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Seit Koja die Menschenknochen in der Sandgrube gesehen hatte, quälte er die Großmutter, sie sollte von der alten Zeit erzählen, als der Vater noch ein kleiner Bub war. Nur hatte sie immer etwas anderes zu tun.
Am Nachmittag eines naßkalten Tages aber, während draußen der windgepeitschte Regen an die Fensterscheiben trommelte und die Stube verfinsterte, trug die Großmutter das Spinnrad aus der Kammer in die Wohnküche, steckte ein Bündel gelben, seidenglänzenden Flachses an den Rocken und setzte sich im Ofenwinkel zum Spinnen zurecht, wo es heimelig war, wenn auch im Herde kein Feuer brannte. Seine Kacheln kühlten nie ganz aus. Da zupfte Koja Agi am Jackenärmel und drängte sie zur Großmutter hin. »Geh du bitten, daß sie erzählt.« – Agi tat ihm den Willen, und die Großmutter sagte zu.
Die Kinder setzten sich zusammen auf den Schemel zu Füßen der Großmutter, Agi nahm ihren Strickstrumpf vor, und so warteten die beiden; die Großmutter aber ließ sich Zeit. Umständlich entnahm sie der ledernen Schlüsseltasche, die an ihrem Schürzenband hing, ein Stück Süßholzwurzel, Wurzel eines Schmetterlingsblütlers ( Glycyrrhiza glabra) beliebtes Heilmittel gegen Verschleimung. Eingedampfter Süßholz-Extrakt ist der bei Kindern beliebte »Bärendreck«. schnitt davon ein paar Fasern für die Kinder ab, schob sich selbst ein Faserbündel in den Mund und begann es zwischen den zahnlosen Kiefern zu kauen, um genug Speichel zum Benetzen des Fadens zu haben. Dann schob sie sich das Spinnrad näher, legte die beiden Treibschnüre auf, so daß die eine vom Schwungrad über den Wirtel der Spindel lief und die zweite den Wirtel der Spule innerhalb der Spindelflügel drehen konnte, trat versuchsweise auf das Trittbrett und ließ das Spinnrad leer laufen. Dabei strich sie wie liebkosend mit der Linken über die laufenden Schnüre, um deren Spannung nachzuprüfen. Sie netzte Zeigefinger und Daumen der Rechten an der Unterlippe, zog vom Rocken etliche Flachsfasern herab, zwirbelte sie zu einem Faden und dann brachte sie das Rad durch einen Druck der Linken zum Stehen. Und nun tat sie etwas Wunderliches. Sie zog den Faden zu einer Spitze aus und führte ihn durch den hohlen Spindelkopf, der wie eine Pfeife aussah, weil er an der Seite durchlocht war; dann zog sie ihn durch ein Häkchen des Spindelflügels und wand ihn um die Spule. Die Kinder verwandten keinen Blick von den Händen der Großmutter, wie das Spinnen zustandekam, war ihnen bisher ein Geheimnis gewesen. Agi wies auf den Spindelkopf: »Warum muß denn der Faden da durch?« – »Damit er mitgedreht wird, wenn sich die Spindel dreht; muß doch ein Zwirn daraus werden.« – »Und warum muß er durchs Häkchen?« – »Das erste Häkchen führt ihn, daß er erst am Ende der Spule aufgewickelt wird; das zweite Häkchen wird ihn später weiter führen, das dritte noch weiter, die Spule entlang, bis sie voll ist.« Die Großmutter neigte sich herab und wies auf die zwei Wirtel, über welche die beiden Treibschnüre liefen. »Schaut sie euch gut an: der Wirtel der Spule ist kleiner als der Wirtel der Spindel. Darum muß sich die Spule geschwinder drehen als die Spindel mit ihren zwei Flügeln, damit sie den Faden aufwickle.