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Siebenunddreißigstes Capitel.

Die Gesellschaftszimmer im Hotel des Freiherrn waren zum Empfang der Freunde des Hauses, die sich allwöchentlich am Mittwoch Abend hier zu versammeln pflegten, bereit. Die Kronleuchter waren angezündet, und die hohen Spiegel zwischen den heruntergelassenen dunklen Vorhängen warfen das helle Licht energisch zurück. Der alte Christian ging mit leisen Schritten ab und zu, warf prüfende Blicke nach der Decke, nach den Wänden, auf den Boden, rückte hier einen Stuhl zurecht und dort ein Bild, nahm hier mit dem Wischtuche noch einen Staubrest weg und fuhr dort mit dem Wedel einer Büste über das Gesicht. Sonst war Niemand in den Zimmern. Der Alte war mit seinen Einrichtungen zufrieden; er blickte nach der Uhr, nahm seine Sachen zusammen und schritt nach der Thür, die kaum hörbar hinter ihm in's Schloß fiel.

Ein paar Minuten waren die schönen, hohen Räume sich selbst überlassen. Dann öffnete sich eine Tapetenthür, die nach den inneren Wohngemächern führte, und ein junges Mädchen trat herein. Sie durchschritt erst die ganze Flucht der Zimmer, wie um sich zu überzeugen, daß sie allein sei; dann kam sie langsam zurück und setzte sich endlich in dem blauen Zimmer in einen der niedrigen, bequemen Lehnsessel, die um den Kamin herum standen.

Sie stützte den Kopf in die Hand und blickte starr auf die Spitze des zierlichen Fußes, die unter dem Saum des Kleides hervorsah; aber es war das keine Regung der Eitelkeit; sie dachte in diesem Augenblicke nicht an den zierlichen Fuß – sie war auch vorhin, als sie durch die Zimmer schritt, an den Spiegeln vorübergegangen, ohne einen Blick hineinzuwerfen.

Sie nahm einen Brief aus der Tasche und begann zu lesen; aber vor den Thränen, die ihr in die Augen traten, schwammen die Worte in einander, und bald fielen große Tropfen auf das Papier. Weinte sie über den einsamen alten Vater? Weinte sie über die junge Tochter, die nun mit dem Alten einsam sein wollte?

Aber war sie hier denn nicht so gut einsam, wie dort auf dem Forsthause? Hatte sie sich in den sonnigen Tagen der Jugend, wenn sie des Morgens durch den Wald streifte, wo die Vögel sangen und die Mücken im Schatten Ringeltanz spielten, je so allein gefühlt, wie jetzt? Es war ja kaum ein Opfer, das sie brachte; es war ja eigentlich nur die Erfüllung eines Wunsches, den sie selbst längst schon gehegt, und den auszusprechen sie sich nur der Menschen wegen gescheut hatte, die seit so vielen Jahren mit nie getrübter Liebe und Freundschaft an ihr hingen. – Und doch muß es sein! sagte das Mädchen, indem sie sich mit einer gewissen Ungeduld aufrichtete.

Was muß sein, Silvi? flüsterte eine sanfte Stimme, und eine leichte Gestalt in weißem Gewande kniete an ihrer Seite und schlang den Arm um ihren Leib. – Wie, Du hast geweint, Silvi? fuhr sie fort, als sie der Freundin in das Gesicht gesehen hatte. Du hast geweint?

Warum kommst Du auch gerade jetzt! sagte Silvia, indem sie zu lächeln versuchte und sich schnell die Thränen abtrocknete.

Würdest Du nicht weinen, auch wenn ich nicht gerade jetzt gekommen wäre? erwiederte Amélie mit sanftem Vorwurf; was ist's, Silvi, liebe Silvi? Das ängstigt mich so, wenn ich Dich weinen sehe. Was ist geschehen? Was ist das für ein Brief? – von – von –

Nicht von ihm – nicht von Deinem jungen Helden – der Brief ist von meinem alten Vater – und, um es kurz zu sagen und Dich nicht länger zu ängstigen: ich muß zurück.

Das heißt – Du meinst – Du willst –

Das heißt – komm', setze Dich her zu mir, mein Liebling, hier auf diese Fußbank, und leg' Deine Arme auf meinen Schoß und sieh mit den guten braunen Augen nicht so angstvoll zu mir empor! Wir wollen einmal recht verständig zusammen sprechen; es plaudert sich so schön, wenn man sich hübsch angezogen hat und die Lichter brennen und die Leute jeden Augenblick kommen können. Man ist noch nicht in Gesellschaft und ist doch nicht mehr für sich, und so ist man auch im Herzen halb warm und halb kühl, halb häuslich mittheilsam und halb gesellschaftlich reservirt. Das ist die rechte Stimmung, um so wichtige Dinge zu besprechen. Sieh', mein, Mädchen, der Winter steht vor der Thür, und da, weißt Du, ist es draußen auf dem Lande öde und traurig, zumal im Walde, wo die letzten Blätter von den Eichen rascheln und durch die kahlen Zweige die wilden Stürme sausen. Und mitten im öden, stürmischen Walde, in dem kleinen Hause auf der Waldwiese, sitzt ein alter Mann und horcht, wie es draußen stürmt, und manchmal horcht er noch schärfer auf. Es ist ihm gewesen, als ob er durch den Sturm ganz deutlich das Rollen eines Wagens höre. Und wenn er sich überzeugt hat, daß er sich geirrt, dann schüttelt er seufzend das Haupt und beugt sich wieder über die alten dicken Rechnungsbücher. Und – aber Amélie, Kind –

Laß mich! Laß mich! Ich habe nichts von dem, was Du gesagt hast, gehört, außer das Eine, daß Du fort willst. Ach, Silvi, Silvi, wie kannst Du mir das anthun? – Und jetzt, wo die Saison eben anfängt, wo ich gar nicht ohne Dich leben kann, Du mein Trost, meine Stütze und mein Stab in allen gesellschaftlichen Fährlichkeiten! – Und Du bist ja erst diesen Sommer sechs Wochen lang bei dem Vater gewesen, und ich lasse Dich nicht weg, oder ich gehe mit Dir! O Silvi, Du darfst nicht fort!

Und Amélie legte beide Arme um der Freundin schlanken Leib und küßte sie leidenschaftlich unter Lachen und Weinen.

Vielleicht hätte ich gar nie hier sein sollen! erwiederte Silvia. Nein, Kleine, Du mußt mich nicht so entsetzt ansehen und Dir die hübschen Augen roth weinen, sonst sage ich gar kein Wort mehr. – Ich meine, ich hätte die Sphäre nie verlassen sollen, in der ich geboren bin. Ich hätte dann nie gewußt, was es heißt, Ansprüche an das Leben machen, Ansprüche, zu denen man nicht berechtigt ist. Ich bin zu einer Höhe emporgestiegen, auf die ich nicht gehöre, von der ich über kurz oder lang herunter muß und also nicht früh genug heruntersteigen kann.

