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Neunundvierzigstes Kapitel

Als Oswald, ohne kaum zu wissen, wohin er sich wandte, die Straße hinabeilte, fühlte er sich plötzlich von jemand am Arm ergriffen.

Es war Albert.

Albert hatte nach dem Zusammentreffen mit Herrn Schmenckel seinen Beobachtungsposten in der Nähe des Palais auf einige Zeit aufgeben müssen, um sich in dem Hofe eines der nächsten Häuser das Blut abzuwaschen, das nach der Berührung von Herrn Schmenckels schwerer Faust seiner Nase und seinem Munde reichlich entströmt war. Er war so zornig, wie er es kaum je im Leben gewesen. Es war die Wut des Jägers, dem das Wild die kunstreich gewebten, schlau gestellten Netze plump zerrissen hat. Dieser Tölpel von einem Schmenckel mit seiner dummen Ehrlichkeit! Wie hatte er den Menschen bearbeitet, wie hatte er ihm die Zukunft golden ausgemalt, und nun? Es war zum Rasendwerden! Der schöne, leichte, sichere Gewinn dahin! Und weshalb? Um nichts und wieder nichts, um einer ehrlichen Laune willen. Und wenn nun Oswald eine ähnliche Dummheit begeht! Man kann die Spatzenköpfe ja keinen Augenblick allein lassen. Und dabei will das verdammte Blut gar nicht stehen.

So hatte er weder Herrn Schmenckel noch den Fürsten wieder aus dem Palais kommen, noch hatte er Oswald hineingehen sehen, und er kam jetzt noch eben zur rechten Zeit, um diesen, der die Straße hinabeilte, einzuholen.

»Hallo, Herr!«

»Was gibt's?«

»Ja, das frage ich.«

»Bist du's?«

»Wer sonst? Wie ist es abgelaufen? Hat die Alte klein beigegeben?« und er wollte vertraulich seinen Arm in Oswalds Arm legen. Oswald trat einen Schritt zurück:

»Rühre mich nicht an«, sagte er, »oder ich zerschmettere dir den Kopf an der Wand.«

»Hoho«, sagte Albert, jetzt seinerseits zurückweichend, »ist der auch verrückt geworden?«

»Elender Bube!« knirschte Oswald, »Mensch, der aus dem Laster eine Spekulation und aus der Gemeinheit ein Gewerbe macht; lasse dich nie wieder auf meinem Wege sehen, oder du wirst es bereuen!«

Er wandte sich von Timm, der in dem ersten Augenblick blaß geworden war und dann in ein tolles Gelächter ausbrach, und eilte weiter. Es war ihm einerlei, wohin ihn seine Füße trugen! Er ging wie im Traum, und wie Traumbilder erschien ihm auch, was er sah und hörte: die neugierigen, erschrockenen Gesichter von Kindern und Frauen in den Fenstern und Türen; die dichten Haufen von Männern, die sich unter wilden Gestikulationen und lauten Ausrufungen Unerhörtes mitzuteilen schienen und dann auseinanderstoben, wenn eine Patrouille anmarschiert kam; das Rennen und Laufen, das Schreien und Pfeifen von Straßenbuben; und dazwischen das Wimmern der Sturmglocken von den Türmen. Dann, je weiter sich Oswald von dem vornehmen Quartier, aus dem er kam, entfernte, wurde ein anderer Ton deutlicher; ein eigentümliches Knattern und Prasseln und ein dumpfer Donner, von dem die Häuser selbst erzitterten.

Aber das alles vermochte nicht, ihn aus seinem wachen Traume aufzurütteln; der Schmerz um das eigene zerstörte Lebensglück hatte ihn taub und blind gemacht gegen den Schmerz eines ganzen gemißhandelten Volkes. Da schreckte ihn jäh ein fürchterlicher Anblick empor: Aus einer Seitenstraße kam eilenden Laufs ein junger Mensch, rufend: »Verrat, Verrat! Sie schießen auf uns!« Des jungen Menschen Bluse war zerrissen und mit Blut befleckt; sein Antlitz war bleich, sein Haar verwirrt; er taumelte wie ein Trunkener, und plötzlich stürzte er, unmittelbar vor Oswald, zusammen. Oswald hob ihn auf. Im Nu hatte sich ein Haufe von Männern und Frauen um sie gesammelt. »Er stirbt!« riefen die Männer, »Fluch über unsere Henker!« Die Weiber heulten, eines rief: »Nehmt ihn doch dem Herrn ab! Seht ihr nicht, daß der sich selbst kaum auf den Beinen halten kann?« Ein Mann nahm den Sterbenden aus Oswalds Armen. Da fühlte Oswald sich von jemand aus dem Gedränge gezogen. Als er sich umwandte, erblickte er Berger. Oswalds Seele war in den letzten Stunden von so viel Außerordentlichem bestürmt worden, daß selbst das Seltsamste, Unerwartetste ihn vorbereitet traf. Und wenn es einen Menschen gab, den er in diesem Augenblick zu sehen wünschte, so war es sein Freund und Lehrer, sein Schicksalsgenosse. Oswald fragte nicht Wie und Woher?, er stürzte sich dem Wiedergefundenen in die Arme.

