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Dreiundvierzigstes Kapitel

In der Wilhelmstraße, der vornehmsten Straße Berlins, war kurz vor Neujahr durch den Hausmeister des Fürsten Waldernberg ein großes schönes Hotel, dessen Besitzer vor einiger Zeit gestorben war, gekauft worden. Der Fürst selbst, der bald darauf von Sundin eintraf, hatte die innere Einrichtung überwacht und trotz der verschwenderischen Pracht, mit der sie ausgeführt wurde, so gefördert, daß er schon Ende Januar mit seiner zahlreichen Dienerschaft und seinem Marstall aus dem Hotel in der Bärenstraße, wo er bis dahin residiert hatte, in die Wohnung übersiedeln konnte. Er bezog den einen Flügel des Erdgeschosses. Der andere Teil blieb vorläufig leer, da der Fürst in der Einrichtung dem Geschmack und den Wünschen seiner Braut, die nebst ihrer Mutter Anfang Februar von Sundin erwartet wurde, nicht vorgreifen wollte. Mit desto größerem Eifer ließ er an der Ausstattung der Beletage arbeiten, deren prachtvolle Räume für die Fürstin Mutter, die den übrigen Teil des Winters in Berlin zuzubringen gedachte, sowie zur Aufnahme der erwarteten Gäste bestimmt waren.

Der Fürst hatte die Freude, auch diese Arbeit vollendet zu sehen, als er am 1. März die Residenz verließ, um seine Mutter von Stettin abzuholen, wo das Dampfschiff, das sie von Petersburg nach Deutschland brachte, am nächsten Tage ankommen mußte. Zu gleicher Zeit waren durch seinen Hausmeister für seinen Vater, den Grafen Malikowsky, der von München aus seine bevorstehende Ankunft angekündigt hatte, in dem Hotel de Russie Unter den Linden eine Reihe von Zimmern gemietet worden. In einem der prachtvollen Salons des Hotel Waldernberg, in einem weichgepolsterten Lehnstuhl, der nahe an den Kamin gerückt war, in dem ein lustiges Feuer brannte, saß die Fürstin Letbus. Dicht neben ihr, die hohe Gestalt zu ihr herabgebeugt, wie um der Mutter selbst die Anstrengung des lauteren Sprechens zu ersparen, stand der Fürst.

»Adieu, liebe Mama«, sagte der Fürst, indem er sich noch tiefer herabbeugte und die feine, welke Hand der Mutter an seine Lippen führte, »es ist Zeit, daß ich gehe, wenn ich die Ankunft des Zuges nicht versäumen will.«

»Adieu, mein lieber Sohn«, erwiderte die Fürstin, »heiße deine Braut in meinem Namen willkommen. Sage ihr, daß ihr meine Mutterarme geöffnet sind. Hat der Graf zugesagt, sich an dem Empfange der Damen zu beteiligen?«

»Ja, liebe Mama.«

»Nun denn, mein lieber Sohn, gehe mit Gott, der deinen Ausgang und deinen Eingang segnen möge!«

Sie hauchte einen Kuß auf die Stirn des Fürsten, der sich erhob und über die dicken Teppiche des Fußbodens geräuschlos zur Tür hinausschritt.

Die Fürstin blieb, nachdem der Sohn sie verlassen hatte, in dem Lehnstuhl zusammengekauert sitzen. Es waren keine tröstlichen Gedanken, die in diesem Augenblicke durch ihr Hirn zogen, denn der Ausdruck ihres bleichen Gesichtes wurde immer düsterer, und immer starrer blickten die schwarzen Augen in die Flamme des Kamins, so daß sie in dem Widerschein des Feuers unheimlich funkelten und blitzten. Zuletzt schauderte sie aus dieser Starrheit auf und drückte auf die Feder der silbernen Glocke, die dicht neben ihr auf einem Tischchen stand.

Unmittelbar darauf trat ihre erste Kammerfrau Nadeska herein.

»Was befiehlt meine Fürstin?« sagte Nadeska, mit einer Stimme, durch deren leisen unterwürfigen Ton eine gewisse Vertraulichkeit hindurchklang.

