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Im Spiel

Es ist nicht Kinderart, mit den Gedanken lange beim Fernen zu verweilen, gar wenn es ernst ist. Das Gegenwärtige zieht die Aufmerksamkeit auf sich, es erfüllt die Seele des Kindes.

Im Garten der Großmutter war ein junger Kirschbaum mit großen, frühreifenden Früchten bedeckt, die schon rote Bäckchen hatten, während der große Schwarzkirschenbaum noch kleine grünlichweiße Früchte trug. Agi und Koja hatten die Frühkirschen bald abgeerntet und hielten nun anderwärts Ernte. Km Waldrand wußte Peter einen Erdbeerbestand, den er Koja verriet. Der suchte nun jeden Nachmittag nach der Schule das Plätzchen mit der Schwester auf, um die nachreifenden Beeren zu pflücken. Lerchen jubilierten hoch in den Lüften, Grillen zirpten in den Kornfeldern, die mit grellrotem Klatschmohn und dunkelblauen Kornblumen durchsetzt waren. Es war ein freudenreiches Wandeln in klingender, prangender, duftender Schönheit.

Und Vorsommerstimmung war auch in der Dorfschule. Alle Fenster weit offen, draußen Vogelgezwitscher und drinnen heller Sonnenschein!

Auch jetzt, wo das Wetter andauernd schön war, verbrachten viele der Auswärtigen die Mittagspause in der Schule, um der Unterhaltung willen. Nachlaufen-Spielen, Hahnenkämpfen, Schwammschupfen, Blindekuhspielen, Drittenabschlagen im Schulhof, das waren Belustigungen, um derentwillen die Kinder gerne auf den Teller warme Suppe verzichteten. Das liebste Spielzeug verwegener Buben aber war der Ziehbrunnen vor dem Schulhaus. Wußten sie den Lehrer beim Mittagmahl, so schlich sich einer zum Brunnen, drehte an der Kurbel, ließ den eisenbeschlagenen Eimer hinab, bis er klatschend den Wasserspiegel berührte und sich füllte, wand den vollen Eimer wieder herauf und sprang plötzlich zur Seite. Und während der schwere Wassereimer die um die Winde aufgerollte Kette zum raschen Abwickeln brachte und immer schneller in den Brunnen hinuntersauste, drehte sich die Kurbel mit zunehmender Geschwindigkeit zurück; dann platschte der Eimer unten auf den Wasserspiegel. Und das Spiel konnte von neuem beginnen. Die Gefahr, von der sich zurückdrehenden Kurbel getroffen zu werden, war das Reizvolle an diesem Spiel. Von den zaghaften Zuschauern für die Kühnheit bewundert zu werden, war das Ruhmvolle daran. Und wer beim Rücksprung im richtigen Augenblick die größte Ruhe zeigte, ohne auch nur den Kopf zur Seite zu ducken, das war unser Peter. In einer Mittagspause aber geschah es, daß der Oberlehrer unverhofft aus der Türe trat, während Peter noch mit dem Aufwinden des vollen Eimers beschäftigt war. Erschrocken ließ der Ertappte die Kurbel los, versäumte aber den Rücksprung und im nächsten Augenblick traf ihn die rücklaufende Kurbel aufs Schädeldach. Da schrien die Zuschauer kreischend auf und jeder fuhr sich mit den Händen nach dem Kopf, als gälte es, die eigene Hirnschale zu schützen. Peter knickte zusammen, warf die Arme empor und fiel nach hinten. Keine Wunde war an seinem Kopfe zu sehen. Aus der Rase und dem weit offenen Munde sickerte Blut. Er lag regungslos hingestreckt auf dem Rasen. Der Lehrer kniete vor ihm nieder und legte sein Ohr an die Herzgegend. Als er sich wieder aufrichtete, ließ er die Kinder in die Klasse gehen und trug den leblosen Peter in die Wohnung.

Am dritten Tage darnach gab ihm die ganze Schule das Geleite zum Kunietitzer Friedhof. Hell schien die Sonne auf den langen Trauerzug, der sich langsam zwischen Wiesen dahinbewegte. Jedes der Kinder trug einen Blumenstrauß, um ihn dem toten Kameraden ins Grab mitzugeben. Aufdringlich schrill zirpten die Grillen, so oft das eintönige Murmeln der Gebete verstummte. Hie und da ließ von einem Baum herab eine Blaumeise den Ruf ihrer Aufregung vernehmen: »Zizi-täh, Zizi-täh!« – Die Augen der Kinder schweiften über die weitgedehnten Mohnfelder, deren große Blumen in weiß, Rot und Lila prangten, über die langen Streifen fleischroten Klees, die mit dem goldig blühenden Raps, den zartrosigen Esparsetten und den himmelblauen Flachsbreiten an jauchzender Schönheit wetteiferten. Wie helle Blutflecken leuchteten die »Brennende Liebe« Sommer-Adonis, ein rotblühendes Hahnenfußgewächs. und der grellrote Klatschmohn neben den dunkelblauen Kornblumen aus dem Halmgewoge der Getreidefelder. Fern am Rande des Gesichtsfeldes ragte der nadelspitze grüne Turm von Pardubitz, davor das Schloß auf breitem, mauerumgürteten Hügel. Von der anderen Seite her schaute der Kunietitzer Fels mit seinem Burggemäuer auf die Ebene nieder und wurde immer größer, immer deutlicher, je länger sie gingen. Da kam es wohl manchem Kinde zum Bewußtsein: »Ich sehe all das Schöne, ich lebe noch! Der tote Spielgefährte, er sieht es nicht mehr. Er liegt dort unter dem Deckel des lichtblauen Sarges, den die vier Ziegelarbeiter tragen.« Kojas Augen füllten sich mit Tränen, und undeutlich, wie durch einen Schleier, sah er die bunte Farbenpracht der blühenden Felder; ihm war Peter mehr gewesen als den andern. Mit ihm hatte er an einem Waldläufertag mehr erlebt als sonst in einem Jahr. Als auf dem Friedhöfe, die Erdschollen von den Leidtragenden ins Grab hinabgeworfen wurden, schrie Peters Mutter immer wieder schrill auf, sooft der hohlliegende Sargdeckel unter den fallenden Schollen dumpf erdröhnte. Sie begruben ihr den Einzigen.

Nach der Bestattung wanderten Koja und Agi mit der Großmutter auf Feldrainen und an den tiefen Mulden der »Alten Elbe« entlang einen kürzeren Weg heim zu. Und immer müder wurden sie, immer stiller.

Noch in derselben Woche erschien der Brunnenmacher vor der Schule mit zwei Gehilfen. Sie räumten Welle, Kurbel und Wassereimer weg und senkten eine Pumpe in den Brunnen. Rings um das Pumpenrohr legten sie einen Deckel aus starken Bohlen auf die Kranzmauer des Brunnens. – Bald war der quietschende Brunnenschwengel ein beliebtes Spielzeug der Kinder.

Die Schwarzkirschen röteten sich und sie wurden reif. Beim Pflücken ging den Geschwistern der Peter sehr ab. Und was an den dünnen Wipfelzweigen hing, blieb den Amseln, den Staren, den Spatzen, Buchfinken und Ammern.


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