»Gut, daß du da bist«, sagte Berger hastig, »komm, lasse die Toten ihre Toten begraben. Wir wollen schaffen und arbeiten, solange es Tag ist.«

Sie eilten zusammen weiter.

Mit jedem Schritte, den sie machten, kamen sie dem Krater der Revolution, die seit ein paar Stunden zum Ausbruch gekommen war, näher. In diesem Stadtteil erhoben sich schon, von tausend tapferen und geschickten Händen aufgetürmt, Barrikaden, die von todesmutigen Männern und Knaben, meistens aus den niederen Volksklassen, besetzt wurden. Man konnte von der Widerstandsfähigkeit dieser improvisierten Festungen keine allzugroßen Hoffnungen haben, wenn man sah, daß die meisten aus einem, wenn es hoch kam, aus mehreren umgestürzten Wagen, abgerissenen Planken und anderen in der Eile zusammengerafften Gegenständen erbaut waren, und daß die Waffen ihrer Verteidiger zumeist in alten rostigen Säbeln, Lanzen, Flinten ohne Schloß und ähnlichen Instrumenten bestanden.

Berger blieb hier stehen, Rat erteilend, anfeuernd, mit seiner tiefen tönenden Stimme: Zu den Waffen! Zu den Barrikaden! rufend; aber sooft Oswald sich an dem Bau einer derselben beteiligen wollte, hielt er ihn davon zurück:

»Nicht hier!« sagte er. »Dies sind nur unsere Vorposten, die doch wieder eingezogen werden müssen. In diesen geraden breiten Straßen lassen sich keine Barrikaden mit Erfolg verteidigen. Das Gros der Revolution steht weiter, zurück.«

So kamen sie in eine Straße, die in ein dichtbevölkertes Quartier des Kleinhandels und des Kleingewerbes führte. Aus dieser Straße gelangte man durch eine schmale Gasse in eine andere, in der der »Dustre Keller« lag. Überall hier schwirrte und wirrte es wild durcheinander. Vom Schloßplatz her krachten die Gewehrsalven und schmetterten die Kanonenschläge; aber noch nirgends sah man den Anfang von Barrikaden.

»Sind diese Menschen wahnsinnig!« rief Berger. »Wenn sie sich hier nicht verschanzen wollen, wo soll es denn geschehen?«

Auf den Stufen eines Eckhauses, umdrängt von Volkshaufen, stand ein Herr mit weißer Halsbinde und sprach eifrig auf die Leute ein: »Se. Majestät hat die Deputation huldvoll zu empfangen geruht –« »Was da Majestät!« schrie eine zornige Stimme. – »Se. Majestät geruht jetzt eben huldvollst, seine getreuen Untertanen niederzukartätschen!« rief eine andere. »Meine Herren«, schrie der Redner, »geben Sie nicht Gefühlen des Hasses und der Rache Raum! Se. Majestät willigt in die Zurückziehung des Militärs, sobald Sie die Waffen aus der Hand gelegt –« »Und ihre Kehlen dem Messer des Mörders dargeboten haben«, rief mit gewaltiger Stimme Berger, der plötzlich neben dem Redner in der weißen Halsbinde auf der Treppe erschien.

Sein graues Haar hing ihm wild um das unbedeckte Haupt; seine Augen glühten, es war, als ob die Revolution selbst Gestalt und Stimme angenommen hätte. »Nun«, rief er weiter, »ihr zaudert und verhandelt noch immer, während eure Brüder wenige Straßen von euch ermordet werden? Mußt du ewig glauben, du gläubiges, so oft und so schmählich betrogenes Volk, nun, so glaube: dir wird keine Konzession gemacht, die du nicht erkämpft, und keine Freiheit gewährt, die du nicht mit deinem Blute bezahlt hast. So feilscht und marktet denn nicht länger, gebt ihn her, den teuren Preis um das teure Gut! Um der Freiheit willen, greift zu den Waffen!«

»Zu den Waffen! Zu den Waffen!« donnerte es von allen Seiten. »Wir wollen siegen oder sterben! Zu den Waffen!«

Die waffenlosen Arme streckten sich wie zum Schwur in die Luft.

