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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Oswald war in dieser Zeit haltloser und unglücklicher, als er es je gewesen. Bergers Lehre von der dreimaligen Verachtung war ein böser Same, der bei ihm auf einen nur zu fruchtbaren Boden gefallen. Und seit er sich von Melitta verraten glaubte, um mit größerer Leichtfertigkeit an ihr zum Verräter werden zu können, hatte er den besten Teil seiner Selbstachtung unwiederbringlich eingebüßt. Es half ihm nicht, daß er bei dem Bruch seines Verhältnisses zu Melitta alle Schuld auf sie wälzte, daß er sie eine herzlose Kokette nannte, die ihn auf die schmählichste Weise betrogen habe und jetzt in den Armen ihres Buhlen über das arme Opfer lache. Immer wieder raunte ihm eine Stimme, die nicht zum Schweigen zu bringen war, zu: Du lügst, du lügst! Ein Weib, das so tiefe, liebevolle Augen hat, ist nicht herzlos; ein Weib, das solcher Liebe fähig ist, ist keine Kokette; ein Weib, das so edel fühlt und denkt, verrät den Mann nicht, von dem sie weiß, daß sie sein Glück und seine Seligkeit ausmacht.

Und selbst seine Liebe zu Helene war nur noch ein schwacher Abglanz jener himmlisch reinen Flamme, die während seiner Liebe zu Melitta sein Herz, wie der Mond die Nacht, erhellt hatte. Es war in dieser Liebe viel von dem düster lodernden Feuer einer gierigen, verzehrenden Leidenschaft, einer Leidenschaft, die keine heilige Scheu vor ihrem Gegenstande kennt.

Zu dem allem kam, daß er sich in seiner Stellung grenzenlos unbehaglich fühlte. Seine Tätigkeit am Gymnasium widerte ihn an, nachdem er kaum damit begonnen hatte. Schon die dumpfe Luft einer Schulstube und der Lärm einer ausgelassenen Knabenschar waren eine Qual für seine überreizten Nerven. Und nun die Herren Kollegen: dieser von verwaschener Humanität überfließende Direktor Klemens; dieser stocksteife, hölzerne Professor Snellius; dieser bei so wenig Witz so äußerst behagliche Doktor Kübel; diese gelehrten Löwen Wimmer und Breitfuß? Gulliver, als er den Yahoos begegnete, konnte gegen sie keinen größeren Widerwillen empfinden als Oswald gegen diese Schar, mit der in tagtägliche genaue Berührung zu kommen, seine Stellung ihn zwang. Und diese Yahoos waren noch dazu äußerst zuvorkommend und zutunlich; schienen gar keine Ahnung ihrer Häßlichkeit zu haben; überhäuften den Ankömmling mit allen möglichen Liebenswürdigkeiten; luden ihn unablässig zu Kegelabenden, Whistpartien, ästhetischen Tees und dramatischen Lesekränzchen ein! Schienen sich an seine reservierte Haltung, an seine zurückweisende Kälte gar nicht zu kehren – im Gegenteil, das alles nur für die Unbehilflichkeit eines jungen Mannes zu halten, der sich noch nicht eben viel in guter Gesellschaft bewegt hat und notwendig aufgemuntert werden muß. Auch die Damen mußten von dieser Idee ganz erfüllt sein, besonders Frau Direktor Klemens, die offen erklärte, sie wolle den scheuen jungen Menschen, der so allein in der Welt stehe, ein wenig unter ihre mütterlichen Flügel nehmen, und bereits angefangen hatte, diese Drohung in Ausführung zu bringen. ›Ich mag Sie gern, lieber Stein‹, sagte die energische Dame. ›Sie haben sich durch Ihren Hauptmann einen Platz in unserm Lesekränzchen und in meinem Herzen erobert. Ich halte es für meine Pflicht, unsere jüngeren Kollegen heranzubilden. Die wahre Humanität lernt sich nur im Umgange mit gebildeten Frauen. Sehen Sie unsern Kollegen Wimmer! Was war das für ein schüchterner, unbeholfener Mensch, als er vor zwei Jahren von Halle hierher kam, und was für einen charmanten jungen Mann hab' ich seitdem aus ihm gemacht! Nun, mit Gottes Hilfe wird's mir mit Ihnen nicht schlechter gelingen.‹