Zu einer Höhe, auf die Du nicht gehörst? Du nicht gehörst! sagte Amélie, und ihre großen braunen Augen drückten die aufrichtigste Verwunderung aus. Wer in aller Welt gehört denn dahin, wenn Du es nicht thust? Du, die, wohin sie kommt, als die Erste anerkannt wird, der Alle willig huldigen, Männer wie Frauen, Jung und Alt? Du scherzest, Silvia, und Du scherzest grausam. Was schreibt Dein Vater? Ist er nicht wohl? Warum will er Dich auf einmal?

Mein Vater will mich nicht, wenigstens schreibt er nichts darüber, sagte Silvia; aber durch seinen Brief zieht, wie ferner Glockenton, ein leises Klagen, das in meinem Herzen ein Echo findet. Er ist nicht glücklich, der Vater und –

Und Du bist es auch nicht! Ach, Silvi! Das ist ja schon lange mein stiller Schmerz gewesen. Du bist nicht glücklich, und wir, wir vermögen es nicht. Dich glücklich zu machen.

Amélie legte ihre Stirn auf Silvia's Kniee; Silvia streichelte das dunkle, weiche Haar.

Ich bin nicht glücklich, sagte sie leise; wie könnte ich es sein? Du hast von den Huldigungen gesprochen, die man mir von allen Seiten gewähre. Nun ja! Man rühmt meine Stimme, meinen Vortrag; man ist erstaunt, daß ich ein paar fremde Sprachen nothdürftig sprechen kann; man amüsirt sich über meine Lebhaftigkeit und nennt mich ein geistreiches Mädchen. Rechne von diesen Huldigungen einfach ab, was erlogen ist, und dann, was auf den Unverstand und die Einsichtslosigkeit der Leute kommt, und sage mir, was noch bleibt? Nimm mich aus diesen Räumen heraus, bringe mich in einen Concertsaal, auf die Bühne – es fragt sich sehr, ob ich mir auch nur mein ehrlich Brod mit allen meinen hochgepriesenen Talenten verdienen könnte. Und wäre das auch wirklich der Fall – dahin geht mein Ehrgeiz nicht. Ich möchte nicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten – ich möchte in der wirklichen Welt eine Rolle spielen, und nicht blos eine Rolle spielen, sondern etwas sein – und was kann unsereine da sein! Direct einzugreifen, verbietet uns Gesetz und Sitte. Wir können es nur indirect durch die Männer; und großer Gott, was für Männer sind das, die wir da um uns sehen? die wir überall in Gesellschaften finden? Das bischen Wissen, das sie vor uns voraushaben, hat sie nicht innerlich stärker, hat sie nur schwerfälliger gemacht; sie mäkeln an Allem herum, zucken die Achseln über Alles, wissen Alles besser, aber kein Einziger hat den Muth der Initiative, kein Einziger die Leidenschaft eines großen Gedankens. Ich kenne sie, diese mittelmäßigen Acteurs, kenne alle ihre Rollen, alle ihre Stichwörter. Ich mag sie nicht noch einmal sehen, und deshalb will ich fort, ehe der Vorhang wieder aufgezogen wird. – Siehst Du, Amélie, das war's, was mir durch den Kopf ging, als ich hier, mit des Vaters Brief in der Hand, in dem stillen Zimmer, unter den stillen Möbeln saß und mir die bekannten Räume nach und nach mit den bekannten Menschen füllte. Ich erinnere mich der Zeit, wo mir dies Spiel der Phantasie innigstes Vergnügen gewährte; Ihr wundertet Euch immer, daß ich stets die Erste war! Ach, wie reizend war es, dies Grübeln über die Charaktere, die Verhältnisse, die Beziehungen der Menschen, die man zu sehen erwartete, und das Beobachten eben dieser Menschen, wie sie nun Einer nach dem Andern in's Zimmer traten! Das ist vorbei; ich habe mich zu früh auf's Beobachten gelegt und habe zu viel gesehen, und jetzt bin ich blasirt; ich sehne mich, zu vergessen, was ich gesehen habe; sehne mich, mich selbst zu vergessen. Ich bin nicht mehr gut; ich habe keine reine Empfindung mehr in meinem Herzen. Während ich jetzt sprach und Deine sanften Augen so ängstlich auf mich gerichtet waren, hörte ich mich sprechen und freute mich, daß ich so gut, so fließend sprach. Nicht wahr, das ist schlecht? Ich bin eine Kokette! Ich höre, daß man es vielfach von mir behauptet; glaube mir, ich bin, was die Leute sagen!

Du bist meine Silvi, meine einzig geliebte Silvi, rief Amélie, mein geliebtes, angebetetes Mädchen, mein Ideal! Und ich will nicht hören, daß Du so schlecht von Dir sprichst. Ach Silvi, Silvi, wüßte ich doch nur Einen, den Du lieben könntest, der Deiner würdig wäre! Ich bitte den Himmel so oft darum, daß er mir das Glück gewährt. Dich einmal glücklich zu sehen.

Du bist es?

Ja, ich bin's und würde es ganz sein, wenn – Du weißt, warum ich nicht ganz glücklich bin. Aber das wird sich Alles finden, ich weiß nicht wie und wann? Aber es wird sich finden. Ach, er war heute so froh. Er ist so stolz auf Leo, wie ich es auf Dich bin, und er war dem Vater so dankbar, der darauf bestand, daß er ihn heute Abend mitbringen müsse. Hast Du denn gar nicht daran gedacht, Silvia? Freust Du Dich gar nicht, ihn wiederzusehen?

Freuen? erwiederte Silvia, weshalb sollte ich mich freuen? Ich habe den Leo nie gern gehabt, im Gegentheil, er war ein hochmüthiger, unliebenswürdiger Knabe, und, wenn ich mich recht erinnere, haßte ich ihn mehr, als ich ihn liebte.

Ich hatte immer einen heillosen Respect vor ihm, sagte Amélie; das ist aber auch wirklich fast das Einzige, dessen ich mich erinnere, und dann, daß er dunkle Augen und einen düstern Blick hatte. Komm' mir heute Abend nur zu Hilfe, wenn ich mich mit ihm unterhalten muß. Nicht wahr, liebste, beste Silvi, Du verläßt Deine kleine Amélie nicht?

Silvia hatte keine Zeit zu antworten, denn man hörte nebenan die Thür gehen, die auf den Vorsaal führte, dann das Rauschen eines seidenen Gewandes, und alsbald erschien die Gestalt eines jungen, sehr brünetten Mädchens mit lebhaften Augen und lebhaften Zügen und Geberden, das eiligen Schrittes und mit ausgestreckten Händen auf die beiden jungen Damen am Kamin zueilte.

