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Dreiunddreißigstes Kapitel

Das Gerücht – man wußte nicht, wer es zuerst aufgebracht hatte –, Fürst Waldernberg bete die schöne Helene von Grenwitz an, ja die Verlobung werde nicht lange auf sich warten lassen, erhielt sich und wurde durch eine Menge Einzelheiten bekräftigt, deren Auffindung dem Spürsinn der betreffenden Geschichtenträger und Gebärdenspäher alle Ehre machte. Die Gräfin Grieben wußte auf das bestimmteste, daß der Fürst beinahe alle Abend zu Grenwitzens komme; Frau von Nadelitz, daß er jeden Mittag nach der Parade auf seinem prachtvollen tscherkessischen Hengst an der Pension des Fräulein Bär vorüberreite: Frau von Sylow, daß er, in seinen Mantel gehüllt, mehrere Nächte stundenlang vor dem Hause auf und ab patrouilliert sei; Hortense Barnewitz flüsterte der Komtesse Stilow ins Ohr: »Jetzt weiß ich, weshalb der arme Felix Hals über Kopf nach Italien geschickt wurde«, und Komtesse Stilow meinte darauf: »Sie sollen sehen, liebe Hortense, es dauert nicht acht Tage, so ist Helene, die für immer verbannt schien, wieder bei ihren Eltern.«

Ein Lächeln des Triumphes erhellte aber aller Gesichter, als die Prophezeiung der zahnlosen Komtesse Stilow nun wirklich in Erfüllung ging und Helene Grenwitz aus ihrem bescheidenen Stübchen in der Pension des Fräulein Bär in die stattlichen Räume des Hotel Grenwitz übersiedelte.

Merkwürdigerweise schien der alte Baron, der diesen Schritt früher so dringend gewünscht hatte, jetzt am wenigsten darüber erfreut. Der alte Herr war in der letzten Zeit ausnehmend launisch, widerspruchsvoll und heftig gewesen, daß man den sonst so gutmütigen, freundlichen Mann kaum wiedererkannte, und jedermann die arme Anna-Maria, die dieses Kreuz mit so christlicher Geduld und Sanftmut trug, bedauerte und bewunderte.

»Ach, glaube mir, liebe Helene«, sagte die Baronin zu ihrer Tochter, als sie beide am ersten Abend auf dem Sofa im Salon saßen, nachdem der Baron das Gemach verlassen hatte, um zu Bett zu gehen, »es ist jetzt recht schwer mit deinem Vater auszukommen, und ich bedarf deiner freundlichen Stütze mehr als je. Malte ist noch zu jung, und ich fürchte zu herzlos, als daß ich zu ihm Vertrauen haben könnte. Ich bin so lange gewohnt, alles allein zu tragen, daß ich mich in das Glück, eine Freundin und Vertraute zu haben, kaum zu finden weiß.« Und die Baronin vergoß Tränen, während sie ihre Nähsachen zusammenpackte, um dem Gemahl in das eheliche Schlafgemach zu folgen.

In der Tat schien das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter sich für die Zukunft viel günstiger als früher gestalten zu wollen. Sie behandelten sich wie zwei Gegner, die ihre Stärke gegenseitig erprobt und gefunden haben, daß sie doch besser tun, Hand in Hand zu gehen.

Fürst Waldernberg war, seitdem Helene wieder im Elternhause weilte, fast allabendlicher Gast. Anna-Maria sorgte dafür, daß der Fürst und Helene stets möglichst ungestört blieben; und da in diesen Kreisen die älteren Herrschaften ihre Zeit schlechterdings nur mit Kartenspielen hinzubringen vermochten, und jüngere Leute selten eingeladen wurden, so gelang ihr das meistens ganz vortrefflich. Der Fürst und Helene waren in dem kleinen einfenstrigen Boudoir neben dem großen dreifenstrigen Salon, wo die Kartentische standen, oft stundenlang allein, bis man zur Tafel ging, wo sie dann, während die andern die Glücksfälle des Spiels eifrig durchsprachen, wiederum so ziemlich auf sich selbst angewiesen waren.

