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Ein Bärenabenteuer.

Badezeit! Erdbeerzeit! Ein Flimmern in der Luft über sonnerwärmten Wiesen und Ährenfeldern, ein Gezirp und ein feines Getöne! Tausendstimmige Lebenslust! Ernteferien! Koja, Schandor und Maruscha hatten sich im seichten Bach einen Badetümpel ausgehöhlt und der gehörte ihnen. Die übrige Dorfjugend badete und johlte unten bei der Mühlwehr. Und die drei Unzertrennlichen hatten in ihrem Bach besondere Freuden, Augenfreuden: Scharen von silberigen Jungfischen glitzerten in der seichten Flut, blaugrüne Teichjungfern schwebten darüber hin; sie rasteten mit geschlossenen Flügeln auf den Brombeerranken, die vom Ufer niederhingen. Und Schandor erfand ein Verfahren, wie die Fischlein eingefangen werden konnten, daß sie verweilen mußten, um sich betrachten zu lassen. Wo das Wasser die Sandbank unterhalb des Badetümpels bespülte, wurde ein handbreiter Kanal in den Sand gegraben, der führte zu drei miteinander verbundenen schüsselförmigen Teichlein, die im Innern der Sandbank angelegt worden waren. Dann ging das Fischtreiben an, wie es Schandor anordnete. Jedes der Kinder brach sich eine Gerte vom nächsten Weidenbaum, dann verteilten sie sich. Maruscha watete der Bachströmung entgegen, Schandor von oben herab, Koja quer herüber zur Sandbank. Ganz langsam rückten sie vor, mit den Ruten sachte im Wasser wedelnd. So trieben sie die Scharen von Jungfischlein vor sich her, wie Hirten ihr Vieh treiben, bis ein Fischlein nach dem andern den Kanaleingang fand. Die Teichlein füllten sich, ja sie überfüllten sich. Ein Druck mit der Ferse genügte, mit Sand den Kanal vom Bach abzuschließen und auch die Verbindungskanäle zwischen den Teichen zu sperren. Und jetzt kauerte sich jedes der Kinder zu einem der Grübchen und gab sich dem Vergnügen des Beobachtens hin. Wie die Fischlein schimmernd durcheinanderschossen, einen Ausweg suchend, wie sie sich allmählich beruhigten, wie sie mit den Flossen wedelten, wie sie die Kiemendeckel beim Atmen auf und ab bewegten! O Freude des Schauens! Und die Lust des Beobachtens steigerte sich, als die Kinder ihre Gefangenen bewirteten. Maruscha zerbröselte ein Stück Brot und streute die Krümchen ins Wasser. Das war dann ein lustiges Wettfressen! Ein größeres Brotstück wurde gleich von drei, vier Fischlein hin und her gezerrt. Nach der Bewirtung aber kam das Hauptvergnügen: Der sperrende Sand wurde mit den Händen aus den Verbindungskanälen geschoben. Jetzt begann ein Hin und Her von einem Teichlein zum andern. Die Gefangenen besuchten einander gegenseitig. Ob das lebhaftere Flossengewedel Wiedersehensfreuden bedeutete? Als Schandor ganz sachte den langen Kanal zum Bachbett hinüber frei machte, dauerte es ein Weilchen, bis ein Fischlein die Entdeckung machte, daß nun auch der Weg zur Freiheit offen lag. Hui, wie es plötzlich hinausschoß! Ihm folgten andere: nach und nach ordneten sich die Scharen zum Auszug in den heimatlichen Bach. Die Freude der Kinder an der Freude der Fische war groß, es war ein inniges Erlebnis.

An einem schwülen Sommertage brach nachmittags ein Gewitter los mit Blitz und Donner und Hagel und Regen; das trieb die drei Kinder vom Spielplatz ins Haus. Ihnen auf dem Fuße folgte eine Greisin von verwildertem Aussehen. Regenfeucht umhingen weiße Haarsträhne ihr faltenreiches Gesicht und ihre Hakennase berührte fast das Kinn. Sie trug auf dem Rücken einen großen Korb und stützte sich beim Gehen auf einen knorrigen Krückstock. Kaum hatte sie bei den Bäckerleuten die Türe geöffnet, als der kranke Peperl entsetzt zu schreien begann, als ob er gespießt würde. Da drückte sie die Türe wieder zu und humpelte die Stiege hinauf, den drei Kindern nach. Mutter Lorent gewährte ihr Unterstand, nahm ihr den Korb vom Rücken und stellte ihr einen Stuhl nahe zum Herd, auf dem sie den Jausenkaffee kochte.