Berger war von der Treppe hinabgesprungen. Man umringte ihn; man drückte ihm die Hände. Einige forderten ihn auf, die Sache in die Hand zu nehmen, da es doch ohne Führer nun einmal nicht gehe.

Berger sah sich um. Plötzlich eilte er auf einen langen Herrn los, der sich rasch durch die Menge drängte.

»Das ist der Mann«, schrie er, den langen Herrn bei der Hand fassend. »Er muß unser Führer sein! Treten Sie auf die Treppe, Oldenburg, und sprechen Sie!«

Oldenburg war mit einem Satze auf der Treppe.

»Mein Herren!« rief er, seinen Hut lüftend. »Huldigen wir der Mode des Tages und bauen wir eine Barrikade. Ich habe vor zwei Wochen eine kurze Lehrzeit im Barrikadenbau auf den Straßen von Paris durchgemacht. Wenn Sie in Ermangelung eines Bessern sich meiner Künste bedienen wollen – ich bin herzlich gern bereit, mit Ihnen zu bauen, mit Ihnen zu kämpfen, mit Ihnen zu siegen, wenn's sein kann, mit Ihnen zu sterben, wenn's sein muß.«

In dem stählernen Klang von Oldenburgs Stimme, in seiner leichten und doch so eindringlichen Art zu sprechen, lag ein Zauber, dem der Volkshaufe nicht widerstehen konnte. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es aller Herzen.

»Sie sollen unser Führer sein«, rief es von allen Seiten, »der Schwarzbart soll unser Führer sein.«

»Nun denn!« rief Oldenburg mit erhobener Stimme: »Alle Mann hoch an die Barrikade!«

Ein wunderbares Treiben folgte diesem Zauberwort. In die wild durcheinander wogende Menge kam plötzlich Ordnung. In all den Köpfen lebte nur der eine Gedanke, sich ein Bollwerk zu schaffen, und alle Hände arbeiteten nur nach dem einen Ziel.

»Wir müssen in zehn Minuten fertig sein, meine Herren«, rief Oldenburg, »oder wir täten besser, gar nicht anzufangen.«

Oldenburg machte durch unerschütterliche Kaltblütigkeit und geniale Schnelligkeit des Blicks und des Entschlusses seinem Anführerposten Ehre. Er schien auf allen Punkten zugleich zu sein, und seine klare tönende Stimme glaubte man an allen Punkten zugleich zu hören. Hier wurde auf seine Anordnung das Pflaster aufgerissen, dort wurden die Fliesen des Trottoirs ausgehoben und damit die umgeworfenen Wagen, die als Basis der Barrikade dienen mußten, nach der Außenseite gepanzert. Türflügel, Rinnsteinbrücken, mit Sand gefüllte Säcke vervollständigten die Festigkeit des Baues, der mit einer Schnelligkeit heranwuchs, die mit dem Fieber der Leidenschaft, das in allen Pulsen pochte, Schritt hielt. Jede Sehne, jede Muskel war bis zum äußersten angespannt; Knaben trugen Lasten, die in ruhigen Augenblicken kaum ein Mann hätte bewältigen können; Männer, die sonst vielleicht nur die Feder zu führen gewohnt waren, schienen plötzlich Muskeln von Stahl bekommen zu haben. Vor allen aber zeichnete sich ein Mann in einem abgeschabten Sammetrocke aus, in Vergleich mit dessen Taten die Leistungen der andern nur Pygmäenwerk waren. Wo es etwas zu heben oder zu schleppen gab, rief man lachend nach dem Herkules, wie den Mann im Sammetrock der Volkswitz nach den ersten fünf Minuten getauft hatte – und der Herkules sprang hinzu, reckte seine mächtigen Arme aus, oder stemmte seine breiten Schultern dagegen, und die Zentnerlast schien plötzlich federleicht zu werden.

»Bravo, Herr Schmenckel!« rief Oldenburg, dem Herkules auf die Schultern klopfend. »Aber schonen Sie Ihre Kraft, wir werden sie noch nötig haben.«

»Pah, Euer Gnaden, Herr Baron«, erwiderte Herr Schmenckel, indem er sich mit dem Ärmel über sein von Schweiß triefendes Gesicht fuhr, »das will noch nicht viel sagen.«

»Herkules, hierher!« erschallte es von einem andere Punkte. »Komm' schon«, schrie Herr Schmenckel und sprang dahin, wo man seiner bedurfte.

»Jetzt fehlt es am Besten noch«, murmelte Oswald, indem er das mit jeder Sekunde wachsende Werk überschaute und einen prüfenden Blick auf die Dächer der die Barrikade flankierenden Häuser warf, die man auf seinen Rat abzudecken begann, »wenn Berger keine Waffen bringt, ist Mühe und Arbeit umsonst.«

Da kam Berger in Begleitung von zehn oder zwölf Männern. Jeder von ihnen trug eine Büchse. Ein paar andere schleppten Säcke, in welchen sich Munition befand.

