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Einundzwanzigstes Capitel.

Leo hatte Tusky noch auf der Dorfstraße eingeholt. Darf ich Sie begleiten? hatte er gefragt. Warum nicht? hatte jener geantwortet. Dann waren sie schweigend neben einander hergegangen, aus dem Dorf über die Felder in den Wald hinein, bis sie zu den Wasserfällen gelangten, die schon einigemal das Ziel ihrer botanischen Excursionen gewesen waren. Hier ist gut sein, sagte Tusky, indem er um sich schaute und tief aufathmete; hier ist es schattig und kühl – hier kann man vielleicht auf ein paar Augenblicke das Elend des Daseins vergessen.

Er ließ sich in das weiche Moos sinken, und Leo folgte seinem Beispiele. Vor ihnen lag das dunkelklare Wasser des Bassins, in welchem sich die mächtigen Stämme hoher Tannen spiegelten, deren Wipfel der rothe Abendschein küßte; würziger Harzduft erfüllte die Luft; von den Katarakten her plätscherte und rauschte es ununterbrochen. Es schien ein seliger Friede über diesem Ort und über dieser Stunde zu schweben, aber die beiden jungen Leute empfanden nichts von diesem Frieden.

So lagen sie geraume Zeit. Der rothe Schein verschwand von den Wipfeln, der Abendwind begann sein melancholisches Lied.

Wenn ich den Buben getödtet hätte, begann Tusky plötzlich, würde man mich zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilt haben, und doch – was wäre mein Verbrechen gewesen? Ich hätte eine junge Natter zertreten, die sich von Eitelkeit und Selbstsucht nährt, und nur darum groß wird, um ihre Giftzähne in das gesunde Leben zu schlagen.

Tusky köpfte mit seinem Stocke einige allzu lang aufgeschossene Gräser. Leo legte ihm die Hand auf den Arm und blickte ihn an, als wollte er sagen: Sprich weiter!

Nicht als ob ich mich vor dem Zuchthaus gefürchtet hätte, fuhr Tusky fort, wer denkt in solchen Augenblicken an dergleichen? – wenn ich ihn leben ließ, so war es, weil mir der Gedanke durch den Kopf fuhr, daß dieser Bube ja schließlich nichts für seine Büberei könne, daß er nur der Repräsentant einer Rasse ist, und daß wir es mit der Rasse, nicht mit dem Peter oder dem Paul zu thun haben. Tusky köpfte noch immer die Gräser. Wer war denn eigentlich Ihr Vater, Leo? fragte er. Ein sehr unglücklicher Mann, erwiederte der Knabe. Tusky lächelte.

Das heißt: er war Einer von Millionen, sagte er; aber erzählen Sie mir mehr. Wer war er? Wo lebte er?

Leo berichtete, was er von seinem Vater wußte. Tusky hörte aufmerksam zu.

Nun ja, sagte er, als Leo zu Ende war; er war eben Einer von den Vielen, die fröhlich hätten gedeihen und Früchte bringen können, hundert- und tausendfältig, wenn die Disteln nicht gewesen wären, die den fruchtbaren Boden, welcher für Alle bestimmt ist, für sich allein haben wollen. Fluch den Disteln! Ich weiß auch davon ein Lied zu singen. Mein Vater war Kuhhirt da oben auf dem Walde. Er war so arm, daß seine Kinder, so wie sie zur Welt kamen, geborene Bettler waren, und vom Bettler zum Vagabunden, vom Vagabunden zum Dieb – das ist kein langer Weg. Einer von meinen Brüdern wurde als Wilderer erschossen, ein anderer sitzt im Zuchthaus, ein dritter ist in die Welt hinausgelaufen, Keiner weiß wohin; die einzige Schwester, die ich habe, ist zu Hause, das heißt in einer elenden Hütte bei der Mutter, die blind und gelähmt ist und nicht leben und nicht sterben kann. Mein Vater hatte sich aus Kummer und Gram über all' dies Leid dem Trunk ergeben und starb im Irrsinn; die Commune hat sich meiner angenommen; so bin ich aus dem Sumpf gerettet, in welchem ich sonst, wie die Meinen, hätte umkommen müssen. Sehen Sie, Leo, das ist auch ein Menschenleben, und so wie dies sind heutzutage unzählige. Fluch den Disteln!

Sie sagen: heutzutage! Ist das nicht immer so gewesen? fragte Leo.

Nein! antwortete Tusky, es ist nicht immer so gewesen. Unsere Vorfahren in der Urväter Zeiten waren so frei wie der Wind auf den Bergen. Ihnen gehörte das Wild im Walde und die Frucht auf dem Felde; für ihren Genuß kelterten sie die Trauben. Aber in wilden und unbändigen Zeiten, die über unser armes Vaterland hereinbrachen, wurde die Kriegerkaste die oberste im Volke und unterdrückte zuletzt das ganze Volk. Da wurden aus den Freien Knechte, aus Unabhängigen Hörige, und dieser Zustand befestigte sich im Laufe der Jahrhunderte und schändete so den Leib und die Seele der Nation, daß sie beinahe bis auf die letzte Spur die Erinnerung ihrer einstigen Freiheit verloren hat und die Last der Knechtschaft auf sich nimmt, geduldig und demüthig, wie der Stier sein Joch. Wie Viele unter uns giebt es denn, die sich das Bewußtsein bewahrt haben, daß sie von demselben Stoff sind, wie der Edelmann, dessen Livrée sie tragen!

Leo dachte an seinen Onkel, mit welchem Stolz der sich einen Diener der freiherrlichen Familie nannte; er dachte an die Ehrfurcht, mit welcher Walter beständig von allen Mitgliedern dieser Familie sprach – und es fiel ihm auf, wie Recht Tusky mit seiner Behauptung hatte. Ja, er mußte sich gestehen, daß er bis vor kurzem dies Verhältniß kaum in einem andern Lichte gesehen habe.

