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Der Mensch ist nicht dazu auf Erden, daß er blos nach seinem Wohlgefallen lebe, sagte der Förster zu sich selbst, als er eine Viertelstunde darauf mit der Büchse auf der Schulter in sein Revier ging; für sich leben kann Keiner; Andere müssen für uns leben, und so müssen wir wiederum für Andere leben, zumal für unsere Kinder, wie diese wieder für ihre Kinder leben werden, und so fort in alle Ewigkeit. Anders kann das Menschengeschlecht nicht bestehen; es erzeugt sich aus sich selbst wie der Wald. Hier schirmt auch ein Baum den anderen, daß die Stürme nicht schaden und Regen und Sonnenschein jedem im rechten Maße zu Theil werden. Darum ist es auch so herrlich im Walde, weil hier so Viele sind, die sich Alle dem gleichen Gesetze willig fügen, darum braust der Wind hier so mächtig, darum scheint die Sonne hier doppelt lieblich.
Der Förster hing diesem Gedanken weiter nach, und es dauerte nicht lange, so fühlte er sich wieder ganz mit seinem Gott versöhnt. Aber Malchen hatte doch am Ende Recht, schloß er seine Betrachtungen. Es kommt nicht Jeder auf dieselbe Weise zu Gott, und ich kann nicht verlangen, daß meine Kinder es just auf meine Weise thun. Deshalb soll man ihnen den Weg nicht verschließen, der ja seit so vielen Jahrhunderten von unzähligen Menschen betreten worden ist und gewiß recht, recht oft zum Ziele geführt hat. Weise doch auch ich Jemanden, der durch den Wald will, nicht aus die gewundenen Fußpfade, in denen ich mich allein zurechtfinde, sondern auf die große, breite Straße, von welcher Niemand so leicht abirren kann.
Es war ein wundervoller Herbstmorgen, der Morgen des nächsten Sonntags, an welchem die Försterfamilie nach Tuchheim in die Kirche ging. Der Weg war in der ersten Hälfte derselbe durch den Wald, der auch auf das Schloß führte. Goldige Lichter spielten in den Zweigen, die ein sanfter Wind leise bewegte. Eine unendliche, lebensmüde Ruhe, ein süßer, sterbeseliger Frieden säuselte in den bräunlichen Blättern, duftete aus dem feuchten Laube, das hie und da schon ziemlich dicht die Erde bedeckte. Von Zeit zu Zeit ertönten, melodisch abgedämpft, einzelne Rufe hoch in der klaren Luft vorübersegelnder Wandervögel. Auf einer großen Lichtung am Rande des Holzes standen ein Paar Hirsche, die aus der Ferne neugierig, aber nicht ängstlich nach den friedlichen Pilgern hinüberäugten.
Der Förster schritt still und nachdenklich mit gleichmäßig langsamen Schritten dahin. Er hatte seinen besten grünen Uniformrock angezogen, der ganz neuerdings mit der kurzen Taille und den engen Aermeln wieder in die Mode gekommen war, und seine Sonntagsmütze aufgesetzt, deren Façon nach dem Muster der Landwehrmützen aus den Befreiungskriegen genommen schien. Dazu trug er ein schwarzseidenes Halstuch, über welches er den Hemdkragen herausgeschlagen hatte, eine weiße Weste, die bis oben hinauf zugeknöpft war, und Beinkleider aus gelbem Nanking, die in grauen Gamaschen steckten. Uebelwollende behaupteten, er trage diese Gamaschen nur, um seine wohlgeformten Beine und seine kleinen, trotz der nicht eben feinen Schuhe, zierlichen Füße besser zu präsentiren. Wie dem aber auch sei, er war ein stattlicher Mann, der Förster Fritz Gutmann, und man glaubte es gern, daß er in seiner Jugend der beste Tänzer, Läufer und Springer fern und nah und trotz seines nicht eben schönen Gesichtes der erklärte Liebling der Frauen gewesen sei.
