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Am Begräbnis des kleinen Peperl nahm Koja nicht teil. Uns seinem Rohleinen-Anzug waren die Flecken nicht herausgegangen. Durch das Hinscheiden des kranken Kindes war in dem Leben der gesunden Kameraden keine merkbare Lücke entstanden. Kojas, Schandors und Maruschas Seelen waren der schönen Gegenwart voll. Der Wald, in dem nach ein paar Regentagen die eßbaren Pilze reichlich wucherten, wurde nun – da sie mit ihm vertraut waren – ihr Lieblingsaufenthalt. Nur durften sie nicht mehr allein herumstreifen; sie mußten immer den alten Hund mitnehmen. Auf den war doch Verlaß, daß er heimfände. Das frühe Sterben des Peperl, der als zarte Zimmerpflanze immer vor Wind und Sonnenbrand und Regen behütet worden war, hatte den Müttern eine ernste Mahnung gebracht. Mochten ihre Kinder sich draußen abhärten, mochten sie es lernen, den Zigeunern auszuweichen, mochten sie Tollkirschen und Giftpilze meiden und sich vor den Schlangen hüten, mochten sie in Freiheit erstarken für ein Leben, das der Gefahren voll ist.
Wenn sich die Pilzernte lohnen sollte, mußten die Kinder beim Morgengrauen aus den Betten und dann wacker ausschreiten, daß ihnen nicht andere Waldläufer zuvorkamen; denn die arme Bevölkerung schätzte die Schwämme als Ersatz für die Fleischnahrung.
Was Koja an Erdbeeren eintrug, teilte er mit Agi und Julie, der er auch manches Sträußlein »Katzenpfötchen« zutrug. Die Kornernte setzte ein, und als die Felder leer waren, die Scheunen aber voll des Früchtesegens, gab es im Dorfe ein fröhliches Fest: Kirchweih mit Jahrmarkt. Zu beiden Seiten der Dorfstraße hämmerten die Krämer an ihren Bretterständen, auf dem Platze neben der Schule wurde das Zirkuszelt aufgeschlagen, auf einer gemähten Wiese das Ringelspiel aufgestellt mit seinen grell bemalten Karossen und scheckigen Holzpferdchen, die als kühne Springer erstarrt schienen. Am nächsten Morgen bekam Koja von Agi zwei Kreuzer mit der Weisung: »Kauf dir etwas, was dich lange freut.« – Und als er am Kaufmannsladen der Niderles vorbeikam, schlüpfte Julie aus der Tür und drückte ihm sechs Kreuzer in die Hand. Jetzt war er reich. Wieviele, wie herrliche Möglichkeiten hatte er in der Hand! O köstliche Freiheit der Wahl! Krampfhaft schloß er die Faust um sein Geld. Er wollte gescheit wählen. Erst wollte er den ganzen Jahrmarkt gesehen haben, bevor er sich für etwas entschied. So zwängte er sich denn durchs Gewoge der Kinder und Erwachsenen, die plaudernd und lachend sich von Bude zu Bude schoben, während drei Drehorgeln und eine Menge Ausrufer einen festlichen Lärm vollführten. Er sah vor dem Lebzelterstand glückliche Kinder reicher Leute, die Süßigkeiten knusperten und dazu aus funkelnden, kantig geschliffenen Gläschen Meth tranken. Aber er schloß die Faust fester und forschte weiter. Er sah den Mohren, der ein Kamel am Halfter führte und zum Besuche des Zirkus einlud, während der Affe auf dem Buckel des Kamels eine Trommel und ein Becken bearbeitete: Bum! – Bum! – bumbumbum! – Er begegnete Schandor, der auf einer Kindertrompete tutete; und Maruscha trug eine neue Puppe; dann kam ein Schulkamerad, der auf einer Trommel wunderliche Wirbel schlug. Groß waren die Versuchungen bei den Zuckerlständen. Sollte sich Koja eine Tüte gemischter Bonbons kaufen, an denen