Ah, mon Dieu! rief die junge Dame. So allein, Mesdames, und auch nicht eine Dame zur Begleitung? Das wundert mich. Guten Abend, wie geht's? Ich komme früh und toute seule! Ich konnte den Papa wie gewöhnlich nicht persuadiren, mitzugehen; und was Alfred betrifft, nicht in dem Saal, nicht auf dem Flur fand ich von Alfred eine Spur. Da bin ich denn auf den Flügeln der Sehnsucht vorausgeeilt.

Fährt es sich gut in dem neuen Wagen? fragte Silvia.

Sehr gut, excellent – aber, Sie Spötterin, Sie wollen mir nur die Flügel der Sehnsucht stutzen. Ich weiß, Sie lieben meine allegorische Redeweise nicht. Qu 'importe! Lassen Sie die Flügel und glauben Sie an die Sehnsucht. Ach, was das reizend ist, daß ich die Erste bin! So ganz unter uns Mädchen! Da können wir noch ordentlich ein Stück plaudern. Werden heute viel Leute kommen? wird es sehr amüsant werden?

Emma von Sonnenstein ließ sich in einen der niedrigen Fauteuils sinken, strich mit der kleinen Hand das bauschige Kleid glatt und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, in demselben Tone fort:

Aber das muß ich sagen, Ihr seid die geheimnißvollsten Zwei, die ich kenne; die wahren Sphinxe, wahrhaftig.

Was haben wir denn verbrochen? sagte Amélie und lachte.

Du nicht so viel, rief Emma, denn Dich geht er ja eigentlich nichts an, obgleich er mir sagte, daß Ihr früher viel zusammen gewesen seid. Aber daß Silvia nie von ihrem Vetter gesprochen hat, das finde ich jetzt, nachdem ich ihn gesehen habe, erstaunlich.

Du hast ihn gesehen? fragte Amélie mit offener Neugier.

Du fragst ja, als ob Du ihn nicht gesehen hättest?

Nein, er ist noch nicht bei uns gewesen; aber –

Ist noch nicht bei Euch gewesen? Aber das ist ja noch viel erstaunlicher! rief Emma und hob die beiden Hände in höchster Verwunderung.

So komme doch nur endlich aus Deinem Erstaunen heraus und erzähle uns, sagte Amélie, indem sie Silvia mit den Augen winkte. Wir sprachen noch eben von ihm und überlegten, ob wir ihn wohl einladen könnten, auch wenn er uns keinen Besuch machte. Er soll ja so scheu sein – ein wahrer Menschenfeind, sagt Walter. Und bei Euch ist er schon gewesen? Gleich am ersten Tage?

Gleich am ersten Tage, erwiederte Emma, indem sie den Kopf zurücklehnte und schmachtend nach der Decke schaute. Nun, Kinder, eifersüchtig braucht Ihr deshalb nicht auf mich zu sein, denn eigentlich galt der Besuch nicht mir, sondern dem Papa, obgleich er sich beinahe eine halbe Stunde mit mir unterhalten hat. Er hatte Empfehlungen an den Papa von – ich weiß nicht welchen politischen Größen aus der Schweiz und Süddeutschland oder Frankreich – ich erinnere mich dessen nicht so genau. Der Papa sagt, ein so junger Mann mit so viel Kenntnissen und so viel Welt sei ihm im Leben noch nicht vorgekommen. Nun, die Kenntnisse lasse ich dahingestellt, wenigstens habe ich ihn darauf hin nicht prüfen können; aber Welt, Welt hat er – eine Welt von Welt, möchte ich sagen. Eine Sicherheit des Auftretens, eine Präcision des Ausdrucks, die wirklich entzückend ist. Nicht ein Wort zu viel, nicht ein Wort zu wenig –

Sie wissen diesen Vorzug zu schätzen? warf Silvia ein.

Sie meinen, ich mache zu viel Worte? sagte Emma, aber, mon Dieu! Ich bin nun einmal ein Naturkind und kann mich nicht in vornehmes Schweigen hüllen, wo mein Herz mich sprechen heißt.

Also bis zum Herzen sind wir schon! rief Amélie lachend; armer Henri!

Nun das mit dem Herzen war nur so eine façon de parler, sagte Emma und versuchte die Lage, welche die schlanke Silvia auf ihrem Fauteuil eingenommen hatte, zu copiren. Mein Herz gleicht ganz dem Meere, vor Allem darin, daß es nicht so leicht zu ergründen ist. Was ist mir Hekuba? was Henri? was die Andern? Ich sollte Euch nun eigentlich nichts mehr erzählen, aber ich will gutmüthig sein, wie immer, und wirklich, das Interessanteste habe ich noch in petto. Kaum hatte ich nämlich ein Stündchen oder so mit dem Herrn Doctor gemüthlich geplaudert, und ich wollte mich eben über eine Anekdote, die er ganz vortrefflich erzählt hatte, todtlachen – wer läßt sich melden? Natürlich Henri. Der Doctor steht auf. – Ich will nicht stören. – Ganz und gar nicht, bleiben Sie doch! – Da war Henri schon da. – Erlauben die Herren, daß ich Sie – weiter kam ich nicht, denn Henri's Gesicht nahm, während er den Doctor scharf in's Auge faßte, einen so seltsamen Ausdruck an – aber ich sage Euch, einen wahrhaft erschreckenden Ausdruck, daß ich selbst erschrak und schnell den Doctor ansah. Der blickte so ruhig wie der steinerne Gast, und als ich wieder Henri ansah, hatte der auch seine gewöhnliche Miene wieder angenommen. Ich habe schon früher das Vergnügen gehabt, sagte er. – Es freut mich, wenn Sie sich der alten Zeit mit Vergnügen erinnern, sagte der Doctor; vielleicht habe ich sonst noch die Ehre – damit empfahl er sich. – Wo kommt denn der her? rief Henri, als der Doctor kaum zur Thür hinaus war. – Das hättest Du ihn selber fragen sollen, sagte ich, ein wenig empört über diese Rücksichtslosigkeit. – Es scheint, daß Du heute in sehr ungnädiger Laune bist. – Findest Du? – Mit einem Worte, es gab eine kleine Scene. Ist das Alles nicht sehr merkwürdig?

O, gewiß, sagte Amélie, sehr merkwürdig, sehr interessant. Aber eine Hauptsache hast Du noch vergessen: Wie sieht er denn aus?

Ich sagte ja schon, wie der steinerne Gast – in Schwarz, und dreißig Jahre oder so jünger, aber mit derselben Grandezza. Ich kann wohl sagen, er hat mir sehr imponirt. Groß, schlank, dunkle Augen, dunkles Haar, dunklen Bart, dunkle Gesichtsfarbe, kurz Alles dunkel, wie ein spanischer Grande oder ein venetianischer Nobile in Frack und weißen Handschuhen.

Das muß ja ein wahrer Ausbund sein – von wem ist denn die Rede? fragte eine sanfte Stimme.

Ah, ma chere tante! rief Emma aufspringend und Fräulein Charlotte die Hand küssend.

