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Zwanzigstes Capitel.

Für Leo hatte der Frühling, hatte der Sommer keine Blumen gebracht. Wie Mehlthau auf die jungen Blätter, so war die Geheimlehre des Doctor Urban von der Religion, die man als Mittel zum Zweck zu benutzen habe, in seine Seele gefallen. Zu feurig, um von der herzlosen Kälte dieser Doctrin nicht empört zu werden, nicht reif genug, um die Sophismen, auf welche der Meister seine Grundsätze stützte, widerlegen zu können, zu ernst, als daß er im Stande gewesen wäre, ohne einen ideellen Inhalt nur eben so hinzuleben, irrte er jetzt rathlos, hilflos umher, wie am Rande eines Abgrundes.

Von seiner Familie fühlte er sich seit der Nacht seiner Flucht innerlich getrennt. Er konnte es nicht verzeihen, daß man ihn, wie er meinte, in seiner bitteren Noth verlassen habe: alle Güte des Onkels, alle Sorgsamkeit der Tante, selbst Walter's Freundschaft konnten den Einen bösen Eindruck nicht wieder verwischen; und was er am wenigsten begreifen konnte, war, daß er in Silvia jemals etwas Anderes habe sehen können, als ein naseweises, vorlautes, ungezogenes Ding.

So vereinsamte der arme Knabe immer mehr; man war es schon so gewohnt, ihn seine eigenen Wege gehen zu sehen, daß man sich gar nicht mehr die Mühe nahm, ihn in die Gesellschaft zu ziehen. Wenn Leo und Herr Tusky sich nicht des Nachts in Eulen verwandeln und Mäuse fressen, so will ich nie wieder auf einem Pferde sitzen, pflegte Henri zu sagen.

Herr Conrad Tusky war seit dem Frühling in Tuchheim als Schullehrer angestellt. Das Consistorium hatte ihn hergeschickt; Niemand kannte ihn, und Herr Tusky seinerseits schien keine besondere Neigung zu haben, die Tuchheimer kennen zu lernen. Dies durfte allerdings um so mehr ausfallen, als Herr Tusky nicht nur ein noch sehr junger Mann, sondern auch nach dem Urtheil einiger jungen Tuchheimerinnen, die es doch am besten wissen mußten, ein ganz hübscher Mann war – etwas steif und hölzern allerdings und ohne Zweifel sehr ernst, aber doch mit seiner hohen breitschulterigen Figur eine gar stattliche Erscheinung.

Herr Tusky war dem Doctor Urban ungemein gelegen gekommen. Doctor Urban war ein ganz vorzüglicher classischer Philologe; auch in der Mathematik, in neueren Sprachen und in der Geschichte hatte er die gediegensten Kenntnisse, aber die Naturwissenschaften hatte er nicht ebenso cultivirt, und um seine Schüler doch auch in diesen Disciplinen schnell vorwärts zu bringen, sich bereits entschlossen, einen Hilfslehrer zu engagiren. Nun traf es sich, daß Doctor Urban auf seinen Spaziergängen ein paarmal seinem neuen Lehrer begegnete, der eine Botanisirtrommel um die Schulter und einen Spatenstock in der Hand trug. Doctor Urban war sonst principiell gegen dergleichen Liebhabereien, welche der guten Gesinnung junger Dorfschulmeister so leicht gefährlich werden können; diesmal aber paßte ihm die Sache so, daß er ein Auge zudrücken, ja sich mit Herrn Tusky über seine botanischen Studien und ähnliche Themata in ein Gespräch einlassen zu müssen glaubte. Doctor Urban merkte bald, daß der schweigsame, verschlossene junge Mann nicht blos in der Botanik, sondern auch in der Mineralogie, ja, in der Chemie ausgezeichnete Kenntnisse hatte. Das Resultat der Unterredung war eine längere Conferenz mit Herrn Tusky am folgenden Tage, in welcher sich derselbe – obschon nicht ohne einiges Widerstreben – verpflichtete, den Knaben für ein bestimmtes Honorar wöchentlich vier Stunden in den genannten Wissenschaften zu geben.

Bereits am folgenden Tage wurde Herr Tusky den Knaben vorgestellt, auf welche er den verschiedensten Eindruck machte. Henri erklärte: der Mann sehe aus wie eine Vogelscheuche, und er hoffe, sie würden einen Teufelsspaß mit ihm haben; Walter fand nichts Besonderes an dem neuen Lehrer, konnte aber allerdings auch nicht sagen, daß er sich zu demselben eben sehr hingezogen fühle; Leo dagegen kam Herrn Tusky mit einer Wärme entgegen, die Jedem, der den Knaben kannte, unbegreiflich war, um so unbegreiflicher, als Herr Tusky seinerseits nach wie vor gegen ihn wie gegen jeden Anderen dieselbe Zurückhaltung beobachtete.

Gieb Dir nur keine Mühe, Leo, sagte Henri; der plumpe Kerl ist noch unliebenswürdiger als Du, an dem hast Du Deinen Meister gefunden.

Henri haßte Herrn Tusky bald mit der ganzen Energie, mit welcher ein kleiner spieliger Schoßhund einen großen mürrischen Karrenhund hassen mag. Henri that sich für gewöhnlich in dem Ausdruck seiner Empfindungen wenig Zwang an, nichtsdestoweniger wollte es mit dem Teufelsspaß, den er sich von den Lectionen des Herrn Tusky versprochen hatte, nicht so recht von der Stelle. In Herrn Tusky's Mienen und Benehmen lag ein Etwas, das Achtung heischte. Leo sprach dies oft aus; Henri bestritt es, er werde demnächst den Beweis führen, daß er sich nicht im Mindesten vor einem solchen trockenen Pedanten fürchte, er sei schon mit ganz anderen Leuten fertig geworden.

Die Gelegenheit zur Ausführung dieser dunkeln Drohungen kam nur zu bald. Henri fing in der Stunde erst an zu gähnen, dann sich zu recken, dann mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln, zuletzt leise vor sich hin zu pfeifen. Herr Tusky verbot ihm Eines nach dem Andern in derselben ruhigen Weise. Vielleicht würde Henri von seinem Vorhaben abgestanden sein, wenn Herr Tusky in einem erregteren Ton gesprochen oder sonst irgendwie zu erkennen gegeben hätte, daß er sich ärgere; aber die gleichmäßige Ruhe reizte ihn nur noch mehr. Er fuhr fort zu pfeifen und sich behaglich auf seinem Stuhle zu schaukeln, wobei er Herrn Tusky mit einer Miene herausfordernder Unverschämtheit anblickte.

Plötzlich – mit dem Satze eines Tigers – sprang Tusky auf den Herausforderer zu, riß ihn aus dem Stuhl auf die Erde, packte ihn dann mit beiden Händen am Genick und an den Beinen, hob ihn hoch in die Höhe, als ob er es mit einem Kinde zu thun hätte, und schien ihn im nächsten Moment gegen die Erde schmettern zu wollen. Sein Gesicht war leichenblaß, seine blauen Lippen bebten, seine blutunterlaufenen Augen stierten wie wahnsinnig – so stand er einen Moment. Dann ließ er den an allen Gliedern Zitternden aus den Händen gleiten und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, das Zimmer.

Henri, der vor Angst und Wuth weinte, rieb sich die Stellen, wo die Eisenfinger Tusky's ihn gepackt hatten, worüber denn Walter, trotzdem ihm gar nicht lächerlich zu Muthe war, laut lachen mußte. Als sie sich nach Leo umsahen, war dieser verschwunden.


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