»Laß die Lichter in den Zimmern anzünden, Nadeska, und hörst du, Nadeska, daß die ganze Dienerschaft sich zum Empfang der Damen in dem Hausflur aufstellt. Wen hast dir zu ihrer speziellen Bedienung bestimmt?«

»Ich dächte: Katinka, Mademoiselle Virginie und von den deutschen Mädchen Marie und Luise.«

»Es ist gut. Du selbst empfängst die Damen an der Tür und begleitest sie auf ihr Zimmer.«

»Hat meine Fürstin sonst nichts zu befehlen?«

»Nein, Nadeska.«

Die Kammerfrau verneigte sich und ging nach der Tür. Als sie sie beinahe erreicht hatte, rief die Fürstin sie zurück. Sie trat wieder an den Stuhl.

»Hast du den Grafen heute vormittag beobachtet, Nadeska?«

»Ja, meine Fürstin.«

»Hast du nichts Besonderes bemerkt?«

»Er schien noch stutzerhafter und geschminkter als früher.«

»Sonst nichts?«

»Nein.«

»Nadeska, ich habe eine unbeschreibliche Angst, daß er etwas gegen uns im Schilde führt.«

»Sie haben diese Angst stets gehabt, meine Fürstin, sooft der Graf einen Besuch machte, und haben sie jetzt mehr als sonst, weil Sie ganz bestimmt erwarteten, daß er der Einladung des Fürsten nicht folgen würde.«

»Ja, sieht es nicht wie Hohn aus, daß er kommt? Was will er hier? Aber es ist nicht das allein. Er hat gestern wiederum eine enorme Summe von mir verlangt.«

»Die Sie ihm hoffentlich gegeben haben.«

»Nein, Nadeska. Meine Geduld ist erschöpft wie meine Kasse. Michail sagte mir, daß er das Geld nicht schaffen könne.«

»Er muß es schaffen. Bedenken Sie, was auf dem Spiele steht!«

»Aber diese Tyrannei ist unerträglich!« rief die Fürstin, und die großen schwarzen Augen leuchteten im Widerschein des Feuers wie glühende Kohlen.

Nadeska zuckte die Achseln.

»Was wollen Sie dagegen tun! Sie wissen, der Graf haßt Sie ebensosehr wie den Fürsten. Wenn er seinem Hasse nicht nachgibt und das Wort ausspricht, das Mutter und Sohn auf immer trennen würde, so ist es nicht Furcht vor der Schande – wann hätte sich der Graf jemals etwas aus der Schande gemacht! – sondern nur Furcht vor der Armut, die er noch mehr haßt, als Mutter und Sohn zusammengenommen. Lassen Sie ihn heute erfahren, daß ihm sein Schweigen nichts mehr einbringt, und er wird es morgen brechen.«

Die Gräfin ächzte wie eine Gefolterte, indem sie ihre mageren Hände zusammenpreßte.

»Oh, Nadeska, Nadeska«, wimmerte sie, »warum mußte der Graf in jenem unglücklichen Augenblick kommen! Warum mußtest du deinen Posten verlassen in dieser einen Stunde, die alles entschied! Nur fünf Minuten vorher gewarnt, und der Graf hätte mich allein gefunden, und wie groß auch sein Verdacht sein mochte, er hätte auch diesmal keine Beweise gehabt.«

Nadeska stand seitwärts und etwas hinter der Gebieterin. Sie konnte also ungestraft eine höhnische Fratze ziehen, bevor sie in noch demütigerem Tone antwortete:

»Verzeihen Sie, Fürstin! Dieses Mal war doch auch ohne das ein sehr sprechender Beweis da. Freilich, ein böser Zufall war es immer, daß die Geburt des Fürsten neun Monate nach der Nacht erfolgte, in welcher er von einem fremden Manne, den er im Zimmer seiner Gemahlin fand, zwanzig Fuß hoch durch das Fenster auf den Schnee geworfen wurde.«

Die Erinnerung an diesen Vorfall verscheuchte für diesen Augenblick die Melancholie der Fürstin. Die lächerlichen, abscheulichen Szenen jener tollen Nacht zogen mit Klarheit an ihrem inneren Auge vorüber, und das Bild des Helden, des Mannes aus dem Volke, den die hochgeborene Dame mit ihrer Gunst beehrt hatte, erschien ihr wieder, wie es ihr damals erschienen war: ein Ideal übermütiger Jugend und Manneskraft.

