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Leo war bei dem Freiherrn in dem Bibliothekzimmer. Die Nachmittagssonne schien freundlich in das große, wohlausgestattete Gemach, und die Staubatome tanzten lustig in den schrägen Lichtstreifen, die durch die geöffneten Fenster fielen. Vom Garten herauf, der sich unter den Fenstern ausbreitete, trug die laue Frühlingsluft den Duft der ersten Knospen und den Gesang der Vögel herein.
Leo saß an einem mit Broschüren und Zeitungen bedeckten Tisch in der Nähe eines der Fenster; der Freiherr ging mit auf den Rücken gelegten Händen in dem Gemache auf und ab. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und blickte auf Leo mit den braunen Augen, die noch immer schön zu nennen waren, trotzdem sie viel, sehr viel von ihrem alten Glanze verloren hatten; dann setzte er wieder seine Promenade langsam fort.
So steht es also jetzt, schloß Leo seine Auseinandersetzung; geben Sie nachträglich Ihren Namen her zu jener Fabrikordnung, die Herr von Sonnenstein, ohne Sie zu fragen, in Gemeinschaft mit den übrigen Fabrikherren erlassen hat und die wenigstens die Gelegenheitsursache dieses Strike ist, so stellen Sie sich auf eine Stufe mit den Stockjobbern, und ich würde glauben, mich einer schweren Beleidigung gegen Sie schuldig zu machen, wenn ich das auch nur einen Augenblick für möglich hielte.
Leo faltete die Zeitung, aus welcher er dem Freiherrn einen Bericht über die Arbeitseinstellung in Tuchheim und Umgegend vorgelesen hatte, zusammen; der Freiherr blieb mitten, in der Stube stehen und sagte, halb mit sich selbst und halb zu Leo sprechend:
Sie haben Recht, ganz Recht! Es wäre eine Beleidigung für mich, wollte man mich mit diesen Menschen auf eine Stufe stellen. Wann hätte ich je auf die Noth des armen Mannes speculirt! Sie sind zu jung, lieber Doctor, als daß Sie wissen könnten, was ich in früheren Jahren für meine Leute gethan habe; hätten Sie's gewußt, Sie hätten sich damals nicht an der Revolte betheiligt. Verzeihen Sie, daß ich hier auf diese unglücklichste Periode meines Lebens zurückkomme, aber sie steht in der That mit dem, was uns hier beschäftigt, im genauesten Zusammenhang. Damals war es, wo mir das Herrsein auf meinen Gütern für immer und immer verleidet wurde; damals war es, wo alle Blätter mich für einen Tyrannen ausgaben, für einen bornirten, mittelalterlichen Baron, der keine Ahnung habe von moderner, rationeller Wirthschaft und in Folge dessen seine verhungernden Leute zur Empörung treibe; damals war es, wo ich, einzig und allein um dem wuchernden Proletariat der armen Gebirgsdörfer zu steuern, auf die Pläne des Herrn von Sonnenstein einging und ihm die Erlaubniß gab, auf meinem Grund und Boden die Fabriken zu errichten. Hätte ich ahnen können, daß diese meine menschenfreundliche Absicht sich in das Gegentheil verkehren, daß die Armuth, anstatt abzunehmen, nur steigen, sich wenigstens nur in eine andere, wo möglich noch abschreckendere Gestalt kleiden, daß eine Zeit kommen würde, wo man das alte Geschrei: Er ist ein Tyrann! von Neuem erhebt, ich wäre lieber verhungert, als daß ich zu diesen Schändlichkeiten meine Hand geboten hätte.
So kann ich mich also Ihres Beistandes in dieser Frage versichert halten? fragte Leo.
Gewiß, gewiß, rief der Freiherr; aber ich sehe nur nicht, was Ihnen meine Weigerung, mich nachträglich zu jener verruchten Fabrikordnung zu bekennen, die ich nie mit Augen gesehen habe, nützen wird.