»Wärmt Euch nur gut aus, altes Mutterl, daß Ihr nicht krank werdet.«

Den Jausenkaffee teilte Mutter Maria so ein, daß die Alte ein Töpflein voll bekam, und gab ihr dazu ein Stück Brot. Das brockte die Greisin in den Kaffee, aß schweigend und langsam, während sie die hageren Hände am Topf wärmte. Dabei ließ sie ihre grauen Augen in der Wohnung herumgehen und betrachtete angelegentlich prüfend Mutter und Kinder. Dann sagte sie, indem sie sich mit dem Handrücken den Mund wischte: »Ein Vergeltsgott wär' zu wenig für so viel Gutheit; aber ich hab' was für die Kinder.« – Sie hob das Tuch ab, mit dem sie den Korb verdeckt hatte, räumte einige Handvoll Huflattichblätter heraus und brachte ein Binsenkörbchen zum Vorschein, das gefüllt war mit großen, dunkelroten, duftenden Walderdbeeren.

Sie reichte es Mutter Maria. Ihr runzeliges Gesicht wurde helle, die Falten glätteten sich im Lächeln. Da gewannen die Kinder, die anfangs sich scheu von der Greisin ferngehalten hatten, vertrauen, Maruscha griff nach den Erdbeeren und Schandor legte je ein Huflattichblatt für Agi und Koja, für Maruscha und sich auf den Tisch. Darauf wurden die Erdbeeren verteilt und die Kinder ließen sich's schmecken. Draußen rauschte ein Platzregen nieder; in der Stube wurde es dämmerig. Die Alte holte ein Spiel Karten unter ihrem Busentuch hervor, mischte, hob ab und legte die Karten in drei Reihen auf den Tisch. Dann sprach sie zur Mutter Maria: »Ob Ihr wollt oder nicht, ich prophezeie Euch die Zukunft. Und Ihr werdet noch oft an die Worte der Waldfrau denken. Die Schwammerliesel hat viel erfahren und sie weiß, was sie sagt.«

Mutter Maria wehrte ihr nicht. Die Alte zeigte auf Maruscha und Schandor: »Die zwei gehören nicht Euch.« – Dann vertiefte sie sich in die Betrachtung der Karten. Mit dem Zeigefinger von einer Karte zur andern fahrend, sprach sie langsam und jedes Wort wägend: »Reisen stehen Euch bevor, Reisen in die Fremde. – Und viel Tränen –; und wieder Reisen und wieder Tränen. – Aber zum Schluß viel Freud an Euren Kindern.« Damit schob sie die Karten zusammen und barg sie wieder unterm Busentuch.

Indessen hatte der Regen aufgehört, die Sonne schien durchs zerrissene Gewölk, die Stube wurde hell. Die Alte nahm ihren Korb auf, sagte ihr »B'hüt Gott« und ging.

Die Kinder schauten Mutter Maria an und Agi fragte: »Sag, Mutter, gibt's das, daß ein Mensch wissen kann, was kommen wird?« –

»O ja, die Schwammerliesel kommt viel herum, die wird wohl wissen, wer wir sind. Da hat sie leicht prophezeien: Reisen und Tränen; und wenn sie euch anschaut, warum soll sie nicht sagen, daß ich an euch noch Freud' erlebe, wenn ihr einmal groß seid? – Ich glaub's auch – und wenn mir's niemand voraussagt. Ihr glaubt es ja auch, weil ihr es wollt.« Da nickten Agi und Koja. Sie glaubten, was sie wünschten und das war gut.