Berger, der schon tagelang vorher die Gelegenheit zur Revolution, die er vorausgeahnt, studiert hatte, kannte alle Waffenläden in der Runde und hatte sich jetzt der Vorräte des einen bemächtigt. Ein Jubelruf erschallte, als die kleine Schar bei der Barrikade anlangte. Gleich darauf wurde noch eine alte, lange, einläufige Vogelflinte und ein verrosteter Karabiner mit Pfannenschloß aus irgendeiner Rumpelkammer herbeigeschafft, und zuletzt noch zwei Paar Pistolen aus den Wohnungen einiger Offiziere, die man mit Hilfe des Adreßkalenders in der unmittelbarsten Nähe ausgekundschaftet hatte. Die Waffen wurden verteilt, und jedem Schützen sein Posten auf der Barrikade angewiesen; jeder Schütze hatte einen Mann als Lader bei sich; in der Küche des Erdgeschosses eines der nächsten Häuser wurden unter Aufsicht eines alten einäugigen Mannes, der schon die Befreiungskriege mitgemacht und sich zu diesem Posten erboten hatte, Kugeln gegossen; Straßenjungen, die lustigen Sturmvögel des Barrikadenkampfes, sollten die Kugeln den Kämpfern zutragen.

Die Viertelstunde, die Oldenburg als die längste Zeit, in der man fertig werden müsse, bestimmt hatte, war verlaufen; und schon der nächste Moment bewies, wie richtig er gerechnet. Die Büchsen waren kaum geladen und die Männer eben an ihre Posten getreten, als ein Bataillon Infanterie die Straße heranmarschiert kam. An seiner Spitze ritt ein Major. Er ließ in einiger Entfernung von der Barrikade seine Truppe haltmachen und ritt bis auf wenige Schritte heran. Es war ein alter grauhaariger Mann mit einem gutmütigen Gesicht, dem offenbar bei Erfüllung seiner blutigen Pflicht nicht sonderlich wohl war. Seine Stimme klang hohl und zitterte ein wenig, als er jetzt, so laut er vermochte, rief:

»Ihr da! Ich muß hier mit meinen Leuten durch, und wenn ihr das Ding, das ihr da gebaut habt, nicht gutwillig wegräumt, so muß ich von der Schußwaffe Gebrauch machen. Das sollte mir eurethalben leid tun!«

Oldenburg trat auf die Barrikade.

»Im Namen der Männer hier«, sagte er, seinen Hut höflich gegen den Major lüftend, »erkläre ich Ihnen, daß wir entschlossen sind, einer für alle und alle für einen zu stehen und die Barrikade zu halten, solange es möglich ist.«

Oldenburgs Erscheinung und seine Rede imponierten dem alten Krieger sichtlich.

»Sie sind der Anführer von den Leuten?«

»Ich habe die Ehre.«

»Sie scheinen ein verständiger Mann. Da müssen Sie doch einsehen, daß das Ding da nicht lange halten kann und daß ihr mit euren paar Schüssen nicht weit kommen werdet. Reißt das Ding herunter, und die Sache ist gut.«

»Es tut mir leid, Ihnen diesen Gefallen nicht tun zu können und meine erste Entscheidung wiederholen zu müssen.«

»Nun denn«, rief der alte Mann mehr verdrießlich als zornig, »so soll euch alle der Teufel holen!«

Mit diesen Worten warf er sein Pferd herum und galoppierte zu seiner Truppe zurück.

Oldenburg war froh, daß die Unterredung zu Ende war. Sein schneller Blick hatte ihm gezeigt, daß das gütige Zureden des Majors seinen Einfluß auf die Menge nicht verfehlt hatte und daß mehr als einer unentschlossen und zaghaft dreinschaute. Er wandte sich um und rief:

»Ist einer unter Ihnen, der es süßer findet, für das Vaterland und die Freiheit leben zu bleiben, als zu sterben, der möge es jetzt sagen! Noch ist es Zeit.«

Die Männer standen regungslos und lautlos. Wohl mochte manches Herz stärker gegen die Rippen pochen; aber jeder fühlte, daß der Würfel geworfen und daß jetzt umzukehren, schimpflicher Verrat sei.

Da schlugen drüben die Trommeln den Sturmmarsch und ihr eherner Klang schmetterte die letzten Bedenken weg.