Es sprach für die konversationellen Talente des Fürsten, daß die junge anspruchsvolle Dame seiner Unterhaltung nicht müde wurde. Und doch konnte sie, was er vorbrachte, für gewöhnlich nicht eigentlich interessant nennen, jedenfalls nicht die Art, wie er es vorbrachte. Niemals hörte sie ihn in lebhafterem Ton und schnellerem Tempo sprechen; es war immer derselbe monotone Silbenfall, wie wenn die einzelnen Worte Soldaten und die Sätze Sektionen wären, die in gleichmäßigem Schritt und Tritt vorbeimarschierten. Helene fand es deshalb auch bezeichnend, daß der Fürst sich am liebsten der französischen Sprache bediente, obgleich er auch das Deutsche korrekt und fließend sprach. Manchmal meinte sie, der Umstand, daß die Unterhaltung fast ausschließlich in dem fremden Idiom geführt wurde, trüge wesentlich dazu bei, ihr die Fremdartigkeit dieses Geistes weniger fühlbar zu machen. Dazu kam, daß der Fürst wie in seinem Äußern, so in seiner Denk- und Empfindungsweise, Russe und nicht Deutscher war. Die Erinnerungen seiner Kindheit, seiner Knaben- und Jünglingsjahre, bis auf die kurze Zeit, die er in Paris und jetzt nun in Deutschland verlebte, waren russisch. Er war Page an dem Hofe des Kaisers Nikolaus gewesen, und der tägliche Anblick dieses prächtigen Monarchen, mit dem er sogar, wie man behauptete, besonders in Gestalt und Haltung, eine gewisse Ähnlichkeit hatte, nicht ohne Einfluß auf seinen Charakter geblieben, wie er selbst sagte. Seine militärische Erziehung hatte er in der Kadettenanstalt des Michailowschen Palastes erhalten, desselben Palastes, durch dessen gewaltige Räume in jener schauerlichen Nacht der Kaisermord dröhnend schritt.

Ähnliche Geschichten wußte der Fürst gar manche zu erzählen, und sie verfehlten ihre Wirkung nicht auf das Gemüt des phantastischen Mädchens. Es war damit wie mit den Abenteuern, mit denen der kriegerische Mohr die Seele des venezianischen Patrizierkindes berauschte. Desdemona mochte vor dem Blut, das in jenen Erzählungen in Strömen floß, schaudern; aber der Held erschien ihr nur um desto bewunderswerter, und wenn es Helenen aus diesen Palasterinnerungen des russischen Pagen auch oft eisig kalt anwehte, so bestrickte sie doch das Geheimnisvolle und Schauerliche mit einem unwiderstehlichen Zauber. Sie träumte sich in ein Leben hinein, im Vergleich mit dem das Leben, das sie jetzt führte, gar kleinlich und kläglich erschien. Sie sah sich als Ehrendame an einem Hofe, wo Schönheit und Geist noch so viel vermögen; sie dachte sich als die Seele großartiger Unternehmungen, als die Vertraute von Generalen und Staatsleuten; und dann blickte sie aus ihren Träumereien auf zu dem finsteren, ruhigen Antlitz des riesengewaltigen Mannes, der sie mit seinen sonderbaren Geschichten in diese sonderbaren Phantasien gewiegt hatte, und fragte sich, ob sie es wohl wagen werde, an dieser Hand die hohen Regionen zu betreten, wohin sie die heißesten Wünsche ihres stolzen, ehrgeizigen Herzens trugen.

Dem schönen jungen Mädchen gegenüber legte der Fürst die kühle Zurückhaltung ab, die er gegen alle andern beobachtete. Er sprach selbst über seine Familienverhältnisse mit großer Offenheit. Er sagte, daß er von seinen Eltern eigentlich nur seine Mutter kenne, daß er seinen Vater nur sehr selten zu sehen bekomme. Seine Mutter lebe in Petersburg, wo ihr Einfluß bei Hofe noch immer sehr groß sei, obgleich eine unheilbare Krankheit die einst bildschöne, lebenslustige Frau in wenigen Jahren verwüstet und zur trübsinnigen Schwärmerin gemacht habe. Sein Vater, Graf Malikowsky, bringe den größten Teil des Jahres auf Reisen zu, besonders in Bädern, da er, trotz seiner Jahre und Kränklichkeit, den heiteren Genuß des Lebens noch immer leidenschaftlich liebe und stets das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden suche. Er stehe zu seinem Vater eigentlich in gar keinem Verhältnis. Alle Jahre schrieben sie sich einmal oder zweimal bei besonderen Gelegenheiten kurze Briefe; jetzt habe er den Grafen, als er im Sommer in Berlin dem Könige den Eid leistete, zum letzten Mal gesehen, und er sei über sein verfallenes Aussehen, das der alte Herr vergebens durch die raffiniertesten Toilettenkünste zu verstecken sich bemühe, erschrocken gewesen. Der Graf und die Gräfin harmonierten, wie das bei so verschiedenen Naturen erklärlich sei, sehr wenig miteinander. Der Graf komme alle Jahre einmal nach Petersburg, stelle sich bei Hofe vor, zeige sich ein oder das andere Mal im Palais Letbus und verschwinde dann wieder, um von Zeit zu Zeit aus Homburg, Baden-Baden, Wiesbaden »freundliche Grüße« an seine Gemahlin zu senden.