Charlotte wiederholte die Frage und sagte, als sie gehört, von wem die Rede war:

Emma mag Recht haben. Leo's Wesen hat mich früher oft an das hübsche Goethe'sche Wort von den edlen Knaben Venedigs erinnert, die so eigen und stolz seien, weil sie dermaleinst doch Doge werden konnten.

Jetzt trat auch der Freiherr herein und begrüßte die Damen in seiner anmuthigen Weise.

Ihr wundert Euch, daß ich heute so zeitig komme, sagte er, und, der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich gestehen, daß nicht Ihr es seid, um derenthalben ich mich von einer Broschüre über die sociale Frage losgerissen habe, deren Lectüre mich heute den ganzen Nachmittag beschäftigte. Ich stimme mit dem Autor keineswegs ganz überein; aber er behandelt seinen Gegenstand doch von einem so hohen Standpunkte aus und mit einem so weiten, großen Blick, wie sie in den platten Doctrinen unserer heutigen Liberalen geradezu unerhört sind. Vielleicht – so sind wir Menschen nun einmal – würde das Büchelchen einen noch größeren Eindruck auf mich gemacht haben, wenn ich nicht wüßte, daß der Verfasser ein junger Mann ist, ein junger Mann, den ich noch vor wenigen Jahren als Knabe fast gesehen habe. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich von Leo spreche. Er ist nach Allem, was ich darüber urtheilen kann, ein bedeutender Mensch geworden, und es gereicht ihm in meinen Augen nicht zum Nachtheil, daß er es auf eigene Hand geworden ist. Ich verstehe jetzt auch zum ersten Male die Motive seiner damaligen Handlungsweise. Er hat gefehlt, ohne Frage, aber nicht wie ein Thor, aus Unverstand, oder wie ein schlechter Mensch, aus Bosheit, sondern in dem Fanatismus einer noch nicht abgeklärten Ueberzeugung. Es kommt in der Broschüre eine schöne Stelle vor, die offenbar auf die Tuchheimer Affaire Bezug hat. Ueberdies hat mir Walter erzählt, daß Leo nicht persönlich oder doch nicht direct bei dem Angriff auf unser Haus betheiligt war. Dennoch lobe ich Walter's Tact, der Leo heute Abend mitbringen zu dürfen bat. Nach dem, was geschehen, hat eine erste Begegnung unter vier Augen immer etwas Peinliches für beide Theile; in der Gesellschaft macht sich dergleichen glatt und leicht. Ich bin recht, recht begierig, ihn wiederzusehen – und der Freiherr rieb die schönen weißen Hände und ging, in Gedanken schon wieder bei seiner Broschüre, im Zimmer auf und ab.

Die Damen hatten die Worte des Freiherrn mit einer Aufmerksamkeit angehört, die sich in ihren Mienen und Geberden auf die verschiedenste Weise ausdrückte, und das Gespräch, das sich noch immer um Leo drehte, war bald ein allgemeines. Nur Silvia, die von Anfang an etwas abseits und halb abgewendet, den Arm auf den Sims des Kamins stützend, dagestanden hatte, mischte sich nicht in die Unterhaltung und entfernte sich nach einigen Minuten. Amélie ging ihr nach und traf sie im Nebenzimmer am Clavier, in einem Notenhefte blätternd.

Ich bin heute so in Sorge um Dich, Silvia, daß ich Dich nicht aus den Augen lassen kann. Sobald Du den Rücken wendest, denke ich, Du gehst und kommst nicht wieder. Was hast Du? Ist Dir Emma's Geschwätz so unangenehm?

Du weißt, ich höre das Wenigste von dem, was sie sagt, erwiederte Silvia; nein, das ist es nicht. Es ist mir eben wunderlich gegangen. Während Dein Vater sprach, fühlte ich ganz deutlich, wie die alte Abneigung gegen meinen Vetter sich wieder in meinem Herzen regte. Es ist so unbequem, Jemand loben zu hören, wenn man in das Lob nicht einstimmen kann. Das hat mir damals den Leo verleidet, und ich wollte wenigstens versuchen, ob ich ihm nicht jetzt unbefangen und ohne Vorurtheil entgegentreten kann. Da kommt ja Miß Jones. Ist es denn schon acht Uhr?

Miß Ethel Jones hatte schon seit vier Jahren das freiherrliche Haus verlassen. Sie erklärte plötzlich, daß die jungen Damen ihrem Unterricht vollständig entwachsen seien und daß sie es mit ihren Begriffen von Moral nicht vereinigen könne, in einer Stellung zu verharren, wo sie nichts mehr nütze. Vergebens, daß der Freiherr und Fräulein Charlotte in sie drangen; vergebens, daß die Mädchen sie mit Thränen beschworen, – die resolute Miß ließ sich von ihrem Entschlusse nicht abbringen, packte ihre Koffer und errichtete mit den reichen Ersparnissen ihrer fast zwanzigjährigen Gouvernanten-Laufbahn in einem der fashionabelsten Quartiere der Stadt ein »Pensionat für junge Damen aus edlen und respectablen Familien«, das sich bald eines ungewöhnlich großen Zuspruchs erfreute. Miß Jones stand ihrem Institut mit einer Gewissenhaftigkeit vor, welche der Mißgunst und dem Neide ihrer zahlreichen Concurrentinnen auch nicht die mindeste Blöße gab, nur daß sie während des Winters regelmäßig einen Abend in der Woche in einer Miethkutsche ihr Haus verließ, um zehn Minuten später, mit dem Glockenschlage acht, in einem schweren braunen Seidenkleide, die breiten Schultern in einen gelben Shawl gehüllt, und auf dem viereckigen Kopf einen abenteuerlichen Putz aus Federn und Blumen, in den Salon des Freiherrn einzutreten, wo sie alsbald hinter dem Theetisch Platz nahm. Dort verweilte sie bis zum Glockenschlage Zehn und rauschte dann stattlich, wie sie gekommen war, davon. Miß Jones war eine stereotype und allerseits gern gesehene Figur in dem Salon des Freiherrn; sie stand in dem Rufe, den besten Thee in der ganzen Residenz bereiten zu können, und Jedermann bewarb sich um ihre Gunst. Ihren Platz hinter dem Theetisch verließ sie nur, wenn Silvia sang. Sie behauptete, daß Niemand außer ihr Silvia begleiten könne, und es war gewiß, daß diese junge Dame sich von Niemand lieber begleiten ließ.

Miß Jones' breites Gesicht, dessen Farbe stets ein wenig mit dem lebhaften Regenbogen ihrer Toilette wetteiferte, war heute noch ganz besonders geröthet, und sie war der jungen Dame kaum ansichtig geworden, als sie mit lauter Stimme rief: Ist es denn möglich, was mir Walter heute geschrieben hat? Ist der sonderbare Knabe wirklich zurück? Wo ist er?