« Sie setzte durch Treten das Schwungrad wieder in Bewegung. Und richtig geschah es, wie sie es gesagt hatte. Der von ihrer Rechten vom Rocken herabgezogene leicht gezwirbelte Faden wurde zu einem dünnen Zwirn, surrend drehten sich die Flügel der Spindel, aber schneller noch drehte sich die Spule, und so spannte sie den Faden; dieser wickelte sich in schöner Regelmäßigkeit auf die Spule. Von Zeit zu Zeit hob die Großmutter den Faden mit der Linken ganz sachte aus der Führung eines Häkchens und ließ ihn unter das nächste schlüpfen. Ein Weilchen sahen die Kinder schweigend zu. Sie hatten aufs Erzählen vergessen. Koja glitt vom Schemel und betrachtete sich das Spinnrad von unten auf. Er sah das schräge Brettchen, welches unter der Ferse der Spinnerin auf dem Boden ruhte und unter dem Druck der Fußspitze auf und nieder ging. Von seinem oberen Ende langte die Schubstange wie ein Arm zur kleinen Kurbel hinauf, die gleich einer Hand die Achse des Schwungrades in Bewegung setzte; und Koja begriff, daß die Schnüre, die über das große Rad liefen, oben die viel kleineren Wirtelrollen in viel schnellere Drehung versetzten. Es war so einfach und doch so wunderbar. Da sprach Agi aus, was Koja sich soeben dachte: »Das muß ein gescheiter Mensch gewesen sein, der das Spinnrad gemacht hat.« – »Mehr geschickt als gescheit,« versetzte die Großmutter. »Ausgeklügelt hat er sich's nicht; das haben andere vor ihm so nach und nach ausgedacht; wer weiß wer, wer weiß wann, in alter Zeit.
Meine Mutter in Lan, also eure Urgroßmutter, hat ein Spinnrad besessen, das noch kein Trittbrett und noch nicht die Spule auf der Spindel hatte; das mußte mit der linken Hand gedreht werden, während die rechte den Faden spann und ihn der Spindel zuführte. Da war es viel schwerer, einen dünnen Zwirn zu spinnen. Noch viel früher, in der Zeit, von der das Dornröschen-Märchen erzählt, gab es überhaupt keine Spinnräder. Da hat die Spinnerin die Spindel stehend tanzen lassen auf dem Fußboden, wie es die Kinder noch machen, wenn sie einen Knopfkreisel treiben; sie hat die Spindel, die mit einer Wirtelscheibe beschwert war, mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zum Drehen angetrieben, während die linke den Faden von der Kunkel gezogen hat. Und so oft die Spindel, die den Faden aufgewickelt hatte, sich langsamer drehte, hat sie ihre Spitze geschickt abgefangen und ihr mit Daumen und Zeigefinger einen neuen Antrieb gegeben. – »Aha,« warf Agi ein, »und an einer Spindelspitze hat sich Dornröschen gestochen?« – Die Großmutter nickte. »Und den Kunkelstab mit der Flachspuppe hielt die Spinnerin eingeklemmt zwischen Brust und Oberarm.« – Sie wies zum Rocken hinauf: »Da haben wir's bequemer: die Kunkel ist dem Spinnrad aufgesteckt, zur Spindel braucht sich die Spinnerin nicht zu bücken und hat beide Hände frei für den Faden.«
Die Kinder hatten sich am Spinnrad satt gesehen und schauten nun erwartungsvoll zur Großmutter auf. Sie las die Bitte in ihren Augen und begann zu erzählen:
»Es ist schon lange her, da gab es in unserer Gegend noch keine Zuckerfabriken, aber in jedem Bauerngarten standen Bienenkörbe. Daraus hatten wir den Honig zum Süßen des Kaffees; der kam nur an Sonntagen und Feiertagen auf den Tisch, wir buken aber auch Lebkuchen aus Brotmehl; das war mit Honigwasser geknetet. Und manche Bauern mengten Honig mit Wasser, ließen ihn in der Wärme gären und dann wurde Met daraus, der schmeckte wie süßer Wein. Heutzutage bekommt man den Met wohl nur mehr beim Lebzelter. Damals waret ihr noch lange nicht auf der Welt. Eure Mutter war noch ein kleines Mädel und euer Vater ein kleiner Bub und keines wußte etwas vom anderen. Eures Vaters Eltern waren droben im Sanddorf am Waldrand reiche Bauern; sie hatten den großen Hof am Rande des Waldes; und von dem Wald gehörte ein schönes Stück ihnen. Sie hatten zehn Kühe im Stall, vier Pferde und eine Menge Hühner und Gänse. Zum Hof gehörten auch große Wiesen und Felder. Als euer Vater zehn Jahre alt war, kam das große Sterben ins Land, die Cholera. Davon wurden die Menschen so matt wie Fliegen im Winter und starben dahin; da wurden viele Bauernhäuser leer. Auch eurem Vater sind damals die Eltern gestorben, zwei Tage nach der Erkrankung, eins mit dem andern. Ein Nachbar, ein armer Bauer, hat den Hof übernommen und ist dem kleinen Vinzenz Vormund geworden. Er sollte für ihn sorgen statt Vater und Mutter. Er hat den Hof gut verwaltet, hat gut gesorgt fürs Vieh. Aber den Vinzenz hat er nicht mehr in die Schule geschickt; damals war ja noch kein Schulzwang. Er bat ihn zum Hüten der Kühe und Pferde gebraucht. Der kleine Hirt hat müssen im Stall übernachten mit einer alten, griesgrämigen, grauhaarigen Kuhdirn. Die war zu ihm so gut, als sie es konnte: sie tätschelte ihn und gab ihm Schmeichelnamen, manchmal auch einen Schluck aus ihrer Schnapsflasche, wenn sie aber betrunken war, bekam er Schimpfnamen und Schläge dazu. So wuchs er unterm Gesinde auf.
Damit niemand sagen konnte, der Vormund hätte den Vinzenz nichts lernen lassen, hat er ihn als Dreizehnjährigen ›auf Tausch‹ in eine deutsche Gegend gegeben. So hat euer Vater ein Jahr in Hernskretschen Am rechten Ufer der Elbe, an der Mündung der Kamnitz, die aus dem romantischen Elbesandsteingebirge kommt (böhmisch-sächsische Schweiz). an der Elbe zugebracht bei dem Wirt, den sie den ›Deutschen Michel‹ heißen. Dort hat er mitgeholfen, erst beim Eßzeugputzen, dann beim Bieraustragen und hat auch Manieren gelernt.
Als er heimkehrte, wurde er Jungknecht bei seinem Vormund. Er hat in der Gesindestube gesessen, im Pferdestall geschlafen und ist mit dem Altknecht beim Sand- und Schotterführen in vielen Wirtshäusern herumgekommen.«
Da fragte Agi dazwischen: »warum hat ihn der Vormund zu einem Wirt in eine deutsche Gegend geschickt? Er hätte ihn ja auch können in Pardubitz zu einem Wirt in die Lehre geben?« – »Da muß ich weiter ausholen, damit ihr Kinder das versteht. Nach Hernskretschen, ganz nahe hinter der sächsischen Grenze, sind schon damals viel Leute gekommen aus anderen Ländern. Dort, wo die Kamnitz in die Elbe fließt, gibt es nämlich Sandsteinfelsen, die so wunderlich märchenhaft gestaltet sind, daß es sich den Leuten lohnt, hinzufahren, um sie anzustaunen. Manche Gäste haben wenig deutsch verstanden, andere gar nichts. Es sind auch Tschechen hingekommen. Da hat der Wirt wollen, daß sein Sohn zuerst einmal tschechisch lernt, damit er sich zunächst mit den Gästen aus dem benachbarten Böhmen verständigen könnte. Und er hat