»Ob er wohl noch lebt?« fragte sie, ganz in diese Erinnerung verloren.

»Wer, meine Fürstin?« fragte Nadeska, die recht gut wußte, an wen die Gebieterin jetzt dachte.

Die Fürstin antwortete nicht, und Nadeska begann geräuschlos die Lichter in dem Salon anzuzünden. Eine wollüstige Dämmerung verbreitete sich in dem Gemache, die heller und heller wurde, ohne den sanften Charakter zu verlieren, denn sämtliche Lichter brannten in Kelchen von rosigem Glase. Es war dies das einzige Licht, das die reizbaren Nerven der Fürstin ertragen konnten; auch am Tage, der für sie erst spät am Nachmittage anfing, waren die Fenster stets mit rosenroten Vorhängen geschlossen; Spötter behaupteten, die Fürstin scheue das freche Licht des Tages nur, weil es für ihren durch eine ausschweifende Jugend und ein frühes Alter verwüsteten Teint allzu ungünstig sei.

Nadeska hatte eben die letzte Kerze angezündet, als die diensthabende Kammerzofe in das Gemach schlüpfte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.

»Was gibt's, Nadeska?« fragte die Fürstin.

»Der Graf läßt sich melden«, erwiderte die Vertraute.

Die Fürstin schrak zusammen.

»Was kann er wollen?« sagte sie. »Er sollte jetzt auf dem Bahnhofe sein!«

»Er wird sich in der Zeit geirrt haben.«

»Möglich. Laß ihn kommen, aber bleib im Zimmer.«

Auf einen Wink Nadeskas entfernte sich die Kammerzofe, die in demütiger Haltung an der Tür gewartet hatte. Gleich darauf trat raschen Schrittes der Graf Malikowsky herein, kam auf die Fürstin zu, küßte ihr verbindlich die Hand und sagte, indem er sich in einen der Lehnstühle, die um den Kamin herum standen, sinken ließ: »Sie wundern sich, Alexandrine, daß ich nicht mit den andern zugleich erscheine –«

»In der Tat.«

»Glauben Sie nicht, daß es Mangel an Aufmerksamkeit für die Braut meines Sohnes ist« – der Graf sprach dies letztere Wort mit ganz besonderer Betonung und zeigte dabei seine falschen weißen Zähne –, »im Gegenteil, gerade die zarte Sorge, die ich dem Wohl des jungen Paares widme, treibt mich, ich kann sagen, atemlos hierher. Eine Entdeckung, die ich heute – aber, darf ich bitten, Alexandrine, daß sich Ihre Kammerfrau entfernt; meine Mitteilung erfordert unbedingtes Geheimnis« – flüsterte der Graf, sich zu seiner Gemahlin hinüberbeugend.

»Laß uns allein, Nadeska, aber bleib im Nebenzimmer«, sagte die Fürstin.

»Alexandrine«, sagte der Graf, als sich die Kammerfrau entfernt hatte, um in dem Nebenzimmer ihr Ohr an das Schlüsselloch zu legen, »Sie hatten gestern nicht die Güte, meiner, durch hartnäckige Verluste im Spiel erschöpften Kasse mit der geringen Summe, um die ich Sie bat, auszuhelfen. Nun hätte ich das übelnehmen können in Anbetracht des eigentümlichen Verhältnisses, in dem wir zueinander stehen; indessen: ich für meine Person weiß mich einzuschränken und möchte um alles in der Welt nicht Ihnen oder meinem Sohne beschwerlich fallen. Um so mehr tut es mir leid, daß ich schon wieder Ihre Kasse in Anspruch nehmen muß, diesmal freilich nicht für mich, sondern für jemand, der allerdings größere Ansprüche machen kann als ich.«

»Ich bin nicht so glücklich, den Sinn Ihrer Worte auch nur zu ahnen«, erwiderte die Fürstin, sich mit halbgeschlossenen Augen in die Kissen ihres Stuhles zurücklehnend.