In Schwester Malchen's Augen hatte er noch wenig oder nichts von seinen einstigen Vorzügen eingebüßt, und so erschien er ihr auch heute Morgen, während er wenige Schritte vor ihr dahin wandelte, als der schönste Mann. Mit dem reinsten Wohlgefallen, das ein Herz empfinden kann, hingen ihre Blicke an seiner rüstigen Gestalt, und sie bat ihren Gott, daß die beiden Knaben an seiner Seite so stattlich und stark, und vor Allem so gut und brav werden möchten wie er.
Neben der Tante ging Silvia. Die blauen Augen, die sonst so groß und forschend umher blickten, suchten den Boden. Tante Malchen hatte es heute Morgen nicht an thränenreichen Ermahnungen, wenigstens den Sonntag nicht durch Heftigkeit und Lieblosigkeit zu entheiligen, fehlen lassen; und weil es eben Sonntag und das Wetter so schön und Silvia's Herz durch die Aussicht auf den hübschen Spaziergang und durch die Glockenklänge, welche von Tuchheim durch die klare Luft herübertönten, sehr milde und feierlich gestimmt war, hatten die Worte der Guten ihre Wirkung auch nicht verfehlt.
Auf der halben Höhe des Schloßberges führte der Weg thalwärts in das Dorf. Man erreichte die Kirche – zu Tante Malchen's nicht geringem Entsetzen – als eben nach Absingung des ersten Liedes, vor dem Beginn der Predigt, die Thüren geschlossen werden sollten. Eiligen, geräuschlosen Schrittes huschte Tante Malchen zu ihrem Platz vorauf; ihr folgten Silvia und die Knaben. Der Förster zog es vor, in der Nähe der Thür an einem Pfeiler, der ihn vor dem Prediger und der Gemeinde so ziemlich verdeckte, stehen zu bleiben.
Die Kirche war heute außergewöhnlich voll. Die sonore Stimme des Predigers erfüllte den nicht unbedeutenden Raum bis in die letzte Mauernische. Doctor Urban war sich des Vorzuges eines klangreichen, biegsamen Organs wohl bewußt, und er hatte es nach vielen mühsamen Versuchen der Akustik seiner Kirche vollkommen angepaßt. Er verstand es meisterlich, den Ton ausklingen zu lassen, und brachte dadurch, besonders am Schlusse einer längeren Phrase, die prächtigsten Wirkungen hervor.
Doctor Urban hatte zu seinem Texte die Worte des Apostels: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.« Er sprach von den Kindern dieser Welt, den glattzüngigen, redegewandten, wie sie so schön Herr! Herr! zu sagen und Jedem nach dem Munde zu sprechen wüßten, und inwendig sei doch Alles eitel Lug und Trug. So seien viele Blumen mit herrlichen Farben geschmückt, aber kein mild erquickender Duft entströme ihren Kelchen; so spielten die Leiber der Schlangen in warmem Schimmer, und doch seien es kalte, widerliche Geschöpfe, die der Herr verflucht habe, auf dem Bauche zu kriechen und Staub zu fressen. Aber diese Vergleiche seien noch bei weitem zu günstig: der liebeleere Mensch sei viel häßlicher, als eine geruchlose Blume, als ein schleimiges Reptil. Der Mensch, dem die Liebe fehle, begnüge sich nicht damit, Anderen nicht wohlzuthun; er müsse ihnen wehethun, wenn er seine Lust haben solle; er müsse schaden, zerstören, vernichten können. Der Mensch ohne Liebe sei schlimmer als die wildeste Bestie; die Welt ohne Liebe sei das Chaos – eine heulende Finsterniß, in der es von Ungeheuern wimmle, die mit gierigen Zähnen gegenseitig auf einander hackten, die kein Recht gelten ließen als das des Stärkeren über den Schwächeren, kein Gesetz als die Gesetzlosigkeit – Nacht und Graus, Würgen und Morden überall.
Unter den wuchtigen Accenten, mit denen der Prediger so fürchterliche Worte ausstattete, bebte das Haus, bebten die Herzen seiner andächtigen Zuhörer. Es war, als ob der Tag sich verdunkle und die Nacht, deren Schrecken er so eindringlich zu schildern wußte, heraufdämmere. Man wagte kaum zu athmen, aus Furcht, das Verderben, mit dem die ganze Atmosphäre erfüllt schien, auf sich herab zu ziehen. Plötzlich aber war es, als ob ein anderer Mann spräche – ein anderer Mann mit einer weichen, einschmeichelnden, angstbeschwichtigenden Stimme.