einen Brief geschrieben an unseren Bürgermeister, ob da ein Bauer wäre, der ihm auf ein Jahr den Sohn für seinen Buben in Tausch geben möcht', so daß der Wirtssohn hier tschechisch, der Bauernsohn dort deutsch lernen würde, ohne daß es die Eltern etwas kostete. Da ist der Vormund des Vinzenz auf den Tausch eingegangen. Ein Kellner hat den Wirtssohn herbegleitet und den Vinzenz mit sich hingebracht nach Hernskretschen. Der Vormund hat dann den Sohn des deutschen Wirtes so gut gehalten, wie sein eigenes Kind, besser als den Vinzenz. Und dem Vinzenz ist es beim ›Deutschen Michel‹ auch besser gegangen wie zu Hause. Es waren liebe, gute Menschen, die ein Gewissen gehabt haben fürs fremde Kind. Das Kinder-in-Tauschgeben war damals noch viel mehr Brauch als heutzutage; die Leute haben ganz richtig gedacht: wenn die Menschen von da und dort zusammenkommen und einander verstehen, machen sie miteinander leichter Geschäfte, einer dient dem andern, einer hilft dem andern, und beiden ist geholfen. Ob das der Kaiser Josef sich ähnlich gedacht hat oder ob er uns alle hat deutsch machen wollen, weiß ich nicht. Der hat in unserm Dorf und in den Nachbardörfern vereinzelt deutsche Bauern angesiedelt, mitten unter den tschechischen Bauern – noch erinnern die deutschen Namen daran: Meier, Schulz, Reuter, Pfleger. Die deutschen Ansiedler waren fleißige Menschen. Sie haben sich mit den tschechischen Bauern gut vertragen und haben tschechisch gelernt. Ihre Töchter sind die Frauen tschechischer Bauern geworden. Und die Söhne der deutschen Bauern haben tschechische Bauerntöchter geheiratet. Die Kinder haben dann tschechisch gesprochen; es war ja die Sprache der Mutter und die Sprache der Leute rundherum. – Der Großvater meines Mannes, der alte Sonnleitner, ist auch als deutscher Bauer eingewandert, sein Enkel aber hat nicht mehr deutsch gekonnt und hat mich geheiratet, eine geborene Puhlovská. Und als wir im Krieg mit den Preußen – das war im Sechsundsechziger Jahr – die deutschen Soldaten als Einquartierung hier gehabt haben, waren sie gegen uns Bauern so gut, als ob sie gar nicht Feinde gewesen wären. Sie plünderten nicht sie vergewaltigten nicht. Aber als dann die ungarischen Husaren gekommen sind, da ist es uns schlecht ergangen. Die sind zwar mit unsern Soldaten unter einem Kommando gewesen, aber sie haben bei uns gehaust wie die Wilden. Ja – die Magyaren waren bös.« – Die alte Frau seufzte tief auf.
Enttäuscht schaute Koja zur Großmutter auf. Was sie erzählte, war keine Geschichte nach seinem Sinn. Das merkte sie und fragte unvermittelt: »Kinder, wollt ihr ein Märchen hören, ein Märchen vom Rübezahl?« – Freudig nickten die Geschwister und die Großmutter erzählte ihnen das Märchen vom Rübezahl und dem Klöppelhannes, dem kleinen Holzklauberbuben. Im Riesengebirge war's, unweit der Schneekoppe. Da hat der kleine Hannes einem alten Mann aufgeholfen, der unter seiner Holzbürde zusammengebrochen war. Das war aber der Berggeist in einer seiner mannigfachen Gestalten. Und er hat dem kleinen Hannes einen Fichtenwipfel mit Zapfen gegeben. Und die haben sich in lauteres Gold verwandelt. Da war alle Not vorbei.« – Die Großmutter spann das Märchen reichlich aus, und die Kinder waren in ihrer Seligkeit.