Sehr viel, erwiederte Leo; eine Erklärung von Ihrer Seite, daß jene Fabrikordnung nicht nur ohne Ihr Mitwissen erlassen ist, sondern daß Sie zu derselben, wären Sie davon unterrichtet gewesen, niemals Ihre Zustimmung gegeben haben würden, vielmehr jetzt öffentlich constatirten, daß Sie eine solche Ausnützung der Arbeiter auf das Aeußerste perhorrescirten – ich sage, eine solche Erklärung, in klaren, runden Worten abgefaßt, mit Ihrem vollen Namen unterzeichnet und in allen Blättern veröffentlicht, würde von der ungeheuersten Wirkung sein. Und – verzeihen Sie, wenn ich mich wiederhole – ich meine, Herr Baron, Sie, gerade Sie, sind sich persönlich, ganz abgesehen von der politisch-socialen Tragweite dieses Schrittes, eine solche Genugthuung schuldig.
Ja, ja, sagte der Freiherr, ich fühle das vollkommen; ich habe genug unter der Tyrannei dieser Geldsäcke gelitten, um ihnen eine Demüthigung von ganzem Herzen zu gönnen. Zehnmal lieber mit dem gemeinen Manne aus einer Schüssel essen, als sich den Hochmuth dieser Blutsauger gefallen lassen. Aber, aber –
Er rieb sich die hohe, an den Schläfen jetzt kahle Stirn und fuhr nach einigen Augenblicken mit unsicherer Stimme fort:
Aber sie haben die Macht; zum wenigsten die Macht, uns zu schaden. Sonnenstein würde eine derartige Erklärung von mir als einen Absagebrief ansehen und mit offener Feindseligkeit gegen mich vorgehen. Ich fürchte zwar seine Drohungen nicht und bin mehr als je von meinem guten Rechte überzeugt. Diese Arbeiterstrikes beweisen, daß die Fabriken gut gehen, daß er mich also schon jahrelang um meinen Gewinnantheil betrogen hat – indessen: ich will es Ihnen gestehen, ein Proceß mit meinem Schwager käme mir in diesem Augenblicke doch ungelegen. Processe kosten Geld, und ich bin gerade jetzt, wo ich im Begriffe stehe, der Hauptactionär bei einer sehr – sehr rentablen Unternehmung zu werden, stark engagirt.
Der Freiherr nestelte mit einer gewissen Verlegenheit in seinen Haaren; seine Stimme war bei den letzten Worten rauh geworden.
Dann will ich nicht länger in Sie dringen, sagte Leo, sich erhebend, umsoweniger, als ich, wie Sie wissen, immer der Meinung gewesen bin, daß, wollen Sie Ihren Schwager zur Abrechnung zwingen, Sie sich vorerst mit ihm auf gleichen Fuß stellen und die Einzahlungen leisten müssen.
Aber das sind zweihunderttausend Thaler, ohne die Zinsen und die Nachzahlungen! rief der Freiherr sehr erregt.
Leo warf einen scharfen Blick auf das bleiche, von innerer Aufregung durchwühlte Gesicht.
Verzeihen Sie, sagte er, ich habe nicht indiscret sein wollen. Ich habe kein Recht, Ihnen in Ihren Angelegenheiten einen Rath zu geben; ich kann Ihnen nur meine Ansicht sagen, wenn Sie mich um dieselbe fragen.
Der Freiherr hatte nicht genau gehört, was Leo gesagt hatte. Die Sperlinge in dem Birnbaum unter dem Fenster schwatzten so laut, und drüben in dem letzten langen Gange des Gartens sah er seine Schwester und seine Tochter Arm in Arm gehen und, wie es schien, eifrig sprechen. Er erinnerte sich, daß er Beide seit vorgestern Mittag nicht gesehen hatte, und seufzte tief.
Er wendete sich vom Fenster. Bleiben Sie, bleiben Sie noch einen Augenblick! rief er hastig.
Die Aufregung von vorhin war sichtbar noch größer geworden. Leo blickte ihn fragend an.
Wie geht es ihm, ich meine: Walter? stieß der Freiherr heraus.
Ich selbst habe ihn seit mehreren Tagen nicht gesprochen, erwiederte Leo.
Und wie steht es mit seinem Proceß?
Ich höre, die Sache ist in vollem Gange.
Glauben Sie, daß er verurtheilt werden wird?
Bei der augenblicklichen Lage der Verhältnisse halte ich es kaum für zweifelhaft.