Kojas Sehnsucht nach dem Walde, aus dem die Dorfkinder täglich Erdbeeren brachten, trieb ihn dazu, mit Schandor und Maruscha die Streifungen über die Rufweite des Hauses auszudehnen. Mutter und Agi fanden sich darein, wenn er nur zu den Mahlzeiten da war. Und Mutter Maria glaubte, ihren Jungen genug gewarnt zu haben, daß er nicht in den Bergwald eindringe. Sie hatte ihm ja von den fahrenden Zigeunern erzählt, die in Bergschluchten ihr Lager hatten und von denen der üble Ruf ging, daß sie Kinder zu stehlen pflegten, um sie an Komödianten zu verkaufen. Sie hatte ihm Angst gemacht vor den giftigen Schlangen, den Kreuzottern, die sich im Steingeröll aufhielten und deren Biß für Kinder tödlich war. Und Koja wagte lange nicht, seine Streifungen weiter auszudehnen, als bis zum nahen Waldrand, dessen Erdbeerbestand aber von der Dorfjugend ausgeplündert war. Er wurde aber immer wieder von der guten Hausfrau zum Mithalten eingeladen, wenn sie für ihren Peperl Erdbeeren gekauft hatte. Da wuchs seine Sehnsucht nach dem Walde, bis sie stärker wurde als die Angst vor Zigeunern und Schlangen.

Er einigte sich mit Schandor und Maruscha, daß sie mitsammen in den Wald gehen wollten, nicht weit, nur bis dorthin, wo es genug Erdbeeren gebe. Und er hoffte dabei, den Rübezahl zu sehen, wenn auch nur ganz von weitem.

An einem sonnigen Tag marschierten die drei Kinder aus, gerade als die Dampfpfeife der Webfabrik ein Uhr tutete, sie gedachten zur Jause wieder daheim zu sein. Koja hatte seinen rohleinenen Anzug an, den die Mutter tags vorher nach dem Waschen gebügelt hatte; auf dem Kopfe trug er ein gesticktes Samtkäppchen mit einer Quaste; das hatte Agi für einen Kunden gestickt, aber leider zu klein gemacht; Maruscha trug ein fast weißes, zart geblumtes Waschkleidchen und dazu einen gelben, breitkrämpigen Strohhut mit himmelblauem Bande. Schandor hatte ein rohleinenes Turnergewand an, das dem Kojas ähnlich war; auf dem Kopfe trug er einen noch ziemlich neuen Strohhut. Koja fühlte sich als der Führer; war er ja doch schon im Kunietitzer Wald gewesen. Beim Anstiege hinter dem Wohnhause begannen die Erlebnisse. Grillen, die vor ihren Wohnhöhlen gezirpt hatten, brachten sich beim Nahen der Kinder in Sicherheit, winzige himmelblaue Schmetterlinge umgaukelten rosige Blüten Hauhecheln, Schmetterlingsblütler., die wie geflügelte Schifflein aussahen und auf stacheligen Stengeln saßen. Auch der braune Schmetterling war da und er tat Koja den Gefallen, von einer Blüte auf den benetzten Finger herüber zu kommen um Speichel zu saugen. Und oben, wo der Wiesenpfad die Höhe des Hügels erreichte, lag richtig Kojas gute Bekannte, die Eidechse, auf dem Grenzstein in der Sonne, wie er es vorausgesagt hatte. Sie ließ sich von den Kindern bestaunen, die auf den Fußspitzen vorbeischlichen, um das schöne Tier nicht in seinem Wärmebehagen zu stören. Und wo eine Ameise den Wanderern über den Weg lief, da wichen sie ihr aus. Sie waren die Riesen und die Ameise war ein geschäftiges Zwerglein. Der breite Hügelrücken war mit wogenden Kornfeldern bedeckt. Die dehnten sich weithin und verbreiteten einen eigenen Duft, der an frisch gebackenes Brot gemahnte. Dann aber kam ein unbebauter Feldstreifen, rastendes Ackerland, ein Brachfeld, das sich über die Nordlehne des Hügels zum Talgrund erstreckte. Da durften die Kinder wohl drüber. O wie herrlich bunt war es von blühenden Unkräutern: Die Kornblumen standen hier viel höher als im Getreide; sie trugen viel mehr Blütensterne und noch höher ragten die schlanken Kornraden mit ihren violetten Blüten, ganze Büsche von Klatschmohn leuchteten grellrot, stachelstarrende Distelriesen trugen rosarote Blütenpinsel an den nickenden Wipfelzweigen. Auf dem Boden aber gab es zart weiß blühenden »Hühnerdarm« und manches dunkelblau und wunderbar rot blühende Kräutlein, dessen Namen Koja damals noch nicht kannte. Es war der giftige Gauchheil. Und – o Wunder! – Stiefmütterchen wuchsen da wild, sie waren wohl viel kleiner als die im Garten der Großmutter, aber ihre oberen Blumenblätter waren aus dunklem, veilchenblauem Samte, der sich vom gelben Inneren der Blüte kräftig abhob. Koja drehte ein solches Ackerveilchen um, so daß der fünfblättrige Kelch unter den Blumenblättern sichtbar wurde. Er versuchte es, Maruscha und Sandor zu wiederholen, was ihm die Großmutter gesagt hatte, warum denn diese liebe Blume Stiefmütterchen heißt: Ihre Blumenblätter sitzen auf grünen Blättchen wie auf Sesselchen. Das unterste und größte, das zierlich gestreifte gelbe Blumenblatt ist die Stiefmutter. Die hat das schönste Kleid und sitzt breit auf zwei Stühlen. Links und rechts von ihr sitzen ihre eigenen Töchter auch in lichten Kleidern, jede auf einem Stühlchen. Oben aber, weit weg von der Stiefmutter, sitzen die zwei Stieftöchter, beide zusammen auf einem einzigen Stühlchen; sie tragen dunkle Trauerkleider, denn sie trauern um ihre rechte Mutter.