»Vielleicht«, sagte der Graf, indem er in die Tasche seines Fracks faßte und einen Brief herausnahm, den er mit den in gelbe Glacéhandschuh gepreßten zitternden Händen auf seinem Knie entfaltete, »wird dieser Brief, der mir vor einer halben Stunde durch einen jungen Menschen überbracht wurde, die gewünschte Aufklärung geben. Erlauben Sie, daß ich Sie mit der Lektüre behellige.«

Der Graf wartete keine Antwort ab, sondern klemmte seine goldene Lorgnette auf die Nase und las, indem er dabei von Zeit zu Zeit über die Gläser weg auf die Fürstin hinüberblickte:

»Hochgeborner Herr Graf! In dem Augenblicke, wo Se. Durchlaucht der Fürst Waldernberg seine junge Braut, Baroneß Helene von Grenwitz, in die Arme der Fürstin Mutter führt, ist es gewiß wünschenswert, daß unter allen Mitgliedern der Familie die Harmonie walte, ohne die auch weniger wichtige Feste leicht einen unerfreulichen Charakter annehmen. Sie selbst, hochgeborner Herr Graf, haben, indem Sie über gewisse Vorgänge, die in der Nacht vom 21. bis 22. September 1824 im Hotel Letbus in St. Petersburg stattfanden, den Schleier christlicher Liebe und weiser Vergessenheit fallen ließen, ein Beispiel gegeben, dem ich gern folgen würde, wenn die Umstände es mir erlaubten. So aber bleibt mir nur die Alternative, meine Angelegenheit bei Sr. Durchlaucht selbst zu befürworten, oder denjenigen, die Ursache haben, gewisse Dinge vor Sr. Durchlaucht zu verheimlichen, beschwerlich zu fallen. Ich erlaube mir deshalb, mich an Sr. Exzellenz den Grafen Malikowsky, als die zur Vermittelung des Geschäfts geeignetste Person zu wenden, mit dem Ersuchen, mir unverzüglich 50 000 (schreibe fünfzigtausend) Silberrubel bei einem der hiesigen Bankiers anzuweisen, widrigenfalls ich mich eben genötigt sehen würde, Sr. Durchlaucht selbst in Person meine Aufwartung zu machen. In der Zwischenzeit (die ich auf acht Tage de dato bestimmen möchte) verharre ich usw.

Direktor Kaspar Schmenckel aus Wien.

P. S. Sollten Sie vorziehen, persönlich mit mir zu verhandeln, so bin ich jeden Abend von 7 Uhr an im ›Dustern Keller‹, Gertrudenstraße Nr. 15, zu finden.

D. O.

Nun, was sagen Sie, Alexandrine?« fragte der Graf, indem er seine Lorgnette fallen ließ und den Brief wieder in die Tasche steckte.

»Daß das Ganze ein schlecht erfundenes Märchen von Ihnen ist.«

»Comment?« rief der Graf in einem Erstaunen, das diesmal nicht affektiert war.

»Glauben Sie wirklich, mein Herr«, sagte die Fürstin zitternd vor Wut und einer heimlichen Furcht, es könne doch etwas Wahres an der Sache sein, »daß ich in eine so plumpe Falle gehen werde, daß ich nicht sehe, wo das alles hinaus soll, daß Sie auf diese schamlose Erfindung nur deshalb gefallen sind, weil ich Ihrer tollen Verschwendung nicht auch noch den Rest meines Vermögens opfern will?«