Silvia zuckte ungeduldig die Achseln, während Amélie der bewährten Freundin, was sie wußte, mittheilte. – Es ist noch ganz wie damals, dachte Silvia, sie haben ihn immer verwöhnt und überschätzt, und können nun damit nicht zeitig genug wieder beginnen. Wenn alle Welt ihm so geschmeichelt hat, welch' ein widerwärtiger, anmaßlicher Mensch muß das geworden sein! Ich hätte fast Lust, wenigstens heute ihm aus dem Wege und auf mein Zimmer zu gehen.

Unterdessen waren die ersten Gäste eingetreten, denen bald andere und andere folgten.. Die Gesellschaft war heute Abend ganz besonders zahlreich. Das neue Abgeordnetenhaus war eben zusammengetreten, und es waren sofort einige wichtige Dinge angeregt worden, über die man sich auf einem neutralen Boden freimüthig auszusprechen wünschte. Um diese ernsteren Gruppen, die heute ihre Plätze besonders standhaft behaupteten, bewegten sich im bunten Durcheinander die munteren Schaaren der Vielen, die sich nur angenehm unterhalten wollten – Herren, wie Damen, plaudernd, scherzend, mit verbindlichen Manieren und mit wohlwollendem Ausdruck auf den lächelnden Gesichtern.

Nur auf Silvia's schöner Stirn lag es wie eine dunkle Wolke; selbst die witzigsten, geistvollsten Bemerkungen bedeutender Männer – und diese drängten sich vorzüglich gern in ihre Nähe – konnten ihr heute keine der treffenden Antworten, keines jener hübschen bezeichnenden Worte, die ihr sonst in Fülle zu Gebote standen, ja kaum ein Lächeln entlocken. Doctor Paulus, der Arzt des Hauses, der sich sonst ihrer besondern Gunst erfreute, wagte, auf ihre Schweigsamkeit anspielend, an das horazische Wort zu erinnern, daß Apollo nicht immer den Bogen spanne, und war nicht wenig erstaunt, ja erschrocken, als Silvia, wie aus einem Traum erwachend, mit einem fast zornigen Licht in den ausdrucksvollen Augen erwiederte: der Bogen des Apollo erinnere sie an den Bogen in der Lessing'schen Fabel, der von dem Künstler so fein geschnitzt wurde, daß er, als jener ihn spannen wollte, zerbrach. – Das ist das Bild unserer heutigen Menschen, rief sie; Jeder von uns, ohne Ausnahme, gleicht diesem verschnitzelten Bogen, der zu nichts in der Welt gut ist, als ihn in einem Salon als Zierrath aufzuhängen.

Sie trat aus dem Kreise, der sie umgeben hatte, heraus und setzte sich auf ein kleines Sopha in der Nähe des Fensters, wohin ihr Niemand so leicht folgen konnte, neben eine alte, gutmüthige Dame, die sofort in ihrer behaglichen Weise ein Gespräch anfing, dessen Kosten sie gern allein übernahm. Aber der blecherne Klang der schwatzlustigen Stimme neben ihr berührte nur eben Silvia's Ohr; durch ihre Seele zogen düstere Gedanken wie dunkle Wolken, die, mit jedem Augenblick ihre phantastische Gestalt verändernd, über einen heißen Sommernachmittagshimmel ziehen. Vor ihrem starren Blick verschwamm die sich vielfach bewegende Menge zu einem leeren Schattenspiel, und zuletzt sah sie nichts mehr von alledem, was um sie her war. Im Geiste war sie bei den Stätten ihrer Kindheit – dem lieben alten Hause auf der Waldwiese, dem lauschigen Garten, dem majestätischen Walde, in dem so wunderbare Stille herrschte, daß die Vögel ganz anders sangen, und daß, wenn man die eigene Stimme erhob, sie klang wie die Stimme der Prinzessin im Märchen! O, des Sonnenscheins auf den duftigen Wiesen! Und das Murmeln des Baches über die glatten Kiesel und sein zorniges Donnern die Felsentreppe hinab! O Paradies der Kindheit, das so bald, so bald dem entzauberten Blicke des heranwachsenden Mädchens entschwand! – So hab' ich den Wald zum letzten Male gesehen am Morgen des Tages, an welchem Leo zu uns in's Haus kam; – ich weiß es ganz genau, ich hatte mich an dem Morgen bei den Wasserfällen gebadet, und ich war kaum in's Haus zurückgekehrt, als ihn der Vater brachte, bleich und blutend, und darüber merkte die Tante nicht, daß mein Haar noch naß war. Ist es doch, als wenn mit der Gestalt des düstern Knaben ein Schatten in unser Haus und in mein Leben gefallen wäre! Und doch erinnere ich mich, daß er im Anfang in seiner Weise freundlich zu mir war; er lieh mir seine Bücher, er wollte mich sogar lateinisch lehren, und es hat wohl nicht an ihm gelegen, wenn ich nicht mehr gelernt habe; ich dagegen ließ meinen Uebermuth gern an ihm aus, ich nannte ihn den häßlichen Zigeunerjungen, obgleich er eigentlich gar nicht häßlich war. Vielleicht habe ich es hauptsächlich zu verantworten, wenn wir später immer so schlecht gegen einander standen.

In Erinnerungen verloren saß Silvia da. Die alte Dame an ihrer Seite hatte mit einer andern alten Dame, die sich zu ihr gesellt, zu plaudern begonnen. Silvia blieb ungestört.

Sie sann und sann. Es war, als ob ihr die Tage ihrer Jugend in einem Zauberspiegel vorübergeführt würden – Bild an Bild; zuletzt war es die große Buche am Saum des Waldes, wo sie sich mit dem Kronprinzen haschte, der sie küssen wollte und sie geküßt haben würde, wenn Leo nicht plötzlich dazwischen getreten wäre. Warum trat er dazwischen? – Silvia hatte sich in all' den Jahren, die seitdem verflossen waren, nie diese Frage vorgelegt, wenn sie, was selten genug geschah, an jene wunderliche Scene dachte. Es war eben einer von den vielen, vielen Nebelflecken an dem Sternenhimmel der Kinderzeit. Und heute wußte sie auf einmal den ganzen Zusammenhang; heute sah sie, was in den Seelen der Betheiligten in jenen Augenblicken vorgegangen, so klar, als hätte sich die Scene jetzt, hier vor ihrem durch so viel Beobachtung geschärften Auge ereignet. Sie wußte, daß der Prinz in Haltung, Blick und Ton die Frechheit eines Wüstlings zur Schau getragen; sie wußte, daß Leo, der kluge, stolze, scheue Leo sich nicht in eine Gefahr, die er sehr gut zu schätzen wußte, gestürzt haben würde, wenn er das kokette Mädchen nicht in seiner knabenhaften Weise geliebt hätte. Ja, ja – er hatte sie geliebt; es war das wilde Feuer der Eifersucht gewesen, das in seinen düsteren Augen brannte, als er den Prinzen an den Armen festhielt, während das Blut von seinen Lippen rann. –