»Jeder Mann an seinen Posten!« rief Oldenburg mit einer Stimme, die hell wie Trompetenton das Rasseln der Trommeln übertönte. »Kein Schuß fällt, kein Stein wird geschleudert, bevor ich das Zeichen gebe.«

Oldenburg blieb auf der Barrikade stehen und sah die Kolonne im Sturmschritt heranrücken. In der Mitte die Tambours und der Major, der mit seiner Grabesstimme kommandierte.

»Bataillon halt! Legt an! Feuer!«

Die Salve krachte, die Kugeln hagelten in die Barrikade und gegen die Wände der Häuser.

»Gewehr rechts, marsch, marsch!«

»Hurra!« schrien die Soldaten, indem sie sich mit gefälltem Bajonett gegen die Barrikade stürzten.

»Hurra!« schrie Oldenburg, indem er noch immer auf der Barrikade stehend, den Hut schwenkte.

Und die Büchsen der Barrikadenverteidiger krachten, und die Steine prasselten von den Dächern auf die Köpfe der unglücklichen Soldaten hinab, und als der Rauch und Staub sich verzog, sah man die Kompagnie, die in kriegerischer Ordnung heranmarschiert gekommen war, in wilder Verwirrung sich zurückziehen, vorauf ein reiterloses Pferd und zwischendurch kleine Truppen von drei, vier Mann, die Tote oder Verwundete eiligst aus dem Bereiche der Barrikade trugen.

Von den Männern des Volkes war nur einer, und selbst der durch keine feindliche Kugel verwundet. Der alte Karabiner war bei dem ersten Schusse gesprungen, und ein Stück davon hatte den Nebenmann des Schützen leicht am Kopf gestreift. Dieser Unfall trug indessen nur zur Erhöhung der guten Laune bei. Man schrie Hurra, man gratulierte einander, man lachte, man scherzte, man war in der besten Stimmung.

Oldenburg teilte die Siegesfreude nicht. Von der Notwendigkeit des Kampfes war er ebenso überzeugt, wie ihm ein glücklicher Ausgang problematisch war. Er hatte die Februartage in Paris mit durchlebt und durchfochten, und der Unterschied der beiden Revolutionen konnte ihm nicht entgehen. Dort hatte er ein Volk gesehen, das mit dem vollen Bewußtsein der Unhaltbarkeit der Regierung, gegen die es sich auflehnte und mit dem vollen Verständnis der Situation in den Kampf zog – hier fand er die größte Unklarheit über die endlichen Ziele, und zum Teil die naivste Unkenntnis in betreff der gegenwärtigen Lage. Aber, sagte er sich, ist es doch nicht immer die freie, geistgeborene Tat, deren der Genius der Menschheit zu seinen Zwecken bedarf. Wirkt er doch auch in dem dunklen Triebe, der aus geheimnisvollen Tiefen unaufhaltsam zum Lichte drängt. Wenn diese harmlosen und im Grunde wenig politischen Menschen, die die geringsten Zugeständnisse zur rechten Zeit befriedigt haben würden, nicht für den freien Staat der Zukunft, sondern nur gegen die brutale Herrschaft einer einzelnen Kaste fechten – die großen Folgen können nicht ausbleiben, und wer ein krankes Glied abschneidet, rettet dadurch vielleicht den ganzen Körper.

So suchte sich Oldenburg die schweren Bedenken, die ihm die Physiognomie dieser Revolution einflößte, wegzuphilosophieren. Er war auf dem Platze vor dem Schlosse gewesen, als die verhängnisvollen zwei Schüsse fielen, die das Signal zum Ausbruch wurden, und das Militär seine ersten Attacken auf das wehrlose Volk machte. Er und andere wackere Männer hatten vergeblich dem Blutvergießen Einhalt zu tun gesucht, indem sie sich mit Gefahr des Lebens durch die Soldaten drängten und den kommandierenden Offizieren den Wahnsinn dieser Metzeleien klarzumachen sich bemühten. Offener Hohn und im besten Falle mürrisch grobe Abweisung war alles, was man ihren Gründen entgegenzusetzen hatte. Als Oldenburg sah, daß er so nichts mehr nützen könne, und daß es bis zum Äußersten gekommen sei, hatte er Melittas Wohnung Unter den Linden zu erreichen gesucht, um sie und die Kinder vor dem hereingebrochenen Sturm in Sicherheit zu bringen. Aber er hatte einen weiten Umweg machen müssen, denn schon hielt das Militär alle Zugänge von der Schloßseite her besetzt, und nur mit Mühe entging er mehrmals der Gefahr, verhaftet zu werden. So kam es, daß er erst in dem Augenblick im Hotel anlangte, als bereits die Sturmglocken ertönten, von der Schloßseite her die Gewehrsalven krachten und einzelne Kanonenschläge die Fenster klirren machten. Er ließ sich eben nur so viel Zeit, im Hotel nach Melitta zu fragen, wo er denn zu seiner Freude vernahm, daß sie schon seit einer Stunde mit den Kindern zu Frau Doktor Braun (in eine Vorstadt, bis wohin der Aufstand schwerlich dringen konnte) gefahren sei, und dann hatte er sich, von seiner einzigen Sorge befreit, mit ausgebreiteten Armen in den Strom der Revolution geworfen.