»Wahrhaftig, Alexandrine, wer Sie so hörte, sollte glauben, daß Ihr Gewissen so rein wäre wie meine Handschuhe. Der Zorn macht Sie ja blind, Teuerste! Bemerken Sie doch gütigst, daß in dem Briefe Dinge vorkommen, von denen ich gar keine Ahnung habe, noch haben kann, zum Beispiel: der so überaus aristokratische Name des betreffenden Ehrenmannes. Bekanntlich hatte ich bis jetzt noch nicht die Ehre, zu wissen, wessen Blut in den Adern meines Sohnes fließt. Und überdies haben Sie ja ein unfehlbares Mittel, die Echtheit dieses Briefes zu ermitteln. Lassen Sie sich den Verfasser – ich meine den des Briefes – kommen! Er wird sich doch in den fünfundzwanzig Jahren so sehr nicht verändert haben, daß Sie ihn nicht wiedererkennen sollten.«

»Sie denken, ich werde das nicht tun? Sie irren sich. Ich bestehe darauf, daß Sie mir diesen Popanz, mit dem Sie mich einzuschüchtern versuchen, vorführen. Geben Sie mir den Brief!«

»Warum nicht?« erwiderte der Fürst. »Hier! Aber, Alexandrine, ich hoffe, daß diese Zusammenkunft in meinem Beisein geschieht, sonst würde ich mich vor Eifersucht nicht zu lassen wissen.,«

»Teufel!«

»Oh, mein Engel, nennen Sie so den Mann, dem Sie so viel Dank schuldig sind?«

»Dank schuldig? Ihnen? Ich, der ich Sie aus dem Elend aufgelesen habe!«

»Wofür ich Ihnen einen ehrlichen Namen gab.«

»Einen ehrlichen Namen, der durch jedes schnödeste Laster und jede schändlichste Sünde geschleift –«

»Und doch immer noch gut genug war für die Freundin –«

»Hüten Sie sich!«

»Weshalb? Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit. Übrigens haben Sie recht, zu verlangen, daß auf dieses eine Verhältnis kein übermäßiger Wert gelegt werde. Weiß doch jedermann, daß Ihnen in einer gewissen Beziehung jeder Rang und Stand gleich war.«

»Das geht zu weit, ich –«

»Beruhigen Sie sich, ma chère! Ich höre soeben einen Wagen vorfahren. Jedenfalls sind es die lieben Unsrigen. Wir müssen Ihnen ein Beispiel ehelicher Liebe und Freundschaft geben.«

 

Es war ungefähr zwei Stunden später. Helene von Grenwitz wanderte, nachdem sie die Kammerfrau verlassen hatte, unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Die Baronin, die von der Reise sehr angegriffen war, hatte sich bereits in ihr Schlafgemach begeben. Helene konnte nicht schlafen. Ihre Seele war von einer unbestimmten und deshalb um so fürchterlicheren Angst bedrückt. Sie kam sich inmitten der Herrlichkeit, die sie umgab, vor wie ein Kind in einem verzauberten Schlosse, wo aus jedem Winkel, in welchen der Schein der Lichter weniger hell fällt, hinter jeder seidenen Gardine, die der Luftzug leise bewegt, ein unsägliches Grauen hervortreten kann. War das die Erfüllung ihrer stolzen Hoffnungen! Sie vermochte den Eindruck, den der Empfang im Salon der Fürstin auf sie gemacht hatte, nicht wieder loszuwerden. Noch immer fühlte sie die eisigkalten Lippen der Fürstin auf ihrer Stirn; noch immer sah sie das widrig freche Lächeln des Grafen und die finstere Miene des Fürsten. Es war ein unheimlicher Geist, der durch dieses Haus ging. Und diesem Geiste hatte sie sich ergeben, hatte sie ihre Freiheit, ihre Mädchenträume, ihre Zukunft geopfert! Um was dafür zu gewinnen? Hohe Stellung, Reichtum! – Wie wenig begehrenswert ihr das alles in diesem Augenblicke vorkam! Wie gern sie das alles hingegeben hätte, eine Ahnung des seligen Glücks zurückzurufen, das in dem Sommer des vergangenen Jahres ihr Herz erfüllt hatte, wenn sie aus ihrem kühlen Gemach in den goldigen Morgensonnenschein des Parkes hinaustrat und, langsam zwischen den Blumenbeeten auf und ab wandelnd, bei jeder Wendung um ein dichteres Boskett Oswald zu begegnen hoffte. Wie weit, wie unerreichbar weit lag jetzt dies alles hinter ihr! Weit, wie das Paradies der Kinderjahre, das kein Sehnen und kein Frühling zurückbringt!