Aber was ist das? sagte die weiche Stimme. In dem Ungeheuern Chaos verbreitet sich plötzlich eine milde Wärme, und wo die Wärme sich zumeist concentrirt, da blitzt eine Flamme auf, erst hier, dann dort, zuletzt überall, wie am nächtlichen Himmel ein einzelner Stern auftaucht, dann ein zweiter, dritter, und endlich das ganze Gewölbe mit Myriaden leuchtender Welten übersäet ist. – Diese Wärme nun, lieben Brüder und Schwestern, diese Flamme, dieses Licht ist die Liebe; die Liebe, die so lieblich ist, daß die Engel selbst ihre Herrlichkeit nicht hinreichend preisen können, und die Menschen, die sie im Herzen fühlen, gar verstummen und in Demuth ihr Haupt beugen; die Liebe, die alle Menschen zu Kindern des Einen Vaters macht, des Vaters, in dem wir Alle leben und weben, und der selbst der Urquell aller Wärme, alles Lichtes und aller Liebe ist. Hallelujah!
Vielleicht gab es in diesem Augenblicke, wo das Hallelujah an der Decke verhallte, Niemand in der Versammlung, den die bedeutende Rede des Predigers ungerührt gelassen hätte; aber Leo's erregbares Herz hatte sie ganz und gar in Flammen gesetzt. Seine Wangen glühten; auf seiner Stirn standen dunkle Wolken, als von den Schauern des Chaos die Rede war, und helle Tropfen hingen in seinen Wimpern, während der Preis der Liebe in Worten, die ihm unmittelbar vom Himmel zu kommen schienen, verkündet wurde. – So, so wollte auch er einst predigen in der Wüste unter den Heiden!
In seiner Extase hatte sich der Knabe von seinem Sitze erhoben. Hoch aufgerichtet stand er da, das schwarze lange Haar zurückgeschlagen von der weißen Stirn, die großen, von Thränen umflorten Augen starr auf den Prediger gerichtet. Aber er sah den Prediger nicht mehr. Die Kanzel verschwand; die hohe Decke des Gewölbes that sich auf, und ein wolkenloser Himmel blaute herein; die starken Pfeiler wurden zu mächtigen Tannen, durch deren Zweige der Morgenwind rauschte. In das Waldesrauschen brausten die strudelnden Wasser der Fälle, und drüben, halb noch im kühlen Schatten der Bäume, halb in dem hellen Sonnenlichte, tauchten die nackten weißen Glieder des lieblichsten Geschöpfes in die durchsichtigen Wasser.
Gewaltiger flutheten die Klänge der Orgel, und der Träumer erwachte aus seinem Traume. Neben ihm stand Silvia; sie hatte seine Hand ergriffen; ihre blauen Augen, die demüthig bittend zu ihm aufblickten, hatten geweint.
Willst Du mit aus meinem Buche singen, Leo? sagte sie, indem sie sich wieder setzte und Leo neben sich Platz machte.
Ich kann nicht singen, sagte der Knabe zögernd.
So sieh' wenigstens mit hinein.
Durch die hohen, schmalen Fenster fielen schräge Sonnenstreifen, in denen die Staubatome sich wirbelnd drehten; die Orgel brauste, lauter und kräftiger erhob sich der Gesang. Tante Malchen, welche die beiden Kinder mit, wie es ihr schien, verklärten Gesichtern einträchtiglich nebeneinander sitzen sah, weinte helle Freudenthränen und pries die Güte Gottes, der seinem Diener Kraft gebe, die Herzen der sündigen Menschen zu rühren und die Liebe in ihnen zu erwecken, ohne die wir nichts sind, als ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.
So sagte sie auch zu Silvia, als sie sich Alle vor der Kirchthür auf dem Friedhofe zusammengefunden hatten.
Silvia erröthete bis in die Schläfen.
Ich hätte viel lieber mein Buch für mich allein gehabt, sagte sie, indem sie den Kopf mit den langen Locken trotzig in den Nacken warf.