Und jetzt stand er, nachdem der erste Sturm glücklich zurückgeschlagen war, mit über der Brust gekreuzten Armen auf der Barrikade an einer sichern Stelle, von wo er zugleich die Bewegungen des Feindes und den Raum hinter der Verschanzung überschauen konnte, und erwartete voll Ungeduld die Rückkehr Bergers, der sich mit einer Patrouille aufgemacht hatte, um womöglich noch mehr Waffen aufzutreiben und sodann die Verbindung mit den nächsten Barrikaden herzustellen. Denn bis jetzt fehlte es noch gänzlich an einer Organisation des Aufstandes. Kein gemeinsamer Plan machte ein gemeinsames Handeln möglich; an jeder Barrikade wurde ein isolierter Kampf gekämpft. Dazu kam, daß es bereits stark zu dunkeln begann, und die Nacht, wenn sie auch dazu beitragen mochte, das Militär über die Stärke seines Feindes im unklaren zu lassen, doch auch schon die nur allzugroße Verwirrung auf seiten des Volkes noch steigern mußte. Berger, der in diesem Augenblicke kam, brachte noch einige Gewehre, aber sonst wenig tröstliche Kunde. Die nächsten Straßen waren zwar ebenfalls verbarrikadiert, aber die Barrikaden meistens sehr schwach und noch schwächer besetzt, zumal die in der unmittelbar benachbarten Straße.

»Ich glaube, sie werden sich dort nicht allzulange mehr halten«, sagte Berger, »und dann sind wir verloren, weil uns das Militär durch diese enge Gasse hier in den Rücken kommen kann. Wir müssen notwendig auch diese Gasse sperren und besetzen, was mit leichter Mühe geschehen wird; ich habe Oswald und Schmenckel den Auftrag gegeben, diese Arbeit auszuführen.«

»Wem?« sagte Oldenburg, der keine Ahnung hatte, wie Oswald hierher kommen sollte, und sich deshalb verhört zu haben glaubte.

Aber er hatte keine Zeit, Bergers Antwort abzuwarten, denn schon ertönte wiederum der Sturmmarsch, und die zweite Kompagnie rückte heran. Diesmal ritt der Major nicht auf seinem Schimmel mit. Der alte Mann, den bei dem ersten Sturm eine Kugel am Kopf verwundet hatte, war bereits auf dem Wege ins Lazarett. Der zweite Sturm war hartnäckiger, wenn auch nicht erfolgreicher als der erste. Der kommandierende Hauptmann ließ in rascher Folge drei Salven hintereinander geben, und dann warfen sich die Soldaten mit großem Ungestüm auf die Barrikade. Aber da Oldenburg mit vollem Bedacht sein Feuer bis zu diesem Moment aufgespart, so war der Anprall höchst verderblich für die Stürmenden, die in allernächster Nähe von den Kugeln und Dachziegeln so arg mitgenommen wurden, daß sie abermals, unter Mitnahme ihrer Verwundeten, eilend den Rückzug antraten. Aber diesmal hatten auch die Verteidiger ihre Verluste. Ein junger Mann, der sich unbesonnen ausgesetzt hatte, wurde durch die Brust geschossen und war auf der Stelle tot, einem andern hatte eine von der Mauer zurückprallende Kugel den Arm zerschmettert.

So hatten die Barrikadenmänner die Bluttaufe bekommen, und jetzt erst fühlten sie sich mit der Sache der Revolution unauflöslich verbunden. Männer, die sich heute zum ersten Male sahen, schüttelten einander die Hände und gelobten sich, zusammen auszuharren und bis in den Tod gegen die Tyrannei zu kämpfen. Frauen gingen zwischen den Kämpfern umher und reichten ihnen Wein und Brot. Unter diesen Samariterinnen zeichneten sich mehrere durch ihre stattliche Erscheinung oder sorgfältige, ja elegante Toilette aus. Es waren Damen aus der guten Gesellschaft, die sonst jedem Volkshaufen sorgsam auszuweichen pflegten und die heute abend die Leidenschaft der Nächstenliebe, die sie sonst nur im stillen Kreise ihrer Familie geübt, auf dem hallenden Markt des Lebens im größeren und heiligeren Sinne betätigen durften.