Auch daß dem Fürsten daran gelegen war, sie mit seinen Ansichten bekannt zu machen, entging Helene nicht.

»Ich halte den Kriegerstand«, sagte er einmal, »nicht nur für den edelsten, sondern auch für den nützlichsten; für den edelsten, weil er allein jede Kraft des Mannes wachruft und erprobt, für den nützlichsten, weil er die Grundbedingung für alle übrigen Stände ist, die ohne ihn gar nicht existieren könnten. Daß der Bauer in Frieden seinen Kohl bauen, der Handwerker ruhig in seiner Werkstatt sitzen, der Künstler ungestört in seinem Atelier, der Gelehrte in seinem Studierzimmer arbeiten kann, das haben sie dem Krieger zu verdanken, der für sie am Tore schildert, des Nachts für sie die Straßen patrouilliert, lärmende Pöbelscharen zu Paaren treibt und gegen den Feind, der das Land bedroht, in den Kampf zieht. Mit diesem Stande verglichen sind alle andern niedrig und gemein, und daß er der unbestritten höchste und edelste ist, zeigen auch die Herrscher, indem sie sich für gewöhnlich und nun gar bei feierlichen Gelegenheiten in seine Tracht kleiden. Deshalb sollte aber auch nur ein Adliger Offizier werden dürfen. Daß man neuerdings auch angefangen hat, den Bürgerlichen Zutritt zu unseren Reihen zu verstatten, halte ich für einen beklagenswerten Fehler, der sich früher oder später empfindlich an uns rächen wird.«

»Aber glauben Sie denn, daß der Bürgerliche unbedingt zu dem Berufe untauglich ist?« fragte Helene.

»Ohne Zweifel«, erwiderte der Fürst mit Nachdruck. »Jagd und Krieg müßten durchaus dem Adel reserviert bleiben, nicht, weil Bürgerliche überhaupt nicht auch eine Büchse abschießen oder einen Säbel schwingen, sondern weil sie es nicht in dem rechten Geist, mit dem rechten Geiste können. Der bürgerliche Geist ist nun einmal ein spezifisch anderer als der adlige; es sind das Unterschiede, die sich nicht mehr in Worte fassen lassen, die aber nichtdestoweniger vorhanden und für jeden – für mich zum wenigsten – sehr fühlbar sind. Nehmen Sie zum Beispiel den Begriff der Standesehre. Ein Bürgerlicher, der keine Ahnen hat, die denselben Degen führten, den er jetzt an der Seite trägt, – was kann es ihm sein, ob er diesen Degen vor jedem Flecken rein bewahrt oder nicht? Ich habe noch keinen bürgerlichen Offizier gekannt, bei dem es mir nicht mindestens zweifelhaft gewesen wäre, ob er bei einer tätlichen oder groben wörtlichen Beleidigung den Beleidiger sofort niederstoßen würde. Nun aber frage ich Sie, wie kann bei solch einem Mangel an dem richtigen point d'honneur überhaupt von kriegerischem Sinn und Geist die Rede sein? Aber die Frage hat auch eine praktische Seite. Der Geist der Neuerung, des frechen Ungehorsams gegen die von Gott eingesetzte Ordnung regt sich überall. Dieser Geist kann nicht, wie man in unserem Staate leider angefangen hat, durch Güte und Konzessionen, sondern nur durch eiserne Strenge und Gewalt niedergehalten werden. Des gemeinen Soldaten, der drei Jahre lang in unserer Zucht und Aufsicht gewesen ist, sind wir sicher, nicht ebenso des bürgerlichen Offiziers. Schicken Sie einen Zug unter Anführung eines Leutnant Schulze oder Müller gegen einen rebellischen Pöbelhaufen, und es ist zehn gegen eins zu wetten, er wird in ihm irgendeinen Bruder oder Vetter Schulze oder Müller entdecken und infolgedessen Anstand nehmen, im rechten Augenblick Feuer! zu kommandieren. Nehmen Sie dagegen die Offiziere aus dem Adel und nur aus dem Adel, so kann dergleichen gar nicht vorkommen, und Sie können mit einem Bataillon den Aufruhr einer ganzen Stadt wie Sundin zu Boden schmettern.«

Gegen die Zugeständnisse, die der König in dem Frühling des Jahres durch die Zusammenberufung des versammelten Ständetages der liberalen Partei und dem Zeitgeist überhaupt gemacht hatte, sprach sich der Fürst mit großer Entschiedenheit aus.