er lange naschen konnte, oder ein Pfeifchen aus rotem Hartzucker, das einen hellen Ton gab und dann noch gelutscht werden konnte? Sollte er zwei Marzipanherzen kaufen, eines für die Julie und eines für die Agi? Oder sollte er lieber in die Zirkusbude eintreten, wo eine Riesendame als Schlangenbändigerin zu sehen war, und außerdem noch ein Bär, ein Affe, ein Krokodil, ein Löwe, ein Papagei, und wo er hätte auf einem Kamel reiten können wie einer der drei Könige aus dem Morgenlande? – Oder sollte er in der Schießbude versuchen, eines der an Schnüren pendelnden Eier entzweizuschießen, um als Preis einen silbernen Viertelgulden zu gewinnen? Dann war ein Weltpanorama da. Dort konnte man Jerusalem sehen und Prag und Wien und Paris und das große Meer. Noch schwankte Koja zwischen dem Zirkus und dem Weltpanorama. Schon lockerten sich die Finger, die sein Jahrmarktgeld umspannt hielten, da ertönte im Ringelspiel daneben eine überlaute Drehorgel; dazu begannen die Tschinellen und Triangeln zu klingen. Da gab es Koja einen Riß. – Er wendete sich dem Ringelspiele zu. Nur zuschauen und zuhören wollte er; das kostete ja nichts. All die roten und blauen und goldgeränderten Wagen waren im Nu mit Kindern besetzt. In einem saß Maruscha mit ihrer Puppe, stolz wie eine Königin mit der Prinzessin, und dicht hinter ihr ritt Schandor auf einem Apfelschimmel, in der Rechten einen Stabdegen. Und als sich das Ringelspiel zu drehen begann, bäumten sich alle Pferde auf, senkten sich und wiegten sich, und die kleinen Reiter sahen mutig drein. Ein jeder neigte sich vom Sattel aus nach außen und holte mit dem Degen zum Stoße aus; und wenn er an der Säule vorbeiritt, stach er einen der Metallringe weg, die nacheinander aus einer Rinne hervorkamen. Es waren viele eiserne und darunter ein messingener. Und wer das Glück hatte, den Messingring auf seinen Degen zu bekommen, der durfte das nächstemal umsonst rundherumfahren. – Wie kühn die Reiter im Sattel saßen (wo sie angeschnallt waren), wie ihre Augen funkelten beim Ringelstechen! Da begannen Kojas Wangen zu glühen. Wenigstens einmal mußte er mit dabei sein! Er opferte zwei Kreuzer und durfte einen Eisenschimmel besteigen, der eine ziegelrote, goldgesäumte Schabracke hatte. – Mit einem Hochgefühl, als ritte er ein wirkliches, ein lebendiges Pferd, saß er oben und sah stolz herab auf die vielen Zuschauer, die Kopf an Kopf sich ums Geländer drängten. Dann packte ihn die Gier, den gelben Ring zu gewinnen. Aber vor ihm mußten noch viele graue weggestochen werden. – Er bohrte seinem Reitpferd die Absätze in die Weichen; schneller, schneller herum sollte es gehen. Bald hatte er drei Ringe aufgereiht, lauter eiserne, und als es zum letztenmal rundherumging, da war der Messingring weg, ein andrer hatte ihn gestochen. Und wieder opferte er zwei Kreuzer vergebens. Er wagte es zum drittenmal. Er wollte sich das Glück erzwingen. – Und wieder war's umsonst gewesen. Es ließ sich nicht zwingen. Da schlich Koja enttäuscht weg vom Ringelspiel. Zwei Kreuzer waren ihm geblieben. Eine Menge Möglichkeiten, viel Freiheit der Wahl hatte er verspielt. – Jetzt wollte er gescheit sein, ganz gescheit. Er wollte etwas kaufen, an dem er sich recht, recht lange freuen konnte. Es gab da so vieles; aber jede schöne Sache kostete mehr als zwei Kreuzer!