Das sollte mir sehr, sehr leid thun, murmelte der Freiherr. Der arme Junge, er hat es wahrlich nicht verdient; und dann die – die Damen – er wies mit zitternder Hand zum Fenster hinaus nach den beiden dahinwandelnden Gestalten – sie werden es sehr, sehr schwer empfinden. Und auch derenthalben möchte ich gerade jetzt nicht den Kampf mit meinem Schwager aufnehmen. Es ist in der letzten Zeit gar dunkel in meinem Hause geworden – gar dunkel.
Und der Freiherr drückte sich die Hand gegen die Augen.
Leo zuckte die Achseln; über seine festen Züge flog ein unmuthiges Lächeln; er machte dem Freiherrn eine Verbeugung und verließ das Zimmer.
In dem Vorsaal fand er Henri in einem Wortwechsel mit dem alten Kammerdiener Christian.
Ich habe Befehl, Niemand vorzulassen, hörte er den Alten sagen.
Ich bin nicht Niemand, entgegnete Henri heftig; ich sage Dir, daß ich ihn sprechen will und muß; und nun schere Dich zum Teufel!
In diesem Augenblicke bemerkte er Leo. Ein häßliches Zucken flog über sein erbleichendes Gesicht. Der Anblick des Verhaßten an dieser Stelle hatte noch gefehlt, das Maß seines Zornes zum Ueberlaufen zu bringen. Er trat an Leo heran, aber es gelang ihm nicht, die Worte, nach denen er suchte, zu finden. Leo wartete ein paar Augenblicke, lächelte verächtlich und schritt, ohne Henri weiter eines Blickes zu würdigen, nach der Thür. Henri knirschte mit den Zähnen, wendete sich dann gegen den alten Mann, der ihm den Eintritt verweigerte, stieß denselben unsanft beiseite und riß die Thür auf, die zu seines Vaters Zimmer führte.
Der Freiherr war in derselben Stellung, in welcher Leo ihn zuletzt gesehen hatte, stehen geblieben. Erst das Geräusch der schnell geöffneten Thür ließ ihn die Hand wieder von den Augen nehmen. Er trat einen Schritt zurück und starrte den Eingetretenen mit düsteren Blicken an.
Was heißt das?
Ich glaubte, daß Du, wenn Du für jenen – Herrn zu sprechen warst, auch wohl mich empfangen könntest, erwiederte Henri.
Die beiden Männer standen mitten im Zimmer, ein paar Schritte von einander entfernt. In dem Ausdruck ihrer Augen, wie sie sich jetzt gleichsam mit den Blicken maßen, war kein schwächster Strahl von Sympathie und Liebe. Der Freiherr rang sichtbar nach Haltung und Fassung, während seine Glieder vor innerer Erregung bebten; aber auch Henri, obwohl er sich lange auf diese Unterredung vorbereitet hatte und durch die Unbilden, die er den Tag über erfahren, auf's Aeußerste gereizt war, hielt die Lippen fest geschlossen und bemühte sich, den fliegenden Athem zu regeln.
Und was führt Dich zu mir? fragte der Freiherr.
Der Wunsch, mich mit Dir über Verschiedenes auseinander zu setzen, das schon längst einmal hätte unter uns zur Sprache kommen sollen.
Das sieht ja fast wie ein Verhör aus, sagte der Freiherr, indem er einen Versuch machte, zu lächeln, sich aber zugleich auf einen Stuhl niederließ, denn er fühlte, daß ihm seine Glieder die Kraft versagten.
Henri war die Schwäche des Vaters nicht entgangen; seine Entschlossenheit wuchs in dem Maße, als sie dem Vater abhanden zu kommen schien. Er lehnte sich an einen Tisch in seiner Nähe und sagte:
Ich bin von der Gerechtigkeit meiner Sache überzeugt, und so kommt es wohl nicht eben auf die Form an.
Deine Sache muß sehr gerecht sein, denn die Form ist in der That äußerst geschmacklos. Aber was wünschest Du?
Vorerst wünsche ich zu wissen, wie Du es mit Deinen bekanntlich so hohen Begriffen von der Würde Deines Standes und Deiner persönlichen Würdigkeit in Einklang bringst, jenen Abenteurer, dem ich soeben in Deinem Vorzimmer begegnet bin, bei Dir zu empfangen.
Wünschest zu wissen – Würde meines Standes – persönliche Würdigkeit! – ich glaube, Du bist toll geworden.