Maruscha nickte wiederholt, als hätte sie alles begriffen, Schandor aber drängelte vorwärts, denn drüben jenseits der Talsohle lockte schon der Hochwald, dessen Fichten durchsetzt waren mit weißleuchtenden Birken und ganz in der Ferne ragten Felsen empor wie verwittertes Gemäuer. Am Waldrand gab es weiß und rosarot blühende Katzenpfötchen und mit gelben Blüten übersäte Besensträucher, die Koja an den Kunietitzer Wald gemahnten. Von Erdbeeren waren wohl abgeerntete Stauden, aber keine reifen Früchte da.

So rückten die Kinder vor, die bewaldete Lehne hinan. Und immer Neues war zu sehen und zu hören, das weiter lockte, immer weiter: Zwei Eichhörnchen, die in den Baumkronen Fangen spielten, Kohlmeisen, Blaumeisen, Stieglitze und ganz winzige, gelbbehäubte Goldhähnchen.

Der moosige Waldboden war bunt mit gelben, roten und bläulichen Schwämmen besetzt; es mochten wohl giftige sein. Und noch immer keine Erdbeeren! Aber schaurig schön war der Hochwald. Die Stämme stark und gerade und hoch, das Dunkel darunter rätselvoll. Über schwellende Moospolster stiegen die Kinder bergan, um riesige Felsblöcke herum, die von Baumwurzeln zersprengt und umspannt waren. Dazwischen hohe Büsche von Farnkräutern. Es war der richtige Märchenwald. Wo nur Rübezahl blieb? Hier mußte er doch zuhause sein! Die Kinder drangen zwischen den Felsblöcken und Riesenstämmen vor, von deren Ästen graue Bärte niederhingen. Sie gingen lange, lange. Da wurde es lichter vor ihnen, der blaue Himmel lugte durch die Baumstämme. Und sie traten hinaus auf eine grüne Waldwiese, die da und dort mit Haselstauden, Himbeer- und Brombeersträuchern und hochstengeligen Königskerzen bestanden war. Große Schmetterlinge, gelbe schwarzgepunktete, und schwarze weißgeränderte, flatterten träge von Blume zu Blume. Nach der tiefen Stille des Waldinneren klang hier das Gezirpe der Heuschrecken und das Summen der Bienen desto aufdringlicher. Da leuchtete eine große Erdbeere hellrot aus dem Grase, dort eine und wieder eine; und dann sahen sie der Erdbeeren so viele, daß sie sich ins Gras legten und darauf lospflückten. Es war Jausenzeit und sie hatten Hunger. Und der Erdbeeren war kein Ende. Als Koja genug gegessen hatte, dachte er an Mutter und Agi. Er belegte den Boden seiner Samtmütze mit Haselnußblättern und begann Erdbeeren darauf zu lagern. Als die Mütze gehäuft voll war, schützte er auch die äußeren Brusttaschen seiner Leinwandjoppe durch eingelegte Blätter und füllte sie prall mit den rot und weiß leuchtenden, vor Sprödigkeit rauschenden Früchten.