Und nun wurden auf Oldenburgs Rat, der die Vorteile dieser Maßregel von Paris her kannte, in den Fenstern aller Häuser, die von der Barrikade beherrscht wurden, Lichter entzündet und so eine feierliche Illumination improvisiert, zu der der volle Mond, der klar und mild aus dem blauen Frühlingshimmel herabschaute, reichlich beisteuerte. Es war ein seltsamer Gegensatz; die hehre Ruhe dort oben in den himmlischen Gefilden und hier unten die in dem Fieber der Revolution zuckende Stadt, in der sich das Geheul der Sturmglocken mit dem Krachen der Kanonen, dem Geprassel des Kleingewehrfeuers und dem Hurrarufen und Wutgeschrei der Kämpfer vermischte. Und um das grausige Bild noch grausiger zu machen, wälzten sich jetzt über die Dächer fort lange glühende Rauchwolken. Es war an mehreren Stellen zugleich Feuer ausgebrochen, das die Stadt einzuäschern drohte – wer hatte heute nacht Zeit, zu löschen und zu retten!

Oldenburg suchte mit den Augen Berger, der aber nirgends zu entdecken war, er wollte ihn fragen, was es mit Oswald zu bedeuten habe, denn es fiel ihm jetzt ein, daß er vorhin eine Gestalt gesehen, die ihn flüchtig an Oswald Stein erinnerte. Da ertönte lautes Geschrei aus der Nebengasse her, und einige Schüsse krachten. Oldenburg, der nicht anders glaubte, als daß das Militär die Barrikade genommen habe und jetzt durch die Gasse herandringe, raffte eilig einen Teil seiner Leute zusammen und stürzte mit ihnen nach der bedrohten Seite.

In der Tat war hier ein Überfall am Werke gewesen und die Gefahr nur durch Schmenckels Riesenkraft und Oswalds und Bergers todesmutige Tapferkeit abgewendet worden.

Oswald hatte sich den Barrikadenbauern angeschlossen, um Oldenburg aus den Augen zu kommen, den er zu seiner nicht geringen Verwunderung mitten in dem Volksgewühl auf der Treppe des Eckhauses als Redner und hernach als Anführer der Barrikade erblickt hatte. Es war ihm unmöglich, dem Manne, den er bald wie ein höheres Wesen verehrt, und bald als seinen schlimmsten Feind gehaßt hatte, jetzt gegenüberzutreten und so den alten Streit in seinem Busen von neuem anzufachen. Er war so müde, so sterbensmüde! Der Sturm um ihn her war wie Wiegengesang für sein müdes, krankes Herz, und während er bei dem ersten Sturm auf die Barrikade, den er noch mit abschlagen half, die Kugeln um sich pfeifen hörte, dachte er nichts als: Möchte doch eine davon für dich bestimmt sein!

Er sprach dieses Gefühl gegen Berger aus, als sie, auf der fertigen Barrikade sitzend, sich einen Augenblick von ihren ungeheuren Anstrengungen ausruhten.

»Nein«, erwiderte Berger, »so ist es nicht recht. Der Tod als solcher bezahlt die Zeche nicht; er zerreißt die unbezahlten Rechnungen nur und wirft sie den Gläubigern vor die Füße. Aber der Tod für die Freiheit, ja – der bezahlt sie.«

Er ergriff Oswalds Hand, sich scheu umsehend, wie um sich zu vergewissern, daß ihn niemand höre:

»Ich fürchte mich vor dem Leben, Oswald. Eine schauerliche Zufluchtsstätte ist der Tod, aus dem man nicht wieder erwachen kann. Der Tod des Selbstmörders ist nach meiner Philosophie solch ein Tod; wäre er das nicht, so hätte ich mir schon längst das Leben genommen. Denn sterben, um vor sich selbst zu fliehen, ist leichter, als für andere zu leben. Ich habe es jetzt erfahren. Ich habe aus dem Kelch des Menschensohnes, der sich zu den Zöllnern und Sündern setzt, getrunken; aber der Trank ist grauenhaft bitter, Oswald! Im Anfang hatte ich noch Mut und Kraft; aber jetzt, nachdem ich dies Leben kaum ein halbes Jahr geführt, ist mein Mut geschwunden und meine Kraft gebrochen. Meine Nerven ertragen es nicht mehr. Darum habe ich diesen Tag, an dem das Volk sich endlich emporgerafft hat aus seiner schmachvollen Apathie, mit namenlosem Jubel begrüßt. Wenn ich für mein Volk sterben kann heute, wo ich es zum ersten Male seit einem Menschenalter nicht verächtlich finde – so ist dies ein Glück, wie ich es so groß und schön nimmermehr gehofft habe. Und dann«, fuhr er nach einer Pause fort, »ist mir heute auch noch viel anderes Glück beschieden. Ich habe meinen ältesten und am meisten gehaßten Feind und meinen jüngsten und am meisten geliebten Freund wiedergefunden.«