Wie leid war ihm, daß er fast sein ganzes großes Vermögen vergeudet hatte. Mit dem Gefühl des Armgewordenen schlich er zurück, die Reihen der Buden entlang. Da kam er zu einem offenen Stand, an dem ihn früher die Menge vorbeigedrängt hatte. Auf ein paar umgestürzten Kisten war allerlei Gedrucktes aufgelegt. Gebetbücher, Kalender, Heiligenbildchen, Spielkarten, Traumbüchel und dünne Geschichtenbüchlein.
Und der Mann hinter der Kiste, ein buckliger, verhutzelter Alter mit kurzgeschnittenem, grauen Bart und kahlem Kopf, rief Koja an: »Kaufen Sie mir was ab, schöner junger Herr! Da hab' ich das Märchen von der Prinzessin und dem Schweinehirten und da die wunderbare Geschichte von Robinson, wie er übers Meer gefahren ist, wie der Sturm sein Schiff zerschlagen hat, wie er auf einer einsamen Insel gelebt hat und wie er sich alles beschafft hat, was er gebraucht hat. Und das ist gedruckt auf acht Blättern, groß und leicht zu lesen und doch so wunderbar! – Sie können doch schon lesen, junger Herr?« Schon hielt Koja das dünne Heftchen in Händen; es war federleicht und das hadrige Papier war holprig vom Durchdruck der Lettern. Seine Augen konnten sich nicht losreißen von dem kleinen, rohen Titelbildchen, das einen langbärtigen Mann darstellte, angetan mit zottigen Fellen, eine hohe Pelzmütze auf dem Kopfe, in den Händen einen plumpen Schirm, der einem Strohdach ähnelte. Auf seiner Schulter saß ein sehr großschnäbeliger Papagei. An seine Hüfte schmiegte sich ein hochbeiniges Tier, von dem Koja nicht wußte, ob es ein Reh wäre oder eine hörnerlose Geiß. Und über alles ragte ein Baum, der hatte gar keine Äste aber einen breiten Blätterschopf, eine Palme wie im Morgenlande. Koja zitterte vor Begierde, das Büchlein zu erwerben. Langten zwei Kreuzer hin, etwas so Wunderbares zu kaufen? Kleinlaut zeigte er dem Alten seine Barschaft: »Ich hab' aber nur zwei Kreuzer.« Der Buchkrämer schüttelte den Kopf. Kojas Augen wurden feucht. Da verschönte ein Lächeln das runzelige Gesicht des alten Mannes; es war ein Lächeln großer Güte. – Er nahm Koja die zwei Kreuzer vom Handteller und gab ihm den Robinson. »Sie werden viel Freude haben beim Lesen. Und Sie werden es nicht nur einmal lesen, sondern immer wieder und wieder.« Da dankte Koja dem Alten wie einem großen Wohltäter und trabte heimzu.
Mutter und Agi lobten ihn, daß er sein Geld so gut angewendet hätte. Da schämte und freute er sich in einem und erzählte, daß er beinahe alles Geld verspielt hätte beim Ringelstechen.
Agi verschlang das Büchlein mit den Augen, die nur so hinhuschten über die Zeilen, während ihre Hände unbeaufsichtigt die Stricknadeln klappern ließen, was waren für Agi ein paar Druckseiten! Dann aber legte sie den kaum begonnenen Strumpf in den Schoß: »Mutter, Koja, hört jetzt zu, ich will euch's vorlesen.« Die Mutter nahm ihr den Strickstrumpf ab und setzte sich auf den Schemel zu Füßen Agis, die auf der Gewandtruhe thronte. Koja schmiegte sich an die Knie der Mutter und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. So genossen die drei zum erstenmal die wunderbare Geschichte des Robinson; sie erlebten innerlich seine Nöte und seine Schaffensfreuden.