Oswald übersah die wirkliche Gutherzigkeit, die diesen und ähnlichen Ergüssen zugrunde lag, und hielt sich nur an die lächerliche Form, die er mit Albert, den er jetzt regelmäßig des Abends aufsuchte, schonungslos verspottete.

Aber es gab in Sundin, außer der Direktrice des dramatischen Kränzchens, eine andere Dame, welche ältere und bessere Rechte auf die Humanisierung des jungen Wildfangs zu haben glaubte und ihrer Rivalin die Rolle, die sie sich angemaßt hatte, um so weniger gönnte, als sie von ihr noch anderweitig in ihren heiligsten Gefühlen auf das tödlichste beleidigt war.

Primula zitterte noch immer, sooft sie an den schrecklichen Abend dachte, wo man sie hatte zwingen wollen, der Mörder eines großen Feldherrn und Helden zu werden, und ihr einziger Trost war, daß sie die ihr zugemutete schmähliche Rolle kaum angefangen, geschweige denn zu Ende gelesen. Aber wie dem auch war, ihr Haß und ihre Verachtung gegen die Menschen, die sie so unwürdig behandelt hatten, blieben sich gleich. Sie erklärte, daß der plötzliche unvermutete Anblick der Frau Direktor Klemens für sie von den allergefährlichsten Folgen sein könne. Ja, sie trieb in den ersten Tagen nach dem Ereignis die Vorsicht so weit, so oft sie ausging, ihren Gatten oder den Diener Lebrecht zwanzig Schritte vor sich hergehen zu lassen, um rechtzeitig von der etwaigen Annäherung des »Gorgonenhauptes« benachrichtigt zu werden; und obgleich sich allerdings nach kurzer Zeit diese krankhafte Reizbarkeit einigermaßen legte, so versetzte doch noch immer das bloße Aussprechenhören von dem Namen der Übeltäterin sie in eine nervöse Stimmung.

Indessen ein so gleichsam passiver Widerstand gegen eine Nebenbuhlerin genügte dem unternehmenden Geiste Primulas nicht. Die Feindin, und nicht bloß sie, sondern ihre ganze Sippe und ihr ganzer Anhang, durften nicht bloß stillschweigend verachtet, sondern mußten positiv gedemütigt werden. Ins Herz mußte man sie treffen, oder, wie die Dichterin sich ausdrückte: Der flammende Brand mußte ihnen auf den eigenen Herd geschleudert werden. Das konnte aber nur auf eine Weise geschehen, nur dadurch, daß man das dramatische Kränzchen in die Luft sprengte, indem man ein anderes Kränzchen neben jenem errichtete, das, unter Primulas Vorsitz, die ganze Intelligenz von Sundin in sich vereinigte und das der Schulleute so verdunkelte wie der Mond einen Fixstern letzter Größe. Einem solchen Kränzchen vorzustehen, war Primulas seligster Traum gewesen, als sie noch im sanften Schein der Abendröte an der Seite des Fragmentisten durch die Felder von Faschwitz wandelte und sich, in holder Ahnung der Triumphe, die sie dereinst feiern würde, von blauen Zyanen einen Kranz für ihr blondes Haar wand. Diesen Traum glaubte sie der Erfüllung nahe, als sie, den Wallenstein in der Hand und die Rolle der Thekla Wort für Wort im Kopf, über die Schwelle des Empfangszimmers bei Direktor Klemens schritt. Mußte doch dieser Abend zu einem Triumph für sie werden, stand es doch zu erwarten, daß, sobald sie die ersten Verse gelesen, ein ungeheurer Beifallssturm ausbrechen, alle sich erheben und Männer und Frauen wie aus einem Munde rufen würden:

Heil, dreimal Heil dem stolzen Licht,
Das jetzt in unser Dunkel bricht!
Oh, Sängerin mit hohem Sinn,
Sei du nun unsre Königin!
Oh, sag' zu unsren Bitten: ja,
Liederreiche Primula!