Dem Freiherr hatte die lange gesellschaftliche Uebung, seine Empfindungen zu beherrschen, äußerlich wenigstens die Ruhe wiedergegeben; Henri fand seine Situation schwieriger, als er sich gedacht hatte.
Ich bin nicht toll, rief er, im Gegentheil, ich sehe sehr klar, und eben weil ich sehr klar sehe, will ich auch nicht länger thun, als ob ich blind wäre. Ich wiederhole: Deine Protection dieses Mannes ist unverantwortlich und kann höchstens dadurch erklärt werden, daß Du die saubere Rolle nicht kennst, die der Herr neuerdings zu spielen sich nicht entblödet.
Wenn Du, wie ich aus Deinen noch immer sehr formlosen Worten schließen muß, mich über die Stellung, welche Herr Doctor Gutmann in der politischen und socialen Frage einnimmt, aufzuklären wünschest, so muß ich Dir sagen, daß ich Deiner freundlichen Beihilfe vollkommen entrathen kann; ich habe die »Rolle« des Herrn Doctors von seinem ersten Auftreten bis jetzt mit größtem Interesse und größter Genauigkeit verfolgt.
So wirst Du auch wissen, daß er auf dem Punkt steht, wegen eines an dem Prinzen verübten Depeschendiebstahls vor den Staatsanwalt zu kommen.
Der Herr Doctor muß Dir ja sehr im Wege stehen, daß Du Dich nicht scheuest, zu so schmählichen Verleumdungen Deine Zuflucht zu nehmen. Uebrigens muß ich Dir sagen, daß ich diese sonderbare, unschickliche Unterredung herzlich satt habe und Dich bitte, mich jetzt allein zu lassen.
Der Freiherr hatte sich erhoben und machte eine Handbewegung nach der Thür; Henri rührte sich nicht aus seiner Stellung.
Ich bin noch nicht fertig, sagte er, und muß Dich dringend bitten, mir nicht die Thür zu weisen wie einem hergelaufenen Supplicanten. Ich habe ein Recht, hier zu sein und Aufklärung von Dir zu fordern. Ja, ein Recht, Du magst darüber noch so sehr die Stirn runzeln. Ich will nicht länger in der kindischen Abhängigkeit leben, in der Du mich hältst; ich will wissen, was Du für Gründe hast, auf Onkel Sonnenstein's sehr vernünftige und juridisch unanfechtbare Propositionen nicht einzugehen; ich will wissen, weshalb Du geflissentlich einen Scandal provocirst, indem Du den Onkel zwingst, gegen Dich öffentlich aufzutreten; ich will schließlich wissen, wie es mit unserem Vermögen steht.
Der Freiherr hatte sich wieder gesetzt, seine Kniee zitterten; die Worte des Sohnes hatten ihn gepackt wie eine derbe Faust, die einen zerbrochenen Arm schüttelt. Alles Blut war aus seinen Wangen gewichen, dennoch gelang es ihm, mit ungeheurer Anstrengung gemessenen Tones zu erwiedern:
Ich glaubte bis jetzt, das Tuchheim'sche Vermögen sei kein Majorat. Ich gestehe, es entspricht ganz meinen persönlichen Wünschen, daß es keins, sondern mein freies Eigenthum ist.
Ich bestreite das durchaus, erwiederte Henri; ein Vermögen, das man von seinen Vätern ererbt hat, ist so recht eigentlich ein freies Vermögen nicht; man ist verpflichtet, es seinen Kindern in demselben Zustand zu überliefern.
Ich bin Dir sehr dankbar für Deine freundlichen Belehrungen; aber Du wirst mir doch verstatten müssen, bei meiner Ansicht zu bleiben. Kinder, die in keiner Weise sind, wie wir sie wünschen, sind so recht eigentlich unsere Kinder nicht.
Leute, die stets Ja sagen und Alles, was Du thust, vortrefflich finden, sind Dir natürlich lieber.
Wenigstens sind sie mir lieber, als ein Sohn, der den Vater auf seinem Zimmer überfällt, um ihn zu insultiren. Ich bitte Dich zum letztenmal, mich allein zu lassen.
Ich dächte, die alte Geschichte hätte oft genug herhalten müssen.