Sie haben viel für unsere Familie gethan, sagte er nachdenklich, wenigstens behauptet es der Onkel, während mein Vater anders darüber sprach. Ich glaube, den Rock selbst, den ich trage, verdanke ich ihrer Güte.

Tusky hatte vollkommen verstanden, was Leo meinte. Und was wäre nun das, sagte er, wenn sie wirklich den Sclaven, der ihnen dient, genährt und gekleidet haben? Es waren vielleicht die Zinsen vom Capital, das sie Euch gestohlen haben, und vielleicht noch nicht einmal so viel. Aber die Zeit wird kommen, wo sie Euch und uns Allen das Capital selbst zurückerstatten sollen; die Zeit wird kommen, ja sie ist vielleicht näher, als selbst die Kühnsten unter uns sich träumen lassen.

Aber wer einmal im Besitze ist, wird sich nicht von seinem Eigenthum trennen wollen, sagte Leo; und dann wären wir die Reichen, und sie würden die Armen sein, der Reichthum hätte nur seinen Herrn gewechselt.

Auch das könnten wir uns zur Veränderung einmal gefallen lassen, sagte Tusky; aber in Wirklichkeit wird sich die Sache doch anders stellen. Jetzt sind die Wenigen im Besitz, hernach werden es die Vielen sein. Je größer der Divisor, desto kleiner der Quotient. Wenn es geschieht, wie ich wünsche und hoffe, wird die Armuth zugleich mit dem Reichthum aufhören, oder, um es anders auszudrücken, es wird Niemand arm und Niemand reich sein; Alle werden haben, was sie bedürfen, und das scheint mir das einzig richtige Verhältniß.

Ich glaubte früher, sagte Leo, so Großes könne nur die Religion bewirken; ich glaubte, diese Gleichheit müsse ein Werk der Liebe sein.

Das habe auch ich einst geglaubt, sagte Tusky; und mit welcher Inbrunst habe ich an diesem Glauben gehangen! Und schließlich will ich ja auch nichts Anderes, als was Christus selbst gewollt hat; ich bin nur überzeugt, daß wir mit frommen Wünschen nicht zu unserm Ziel gelangen, sondern daß, was auf Erden geschehen soll, auch mit irdischen Mitteln in's Werk gerichtet werden muß. Vielleicht würde Christus zu derselben Einsicht gekommen sein, wenn er länger gelebt hätte.

Die Dämmerung war während dieser Unterredung stark hereingebrochen; in der Tiefe der Schlucht, in der sich die Beiden befanden, dunkelte es bereits. Lauter schienen die Wasser zu brausen, vernehmlicher rauschte der Abendwind in den schwankenden Wipfeln. Die beiden jungen Leute erhoben sich und gingen auf dem Wege, den sie gekommen waren, zurück durch den Wald. Leo war von Allem, wa3 er aus dem Munde seines jungen Lehrers gehört hatte, tief bewegt. Sprechen konnte er nicht, obgleich er noch eine Welt zu fragen hatte; auch Tusky war still geworden. So erreichten sie das Dorf, in dessen niedrigen Häusern hie und da schon die Lichter brannten. Ein paar spielende Kinder auf der Straße, aus den Höfen heraus das Brüllen einer Kuh, das Knarren des Ziehbrunnens, um dessen Steinrand ein paar Mädchen schwatzten, das war Alles, was man von Leben sah und hörte.

So kamen sie an das Haus des Bauern, bei dem Tusky von der Gemeinde, bis das neue große Schulhaus fertig sein würde, eingemiethet war. Leo ergriff Tusky's Hand und drückte dieselbe zu wiederholten Malen.

Sie meinen es gut, sagte Tusky; ich hätte mich Ihnen auch sonst nicht so rückhaltslos mitgetheilt. Leider fürchte ich, daß wir die längste Zeit miteinander verkehrt haben. Man wird es mir nicht verzeihen, daß ich die Frechheit hatte, unserem Junkerlein Mores zu lehren.

Tusky trat in das Haus; Leo ging wie im Traum weiter. Er hatte nie daran gedacht, daß, was er für sein individuelles Unglück gehalten hatte, das Unglück eines ganzen Standes, eines ganzen Volkes sei. Wenn er sonst des Abends, von einem einsamen Spaziergange heimkehrend, durch die Dorfgasse kam, war er, von der Dämmerung und seinen Gedanken eingesponnen, ohne nach rechts oder links zu sehen, dahingeschritten, ja er hatte in diesem traumhaften Dahinwandeln einen besonderen Genuß gefunden; heute war es, als wären ihm plötzlich die Augen aufgethan über all' das Elend um ihn her. Er begegnete einem alten Manne, der unter einem schweren Bündel dürren Holzes, das er im Walde aufgelesen, mühsam keuchte; er sah durch die Fenster der Hütten in das Innere der ärmlichen Wohnungen, und was er sah, war Elend – nichts als Elend. Hier erblickte er eine alte Wittwe, die er von der Kirche her kannte, beim trübseligen Lichte eines rauchenden Lämpchens am Spinnrocken, mit den zitternden, runzligen Händen emsig den Faden drehend; dort eine zahlreiche Familie, die um den Tisch saß und ihr Abendbrod verzehrte, das aus nichts als aus Kartoffeln und Salz bestand; in einer dritten zankten sich der Mann und die Frau, und ein paar halbnackte Kinder schrieen in den Lärm hinein.

Und auch dies sind Menschen, sprach der Jüngling zu sich selbst, und sie Alle sind elender als du. Was klagst du denn, als ob du allein zum Leide geboren wärest?


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