Nun freilich war es sonnenklar, daß sie den falschen Weg zum Ziele eingeschlagen. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Was sollte sie, die sinnige Kornblumenkränzchenwinderin bei dem Kampfe tragischer Leidenschaften, die Dichterin hochberühmter Oden in einem dramatischen Kränzchen? Ein lyrisches Kränzchen mußte es sein, und ein solches lyrisches Kränzchen im offenen ausdrücklichen Gegensatz zu dem dramatischen Kränzchen der Direktor Klemens zu gründen, war der große Gedanke, der »wie ein mächtiger Frühlingssturm, lind und doch unwiderstehlich, tausend Keime weckend und doch alles andre vor sich niederwerfend, durch ihrer Seele tiefste Schluchten brauste«. – Wer mochte solchem Anhauch der Begeisterung widerstehen? Gewiß nicht der Fragmentist, der von einem gleichen Ehrgeize erfüllt und durch das Benehmen der Schulmänner in seiner Eitelkeit auf das empfindlichste beleidigt war. Er wurde der erste Schüler der Prophetin.

Aber eine Prophetin und ihr Schüler, meinte Primula, machen noch keine Gemeinde aus, und Mann und Frau, sie mögen so geistreich sein, wie sie wollen, sind, wenn sie des Abends an ihrem Teetisch sitzen, noch kein Kränzchen. Die erste Bedingung für das Zustandekommen eines solchen war daher, daß sich die Prophetin und ihr Schüler Teilnehmer für ihr Kränzchen zu gewinnen suchten. Die Sache war nicht so leicht. Herr Jäger war in der Sundiner Sozietät, die er als armer Student nur aus der Ferne gesehen hatte, verhältnismäßig wenig orientiert. Seine Gemahlin dagegen kannte als siebente Tochter des weiland Grünwalder Superintendenten Doktor Dunkelmann freilich die Gesellschaft, aber die Gesellschaft, für die sie lange, lange Jahre durch ihre Überspanntheiten ein Gegenstand des Schreckens und des Spottes zugleich gewesen war, kannte sie auch; und obgleich die blonde Fischerin schon seit mehreren Tagen vom Morgen bis zum Abend am Ufer saß und das Netz auswarf, hatten sich doch erst sehr wenige Fische fangen lassen. Das würde nun für die ehrgeizige Dichterin höchst schmerzlich gewesen sein, wenn unter den wenigen Gefangenen nicht auch ihr erklärter Liebling Oswald gewesen wäre.

Sein Benehmen an jenem Abend hatte ihm das Herz Primulas, von dem er schon ein großes Stück besaß, ganz gewonnen und auch bis zu einem gewissen Punkte das Herz des Fragmentisten. Beide hatten ihn dringend gebeten, die »Gastfreunde von Argos in den Ebenen des Skamander« nicht zu vergessen und Oswald war in einer Anwandlung von boshafter Neugier der Einladung gefolgt, hatte sich während des Besuches mit dem Konsistorialrat und der Konsistorialrätin in Sarkasmen gegen die Schulmänner und ihre Damen überboten und war zuletzt, als Primula ihren Kränzchenplan aufs Tapet brachte, mit dem größten Enthusiasmus darauf eingegangen. Er hatte versprochen, Herrn Geometer Albert Timm, der als geistreicher Kopf jedermann in Sundin bekannt war, für die Sache zu interessieren und die Dichterin hatte ihn für diesen glücklichen Gedanken vor den Augen ihres Gemahls umarmt.