»Ich sehe nicht ab«, sagte er, »wohin dies Treiben führen soll. Wenn der König, wie ich gern glaube, nicht will, daß sich ein Blatt Papier zwischen ihn und sein Volk stelle, nach dessen Paragraphen er regieren muß, so dürfte er auch nicht einmal den Schatten des Konstitutionalismus heraufbeschwören. Dem Schatten folgt der Körper. Ich gestehe, daß ich über die Langmut des Königs, diesen frechen Schreiern gegenüber, empört bin und daß ich lange Zeit Anstand genommen habe, ob ich einem Monarchen, der so die ersten Pflichten eines gottbegnadeten Amtes verkannte, mit Ehren dienen könne.«

Wenn so der Fürst seine russisch absolutistischen Ideen zum Maßstab der Dinge machte, so geschah es wohl, daß sich in Helenens Herzen etwas wie ein mit Grauen gemischter Widerwillen gegen den, der in kaltem Ton so Unmenschliches behauptete, zu regen begann. Aber wenn sie auch zu einer andern Zeit vor den furchtbaren Konsequenzen der Grundsätze des Fürsten zurückgeschaudert sein würde, so hatte jetzt die Wunde, die ihrem stolzen Herzen Oswalds Verrat geschlagen, sie schwer gereizt und in das andere Extrem gestürzt! Helene haßte Oswald; sie weinte Tränen des Zornes und der Scham, wenn sie dachte, wie teuer ihr dieser Mann und wie nah sie der Gefahr gewesen war, ihm zu zeigen, wie lieb sie ihn hatte. An dem Verrat selbst zweifelte sie jetzt durchaus nicht mehr. Das Benehmen Emiliens war seit einiger Zeit so verändert, daß es auch den Unbefangensten auffiel. Die junge Frau floh jetzt die Gesellschaft ebenso, als sie sie früher gesucht hatte, und wenn sie es nicht vermeiden konnte, in ihren alten Zirkeln zu erscheinen, hatte sie nur Spott und Hohn für alles, wofür sie vormals schwärmte. Sie fand die Offiziere albern; erklärte Tanzen für ein kindisches Vergnügen und einen bal masqué für den Gipfel aller Lächerlichkeit. Sie behandelte die Damen mit unverhüllter Ironie und die Herren mit offener Verachtung, besonders ihren Gemahl, der bei dem allem gar nicht wußte, wie ihm geschah. Die meisten lachten und sagten: Es ist eine Laune von der kleinen Frau; sie wird schon wieder zur Vernunft kommen; andere, die weniger harmlos waren, meinten: Dahinter steckt mehr. Wenn eine junge Frau die ganze Welt, ihren Gemahl nicht ausgeschlossen, in dieser Weise behandelt, so tut sie es sicher einem Mann zuliebe, der für sie die ganze Welt ist. – Wer dieser Glückliche sein mochte, darüber zerbrach man sich vergebens die Köpfe. Die einen rieten auf den jungen Grafen Grieben, der ihr früher den Hof gemacht hatte, die andern auf Herrn von Sylow, wieder andere sogar auf den Fürsten Waldernberg, – und nur Helene Grenwitz wußte, daß alle sich irrten und daß der Gegenstand von Emiliens Liebe nicht in den aristokratischen Kreisen Sundins zu finden war.

Hätte Anna-Maria geahnt, welch trefflichen Bundesgenossen sie in diesem Augenblick für die Ausführung ihres großen Planes an Oswald Stein hatte, sie würde diesem »so überaus abscheulichen und gefährlichen jungen Mann« weniger gram gewesen sein. Jedenfalls schien sich das Verhältnis zwischen dem Fürsten und Helene ganz nach ihrem Wunsche gestalten zu wollen. Sie hielt es wenigstens für ein gutes Zeichen, daß Helene nicht darauf drang, die Unterhaltungen in dem kleinen Salon neben dem Spielzimmer durch Hinzubitten anderer junger Leute zu beleben, und als sie kürzlich die Bemerkung wagte: Das wäre ein Schwiegersohn nach meinem Sinn, nicht die schönen Brauen verächtlich zusammenzog, sondern die dunklen Wimpern auf die errötenden Wangen senkte.


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