Dann hatte er noch Raum in den Hosensäcken. Auch die wurden gefüllt; und vorsichtig mußte er gehen, um die Früchte nicht zu zerquetschen. Schandor machte ihm's nach; er füllte seinen Hut und die Säcke seiner Kleider mit Erdbeeren. Maruscha hatte ihren Strohhut als Körbchen an den linken Arm gehängt und so viel Erdbeeren hineingeladen, daß er schwer niederhing. Jetzt pflückte sie emsig weiter, um auch die Schürze zu füllen, die sie mit der linken Hand hinaufgerafft hatte. Da waren die Kinder bei einem großen Himbeerstrauch angelangt und ließen sich die duftenden Früchte schmecken, die so ganz anders waren als die Erdbeeren. Plötzlich schraken sie zusammen. Im Laube unterm Strauche hatte es geraschelt. Eine dunkle Schlange entrollte ihren Leib. Sie bog züngelnd und zischend den Kopf zurück. Da stürzten die Kinder davon, Hals über Kopf, quer über die Wiese und sahen sich nicht um, ob ihnen die Schlange folgte.

Erst als sie den mit Fichtennadeln bestreuten Waldboden unter den Füßen hatten, blieben sie keuchend stehen. – Ganz anders sah die Stelle aus als jene, wo sie den Wald verlassen hatten, wohin sollten sie sich wenden? – Ratlos schauten sie sich um. wo waren sie hergekommen? Ruf welcher Seite lag Alt-Paka? – Oh, hätten sie doch ein Zweiglein geknickt zum Zeichen, wo sie aus dem Walde gekommen waren! Als sie so unschlüssig standen, hörten sie in der Tiefe des Waldes ein leises Knacken und Knistern von Reisern. Es kam näher und näher; dann entfernte sich's, verstummte; dann knackte es wieder vernehmlich. – Was war es, das dort im Finstern ging? – Da löste sich das Wort von Kojas Lippen: »Rübezahl!« – Maruscha flüsterte bange fragend: »Rübezahl?« – dann aber rief Schandor zwischen den vorgehaltenen Händen: »Rübezahl!«; es hallte weithin. Und mit rauherer Stimme kam es von drüben jenseits der Wiese zurück: »Rübezahl!« – Wie war er nur gleich so weit hinübergelangt? Hatte er die Kinder übersprungen? – Er sollte doch kommen, ihnen den Weg weisen. Nun verlegte sich Koja aufs Bitten: »Lieber, guter Rübezahl, komm und führ' uns zur Mutter!« – Da scholl es spottend herüber »zur Mutter!« – Und wieder knackten die Zweige. Etwas Rötlichbraunes bewegte sich dem Lichte zu. Da stand es im Wiesengrunde. Ein schlankes Reh war es; ob es Geweihe trug oder nur die Lauscher so hoch gestellt hatte, vermochten die Kinder nicht zu unterscheiden. Aber viel schöner war's als das Reh im Bilderbuch. Es äugte neugierig nach den Kindern herüber. Dann äste es vom Laub des nächsten Haselbusches und hielt von Zeit zu Zeit ein, um zu sichern. Oh, die Kinder rührten sich nicht. Ein lebend Reh zu sehen, mitten im Märchenwalde, war ihnen eine Lust, die sie auskosten mußten so lange als möglich.