Seit diesem Besuch war kein Tag verflossen, an dem nicht ein poetisches Epistelchen von Primula an Oswald eingelaufen wäre, in dem sie sich nach dem Fortgang seiner Bemühungen erkundigte – Epistelchen, die Oswald sorgfältig aufhob, um sie am Abend im Ratskeller einer geschlossenen Gesellschaft vorzulesen, die sich das »Rattennest« nannte und in die er seit einigen Tagen von Albert Timm eingeführt war.

Es war etwa eine Woche nach dem Ball bei Grenwitzens, als ihm abermals eine dieser auf rosa Papier geschriebenen Anfragen durch Herrn Jägers Diener Lebrecht überbracht wurde. Es mußte diesmal etwas Besonderes sein, denn Lebrecht, ein junger, blasser, verhungert aussehender Mensch von fünfzehn Jahren, der bis noch vor wenig Monaten Waisenknabe gewesen war, blieb an der Tür stehen und sagte mit seiner hohlen Waisenhausstimme: ›Um Antwort wird gebeten.‹ Der Brief war abermals ein poetischer und lautete:

An einen jungen Aar, der durch die Wolken flog.

Der junge stolze Aar,
Warum doch weilt er fern
In grauer Krähenschar,
Er, meines Lebens Stern?

Hab' ich es doch so gern,
Das braune Adlerhaar
Des hochgebornen Herrn
Mit blauem Augenpaar!

Weiß nicht, wie mir geschah!
O köstlicher Gewinn!
Seit ich ins Aug' ihm sah,
Ist meine Ruhe hin.

Doch sternhoch ist sein Sinn,
Er schätzt nicht, was ihm nah,
Daß ich ihm gar nichts bin,
Ich weiß es – Primula.

Oswald las die Verse zwei-, dreimal durch, ohne zu begreifen, wie man auf solchen Unsinn eine Antwort verlangen oder geben könne, bis er ganz unten in der Ecke ein mikroskopisches tournez s'il vous plaît entdeckte. Er wandte das Blatt um; auf der andern Seite stand:

Lieber O., ich muß mich ausnahmsweise einmal zur Prosa zwingen. Ich war neulich in einer hochadeligen Gesellschaft, aus der ich Ihnen allerlei erzählen kann, wenn Sie es hören wollen. Heute abend besucht mich eine Dame (aus eben der Gesellschaft), die sehr deutlich den Wunsch hat blicken lassen, mit Ihnen bei mir zusammenzutreffen, und die Ihnen etwas mitzuteilen hat, was vielleicht für Ihre Zukunft entscheidend wird. Allerdings sollte es mich innig schmerzen, wenn ich Sie verlöre; aber meine Freundschaft für den jungen Adler (s. p. 1) ist so rein wie das Element, das er mit seinen mächtigen Flügeln peitscht. Wollen Sie um sieben Uhr sein bei Ihrer Dienerin

Primula.

Ein freudiger Schrecken überfiel Oswald. Wer anders konnte die junge Dame sein als Helene? Freilich der Schritt war kühn; aber was wagt die Liebe nicht? – Er warf mit fliegender Feder ein paar Zeilen aufs Papier und gab sie Lebrecht mit der ernsten Mahnung, das Briefehen ja nicht zu verlieren – eine Mahnung, die durch das äußerst stupide Aussehen des gewesenen Waisenknaben einigermaßen gerechtfertigt schien.

Die Stunden, die er noch bis zum Abend hinzubringen hatte, schienen ihm zu schleichen. Dazu wollte das Unglück, daß er gerade an diesem Nachmittag zwei Lektionen geben mußte in einer höheren Klasse, deren Schüler er durch sein ungleichmäßiges Benehmen gegen sich aufgebracht hatte. Sie ließen es heute, wo ihr junger Lehrer launischer schien als je, nicht an Neckereien und Widerspenstigkeiten aller Art fehlen, und Oswald ließ sich dadurch zu einer leidenschaftlichen Heftigkeit hinreißen, die zwar die Ruhe in der Klasse sofort wiederherstellte, über die er sich aber mehr ärgerte als über alles andere.