Um so weniger Veranlassung hättest Du, mich daran zu erinnern.
Henri zitterte vom Kopf bis zu den Füßen; sein Gesicht war verzerrt, seine Stimme heiser:
Wohl, ich sehe, daß es ganz unmöglich ist, sich mit Dir vernünftig auseinander zu setzen. Aber das muß ich Dir noch sagen: Du hast Dich stets beklagt, daß ich Dir nicht die hinreichende Achtung zollte, und hast Dich nie bemüht, mir diese Achtung abzuzwingen. Du hast noch in keiner Lage Deines Lebens Consequenz bewiesen – in keiner! Du hast Dich weder in die patriarchalischen Zustände vor der Revolution, noch in die neuen Verhältnisse zu finden gewußt. Du hast nach einander den Grandseigneur, den Landwirth und den Industriellen gespielt, Alles ohne Energie und Ausdauer und Einsicht, auf Kosten unseres – hörst Du? – unseres Vermögens! Ich habe geschwiegen, weil ich schweigen mußte; ich habe es, ohne klagen zu dürfen, jahre- und jahrelang mit angesehen, aber es hat Alles sein Maß, und so auch meine Geduld. Du willst Dich durchaus ruiniren; gut! so habe wenigstens den Muth, es offen und ehrlich zu sagen, damit man sich beizeiten vorsehen kann. Du brauchst nicht nach der Klingel zu greifen; ich fürchte, was hier zwischen uns verhandelt ist, wird nur zu bald unter die Leute kommen.
Und Henri stürzte zur Thür hinaus.
Der Freiherr war in der fürchterlichsten Erregung; er ging mit ungleichen Schritten in dem großen Gemache auf und ab, bald hier, bald dort stehen bleibend, ein Buch, ein Stück Papier, eine Stuhllehne ergreifend, und Alles wieder fallen und fahren lassend, da er sich nicht besinnen konnte, was er damit gewollt hatte.
Dahin hatte es kommen müssen, dahin! sein Sohn hatte es wagen dürfen, solche Sprache gegen ihn zu führen! und er hatte es schweigend angehört, schweigend anhören müssen. Es war ja Alles wahr; er hatte nie in seinem Leben Consequenz bewiesen, niemals Energie, niemals wirkliche Einsicht! Er hatte Alles, was er unternommen, auf Kosten seines Vermögens unternommen. Er war verschuldet gewesen, so lange die Güter verpachtet waren; er hatte den Ministerposten ausgeschlagen, um die Güter selber bewirthschaften und so den höchsten Ertrag, die höchsten Einnahmen erzielen zu können; er hatte die Güter selber bewirthschaftet und dabei Tausende in unbrauchbaren Maschinen und unnützen Neubauten vergeudet; er hatte vielleicht sogar die Leute durch seine ungleichmäßige Behandlung und seinen Mangel an der rechten Fürsorge zur Revolte getrieben. Dann hatte er wieder Knall und Fall die Wirtschaft aufgegeben, hatte sich auf industrielle Unternehmungen eingelassen, von denen er nichts verstand; hatte, im Vertrauen auf die unfragliche Rentabilität der Fabriken, in der Stadt einen noch größeren Aufwand gemacht als sonst; hatte, als die sicher erwarteten Einnahmen ausblieben, in der festen Ueberzeugung, daß sein Schwager doch einmal werde zahlen müssen, seine Güter mit Hypotheken überbürdet; dann, als die Gläubiger ungeduldig wurden und der Schwager immer noch nicht zahlte, an der Börse speculirt, und wieder speculirt, um anfänglich kleine, später mit Riesenschnelle wachsende Verluste zu decken – und jetzt, jetzt war er, wenn der letzte gewagteste Coup fehlschlug, ein ruinirter Mann, ein Bankerotteur – er, der Chef einer der ältesten Familien des Landes!
So rechnete das grausame Gedächtniß dem unglücklichen Mann, während er, wie vom Wahnsinn getrieben, in seinem Zimmer hin und her irrte, alle Fehler, die er Zeit seines Lebens je gemacht, mit unerbittlicher Schärfe vor.
Er kam in die Nähe des Fensters, aber er prallte zurück. als sein Blick auf die beiden Frauen fiel und es ihm war, als hätten sie eben zu ihm hinauf geschaut. Sie durften ihn nicht sehen, jetzt nicht!