Wieder und immer wieder schweiften ihre Gedanken nach Grenwitz; tausend kleine Szenen, die sie vergessen zu haben glaubte, erwachten in ihrer Erinnerung – ein Spaziergang mit Bruno und Oswald durch die Felder, als die Abendsonne tief am Horizont wie ein ungeheurer Feuerball in dem goldstrahlenden Äther hing und über dem reifenden Korn glänzende Lichter wogten, während hoch über ihnen, verloren im tiefen Blau des Himmels, die Lerchen jubelten; ein anderes Mal, als sie am heißen Nachmittage, ermüdet von dem monotonen Summen und Schwirren der Insekten, auf einer Bank in einem kühlen Baumgang des Gartens eingeschlummert war und sie in dem Augenblick erwachte, als ihr jemand – es war Bruno – einen Kranz von dunkelroten Rosen aufs Haupt setzte, während wenige Schritte davon entfernt ein anderer – Oswald war's – hinter einem Baum versteckt lauschte. Und immer waren es Bruno und Oswald, die die friedlichen Bilder belebten – elysische Gestalten in elysischen Gefilden! Waren doch beide tot. – Helene hatte, als Oswalds Flucht mit Emilie das unerschöpfliche Thema des Gesprächs in Sundin war, unbeschreiblich gelitten, denn erst jetzt, als sich eine Welt zwischen ihn und sie gelegt, fühlte sie, wie teuer ihr dieser Mann gewesen war. Zwar bemühte sie sich ernstlich, diese Leidenschaft zu bemeistern und sich mit dem Schicksal, das sie sich selbst bereitet, auszusöhnen; aber nur zu oft ertappte sie sich darauf, daß sie die Persönlichkeit ihres Verlobten mit der Oswalds verglich, um immer wieder zu dem Resultat zu kommen, daß jenem alles fehlte, was diesen in ihren Augen so liebenswürdig gemacht hatte: die anmutig elegante Gestalt und Haltung, die geistvollen und doch so zärtlichen Augen, die tiefe und doch so weiche Stimme, der immer wechselnde und immer interessante Ausdruck des edlen Gesichts. – Nie hatte sie lebhafter als an diesem Abend gefühlt, wie stumm ihr Herz ihrem Verlobten gegenüber war. Sie dachte mit Entsetzen daran, daß, als der Generalmarsch auf der Straße geschlagen wurde, von fern her das Brausen und Toben der Volksmenge ertönte und der Fürst aufsprang, um an seinen Posten zu eilen, sie weiter nichts empfunden hatte, als daß dies eine vortreffliche Gelegenheit sei, sich in ihre Gemächer zurückzuziehen.

Und immer schwerer wurde dem jungen Mädchen das Herz und immer trüber wurde es vor ihren Augen. Sie kam sich grenzenlos unglücklich vor; sie hatte Mitleid mit sich selbst, daß sie so allein sei, daß niemand ihren Kummer teile. Aber hatte sie sich denn diese isolierte Stellung nicht selbst bereitet, hatte sie die guten Menschen, die ihr mit offenem Herzen entgegengekommen waren, nicht mit kühler Höflichkeit zurückgewiesen? Wie sehnte sie sich jetzt nach dem braven alten Fräulein Bär, nach der klugen, herzigen Sophie Robran! Aber war nicht Sophie in Berlin? Konnte sie die Freundin, die sie in der letzten Zeit in Sundin so vernachlässigt hatte, hier nicht wieder aufsuchen? Helene klammerte sich an diesen Gedanken wie an einen Rettungsanker, und fragte sich seufzend, während sie ihr schönes Haupt in den seidenen Kissen verbarg, ob sie denn wirklich die stolze Helene sei, die gemeint hatte, einsam ihre Bahn wie ein Stern über den Himmel ziehen zu können, unbekümmert am das Treiben der Menschlein da unten in den niedrigen Menschenhütten!


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