Mißmut und Zorn im Herzen verließ er das Gymnasium. Nicht weit davon begegnete ihm Franz. Keine Begegnung konnte ihm in diesem Augenblick ungelegener sein. Er hatte die Freundschaft dieses trefflichen Menschen sehr wenig gepflegt, kaum daß er ein oder das andere Mal (und meistens nicht in der Absicht, Franz zu treffen) bei Robrans gewesen war. Er wußte, daß er sich durch dies Benehmen gegen einen Mann, dem er so viel verdankte, einer häßlichen Undankbarkeit schuldig machte; aber lieber das, als das peinliche Gefühl der Demütigung, das er jedesmal empfand, sooft der prüfende Blick des Freundes auf ihm ruhte.

»Wie geht's, Oswald?« sagte Franz, von der anderen Seite der Straße herüberkommend und ihm herzlich die Hand schüttelnd. »Sie müssen verteufelt viel zu tun haben, daß Sie sich gar so selten sehen lassen.«

»Nicht eben viel«, erwiderte Oswald, »aber das wenige, was ich zu tun habe, ist desto unangenehmer.«

»Wieso?«

»Diese Schule! Eine einzige Stunde in der schnöden Tretmühle verdirbt mir die Laune für die übrigen dreiundzwanzig des Tages, Lieber Straßenkehrer als Schulmeister.«

»Ich wußte es im voraus, daß Ihnen das Ding anfänglich nicht behagen würde«, sagte Franz mit seinem freundlichen warmen Lächeln, »aber, Oswald, Sie wissen ja: Es nimmt ein Kind der Mutter Brust – und so weiter; und dann, bedenken Sie doch: Entsagung, Opferfreudigkeit erfordert jeder Beruf und wäre es der – eines Straßenkehrers. Adieu, Oswald; ich muß in dies Haus hinein. Kommen Sie recht bald einmal zu uns; ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Damit ging Franz in das von ihm bezeichnete Haus; Oswald setzte seinen Weg fort.

Entsagung, Opferfreudigkeit, murmelte er; das klingt sehr schön von den Lippen jemandes, der sich in seinem Beruf behaglich fühlt. Es ist doch nichts widerwärtiger, als ewig mit solchen allgemeinen Phrasen geschulmeistert zu werden, die auf die Situation, in der wir uns befinden, passen wie die Faust aufs Auge. Timm hat wirklich recht: Franz ist ein langweiliger Pedant.

Er lenkte seine Schritte nach der Wohnung seines Pylades. Albert wohnte im Schatten der Brigittenkirche, in dem Hause des Küsters Tobias Gutherz, eines Mannes, der in dem Geruch ganz besonderer Heiligkeit stand, so daß niemand recht begreifen konnte, weshalb der höchst unheilige Mieter gerade diesen Mietsherrn gewählt hatte, und noch weniger, wie sich beide schon seit langen Jahren so gut vertragen konnten.

Albert war zu Hause. Er lag auf seinem Sofa und las. Der Duft einer feinen Havanna erfüllte das Gemach, das in seiner grenzenlosen Unordnung ein ausnehmend passender Rahmen für den jungen Wüstling war.