Vor lauter Schauen und Bewundern, vergaßen sie ganz, daß sie den Rübezahl erwarteten. Äsend ging das Reh langsam weiter über die Wiese, immer wieder ein Weilchen sichernd, ob denn kein Feind da sei. Jetzt näherte er sich dem Himbeerbusch – und es wußte nichts von der Schlange. Es mußte gewarnt werden. Da klatschte Koja in die Hände –; das Reh zuckte zusammen und in langen Bogensprüngen floh es hinüber in den Wald und bald sahen die Kinder nur noch den weißen Spiegel auf und ab hüpfen, bis auch er verschwand. – Es war gerettet! Koja war froh. Da zupfte ihn Maruscha am Ärmel. – »Ich möchte zu der Mutter!« – Und wieder kam die bange Frage: Wohin? Koja fühlte plötzlich die ganze Verantwortung des Führers. Und er wußte nicht wohin! – Wenn er die beiden statt heimzu vielleicht immer weiter weg führte, wo der Wald kein Ende hatte? Wenn die Nacht kam und sie keine Hütte fanden, um darin zu schlafen? – Oder wenn sie der Hexe in die Hände liefen, die sie in den Schweinekoben sperrte, um sie zu mästen! Noch wahrscheinlicher aber war es, daß sie irgendwo mit Zigeunern zusammentrafen. – Auch an Bären mußte Koja denken. Von Agi wußte er ja, daß es im Bergwald Bären gab!

Im Walde war es merklich dunkler geworden. Da trat Koja in die Lichtung hinaus, vom Himmel schimmerte die Abendröte nieder, noch konnte er die Büsche unterscheiden. Vielleicht gelang es ihm doch, die Stelle zu finden, wo sie herausgekommen waren. Er suchte hin und her. Ach nein, es sah ja von außen der Waldrand überall anders aus als von drinnen! Kojas Ratlosigkeit wurde bei seinen jungen Gefährten zur Angst. Sie hielten sich an den Händen und zäppelten Koja nach hin und her; und immer weinerlicher wiederholte Maruscha ihren Wunsch: »Ich möcht' zu der Mutter!« Koja überlegte: Auf Rübezahl war kein Verlaß, vielleicht half der Schutzengel. – Wozu hatte er denn seinen Schutzengel? – Da kniete er ins taufeuchte Gras und begann den Schutzengel zu bitten, er möchte doch erscheinen und den Weg weisen. Schandor und Maruscha folgten Kojas Beispiel. In seinem Gebet hatten sie das eine Wort verstanden » and&#283;l« and&#283;l (sprich ándjel) = Engel; vom griechischen angelos = Bote; ebenso das ungarische Lehnwort » angyal« (sprich andjal).. – Da beteten sie ungarisch zu ihrem vedangyal. – Und sie suchten Koja zu überbeten. – Dann standen alle drei auf und warteten, ob ein Engel kommen würde oder gleich drei. – Das Abendrot verglomm, der Himmel wurde dunkelgrau. Auf die Waldwiese senkte sich feiner zartbläulicher Nebel. – Zwischen den Bäumen aber war's finstere Nacht. Und kühl war es geworden. In der Luft lag ein herber Duft von feuchtem Laub und Moos. Die Kinder warteten fröstelnd. Aber kein Engel erschien.