Er zog sich etwas vom Fenster zurück, aber er mußte immer wieder hinabblicken. Was würden sie sagen, wenn sie wüßten, was in seinem Innern vorging! Oder wußten sie es? ahnten es wenigstens? Sagten ihre bleichen Gesichter, ihre verweinten Augen nicht, daß sie es ahnten? Nein, nein, das war es nicht! Es war der Kummer um Walter – den verbannten Walter! Nun, nun, nachdem der Vater sich ruinirt hatte, brauchte die Tochter ja so sehr große Rücksichten nicht mehr zu nehmen. Und dann war ja doch auch immer noch das Vermögen Charlotten's da, wenn es auch durch die verschiedenen Anleihen, die er in seinen Verlegenheiten bei der Schwester gemacht hatte, beträchtlich zusammengeschmolzen war. Für die Frauen war im schlimmsten Falle gesorgt. Und was Henri betraf –
Der Freiherr trat vom Fenster zurück und begann wieder seine Wanderung durch das Zimmer.
Was Henri betraf! – ein Sohn, der sich das gegen seinen Vater unterfängt, hat selbst die Bande zerrissen, die den Vater an den Sohn knüpfen. Er lügt! Ich habe ihn nicht immer, nicht von jeher wie einen Taugenichts behandelt! Ich habe ihm die wilden Streiche seiner Knabenjahre siebenmal siebzigmal vergeben; ich hatte noch, als ich damals gezwungen war, ihn nach Tuchheim zurückzunehmen, das Beste mit ihm im Sinn; ich denke noch des Morgens, als mir der Bote den Brief brachte und ich und der Fritz beschlossen, die Knaben zusammen bei dem Pastor in Pension zu thun. Er hat sich von mir abgewendet; er hat nie ein Herz für uns gehabt, denn er hat überhaupt nie ein Herz besessen.
Und der Bube wagt, mich zu schmähen! wagt, mir Charakterlosigkeit vorzuwerfen! mir, der ich stets nach meiner besten Ueberzeugung gehandelt habe, ohne zu bedenken, ob ich dabei zu Schaden kommen würde oder nicht!
Und so will ich bleiben, entstehe daraus, was da wolle. Diese Genugthuung bin ich mir selber schuldig.
Er setzte sich an den Tisch und schrieb an Leo:
»Ich habe mich anders besonnen, lieber Doctor! Setzen Sie die Erklärung, die Sie von mir in der Tuchheimer Arbeiterangelegenheit wünschten, in meinem Namen mit meiner vollen Namensunterschrift auf, und lassen Sie dieselbe in so viele Zeitungen, als Sie für gut befinden werden, einrücken.
Ich selbst reise noch heute in der Angelegenheit, von der ich Ihnen sprach, an den Rhein und bedauere sehr, Sie vor meiner Abreise nicht mehr sehen zu können.«
Dann schrieb er an seinen Rechtsanwalt und beauftragte ihn, die bewußten Verhandlungen wegen des Kohlenbergwerks auf telegraphischem Wege abzuschließen; er selbst werde sich, um das Weitere zu veranlassen, an Ort und Stelle begeben.
Er athmete tief auf, als er diese beiden Briefe couvertirt hatte. Das alte sanguinische Temperament regte sich in ihm; es konnte ja noch Alles gut werden, jetzt, da er sich entschlossen hatte, zur Entscheidung zu bringen, was doch einmal entschieden werden mußte.
Seine Haltung war wieder die gewöhnliche, und nur seine Stimme zitterte vielleicht noch etwas, als er jetzt dem eintretenden Diener befahl, sogleich für eine Reise von ein paar Wochen die nöthigen Sachen zu packen. Wir fahren mit dem Schnellzuge um halb Acht. Also expedire Dich! Die Damen sind nicht mehr im Garten? Ich will sie in ihrem Zimmer aufsuchen.
Der Freiherr verließ das Zimmer. Der alte Christian sah ihm mit verwundertem Kopfschütteln nach.
Was hat das nun wieder zu bedeuten? Er hat, so lange wir hier sind, nicht an Reisen gedacht; und nun mit einem Male? Ich wollte, wir wären erst wieder hier, oder wir wären nie hierher gekommen.