»Ah, sieh' da, Pompei, meorum prime sodalium«, sagte er, bei Oswalds Eintreten das Buch auf die Erde schleudernd und sich aufrichtend, »ich dachte soeben an dich, ob dir wohl der Horaz, wenn du ihn deinen Buben vom Katheder herab interpretierst, ein so vergnügtes Gesicht macht, wie mir, wenn ich ihn hier bei einer echten Havanna auf dem Sofa lese. Ist das ein famoser Bengel! Ich denke mir ihn immer als einen kleinen Kerl mit etwas kahlem Kopf, einer Andeutung von einem Bäuchelchen, lebhaften schwarzen Augen und üppigen kußgewohnten Lippen, der, die Hände auf dem Rücken, durch die Straßen Roms schlendert, und links einer hübschen Dirne zuwinkt, nach rechts eine malitiöse Bemerkung über einen Spießbürger macht und dessen ganze Moral sich in die Worte zusammenfaßt: Vivat Falerner und schöne Mädchen, ohne sie leben, lohnt nicht der Müh'. Habe ich recht?«

»Ich glaube wohl.«

»O Himmel, diese Grabesstimme! Was ist denn nun wieder los? Hast du einen Wechsel zu bezahlen?«

»Diese verdammte Schule!«

»Ist's weiter nichts? Schick' sie zum Teufel, der sie erfunden hat.«

»Mais il faut vivre, wie der Schneider zu Herrn von Talleyrand sagte.«

»Je n'en vois pas la nécessité, wie Herr von Talleyrand antwortete, zum wenigsten nicht die nécessité, so zu leben.«

»Wie denn anders? Ich habe noch etwa dreihundert Taler; wenn ich damit zu Ende bin, und das dürfte bald sein, muß ich arbeiten oder mir eine Kugel durch den Kopf jagen.«

»Daß du ein Narr wärst! Ein Kerl wie du, der tausend Mittel und Wege hat, fortune zu machen!«

»Zum Exempel?«

»Zum Exempel, wenn er die kleine Grenwitz heiratet, die, meiner Meinung nach, nichts eifriger wünscht.«

»Das ist leichter gesagt als getan.«

»Vielleicht doch nicht, wenn man den rechten Weg einschlägt.«

»Und der wäre?«

»Mache, daß man dir das Mädchen geben muß, man mag wollen oder nicht.«

»Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?«

»Du bist heute merkwürdig schwer von Begriffen.«

Albert legte sich in die Sofaecke zurück und blies blaue Ringe in die Luft; Oswald brütete düster vor sich hin. Er überlegte, ob er Timm wohl das Geheimnis des Rendezvous, zu dem er heute abend eingeladen war, mitteilen könnte. Endlich kam fast gegen seinen Willen heraus:

»Ich habe heute einen kuriosen Brief von Primula empfangen; ich möchte wohl wissen, ob du besser daraus klug werden kannst als ich.«

»Laß hören«, erwiderte Albert, in die Bewunderung eines prachtvollen Ringes, den er soeben zustande gebracht hatte, verloren.

Oswald las die Ode an den jungen Aar und das mysteriöse Postskript. Albert sprang vom Sofa in die Höhe.

»Kerl, du bist der wahre Hans im Glück!« rief er. »Die Sache ist ja sonnenklar. Die junge Dame kann niemand anders sein als die kleine Grenwitz. Das Mädchen ist wahrhaftig zehnmal gescheiter und mutiger als ihr jüngferlicher Galan, der die edle Kunst, die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen, so wenig versteht. Im Ernst, Oswald, die Karten liegen jetzt so gut, wie du sie dir nicht besser wünschen kannst. Freilich mit der Eroberung der Festung wird's nicht so schnell gehen. Die Jägerin hat offenbar mehr geschwatzt, als sie sollte; aber gleichviel: In den Laufgräben bist du, und wenn du nicht weiterkommst, so ist es deine Schuld. Wann sollst du bei Primula sein?«

»Um sieben.«

»Jetzt ist es fünf; wir haben noch zwei Stunden Zeit. Komm! wir müssen den Operationsplan reiflich bei einem Glase guten Stoffs überlegen. Karl der Kahle hat einen herrlichen Markobrunner, und aus diesem Brunnen sollst du zuvor trinken, daß deine Unternehmung Mark und Nachdruck hat und keine Spur von des Gedankens kränklicher Blässe. Komm!«


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