Schon füllten sich ihre Augen mit Tränen. – Da erscholl fernher durch den Wald gedämpfter Glockenklang – das Abendläuten von Alt-Paka! – Anders als die Kinder es gehofft hatten, war ihnen jetzt geholfen. Koja ordnete nun die Dreierreihe. Voran ging er als der Älteste, Maruscha hielt sich an seiner Joppe fest und Schandor an Maruschas Rocksaum, daß sie einander nicht verlören. Nur geschwind, so lange die Glocke tönte, durch den Wald geradeaus auf Alt-Paka zu. Aber es ging nicht schnell. Im Walde war finstre Nacht. Da konnte Koja nur langsam vordringen, immer mit der freien Rechten vor und hin und her tastend, daß er nicht mit der Nase an einen Baum stieß, während seine Linke die Mütze mit den Erdbeeren ganz nahe an die Brust hielt. Es war ein mühselig Vorwärtstappen, Tasten, Stolpern. Denn immer wieder stieß sein Fuß gegen einen Stein oder einen Baumstrunk, den er erst umgehen mußte, um dann wieder in die Richtung zu kommen, der schallenden Glocke entgegen. – Mit einem wimmernden Ton hörte das Läuten auf. Und jetzt war es, als erwachten die unheimlichen Bewohner des Waldes. Es krabbelte, knisterte, raschelte auf dem Boden um die Kinder her. Waren es Mäuse, waren es Schlangen? waren es Wichtelmännlein oder gar Kröten? – Und manchmal schimmerte etwas hageres, hohes durch den Nebel. Ob es ein Waldgespenst war oder nur ein Baum, an dem vom Himmel her das schwache Licht niedersickerte? – Je mehr das Grauen und Gruseln den Führer peinigte, desto hastiger tappte er vorwärts; sein ausgestreckter Arm wurde müde und schwer und begann ihn zu schmerzen. Er vermochte nicht mehr, ihn schnell hin und her zu bewegen; er vermochte nicht mehr, ihn wagrecht zu halten. Da – bum – rannte er mit der Stirne gegen einen Baum. Er schrie nicht auf; die Angst verschloß ihm den Mund. Wer weiß, ob nicht ein Bär in der Nähe war. Und immer häufiger wurden die Geräusche, deren Urheber unsichtbar waren. Da hörten die Kinder leisen Flügelschlag und gleich darauf einen Ruf wie eine unwillige Menschenstimme: Komm mit, komm mit! »Quo-it« der Ruf des Steinkauzes (»Totenwichtel«). Ach, was half alles Fürchten! Nur vorwärts, vorwärts! – Aber der Wald wollte kein Ende nehmen. Koja hatte vielleicht die Richtung verloren und entfernte sich vom Rande, statt sich ihm zu nähern. Und plötzlich geriet er in dichtes, abgestorbenes Unterholz, dessen spröde Zweige ihm entgegenstarrten. Er wich im Bogen nach links aus, da merkte er, daß der Boden anstieg und er sollte doch hinunter gelangen ins Tal. Was tun? Umkehren? – Ihm war das Weinen nahe. Er blieb stehen; da stieß ihn Maruscha mit der Stirne in den Rücken, plötzlich gewahrte er ein grünliches Licht. Ein Fünklein nur war es; das schwebte in unbestimmter Ferne, verschwand und tauchte wieder auf. Und andere Lichtlein erschienen. Sie führten in der Luft einen Tanz auf. Sie taumelten zu Boden wie fallende Sternlein und andere schwebten im Bogen empor. – Brannte dort ein Feuerchen, über dem die Funken stoben? – Was es auch wäre, er ging darauf los. Und so kam er aus dem Walde heraus. Maruscha und Schandor drängten sich an ihn und er hörte sie leise weinen. Da sah er unter dem Funkenstieben auf dem Boden größere Funken, weißglühende. Die bewegten sich langsam. – Er beugte sich nieder. Es waren leuchtende Würmchen. Die flügellosen Weibchen des Johanniskäfers. O Wunder! Zaghaft berührte er eines mit dem Finger. Es brannte nicht. – Wie ging das nur zu? Leuchten und nicht brennen? Aber jetzt war keine Zeit für das wunderbare Rätsel. Ein Glücksgefühl kam über den kleinen Führer. Sie waren aus dem schrecklichen Walde heraus! Freilich anderswo, als er vorgehabt hatte. Nicht im Tale vor dem Hügel, hinter dem das Wohnhaus lag, sondern auf ebener Höhe. Da war kein Nebel, die Luft war lau und duftete zart nach Brot, vor den Kindern dehnte sich ein unübersehbares Kornfeld, dessen Halme sich im Abendwinde aneinander rieben und sanft rauschten, während unzählige Grillen die Luft mit ihrem Gezirpe erfüllten. Die nickenden Ähren waren in der Höhe von Kojas Augen. Was tun? Ging er nach links oder rechts ums Feld herum, so kam er ganz aus der Richtung. Und geradeaus durchs Kornfeld gehen durfte man nicht. Großmutter und Mutter hatten es oft gesagt: Das Korn ist eine Gabe Gottes, es soll ja Brot daraus werden – Brot für Arme und Reiche. Es ist schwere Sünde, durchs Kornfeld zu gehen. – Da fühlte Koja, daß Maruschas Hand sich in seinen Arm krampfte. Er folgte der Richtung ihrer Blicke. – Etwas Dunkles, Zottiges stand dort am Rand des Kornfeldes – »ein Bär!« – »Ein Bär!« Und ob es auch Sünde war, Koja stürzte sich ins Gewoge der Getreidehalme. Ihm nach Maruscha, fest an ihn geklammert, und Schandor ihr auf den Fersen. Mit der Rechten bog Koja die Halme zur Seite und hastete vorwärts, nur durch, durch! – Da wuchs im Korn das Säuseln und Knistern und Rauschen an; ein Knacken und Flüstern und Raunen der Halme war um die Kinder her. Und dann war ihnen, als hörten sie hinter sich das Tappen und Schnauben des Bären. – Entsetzlich peinigte Koja die Reue, daß er die Kinder durchs Kornfeld führte. Es wurde ihm heiß und bange. Das Ährenfeld schien endlos! Gingen sie denn im Kreise, daß sie nicht hinauskamen? – Da blieb er mit einem Fuße im Unkraut hängen, stolperte und plumpste der Länge nach hin. Maruscha fiel auf ihn und Schandor fiel auf Maruscha. Die Erdbeeren in Kojas Mütze, die Erdbeeren in den Säcken seiner Kleider waren zerquetscht; er fühlte ihren kühlen Saft auf Brust und Beinen. Und über seinen Rücken rieselte nieder, was aus Maruschas und Schandors Erdbeeren ausgepreßt war. – Maruscha quiekte, Schandor lachte, Koja stöhnte. Da fuhr den Kindern der Schreck in die Beine, hinter ihnen rauschte es in den Halmen. Der Bär! Sie rappelten sich auf und hasteten wieder vorwärts. Und als plötzlich der Widerstand der Halme aufhörte, griff Koja ins Leere und wäre beinahe wieder hingepurzelt. – Vor ihm senkte sich ein Wiesenhang zu Tale, von dem ihm der würzige Duft der ausgebreiteten Heuschwaden entgegenströmte, drüben stieg wieder ein Hügel an und hinter ihm ragten Pappeln und ein Türmchen zum Himmel. – Dort war Alt-Paka. Schon wollte er im Laufe talab und hügelauf. Aber, o neuer Schrecken! – Wie eine große feurige Kugel lag der Vollmond auf dem Hügel und vor der Mondscheibe standen zwei dunkle Gestalten! – Gespenster! – Einen Augenblick überlegte Koja: »Laufen wir hinüber, packen uns die Gespenster, bleiben wir stehen, frißt uns der Bär. – Was tun?« – Da scholl es von den Gespenstern herüber: »Maruscha, Schandor!« Es klang so flehend und wehmütig! – Dann gleich darauf lang hingedehnt: »Koo–ja!« Da stürzten die Kinder den Abhang hinunter und liefen den Hügel hinan. – Atemlos kamen sie bei ihren Müttern an und verbargen sich hinter ihren Schürzen, wie Küchlein sich vor dem Habicht unter den Flügeln der Glucke verbergen. Jetzt konnte ihnen der Bär nichts mehr tun. – Schon war er da. – Er keuchte, er tappte und schnupperte. – Da schaute Koja unterm Saume der Schürze hervor; und nun erkannte er Zikán, den alten Hund. – Er hatte den Müttern geholfen die Kinder suchen.