In dem traumhaften Zustand, in welchem sich Silvia befand, wirkte diese Entdeckung wie ein Licht, das durch einen plötzlich geöffneten Laden in ein dunkles Zimmer fällt. Sie fuhr erschrocken aus ihrem Brüten auf. Der Zauber, der sie umstrickt hatte, war gebrochen; sie hörte wieder die blecherne Stimme an ihrer Seite, das Summen der conversirenden Gesellschaft; sie sah die lächelnden Herren und Damen sich gegen einander beugen und neigen und mit höflichem Ausweichen aneinander vorüberhuschen – und plötzlich sah sie in der Mitte des sehr großen Gemachs, gerade unter dem Kronleuchter, den Freiherrn mit einem jungen Manne sprechen, in dem sie auf den ersten Blick Leo erkannte. Und doch! wie hatte er sich verändert! – War es die von oben herabfallende scharfe Beleuchtung, oder war das Gesicht wirklich so blaß und die Züge so plastisch scharf ausgeprägt? Auch mußte er noch gewachsen sein, denn jetzt hatte er beinahe die stattliche Größe des Freiherrn, und welche Wandlung war mit dem scheuen, ungelenken Knaben vorgegangen, bis aus ihm der Mann wurde, dessen ruhig-sichere Haltung dem tiefen Ernst seiner Züge entsprach!

Silvia's Blicke blieben auf dieser Gestalt haften; sie merkte mechanisch auf jede seiner Bewegungen, seiner Geberden; sie glaubte zu hören, was er mit dem Freiherrn sprach. Walter trat zu den Beiden mit, wie es schien, vor Freude strahlendem Gesicht; der Freiherr lächelte und machte eine Bewegung, Leo verbeugte sich, Walter faßte ihn unter den Arm und führte ihn in's Nebenzimmer, wo, wie Silvia wußte, Fräulein Charlotte und Amélie waren. Augenscheinlich hatte man sie in ihrer Ecke nicht bemerkt.

Es war dies sehr erklärlich; dennoch kränkte es sie.

Sie erhob sich, trat mit raschen Schritten in den Saal und sah sich alsbald von einigen Herren umgeben, die ihr lachend mittheilten, sie hätten eben ein Complot fertig gehabt, sie aus ihrer Ecke heraus zu locken. Silvia ging auf den Scherz ein, und es hatte sich Niemand mehr über ihr düsteres Wesen zu beklagen. Sie lachte und warf die Witzworte, mit denen sie ein wegen seiner Bonmots bekannter Abgeordneter neckte, so geschickt zurück, daß die Unterhaltung in dem kleinen Kreise sich immer lebhafter entzündete und immer mehr Zuhörer heranzog.

Dennoch war Silvia nicht mit ganzer Seele bei der Unterhaltung. Sie richtete oft den Blick auf die Thür des Nebenzimmers, und wohl Niemand der um sie Versammelten konnte sich die seltsame Blässe erklären, die plötzlich ihr Gesicht bedeckte. Leo und Walter waren wieder aus dem Nebenzimmer getreten und hatten sich der Gruppe genähert, offenbar in der Absicht, bis zu Silvia durchzudringen. Aber Silvia kam dieser Absicht nicht entgegen; sie wollte nicht sehen, daß Walter ihr gelegentlich einmal mit den Augen winkte; sie hatte so viel zu sagen, zu hören. Leo zuckte die Achseln und wendete sich ab: – er hatte es leicht aufgegeben.

Ein paar Musiker waren kühner, als Leo und Walter. Sie machten sich bis zu Silvia Bahn und baten sie im Namen der ganzen Gesellschaft, ein paar Lieder zu singen. Miß Jones, die man davon benachrichtigt, habe bereits ihren Platz am Theetisch mit dem am Flügel vertauscht.

Silvia sagte zu und ging in das Nebenzimmer auf der andern Seite, wo das Instrument stand, und in dem nächsten Augenblicke schon ertönte ihre Stimme, deren starker, edler Klang die hohen Räume ganz erfüllte und das durcheinander schwirrende Gesumm der Conversation wie mit einem Zauber zum Schweigen brachte. Es waren ihr sehr bekannte und sehr liebe Lieder, die sie zu singen hatte; und sie sang mit einem Feuer und einem Ausdruck, der Alle entzückte; aber auf einmal wurde ihre Stimme unsicher, und ein eben angefangenes Lied kurz abbrechend und sich bei den Umstehenden mit einer Heiserkeit, die sich plötzlich eingestellt habe, flüchtig entschuldigend, trat sie schnell von dem Instrumente zurück.

Man überhäufte sie mit den schmeichelhaftesten Lobeserhebungen, die sie nicht ohne sichtbare Ungeduld nun sich abwies und an den dabeistehenden bescheidenen Componisten zu richten bat.

Ich weiß nicht, wie Sie gesungen haben, sagte Henri, der eben mit Alfred von Sonnenstein herantrat; denn wir kommen diesen Augenblick, und ich bin deshalb nicht in der glücklichen Lage, in das begeisterte Lob einstimmen zu können.

Fräulein Silvia muß man wie eine Gottheit immerdar loben und preisen, sagte Alfred; haben wir nicht das Glück gehabt, Sie zu hören, haben wir doch das Glück, Sie zu sehen.

Die Herren kommen von einem Diner? fragte Silvia trocken.

Errathen! rief Henri lachend. Sie sind die wahre Herzenskundigerin.

Das würde mir Ihnen gegenüber wenig helfen.

Weil ich kein Herz habe, meinen Sie? erwiederte Henri; ich weiß, Sie haben mich stets in diesem Verdacht gehabt, weil ich eine Cordelianatur bin und mein Herz nicht in der Hand trage. Fragen Sie Alfred!

Fragen Sie lieber meine Schwester! rief Alfred.

Oder seine Schwester, sagte Henri; sie ist in der That die Einzige, die mir von Zeit zu Zeit Gerechtigkeit widerfahren läßt.

Aber wo ist denn der Wundermann, von dem heute der Papa so viel Wesens machte und heute Abend der halbe Salon sich unterhält? sagte Alfred und klemmte sein Lorgnon in's Auge.

Ich kann Ihnen darüber keine Auskunft geben, erwiederte Silvia; Sie thäten wohl am besten, wenn Sie ihn suchen gingen.

Was meinst Du, Alfred? sagte Henri, als Silvia sich mit leichtem Kopfnicken von ihnen entfernte; sollte man wohl glauben, daß diese Prinzessin, die uns so grausam abfallen läßt, die Tochter von meines Vaters Förster ist?

Aber schön ist sie, verteufelt schön! sagte Alfred, nach der Thür lorgnettirend, durch welche Silvia verschwunden war; grands dieux, combien elle est jolie! Heirathen kann man sie freilich nicht, aber –

Du bist der wahre Don Juan.