Er drückte Oswalds Hand, der lächelnd sprach: »Den ältesten Feind wiedergefunden? Das nennen Sie ein Glück?«

Berger erzählte Oswald mit wenigen Worten seine Begegnung mit dem Grafen Malikowsky heute morgen, und daß Schmenckel, der mit ihnen gewaltig an der Barrikade gearbeitet, der Vater des Fürsten Waldernberg sei. »Der Proletarier eines Fürsten Vater, der Fürst eines Proletariers Sohn – das gäbe einen hübschen Stoff zu einem modernen Romane«, sagte er mit düsterem Lächeln. »Vielleicht kann ich Ihnen ein Pendant zu Ihrer Geschichte geben«, erwiderte Oswald; und er teilte Berger die Entdeckungen mit, die er vor wenigen Stunden in betreff seiner Geburt gemacht hatte.

»Das ist wunderbar«, sagte Berger, »sehr wunderbar. Und sagtest du mir nicht, daß du Helene geliebt hast?«

»Mehr als mein Leben.«

»Und hast die Welt und ihre Herrlichkeit doch von dir gewiesen, um treu zu bleiben deiner alten Fahne?«

Oswald schüttelte den Kopf.

»Nein, Berger«, sagte er, »ich bin nicht so gut und so groß, wie Sie in Ihrer Güte und Größe glauben. Sie konnte nie die meine werden. Es war zu viel geschehen, das sich nie vergibt und noch weniger vergißt. Ich hatte ihr eine andere vorgezogen und sie mir einen andern. Eben jener Fürst Waldernberg war ihr Verlobter.«

»Ist er es denn nicht mehr?«

»Nein. Ich fand sie im Begriff, die Stadt zu verlassen. Sie hat sich noch in der zwölften Stunde darauf besonnen, daß sie ein Herz im Busen trägt, dessen Sehnen aller Reichtum der Welt nicht stillen könnte.«

»Wunderbar, wunderbar«, murmelte Berger, »ihr beide, der Baronensohn, der sich zu den Proletariern hält, der Proletariersohn, der unter den Fürsten sitzt, Nebenbuhler um die Gunst derselben Dame! Und die, dich verschmähend, weil sie von deiner noblen Abkunft keine Ahnung hat, und den Fürsten wählend, weil sie glaubt, daß in seinen Adern dasselbe Blut rollt, auf das sie so stolz ist. Schade, schade, daß dies die Welt nicht weiß und wissen darf. Sie würden dann vielleicht dahinterkommen, was es mit dem Unterschiede von adeligem und bürgerlichem Blut auf sich hat!«

»Sie scheinen es mit diesem Unterschied jetzt allerdings nicht mehr so genau wie früher zu nehmen; ich erinnere mich einer Zeit, wo Sie es für eine moralische Unmöglichkeit erklärten, der Freund eines Adeligen zu sein.«

»Du spielst auf meine Freundschaft zu Oldenburg an«, sagte Berger ruhig. »Ich sage dir, Oswald, wenn es je einen Menschen gibt, der es verdiente, daß man ihn liebt und ehrt, so ist es Oldenburg. Wenn ich mich je vor einem Menschen demütigen und meinen Herrn und Meister in ihm erkennen könnte, so wäre es wiederum Oldenburg. Ich weiß, daß du ihm grollst, weil die Frau, die du verlassen hast, in ihm schließlich ihre Welt fand. Das ist nicht recht, Oswald! Oldenburg hat stets mit Freundschaft von dir gesprochen.

Es wäre mir sehr lieb, Oswald, wenn ich euch versöhnt wüßte, bevor ich von euch auf immer scheide.«

»Erst kommt die Reihe an mich«, sagte Oswald, »wissen Sie, Berger, was Sie in Grünwald sagten? Du wirst vor mir sterben, sagten Sie, die große Schlange hat ein zähes Leben, und du bist weich, viel zu weich für diese harte Welt.«

»Das war damals. Dies letzte Jahr hat die große Schlange alt und stumpf gemacht. Doch, was ist das?«

Ein Lärm, der aus einer Kellerkneipe, deren Treppe nicht weit von ihnen mündete, herauftönte, machte die beiden Männer von ihren Sitzen auffahren. Sie ergriffen ihre Waffen und eilten, gefolgt von anderen Männern, die mit ihnen die Barrikaden besetzt hielten, dem Keller zu, wo jetzt rasch hintereinander mehrere Schüsse fielen. Es waren dies dieselben Schüsse, die auch Oldenburg aus seiner momentanen Ruhe auf der Barrikade emporgeschreckt hatten.


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