Jetzt erst wagten sich die drei Waldläufer heraus. – So groß und schwer Koja war, seine Mutter hob ihn empor und küßte und herzte ihn. Und als er ihren Mund, ihre Augen und Wangen mit Küssen bedeckte, schmeckte er, daß ihre Tränen salzig waren.

Maruscha saß auf dem linken Arm ihrer Mutter und hatte beide Ärmchen um deren Hals gelegt. Schandor aber hielt den Hund am zottigen Fell und ließ sich von ihm hin und her zerren. Der alte Hund war ganz toll vor Freude. – Vom Erdbeerbrei stieg ein wunderbar süßer Duft auf. Und was Köstlicher war? Das Liebkosen der Mutterhände. – Die Kinder wunderten sich, daß die Mütter nicht schalten; merkten sie denn nicht, daß die Kleider mit Erdbeersaft versudelt waren? Im Heimwärtsschreiten erzählten die kleinen Abenteurer überlaut und prahlend von ihren Erlebnissen. Vorm Bäckerhause kam ihnen Agi entgegen. »Pst, seid doch stille! Der Pepi ist heut' nachmittag gestorben. Der Tischler hat den blauen Sarg gebracht.« Da wußten nun die drei Kinder, warum ihre Mütter nicht gescholten hatten.


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