Pah, sagte Alfred, sein Lorgnon fallen lassend und selbstgefällig lächelnd: was ist's denn groß? Ich kann mit dem guten Horaz sagen: militavi.

Non sine gloria, wie Du aus Bescheidenheit hinzuzusetzen vergissest. Aber, um auf den Leo zurückzukommen, sieh' zu, daß der Bursche sich nicht in Eurem Hause festsetzt. Dein Vater scheint großen Appetit zu haben, einen Narren an ihm zu fressen, und Deine Schwester nicht minder.

Pah, rief Alfred.

Ich sage Dir, der Bursche ist gefährlich; ich kenne ihn von Tuchheim her sehr genau, und was ich jetzt von ihm gehört habe, und was ich jetzt von ihm sehe, hat mich nur in meiner alten Ueberzeugung bestärkt. Er ist ein Fanatiker unter der Maske eines Mannes von Welt. Mit solchen Leuten ist nicht zu spaßen.

Wir wollen uns den greulichen Löwen einmal in der Nähe besehen, sagte Alfred, seinen Arm in den seines Vetters legend und ihn nach dem großen Saal ziehend.

Silvia war in ein Zimmer getreten, das mit den übrigen Gesellschaftsräumen in einer Reihe lag, aber selten von der Gesellschaft benutzt wurde, weil es sehr klein und in Folge dessen der freien Bewegung nicht günstig war; von den Hausfreunden wurde es wegen der rothen Tapeten und der rothen Ueberzüge der Möbel die rothe Grotte genannt. In der einen Ecke stand auf einer Säule die Statuette einer schönen Muse, in einer anderen eine antike Vase; von der Decke hing eine Ampel, deren mattes Licht den kleinen Raum nur eben schicklich erleuchtete.

Die Dämmerung und die verhältnißmäßige Stille thaten Silvia wohl. Sie wollte allein sein; sie wollte nichts mehr hören und sehen von dem Treiben, das ihr früher so reich, so entzückend erschienen war, und das sie jetzt so inhaltslos, so lästig fand. Was sollte sie hier? Weshalb war sie hier? Wem nützte sie hier? Besser noch als diese Existenz, die fortwährend, wie eine Fata morgana, eine reiche Küste spiegelt, welche man nie erreicht, die vollkommene Einsamkeit; besser freilich ein Leben, in dem sich die thätigen Kräfte machtvoll entfalten, im feurigen Streben nach den höchsten Zielen durchaus erproben können. Leben, ohne zu leben, sterben, ohne gelebt zu haben – giebt es ein größeres Elend?

Und Silvia ergriff mit beiden Händen die Platte des kleinen Marmortisches, der vor ihr stand, und, rüttelte daran und legte dann, wie voll Scham über ein so kindisches Beginnen, ihre heiße Stirn auf den kalten Stein.

Sie mochte einige Minuten in dieser Stellung verharrt haben, als sie durch das Rascheln der Ringe der Portiere aus ihrem schmerzlichen Träumen aufgeschreckt wurde. Den Kopf schnell emporrichtend, sah sie eine schlanke, dunkle Gestalt, die einen Augenblick, den Vorhang mit der Hand zurückschiebend, in der Oeffnung stehen blieb und dann rasch an sie herantrat.

Ein sonderbares Erschrecken, wie sie es noch nie empfunden, überfiel Silvia. Ihre erste Regung war, zu fliehen; ihre zweite, mit sich selbst zu zürnen, daß sie sich so hatte erschrecken lassen.

Ich suche Dich schon lange, sagte Leo, aber Du warst stets so umlagert, daß ich nicht bis zu Dir durchdringen konnte. Deine Hand zittert, ich habe Dich durch mein plötzliches Kommen erschreckt; darf ich mich etwas zu Dir setzen?

Leo rückte einen der Lehnstühle heran und nahm Silvia gegenüber an dem Marmortischchen Platz.

Ich freue mich recht, Dich wiederzusehen, fuhr er fort, ohne Silvia Zeit zur Antwort zu lassen, und freue mich, Dich fast ebenso wiederzufinden, wie ich Dich verlassen habe und Du noch in meiner Erinnerung lebst. Du bist noch größer geworden, sonst hast Du Dich, däucht mir, wenig verändert.

Leo's Worte waren freundlich, aber der Ton, in welchem er sie sprach, hatte für Silvia's feines Ohr einen kalten, gleichgiltigen Klang, der sie mehr als Alles an ihr früheres Verhältniß zu ihrem Vetter erinnerte. Sie zog ihre Hand zurück und sagte in Bezug auf Leo's letzte Worte:

Das ist eben kein Compliment.

Es sollte keins sein; aber weshalb ist es keins? erwiederte Leo.

Sich in sechs oder sieben Jahren nicht verändert haben, heißt: während dieser Zeit nichts erlebt haben; heißt: geblieben sein, was man war; in diesem Falle, ein unbedeutendes, ungeschicktes Mädchen ohne Bildung und ohne Welt.

Silvia machte eine Bewegung, als habe die Unterredung nun lange genug gedauert, oder als wünschte sie wenigstens, dieselbe nicht hier, in dieser Abgeschiedenheit von der übrigen Gesellschaft, fortzusetzen; aber Leo schien ihre Ungeduld nicht zu bemerken und erwiederte ruhig:

Geblieben zu sein, was man war, wenn man etwas Tüchtiges war, halte ich für kein Unglück, und ein unbedeutendes, ungeschicktes Mädchen bist Du nie gewesen.

Woher weißt Du das? antwortete Silvia. Du hast Dich nie um mich bekümmert; ich glaubte, Du wüßtest kaum noch, daß ich überhaupt vorhanden gewesen bin.

Wir erleben Vieles, was uns in dem Augenblicke, in welchem wir es erleben, sehr gleichgiltig erscheint, das uns aber später von der größten Bedeutung wird. Solltest Du diese Erfahrung nicht selbst gemacht haben?

O gewiß! aber es würde mich äußerst wundern, wenn Du sie in Beziehung auf mich gemacht hättest.

Wenigstens habe ich öfter an Dich gedacht, als Du wohl glauben magst; ja, ich kann sagen, daß Du in meinem Seelenleben eine Rolle spielst.

Und was für eine Rolle wäre dies?

Eine, deren Du Dich nicht zu schämen brauchst. Ich habe in meinem Leben sehr, sehr wenig Menschen gefunden, die das ganz entschiedene Streben hatten, sich über den gewöhnlichen Troß, der sich auf der breiten Heerstraße einhertreibt, zu erheben. Diese wenigen Menschen sind mir immer ein Trost und ein Sporn gewesen, wenn die Trägheit und Dummheit der großen Heerde mich zur Verzweiflung brachte; Du gehörst zu diesen wenigen Menschen.

Ich?

Ja, Du.

