweit einer Ziegelei, mitten im kahlen Geäst der Krone war ein unförmiges Nest aus Prügeln, Zweigen und Schilfhalmen. »Ein Storchennest,« sagte die Großmutter. Da machten die Kinder große Augen. »Und wo ist jetzt der Storch?« fragte Agi. »Storch und Störchin sind jetzt in Ägypten, dort ist es warm; da haben sie es gut; sie fangen dort Frösche und Fische und Schlangen. Auch unsere Schwalben sind dorthin geflogen.« »Und kommen bald wieder,« ergänzte Agi. »Die Störche auch?« fragte Koja, denn er war begierig, mit den Störchen persönlich bekannt zu werden. »Sie kommen mit den Schwalben,« fuhr die Großmutter fort, »du wirst sie an den Ufern der ›alten Elbe‹ über die Wiesen schreiten sehen, hochbeinig wie auf Stelzen. Du wirst die Störchin auf dem Nest sitzen sehen, wenn sie die Eier bebrütet. Und ihr Mann wird ihr die Mahlzeiten zutragen, Frösche, Mäuse und Schlangen.« Kojas Augen waren über die Ebene hin nach rechts weitergeirrt. Da ragte ein hoher Berg unvermittelt aus dem Flachland empor. »Dort ist der Kunietzer Berg mit der Ruine,« erklärte die Großmutter, der Frage zuvorkommend. Da staunten die Geschwister den mächtigen Felsen an, dessen dunkelgraue Steinmasse gekrönt war vom dachlosen Burggemäuer. Darüber hinweg stieg ein hoher Rundturm auf und neben ihm überragte das schlanke Türmchen der Schloßkapelle ein steiles, grellrotes Dach. An den Berg mit der verfallenen Burg reihte sich ein Hügelrücken, der mit einem mächtigen Hochwald bedeckt war. Das mochte wohl der Märchenwald sein. – »Großmutter, ist das unser Wald?« fragte Koja in freudiger Erwartung. Und zögernd kam die Antwort von ihren schmalen Lippen: »Noch gehört ein Stück davon euch.« – Sie sagte es so traurig, wie's der alte Glasermeister gesagt hatte, das Wörtlein »noch«. – Ein Dorf kam in Sicht. Ein drei Stock hohes graues Steingebäude mit kleinen Luftlöchern überragte die ebenerdigen Hütten und Bauernhäuser. »Das ist der alte Kornspeicher von Hradischt »Hrad«, im Südslavischen »Grad« bedeutet »Burg«, daher Belgrad = Weißenburg und Gratz = Burg; »Grätzel« = Bürglein; König-grätz = Königs-Burg.,« erklärte die Großmutter.
An der Straßenkreuzung stand die Schmiede, der Witwensitz der Großmutter. Und hier stiegen sie alle vom Wagen.
Die Großmutter führte die Kinder in ihre kleine Küche, die mit Ziegeln ziemlich uneben gepflastert, aber recht anheimelnd war. Mit Stroh und Reisig entfachte sie im gemauerten Herd ein lustiges Feuer, kochte Grieß in Milch ein, bestreute den dünnen Brei reichlich mit Zucker und Zimt und hieß die Kinder brav essen. Oh! Wie das schmeckte! – Wie's nur bei der Großmutter schmecken kann. Indessen knarrten die hölzernen Stufen der Bodenstiege unter schweren Männertritten. Der Schmied und der Kutscher schleppten die abgeladenen Habseligkeiten auf den Boden hinauf und stapften dort herum, daß das alte Tonnengewölbe dröhnte. Die Großmutter ging zu den Leuten auf den Dachboden. Kaum hatten die Kinder sich gesättigt, so wollten sie sich die Umgebung der Schmiede anschauen. Aber draußen war es unfreundlich und kalt geworden; es nieselte und die frühe Dämmerung ließ die Gegend düster erscheinen. Zaghaft umschritten sie das Haus; Agi führte das Brüderchen an der Hand. Aus der Werkstatt des Schmiedes hörten die Kinder ein Pfauchen und Klingen, und bei jedem Pfauchen wurde das vergitterte Fenster helle. Neugierig traten die Geschwister auf die Schwelle der offenen Tür. Zwei rußige Männer standen einander gegenüber und ließen abwechselnd ihre Hämmer auf einen kurzen glühenden Eisenstab fallen, daß die Funken nach allen Seiten stoben und der blanke Amboß unterm Stabe aufblitzte. Der eine der beiden Schmiede, es war der Meister, hielt den Stab in einer flachen Zange. Er hob und drehte ihn, daß er sich unter den Hammerschlägen krümmte, während er flach wurde und die Gestalt eines Hufeisens annahm. Hinter den beiden war in einer tiefen, verrußten Nische die Feueresse; darin lag inmitten glühender Kohlen ein kleiner Radreifen. Die Glut leuchtete jedesmal weiß auf, sobald es von der Seite her aus einem Mauerloch in sie hineinblies. Das war die Luft aus den Blasebälgen, die der Lehrbub mit Hilfe zweier Riemen abwechselnd aufzog und zusammendrückte, indem er auf schrägliegende Stangen trat, deren oberes Ende mit den Blasebälgen durch dicke Drähte verbunden war. Die Kinder schauten und staunten. Niemand hatte ihr Eintreten bemerkt. Hei! wie der Reifen sich rötete und leuchtete! Da riß ihn der Schmied aus dem Kohlenfeuer heraus und legte das unfertige Hufeisen an seine Stelle. Und jetzt begann er mit Hammer und Stift in den glühenden Radreifen Löcher zu schlagen, während der Geselle den Reifen mit einer Zange hielt und ruckweise weiterdrehte. Angezogen von dem nie gesehenen Schauspiel, die Augen auf den Amboß gerichtet, löste Koja seine Hand aus der seiner Schwester und rückte schrittweise näher und näher an die emsig Hämmernden heran.
Plötzlich fühlte er keinen Boden unterm vorgestellten Fuß, purzelte in eine Grube und platschte in kaltes Wasser hinein, daß es hoch aufspritzte. Da warf der bärtige Schmied seinen Hammer weg, zog den Buben aus dem Loch und stellte ihn im Lichte der Esse auf die Beine. Lachend fragte er: »Knirps, wem g'hörst denn du?« – »Wir sind bei der Großmutter,« beeilte sich Agi zu antworten. Mit ihrem Rocksaum wischte sie dem Bruder das schmutzige Wasser aus dem Gesicht und fragte ihn voll Teilnahme: »Hast dir weh getan?« Er schüttelte den Kopf. Ihm war zum Weinen, aber er weinte nicht. In zappelndem Laufe langten die Kinder bei der Großmutter an. Die schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Ja, Koja, wie schaust denn du aus?« Und während Agi ihr Kojas erstes Abenteuer erzählte, zog ihm die Großmutter die kohlengeschwärzten Kleider vom Leibe, wusch ihn und kleidete ihn in sein Alltagsgewand. Sie greinte nicht; aber während sie das Nachtmahl bereitete, ging sie in halblautem Selbstgespräch mit sich zu Rate: »Was fang ich altes Leut mit dem Schlingel an, wenn die Agi in der Schul ist? – Soll ich ihn an einem Tischfuß anbinden, daß er mir nicht am End gar in den Brunn' fällt?« Da machte Agi den Vorschlag: »Großmutter, ich nehm' ihn mit in die Schul.«