Silvia zeigte keine Ungeduld mehr, die Unterredung abzubrechen. Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute Leo zum ersten Male während dieser Unterredung voll in das Gesicht. Und wieder erstaunte sie, wie vorhin, über die Herbheit und Strenge der schönen Züge und über die stetige Ruhe der dunklen, glänzenden Augen.

Du möchtest Recht haben, sagte sie langsam; ich ersticke hier.

Leo lächelte.

Die Luft in jenen Salons könnte etwas weniger drückend sein, erwiederte er mit einer Bewegung des Kopfes nach den Zimmern nebenan, aus denen der Lärm der Gesellschaft ertönte. Kleine Menschen mit kleinen Ansichten und Gesinnungen! Welch breites Feld von Gemeinplätzen habe ich heute Abend schon durchwandern müssen! Es wird einige Anstrengung kosten, bevor man sich da acclimatisirt.

Warum bist Du überhaupt zurückgekommen?

Weil der Prophet nichts in seinem Vaterlande gilt, und doch nur von seinem Vaterlande aus auf die Welt wirken kann.

So sprichst Du Dir wirklich die Mission eines Propheten zu? fragte Silvia mit sonderbarem Eifer. Ich erinnere mich, daß ich das vor langen Jahren von Dir behauptet habe und deßhalb von dem Vater und der Tante sehr ausgescholten worden bin. Da freut es mich, zu hören, daß ich doch Recht hatte. Und worin besteht Deine Prophetie? Was lehrst Du?

Du hast nach Frauenart das Bild für die Sache genommen, erwiederte Leo; ich wollte nur sagen, daß man das Wenige, das man zu wirken berufen ist, allein im Vaterlande zu wirken vermag, wie man auch nur in seiner Muttersprache wahrhaft denken, sprechen und schreiben kann. Und dann ist Deutschland trotz alledem das einzige Land für die Freiheit, die ich meine. Ich kenne England und Frankreich, ich war auch drüben in Nordamerika. Die Freiheit, die jene Völker sich errungen haben, oder nach welcher sie streben, gleicht der, welche uns werden muß, wie das Handwerk der Kunst gleicht. Wie können Menschen frei sein, die nicht denken mögen! die vor den letzten Resultaten der Speculation sich bekreuzigen, wie vor dem leibhaftigen Satan! ja, die zum größten Theil nicht einmal eine Ahnung von diesen Resultaten haben! Die wahre Freiheit wird von Deutschland ausgehen, wie die wahre Kunst von Griechenland über alle Welt ausgegangen ist.

Und hast Du – bist Du im Besitze dieser letzten Resultate? fragte Silvia, und ihr Athem ging schneller, und ihre großen Augen wurden dunkler und glänzender.

Das will ich nicht behaupten, erwiederte Leo; was ich behaupten kann, ist, daß ich in philosophischen und politischen Dingen Einiges erkannt zu haben glaube, was gerade nicht das Eigenthum der großen Menge ist; und weiter, daß ich jede praktische Consequenz meiner politisch-philosophischen Doctrin ziehen werde, möge das führen, wohin es wolle.

Silvia wollte lebhaft etwas erwiedern, aber sie holte nur tief Athem und sagte dann nach einer Pause:

Ich denke, Du bist Arzt und bist hieher gekommen, Dir eine Praxis zu schaffen? Wie stimmt das mit Deinen politischen Plänen, auf die Du so hohen Werth zu legen scheinst?

Ich bin Arzt, ja – und ich glaube kein schlechterer, als die Durchschnittszahl meiner Collegen, – aber die medicinische Wissenschaft füllt meine Seele nicht aus, oder, wenn Du willst, ist nur ein Theil meiner Wissenschaft – der großen Wissenschaft von den Leiden der Menschen, insonderheit der Leiden meiner Nation. Jeder Arzt ist von berufswegen auch Politiker, denn die pathologischen Zustände eines Volkes stehen mit seinen socialen Zuständen im innigsten Zusammenhang, und die Therapie muß alle Augenblicke bekennen, daß sie machtlos ist gegen Uebel, die nur eine große politische Reform, vielleicht nur eine vollständige Revolution heilen könnte. Ich für meinen Theil habe früher gewußt, daß es kranke Seelen, als daß es kranke Leiber gebe, und die Völker sind mir früher hilfsbedürftig erschienen, als die Individuen. So schreibe ich politische Broschüren, wie ich Recepte schreibe, und alle nach dem hippokratischen Grundsatz: Quod medicamenta non sanant, ferrum sanat, quod ferrum non sanat, ignis. – Du verstehst doch noch genug Latein, zu wissen, was das heißt?

O ja, sagte Silvia. Was Arzeneien nicht heilen, heilt das Eisen, was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer.

Sie blickte starr vor sich nieder.

Das ist, sagte sie, wie ich mir eines Mannes Wirken denke – aus dem Vollen und Ganzen. Aber was kann da der Einzelne? Was kann er gegen das Meer von Plagen?

Sehr viel – wenn er die Macht hat.

Die Macht, wozu?

Die Macht, den Menschen, die nicht frei und nicht gesund sein wollen, die Freiheit und die Gesundheit aufzuzwingen.

Und hast Du diese Macht?

Für's erste noch nicht.

Glaubst Du, Du wirst sie später haben?

So gewiß, als ich lebe.

Aber wie?

Das weiß ich nicht, aber, wie der Engländer sagt: Wo ein Wille ist, da ist ein Weg.

Silvia's Gesicht hatte während dieser Unterredung einen immer düstereren Ausdruck angenommen, und jetzt lag ein starrer Schmerz auf ihren sonst so beweglichen Zügen. Plötzlich fuhr ein Zucken darüber hin, und hastig sagte sie:

Du bist kein Prophet, sagst Du; mir sollst Du einer sein, wenn Du, mir dies beantwortest: was denke ich jetzt – jetzt in diesem Augenblicke?

Ihre Augen blickten fest in Leo's Augen, und Leo erwiderte den Blick.

Du denkst, auch ich würde meinen Weg finden, wenn ich ein Mann wäre; antwortete er langsam.

Silvia wurde noch bleicher als zuvor und rückte ihren Stuhl zurück, als müsse sie sich aus einer gefährlichen Nähe entfernen.

Wollen wir zu der Gesellschaft zurückkehren?

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern erhob sich und trat in das Zimmer nebenan, wo eben ein Virtuose auf dem Flügel vorzutragen begonnen hatte.

Leo war, den Kopf in die Hand gestützt, sitzen geblieben. Er war so in Gedanken vertieft, daß er kaum einen Ton von den Trillern und Läufern des fingerfertigen Pianisten hörte. Erst bei dem lauten Klatschen der entzückten Gesellschaft blickte er auf und sah Walter in der Thür stehen.

Ich suche Dich überall, sagte Walter.

Und ich wollte eben zu Dir. Ich denke, wir gehen.

Es ist noch sehr früh; aber wie Du willst.

Bald darauf hatten die beiden Freunde den Salon des Freiherrn verlassen.


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